23_beitrag

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The Rise and Fall of Sigi Bergmann Es gibt nur eine Hand voll Menschen, die Chuck Norris weinen sahen und Heinz Prüller ist einer davon. Natürlich ist es ihm nicht erlaubt, darüber zu sprechen, sehr wohl darf er aber davon träumen. Und genau das tat er, als die Polizeibeamtin mit einer Tasse Kapselespresso und einem selbst gemachten Briochekipferl das Hinterzimmer betrat. »Frühstück, Herr Prüller«, sagte sie mit jener sanften Strenge, mit der allein erziehende Mütter dreier halbwüchsiger Buben anscheinend von Natur aus ausgestattet sind und welche jegliche Widerrede im Keim erstickt. Abgesehen davon war sie die Person mit der Waffe. Aber um der Polizistin nicht Unrecht zu tun, soll an dieser Stelle erwähnt werden, dass sie in ihrer 21jährigen Polizeilaufbahn ihre Dienstpistole bisher nur ein einziges mal abgefeuert hatte. Woraufhin ihr Exmann ihrer Aufforderung unverzüglich aus ihrer Wohnung und ihrem Leben zu verschwinden, widerstandslos Folge leistete. Dieser Vorfall wird auch gerne als der Grund dafür angegeben, weshalb sie im Gegensatz zu ihren männlichen Kollegen in den letzten Jahren bei sämtlichen Beförderungen übergangen wurde und nach wie vor als eingeteilter Revierinspektor ihren Dienst versieht. Möglicherweise behandelte sie Prüller auch deshalb zwar respektvoll, aber mehr auf die Art und Weise wie Sozialarbeiter mit Menschen umgehen, die vor kurzem teilentmündigt wurden. Zu seiner Verteidigung soll aber gesagt werden, dass die Polizistin, die sich als gelernte Gendarmeriebeamtin in der Polizeiuniform ein wenig wie gefangen in einem fremden Körper fühlte, grundsätzlich jedem Mann mit dem sie zu tun hatte auf diese Art und Weise entgegentrat. Prüller schmeckte den Duft des frisch zubereiteten Kaffees, hob den Kopf aus den in einander verschränkten Armen, blickte sich um und gähnte. Er war verwirrt und hungrig und wusste weder, wo er sich befand, geschweige denn, weshalb er sich dort befand. Allerdings hatte er Ähnliches schon früher erlebt, das gab ein gewisses Maß an Sicherheit. Über die geblümten Gummistiefel, und den türkisen Schlafanzug wunderte er sich aber trotzdem. »Wieso bin ich hier?«, fragte er. An seinem Blick erkannte die Beamtin sofort, dass er sich tatsächlich an nichts von dem, was in der letzten Nacht passiert war, erinnern konnte. »Sie können sich wirklich an gar nichts erinnern, richtig? Na, dann werde ich ihnen wohl ein wenig auf die Sprünge helfen und gleich mal mit der Tür ins Haus fallen. Sie sind hier, weil sie ihren besten Freund umgebracht haben.« Prüller verschluckte sich an einem Bissen Briochekipferl als ihn die Worte der Polizistin erreichten und hustete auf jene Stelle des Tisches, auf die er noch vor wenigen Minuten seinen Kopf gebettet hatte. »Sie sind kurz nach Mitternacht hier rein gestürmt«, fuhr die Beamtin fort »in dieser komischen Verkleidung und haben gegen die Plexiglasscheibe gebrüllt, sie seien hier um sich zu stellen und dann haben sie ein Geständnis abgelegt.« »Ein Geständnis, um Gottes Willen, um welchen Freund handelt es sich denn?« »Immer mit der Ruhe«, sagte die Polizistin »es geht um den Sigi Bergmann.« »Ach du meine Güte«, murmelte Prüller »der arme Sigi.« Er atmete drei Mal tief durch und schien nachzudenken. Dann blickte er der Polizeibeamtin tief in die Augen und fragte: »Aber wieso habe ich den Sigi umgebracht?« »Das kann ich ihnen leider auch nicht sagen«, antwortete sie und lächelte ihn dabei an. »Aber vielleicht möchten sie wissen, weshalb ich um diese Uhrzeit noch immer hier und nicht zu Hause bei meinen drei Jungs bin, um ihnen Wurstbrote für die Schule zu richten und heißen Kakao zu kochen? Ich bin hier, weil die Uhr tickt. In ca. 30 Minuten kommt der Postenkommandant in den Dienst und bis dahin will ich sie davon überzeugt haben, dass es wenig Sinn macht, ihm denselben Schwachsinn zu erzählen, den sie heute Nacht mir aufgetischt haben. Ich bin noch hier, um das Leben von Heinz Prüller zu retten. Ich werde nicht mit ansehen, wie jemand ins Gefängnis wandert für ein Verbrechen, das er gar nicht begangen hat, ist das klar?« Heinz Prüller nickte mit offenem Mund und wusste nicht, wie er sich fühlen sollte, als die Polizistin ein Aufnahmegerät auf den Tisch stellte. »Hier drauf befindet sich ihr Geständnis, Herr Prüller. Wir zwei sind die einzigen Menschen, die wissen, dass es dieses Geständnis gibt. Ich darf das zwar nicht, aber ich werde ihnen nun die Aufnahme vorspielen. Vielleicht hilft es ihnen dabei, sich an irgendetwas zu erinnern.


