LETTER PAPRIKA
Sie hieß Erika Papp. Wir besuchten dieselbe Klasse und konnten einander gut leiden. Mit der Zeit wurde eine dicke Freundschaft daraus. Ihren Spitznamen hat sie mir zu verdanken, weil ich sie ursprünglich Rika nannte. So entstand allmählich Pap-rika. Die Mitschüler wollten sie mit diesem Spitznamen hänseln, hatten aber kein Glück, weil Paprika ihn mochte. Er paßte auch so gut zu ihr! Einmal versuchte ich, Paprika zu küssen. Dummkopf! hatte sie gesagt und wurde wunderschön rot. Da kam ich mir schon sehr erwachsen vor. Aber daß ich mich mehr mit Paprika befaßte als mit meinen männlichen Mitschülern, das nahm man mir übel. Also verdrosch man mich. Ziemlich oft. Eines Tages waren wieder einmal achtzehn gegen einen. Das sah Paprika, sprang mitten in den raufenden Schülerhaufen und sagte laut und energisch, daß es sehr feige sei, was sie da tun. Aus Versehen bekam sie ein blaues Auge, aber dann hörte die Rauferei auf. Einer hatte die grandiose Idee, stattdessen einen Zweikampf austragen zu lassen. Das sei doch fair, oder nicht? Man hatte mir einen würdigen Gegner zugedacht: Fritz! Er war ein Repetent, ein Jahr älter, einen Kopf größer und sehr viel stärker als ich. Und er konnte boxen. Ich nicht. Die Meute hatte sich verzogen, ich lag auf dem Boden und wollte eigentlich sterben. Da wusch mir Paprika das Gesicht und blinzelte mir zu. Ich wollte lächeln, aber die aufgeplatzten Lippen verhinderten es. Da küßte sie mich ganz vorsichtig auf die Wange und half mir, die "Arena" zu verlassen. Ich wollte nicht mehr sterben! Seltsam: Mit dieser Niederlage hatte ich mir den Frieden erstritten. Anderntags frug eine verwunderte Frau Klassenvorstand, weshalb um Himmels willen ich denn Erika ein blaues Auge geschlagen hatte, wo wir doch offenbar bisher so gute Freunde waren - und wie es wohl dazu kommen konnte, daß Erika mich daraufhin so übel zugerichtet hatte. Wir schwiegen. Aufsätze waren Paprikas Stärke nicht. Das konnte ich weit besser. Aber ein schlechter Mathematiker war ich schon immer, ganz im Gegensatz zu Paprika. Was lag da näher als eine gesunde Arbeitsteilung? Es war wohl unvermeidlich, daß wir gefragt wurden, wie es denn komme, daß ich MatheHausaufgaben immer richtig habe, während ich in der Schule weit schlechtere Leistungen erbringe. Und nun zu Paprika! Gute Arbeit, leidlicher Stil zu Hause. In der Schule aber nicht. Ihr seid durchschaut, sagte Frau Klassenvorstand, ihr könnt euch ruhig gegenseitig helfen, indem ihr miteinander lernt, aber es geht nicht an, daß einer des anderen Arbeit tut! Das sahen wir ein. Es war ja auch sehr schön, mit Paprika zu lernen. Sehr schön.
-2 - Paprika 1938: Auf den Straßen marschierte man im Gleichschritt. Und überall wehten Fahnen, Fahnen, Fahnen. Ein einziges Fahnenmeer. Faszinierend! Militärmusik, Sprechchöre, Lieder, markige Parolen. Es konnte einen mitreißen! . . . die Fahne führt uns in die Ewigkeit, ja, die Fahne ist mehr als der Tod . . . Paprika, hast du gestern nacht den Fackelzug gesehen? Ja. Und? Ich habe Angst. Weshalb hast du Angst? Weil ich gehört habe, was sie gerufen haben. Was haben sie denn gerufen? Juda verrecke! haben sie gerufen. Ja, das ist nicht schön, aber weshalb hast du Angst? Weil Mama eine Jüdin ist. Drei Wochen danach ging ich zu Paprika wegen Mathe. Die Tür stand offen. Ich klopfte. Komm herein! hörte ich Paprika sagen. Ihre Stimme war seltsam tonlos. Dann sah ich sie. Ihr liebes Gesicht war weiß wie Kalk sie hockte auf dem Boden und starrte ins Leere. Was ist passiert? Sie haben Mama mitgenommen. Abgeführt. Einfach so! Ja - weshalb denn? Weil sie Jüdin ist - nur deshalb. Sie müssen doch irgend etwas gesagt haben, einen Grund dafür genannt haben! Nein. Nur weil sie Jüdin ist. Und dein Papa? Der ist zur Polizei gegangen und will eine Anzeige machen. Er ist noch immer nicht zurück. Einige Wochen später. Paprika und ich haben die Schularbeiten gründlich verhaut. Die Frau Klassenvorstand hat unsere Eltern hereinbestellt. Paprika hat gesagt, daß nur ihr Vater kommen könne, weil man ihre Mama noch immer nicht entlassen habe. Habe ich Tränen in den Augen der Frau Klassenvorstand gesehen? Kurze Zeit danach. Ich habe Paprika eine Träne von der Wange geküßt. Sie war salzig. Auf dem Tisch lag ein amtliches Schreiben, das den Tod der Frau Rachel Papp mitteilte. Lungenentzündung. Lapidar. Nach weiteren zehn Tagen: Um23 Uhr 30 kam Herr Papp zu meinen Eltern. Er kam so spät, weil er nicht gesehen werden wollte, damit nicht auch wir noch in Schwierigkeiten kommen sollten. Er teilte uns mit, daß er Österreich, das jetzt die Ostmark hieß, mit Erika verlassen müsse. Er selbst sei kaum in Gefahr, aber Erika als Halbjüdin sehr wohl. Ihr Ziel sei England.
- 3 - Paprika Mein Vater kratzte alles Geld, das wir im Hause hatten, zusammen und gab es Herrn Papp, der es nur widerstrebend annahm. Meine Mutter weinte. Dann umarmten wir uns alle. Ich brachte kein Wort heraus. Herr Papp gab mir einen Brief von Paprika und verließ eilig das Haus. Paprika schrieb: Es tut mir so leid, daß ich mich nicht mehr von Dir verabschieden konnte. Du fehlst mir jetzt schon sosehr. Ich weiß nicht, was Mama und ich verbrochen haben sollen. Wir mögen nicht davonrennen, aber wir müssen. Wenn wir den Krieg und diesen ganzen Wahnsinn überleben, werde ich den Weg zu Dir finden! Ich muß Dir ja den Kuß, den Du mir gegeben hast, wiedergeben. Ich liebe Dich! In Eile Paprika In diesem Schuljahr fiel ich in allen Fächern durch. Mein Vater wurde zur Wehrmacht eingezogen und fiel in Rußland. Für Führer, Volk und Vaterland. Mutter wurde zur stolz trauernden Kriegerswitwe ernannt, wurde kriegsdienstverpflichtet und drehte im Werk II Granaten für den Endsieg. Und ich wurde noch knapp vor Kriegsende zu den Fahnen geeilt. 1945 und danach: Alle Nachforschungen nach Kriegsende blieben erfolglos. Ich konnte nichts über Paprika und ihren Vater erfahren. Nichts.