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Codewort: EA1030

SOMMERSATT Das Gras reicht mir bis zum Nabel, bald schon, morgen vielleicht, wird es gemäht, Winterfutter für die Kühe, die wiederkäuend auf der Weide dösen. Ich wate in die Wiese, es kitzelt und kratzt an Armen und Beinen, sonnenverbrannt und nackt, die Hose kurz und ausgefranst, das T-Shirt verblichen. Die Sonne lässt die Luft vibrieren. Ihr grellweißes Licht schmerzt in den Augen, die ich zum Schutz zusammenkneife, bis alles um mich herum zu einem Bild verschwimmt. Zerronnene Farben, verblassten, längst vergessenen Zeichnungen gleich, die in einer Kiste am Dachboden auf ihre Auferstehung hoffen. Die Luft ist schwer von Gerüchen. Gras und Hitze und Kuhdung vermengen sich zu einem intensiven Parfüm, ein Duft, der mich einhüllt und lähmt. Am Rücken liegend starre ich in den Himmel, sattblau und wolkenbefreit. Die Sonne ein gleißendes Flimmern, heiß und gefährlich und unfassbar weit, weiter noch als das Ende der Ferien, das eine Ewigkeit entfernt die Rückkehr in die Stadt befiehlt. Nur im Sommer ist das Jetzt alles, das zählt, dehnen Augenblicke sich zur von Glück durchtränkten Zeitlosigkeit. Die Stille ist von Geräuschen durchdrungen, einem Sirren und Surren und, in einem fernen Universum, das monotone Brummen eines Traktors. Ich schließe die Augen und lausche mich in eine andere Welt, in der ich ein Riese bin, groß wie ein Berg, und Ameisenschritte den Boden erschüttern. Ich fühle ein Kribbeln und Krabbeln um mich herum, auf mir und in mir, und es ist wunderbar und schrecklich zugleich, und dann halte ich es nicht mehr aus, und springe auf und laufe davon. Weg aus der Wiese, durch Felder und weiter. Der Mais steht hoch, schwankt über meinem Kopf, und ich renne schneller und schneller und atemlos. Grün und staubig raschelt es um mich, zerkratzt meine Arme, meine Beine, zersticht meine bloßen Füße. Ich verschlucke mich, huste und bleibe stehen, vornübergebeugt, die Hände auf die Oberschenkel gestützt, schnappe nach Luft, versuche zu Atem zu kommen. Mein Herz galoppiert, Schweiß rinnt mir über die Stirn, den Nacken, den Rücken, die Beine, alles dreht sich und um mich der überwältigende Geruch nach Mais und Feld und Land und Sommer.

· Der Felsen ragt hoch über dem See auf, der tief ist und schwarz. Das Wasser erwärmt sich nur an der Oberfläche. Beim Schwimmen streifen die Beine die kalte Schicht, jedes Mal


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ein sanfter Schreck, wohliges Erschauern. Ich klettere bis an die Stelle, von der die Großen springen. Der Felsen ist höher als ich gedacht habe, himmelhoch kommt er mir vor, aber ich klettere weiter, über mich hinaus. Die Tiefe lockt mich und macht mir Angst, doch ich springe. Ich tauche ins Wasser, vom Sprung in die Tiefe getrieben, dorthin wo es kalt ist, unfassbar kalt, und ich strample und ziehe mich nach oben mit bleischweren Armen und verliere das Licht. Und dann durchstoße ich die Oberfläche, zurück in die Sonne. Ich schwimme zum Ufer, klettere den steilen Hang zu meinem Rad hinauf, nass und erschöpft. In die Pedale trete ich, so fest ich kann. Schneller und schneller, und der Luftzug trocknet mich. Die Hitze ist drückend, der Tag hält den Atem an und wartet auf die erlösende Entladung. Die Schwalben fliegen tief, ein Gewitter kündigt sich an, aber noch ist alles Anspannung. Ein Knistern liegt in der Luft, die feinen Härchen auf meinen Armen stellen sich auf, laden mich auf, bis ich mir sicher bin, Funken zu sprühen. Ein Blitz blendet mich, grummelndes Donnern durchdringt mich. Mein ganzer Körper ist Dröhnen, schwingt auf der Frequenz des nahenden Unwetters. Ich bin fast zu Hause, als der Himmel bricht. Wasserwände um mich herum, lassen Zeit und Raum verschwimmen, ein trommelndes Toben der Unbestimmtheit. Blind und taub schiebe ich das Fahrrad, den Kopf gesenkt, den Weg mehr erahnend, als ich ihn sehe. Minuten, Tage, Stunden später bin ich da, und alles ist Erleichterung, davon gekommen zu sein.

· Das Dorf ist klein, zu klein für Träume und Abenteuer. Neben der Tankstelle unser Haus. Ein trotziges Etwas, in den Hang gebaut, leuchtend gelb getüncht, unter den Fenstern blutrote Pelargonientränen. Der Garten ein steiler Dschungel, der im Dauerregen im Morast versinkt. Eines Tages, das weiß ich so sicher wie nur irgendwas, wird der Hang sich aus seinem Bett erheben und hungrig nach Beute suchen. Dann wird er unser Haus verschlucken und uns zermalmen, verdauen und vergessen. Ich bin mir der Gefahr bewusst, die niemand außer mir ernst nimmt, und treffe Vorkehrungen, mich als unverdaulich zu erweisen. Geheime Rituale und nie gehörte Zaubersprüche sind ebenso Teil meiner Pläne wie unzählige Stöcke, die ich in den Hang ramme, Dschungel-Voodoo, denn sicher ist sicher und vielleicht hilft es ja.

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Seit Tagen schon regnet es und ich sitze am Fensterbrett und sehe das Wasser die Straße bergab fließen. Ein reißender Bach, der mich gurgelnd ruft, nach Spielgefährten suchend, die mit ihm toben, sich mitziehen lassen, zu Orten, die unvorstellbar sind, geheimnisvoll und fremd. Eine Fliege knallt gegen die Scheibe. Wieder und wieder. Ich öffne das Fenster, lasse sie hinaus in den Regen, sie taumelt in die Freiheit, dem Lockruf des Baches ergeben. Ein Windstoß reißt am Fenster, zerrt es mir aus der Hand, lässt es in den Rahmen krachen, stößt es wieder auf. Ich drücke es zu, stemme mich gegen Wind und Wetter, kämpfe einen aussichtslosen Kampf, den ich wider Erwarten dennoch gewinne. Mein Sieg macht mich mutig. Mit dem Finger folge ich den Regentropfen auf der anderen Seite der Fensterscheibe, ziehe Spuren, male magische Zeichen, bis der Regen verstummt, und hinter gebrochenen Wolken, die Sonne untergeht.


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