Zum Beispiel an die Tatsache, dass sie bereits gestern Abend einmal kurz hier waren und ein Verbrechen gemeldet haben.« Prüller hob die Augenbrauen, staunte und schwieg. »Also wenn sie bereit sind, dann beginne ich jetzt an jener Stelle, wo es interessant wird. Die unwichtigen Passagen habe ich rausgeschnitten«, sagte die Beamtin und drückte auf die Play Taste, ohne Prüllers Antwort abzuwarten. INV: So, aber jetzt sollte es funktionieren. Also, können sie bitte noch einmal das Letztgesagte wiederholen! PRU: Ich habe heute Abend während einer Auseinandersetzung meinen langjährigen Kollegen und Freund Sigi Bergmann erwürgt. INV: Um welche Uhrzeit, ungefähr, fand das Verbrechen statt? PRU: So vor eineinhalb Stunden, würde ich sagen. INV: So gegen 23.00 Uhr also. Gut. Herr Prüller, sie waren vor fünf Stunden schon einmal hier und haben Herrn Bergmann bei uns angezeigt. Nur fürs Protokoll, weshalb haben sie ihn angezeigt? PRU: Weil er mir einen sehr wertvollen Blutegel gestohlen hat. INV: Einen Blutegel? PRU: Einen Blutegel, genau, aus meiner Sammlung. Ob sie es glauben oder nicht, ich habe eine ganze Menge davon. Und jeder davon ist etwas ganz Besonderes. Warum? Weil jeder davon das Blut eines Formel1 Weltmeisters in sich trägt. Willi Dungl hatte in den frühen 70ern die Egeltherapie zur Schmerzlinderung und Regeneration in die Formel1 gebracht. Tja, und ich habe die Egel dann hinterher wieder eingesammelt. Egel, voll gesaugt mit dem Blut aus den Händen von Keke Rosberg, von Emerson Fittipaldi, dem legendären Jody Scheckter, Niki Lauda, René Arnoux oder Jochen Rindt. Eine wunderbare, unvergleichliche Sammlung. Aber seit heute Abend fehlt der Jochen Rindt. INV: Und sie glauben, dass Herr Bergmann ihren Egel gestohlen hat? PRU: Ich bin mir sogar sicher. INV: Hat er die Tat zugegeben? PRU: Nein. Er hat natürlich geleugnet. INV: Und trotzdem haben sie ihn bei der Polizei angezeigt? PRU: Selbstverständlich. INV: Und was geschah danach. PRU: Danach habe ich mir etwas zu essen geholt und bin wieder nach Hause gefahren. INV: Und dort sind sie sich dann in die Haare geraten? PRU: Nein, der Sigi war ja gar nicht mehr da, als ich zurückkam. INV: Wo war er? PRU: Na, von Außerirdischen entführt. INV: Wie? Beim Rauspirschen verirrt? PRU: Von Außerirdischen entführt. INV: Ach doch. Gibt es hierfür irgendetwas Beweisähnliches? PRU: Nur das Wort von Sigi Bergmann. INV: Verstehe. Bedeutet das, dass die Aliens, ich darf sie doch Aliens nennen, Herrn Bergmann wieder zurück gebracht haben? PRU: Na selbstverständlich. Wie, hätte ich ihn sonst umbringen können. Die Polizeibeamtin drückte auf die Pause Taste und fragte: »Kommt ihnen irgendetwas von dem, was sie eben gehört haben bekannt vor, Herr Prüller?« Doch bevor er antworten konnte, war von draußen ein undeutliches Fluchen, gefolgt von einem lauten Zischen zu vernehmen. Die Polizistin legte einen Zeigefinger drei Sekunden lang auf den Delete Button und den anderen auf ihre Lippen. Prüller verstand. Der Postenkommandant trat durch die Tür und klappte das kleine Schweizermesser zu, das an seinem Schlüsselbund baumelte. »Irgendwer eine Ahnung, welcher Witzbold seinen Ferrari auf meinem Parkplatz abgestellt hat?« »Wenns ein roter ist, ist es wahrscheinlich meiner«, antwortete Prüller aber seine Schutzbefohlene übernahm sogleich.


