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Murmeln

Weiße Murmeln Aus voller Kehle prustete Nala los. Zuerst saß er nur da und blickte sie verwundert und gleichzeitig fasziniert an. Ihr hellbraunes, glänzendes Haar, das sie sich hinter ihr linkes Ohr gestrichen hatte, glitt ihr ins Gesicht. Ein paar einzelne Strähnen blieben auf ihren, vom Lachen feuchten Lippen kleben. Er steckte immer noch verdutz die Hand aus, um sie ihr aus dem Gesicht zu streichen. Dabei berührte er ihre Wange, fühlte die glatte Haut mit seinen Fingerspitzen – kühl und dennoch glühend rot gefärbt. Sie lachte immer weiter, konnte sich kaum noch halten. Tränen begannen ihr aus den großen, rehbraunen Augen zu schießen und über ihre Backen zu kullern. Als die erste Träne seine Haut berührte zuckte er zusammen. Da hielt auch Nala für einen Moment inne, kurz huschte ein Ausdruck von Erschrockenheit über ihr schönes Gesicht, ihre Blicke trafen sich, wenn auch nur für einen Bruchteil einer Sekunde. Und schon begann sie von neuem zu glucksen und zu kichern, aus tiefstem Herzen, unbeschwert... Er hörte sie schon nicht mehr. Sein Herz war ihm so schwer geworden und gleichzeitig so leicht, dass er meinte, es gar nicht mehr wahrnehmen zu können. Trotz allem raste es wie verrückt in seiner Brust. Er stand am Strand des Sees, spürte den warmen weichen Sand unter seinen Füßen. Hier und da kitzelte ihn ein Grashalm an seinen Sohlen. Die Sonnenstrahlen streichelten seinen Rücken, das Wasser tropfte aus seiner schwarz-rot karierten Badehose, die er von Oma zu seinem achten Geburtstag bekommen hatte, Rinnsale bahnten sich den Weg über seine Knubbelknie. Er lief auf sein Handtuch zu, doch plötzlich sah er sie, schlagartig blieb er stehen, wie vom Donner gerührt verharrte er. Sie hatte ihren Kopf in seine Richtung gedreht, das kohlschwarze Haar, von einem feinen Windhauch aus dem Gesicht geweht, umzingelte spielerisch ihr rundes Gesicht, aus dem zwei stahlblaue Augen blitzten. Ihre vollen Lippen waren zu einem kaum erkennbaren Lächeln geformt. Er wusste genau: dieses Lächeln galt nur ihm. Oder wünschte er es sich bloß? Es tat nichts zur Sache. Sie wandte den Kopf wieder ab, die Ärmel ihres T-Shirts waren ihr über beide Schultern gerutscht, ihre nasse, hellrosarote Badehose war zum Trocknen aufgehängt worden und die Räder ihres Rollstuhls hinterließen tiefe Furchen im Sand. In ihrer Hand hielt sie weiße Murmeln, in welchen die Sonnenstrahlen wie kleine Diamanten reflektierten. Er griff zu seiner Kamera und drückte ab. Genau ein Mal. Erst als er das Foto Jahre danach entwickelt hatte, stellte er fest, das perfekte Foto verbildlicht zu haben. All seine Gefühle,


Murmeln Emotionen, jeder noch so kleine Laut und jeder Duft dieses Tages waren auf diesem Bild festgehalten. Es war das Einzige, was ihm noch geblieben war. Von diesem Tag an kam er täglich zum Strand. Da sich ihre Familien kannten, lernte er Maja bald besser kennen. Zusammen bauten die beiden Kinder Sandburgen und plantschten im Wasser. Majas Behinderung störte ihn dabei nie. Vielmehr fiel sie ihm gar nicht mehr auf. An besonders heißen Tagen bildeten sich oftmals dunkle Wolken, die kräftige Sommergewitter zur Folge hatten. Dann rannte er nach Hause, dabei schob er den Rollstuhl so schnell er nur konnte. Das Wasser spritzte in alle Richtungen davon und platschte übermütig unter seinen nackten Füßen hinweg. Maja jauchzte vor Freude. Daheim angekommen wurden die beiden von Majas Mutter in Handtücher gewickelt und vor den Ofen verfrachtet, der im Sommer für solche Fälle in Betrieb genommen wurde. Das Feuer knisterte darin, während er und Maja, an ihrem Kakao schlürfend und genüsslich über die Lippen schleckend, um auch ja keine von den, in der Milchschaumkrone zart schmelzenden, Schokoflocken zu vergeuden, sich Geschichten erzählten. Sie malten sich aus, wie sie einst in einem Schloss leben und jeden Abend heißen Kakao mit Schokoflocken trinken würden... Diese Tage genoss er immer besonders. Wenn sich jedoch die Blätter auf den Bäumen zu färben begannen und die Tage allmählich kühler wurden, stellte sich ein beklemmendes Gefühl in seiner Brust ein. Er wusste, er würde Maja seltener sehen, die Tage am See waren gezählt. Der Winter war oft hart für ihn gewesen, erst wenn der Frühling zurück ins Land kehrte und die Natur wieder blühend in neuer Pracht erstrahlte, schien auch er aus seinem Winterschlaf zu erwachen. Bald war er wieder am See, lachte, jauchzte, baute Sandburgen und trank, in ein Handtuch gewickelt mit Maja heißen Kakao am Ofen, in dem das Feuer munter knisterte. So strichen die Jahre dahin. Aus den beiden Kindern wurden eine wunderschöne junge Frau und ein sportlicher junger Mann. An den Zeitpunkt als er sich in Maja verliebte kann er sich nicht mehr erinnern. Umso genauer aber an ihren ersten Kuss. Sie waren wieder in ein Gewitter geraten, vom starken Regen durchtränkt hat er Maja aus ihrem Rollstuhl gehoben. Dabei treffen sich ihre Blicke und verharren ineinander. Sie vergessen alles andere um sich herum. Langsam aber zielstrebig bewegen sie sich aufeinander zu bis sich ihre Lippen berühren. Keine Kälte, keine Nässe, nichts als Glück empfinden sie in diesem Moment. Am Boden unter ihnen hatte sich eine Pfütze gebildet - so viel Wasser war aus ihren durchnässten Kleidern getropft. Besser als an diesem Tag hat der heiße