»Der Herr Prüller ist hier um einen Diebstahl zu melden, Herbert.« »Na das trifft sich ja gut«, antwortete dieser »da können sie gleich eine Anzeige gegen Unbekannt mit machen. So wie es ausschaut, hat ihnen nämlich irgend so ein Gfrast einen Reifen aufgeschlitzt. Die Landjugend ist auch nimmer das…« Die Polizeibeamtin schob Prüller sanft aber bestimmt am Postenkommandanten vorbei in Richtung Tür. »In seiner Verfassung kann er sowieso nicht fahren, deshalb habe ich angeboten, ihn nach Hause zu bringen«, rief die Polizistin und wünschte noch einen angenehmen Dienst. »In welche Richtung müssen wir fahren?«, fragte sie und stieg aufs Gas. »Sie haben zwar erwähnt, dass sie hier in der Gegend ein kleines Wochenendhaus besitzen, aber…« »Hier vorne rechts«, unterbrach er sie »und dann beim Kreisverkehr gerade aus.« Die Polizistin folgte seinen Anweisungen und erzählte Prüller während der Fahrt die restlichen Details seines Geständnisses. »Verstehen Sie jetzt, weshalb ich nicht wollte, dass das jemand anderes zu hören bekommt?«, fragte sie als sie fertig war. »Man würde sie höchst wahrscheinlich für verrückt erklären. Außerirdische. Menschen klonen. Ziemlich weit hergeholt, meinen sie nicht?« Sie bogen in einen Feldweg ein. Nach ein paar hundert Metern tauchte auf einem kleinen Hügel ein kleines, sehr gepflegtes Bauernhäuschen auf. Sie hielt an und stellte den Motor ab. »Sie hätten die Aufnahme nicht löschen sollen«, sagte Prüller während er den Sicherheitsgurt öffnete. »Ich weiß.« »Damit haben sie eine Menge harter Arbeit zunichte gemacht.« »Ich weiß«, antwortete sie. »Seit wann wissen sie es eigentlich schon?« »Ach, gleich am Anfang, bei der Geschichte mit den Weltmeisterblutegeln, da haben sie gepatzt. René Arnoux war zwar ein guter Rennfahrer, aber Formel 1 Weltmeister war er nicht. Dem richtigen Heinz Prüller wäre so ein Fehler niemals passiert. Niemals.« »Und jetzt?« »Jetzt«, hauchte sie dem Mann am Beifahrersitz ins Ohr, nachdem sie ihn mit einer Elektroschockpistole außer Gefecht gesetzt hatte, »löse ich mein Versprechen ein und rette Heinz Prüller das Leben.« Sie nahm ihr Handy und wählte die Nummer ihres Vorgesetzten. »Gott sei Dank«, hörte sie den Postenkommandanten sagen, und »Alles OK bei dir?« »Ich hab es gefunden, Herbert«, antwortete sie und gab die Wegbeschreibung durch. »Ich gehe jetzt rein und hole sie da raus. Wünsch mir Glück!« »Pass auf dich auf, Agnes!« »Du kennst mich doch«, antwortete sie und drückte Beenden. --»Und du hast mich wirklich bei der Polizei angezeigt?«, fragte Sigi Bergmann. Er trug nach wie vor eine Halskrause und das Sprechen fiel ihm noch immer schwer. »Ja, tut mir leid«, antwortete Heinz Prüller und hob dabei seine Schultern. »Nein, mir tut es leid.« Bergmann hielt inne und legte seine Hand auf Prüllers Unterarm. »Du hattest nämlich Recht. Ich habe wirklich deinen Rindt Egel gestohlen. Und zwar schon vor 20 Jahren. Ich allein bin Schuld an all dem, was letzte Woche passiert ist.