Murmeln Kakao noch nie geschmeckt. Es dauerte einige Tage, bis er aus seiner Glückstrance allmählich wieder erwachte. Bald verbrachte er nun auch die Winter mit Maja. Er liebte sie bedingungslos und wurde für so manche ihrer Handicaps blind. Daher bemerkte er nicht, dass sie immer schwächer und antriebsloser wurde. Erst als sie eines Tages in ihrem Rollstuhl zusammengesackt war, realisierte er, dass etwas nicht in Ordnung war. Der Krankenhausbesuch ist ihm nur schwach in Erinnerung geblieben, zu groß ist der Schmerz, den er mit der Erinnerung auf sich nehmen müsste. Verschwommene, verzerrte Bilder sind alles, woran er sich zu entsinnen vermag. Als sie das Attest bekamen weinte Maja. Er blieb stumm. Er konnte und wollte nicht begreifen, was geschehen war. Keine einzige Träne vergoss er, kein Wort verlor er über die schockierende Nachricht. Beinahe so, als wüsste er von nichts lebte er weiter. Jedoch lebte er so intensiv, wie noch nie zuvor. Es waren die verrücktesten und aufregendsten achtundvierzig Tage in Majas und seinem Leben. Sie riskierten alles und lebten, liebten als gäbe es kein Morgen. Und das gab es im Grunde auch nicht. Am Abend des achtundvierzigsten Tages kochte er für Maja und sich heißen Kakao und bedeckte die Schaumkrone mit frisch geraspelten Schokoflocken die schlagartig zu schmelzen begannen. Nur an diesem Abend wurde der Genuss des heißen Kakaos von jenem Tag ihres ersten Kusses übertroffen. Wie damals als Kinder saßen sie vor dem Ofen, das Feuer knisterte und sie malten sich aus, wie sie einst in einem Schloss leben und heißen Kakao mit Schokoflocken trinken würden, in einem Schloss über den Wolken... Er hatte keine Träne geweint und auch als Majas Sarg in das Grab hinabgelassen wurde blieben seine Augen trocken. Er hatte nie mehr gelacht, nicht für sich, nur für andere. Er hatte nie wieder geliebt, stieß jede Art von Zuneigung von sich ab, konnte keine Nähe vertragen. Jahrelang. Jetzt saß er da, fühlte zum ersten Mal nachdem er Majas Gesicht von ihren Tränen getrocknet hatte das feuchte Nass Nalas Lachtränen. Als Nala ihm begegnet war, war ihm nicht bewusst gewesen was mit ihm geschah. Und plötzlich lachte er los. Lachte, als ginge es um sein Leben. Tränen schossen aus seinen Augen und sein Herz wurde ihm nach jahrelanger Eiseskälte wieder warm. Mit Nala fest in seine Arme geschlossen krümmte er sich vor Lachen, wie ein kleiner Junge wieherte er vor sich hin. Das Glück überwältigte ihn. Er griff in seine Hosentasche und warf jenes zerknitterte Papier, welches er seit Jahren mit sich herumtrug in das prasselnde Feuer des Kamins vor ihnen. Die weißen Murmeln ließ er zurück in seine Tasche gleiten. Sie saßen da, lachten und liebten und in


Murmeln der Glut des Feuers verschmorten die Räder eines kleinen Rollstuhls, dessen Reifen tiefe Furchen in den Sand gezogen hatten.

Weiße Murmeln Das trockene Salz auf meiner Haut, umweht von einer Meerespriese, die Wellen wogen, nichts ist laut, ich steh auf einer Blumenwiese. Niemals vergeht das Erinnerungenland, niemals vergess’ ich diese Tage. In meines Herzen Tiefe drin ich trage sie, wie die weißen Murmeln hier in meiner Hand. Der Duft von frisch gemähtem Gras Steigt in meine Nase. Mein Gesicht von Tränen nass, ich begrabe meine Katze, es stirbt mein kleiner Hase. Niemals entweicht mir das Erinnerungenland, niemals vergess’ ich diese Tage. In den Tiefen meines Herzens drin ich trage sie, wie die weißen Murmeln hier in meiner Hand. Jede Sekunde, jeden Augenblick verbringen wir zusammen. Was es zu erleben gilt, erleben, zu erleiden Schmerz, zu verschmerzen manche Schrammen. Doch nie zerreißt der Freundschaft Band, nie vergess’ ich diese Tage. In den Tiefen meines Herzens ich sie trage,


Murmeln wie die weiĂ&#x;en Murmeln hier in meiner Hand.


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