« Er hustete. »Verzeihe Heinz, mir tut der Hals weh, drum kann ich dir jetzt nicht die ganze Geschichte erzählen, aber ich habe sie im Laufe der letzten Woche Stück für Stück auf dieses neumodische Tonbandgerät gesprochen. Bitte hör es dir an, wenn du willst.« »Das mache ich bestimmt«, antwortete Prüller, »aber zuvor nur noch eine Sache: Wie kamst du auf die Idee, dir die Luftröhre mit Metallröhrchen verstärken zu lassen?« »Hab ich mal in einem Clint Eastwood Film gesehen. Und Heinz!« »Ja?« »Hast du wirklich Chuck Norris weinen sehen?« »Wie kommst du darauf?«


Am Weg zu seinem Ferrari nahm Prüller das Aufnahmegerät aus der Hosentasche, steckte sich die Stöpsel in die Ohren und lauschte Sigi Bergmanns Stimme: »Lieber Heinz. Ich habe dir doch mal erzählt, dass ich keine Bücher mehr schreibe, weil es mir unsägliche Schmerzen bereitet, die Tasten der Schreibmaschine anzuschlagen. Und dass ich kaum noch Rotwein trinken kann, wegen der Harnsäure. Du hast mich damals auf die Blutegeltherapie hingewiesen, woraufhin ich mir ein paar Tiere zugelegt habe. Die Schmerzen wurden zwar weniger, sie verschwanden aber nie ganz. Als ich dann bei dir im Keller diese riesigen, exklusiven Egel im Aquarium schwimmen sah – damals schwammen sie noch – wurde ich gierig. Ich tauschte den größten meiner eigenen Egel gegen den Rindt Egel. Der Unterschied war eklatant. Nach zwei Behandlungen waren die Schmerzen weg. Eineinhalb Wochen später wurde ich von Außerirdischen entführt. Du kannst dir nicht vorstellen, wie überrascht ich war, als ich im Raumschiff auf mein Ebenbild traf. Nachdem ich um Aufklärung gebeten hatte, erzählten die Aliens, sie hätten bei dir eingebrochen und einen deiner Blutegel entwendet. Angeblich leiden auch Außerirdische an Arthritis oder haben jedenfalls Schmerzen in den Händen vom vielen Raumschiff fliegen. Auf jeden Fall war es bis ins Weltall durchgedrungen, dass deine Egel Wunder wirkten. Allerdings fischten die Diebe just jenen Egel aus dem Wasser, den ich kurz zuvor anstelle des echten Rindt hinein gegeben hatte. Beim Klonen kam es zum nächsten Zwischenfall. Anscheinend befand sich noch zu viel von meinem Blut im Tier, tja, und so entstand kein weiterer Egel sondern mein zweites Ich. Komisch, nicht? Ich wurde entführt, um meinen Klon zu lehren Mensch zu sein. Und da Menschen zum Wachsen Menschen brauchen, schlug ich vor, ihm einen Freund zu besorgen. Und da wurdest du geklont. Aus einem Stück Zehennagel, wenn du es wissen möchtest. Das Ganze ist jetzt 20 Jahre her und ich habe mich immer gefragt, wann sie beschließen würden, uns los zu werden. Ich hätte dich warnen müssen, aber ich fürchtete du würdest mir nicht glauben. So wie dir niemand geglaubt hätte« Heinz Prüller schaltete das Aufnahmegerät ab. Er schüttelte ungläubig den Kopf und sagte dann zu sich selbst: »Wie kann man, wenn man einen Blutegel mit dem vermeintlichen Blut von Jochen Rindt vor sich hat, bloß auf die Idee kommen, den Egel zu klonen«


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