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Von mir zu mir Liebe Kathrin, bitte reg dich nicht so auf, irgendwann wird die Kellertreppe nicht mehr kleben. Auch werden die Stufen bald nicht mehr jeden Schuh, jeden Socken und jedes Fleckchen Fuß mit jener zähen Kraft festhalten, mit der dich deine einsame Schulkollegin Nicole an schlechten Tagen in ihre leere Wohnung zerren will. Kümmere dich jetzt lieber um die unmittelbare Schadensbegrenzung: Oma soll bitte aufhören zu schreien und Mama soll am besten gar nichts von dem ganzen Malheur mitbekommen, wenn sie in zwei Stunden vom Büro nach Hause kommt. Und bitte Lilli nicht vergessen – ihr werdet heute noch den Tierarzt brauchen, wenn sie ihre Zunge weiterhin in die süße Masse steckt, die sicherlich eine angenehme Abwechslung zum „Chappi-Alltag“ darstellt. Gut, du hast in deinen Sommerferien weiß Gott Besseres zu tun, als den Inhalt einer vollen Flasche Eierlikör von der Kellertreppe zu entfernen. Aber er ist eben schon 86. Und das Sonderangebot war sicherlich unwiderstehlich – gerade für jemanden, der noch vor dem Ersten Weltkrieg geboren wurde. Dass dieser rote, uralte Rucksack das Gewicht einer so großen Glasflasche überhaupt bis nach Hause halten konnte, ist ohnehin ein Wunder. Wirklich blöd, dass er dann ausgerechnet über der Kellertreppe mit ihren Steinstufen nachgab. Ich weiß, erst gestern musstest du für ihn vom Supermarkt zur Trafik und weiter zum Elektrogeschäft radeln, weil er nicht mehr wusste, wo er seine Brille vergessen hatte. Dass sie dann doch zu Hause auf der Mülltonne lag, war sicher keine böse Absicht. Du kennst ihn ja: Wenn er jemanden zum „Plauschen“ findet, vergisst er leicht, was er eigentlich vorhatte. Und in der Trafik hatte er ja den Hausegger getroffen, der noch ein Jahr älter ist und mit dem er beim alten Bauernhaus immer die Kirschen von den Zweigen pflückt, die über die Hecke reichen. Auch wenn er auf etwas dringend wartet, gerät er leicht durcheinander. So wie letztens, als er nur mit einer Unterhose bekleidet zum Postkasten gehen wollte, weil ihm plötzlich eines dieser Gewinnschreiben einfiel, die stets einen Geldsegen in Millionenhöhe versprechen. Du ranntest hinterher, um die dünne, weiße Gestalt in den weißen Knickerbockern aufzuhalten, bevor sie die Nachbarn sehen konnten. – Nun gut, dann haben sie eben wieder neuen Gesprächsstoff für die Kaffeejause erhalten. Irgendwie sind alte Leute aber auch „unterhaltlich“, wie er es nennen würde. Wie oft warst du schon kichernde Zeugin seines Schreiduells mit Oma, wenn sich das Kabel seiner Kopfhörer, die seine Schwerhörigkeit erforderlich macht, aus dem Fernsehgerät gelöst hatte und die Meldungen der „Zeit im Bild“ in voller Lautstärke das Haus erbeben ließen? ZiB-Moderator (ohrenbetäubend): „Präsident George Bush besucht Frankreich…“ Oma (schreit): „Deine Kopfhörer!“ Er (schreit ebenfalls): „Was?“ ZiB-Moderator (ohrenbetäubend): „Aufschwung in der heimischen Wirtschaft…“ Leider hört er nicht nur schlecht, er sieht auch nicht besonders gut, wie du sicher seit der Kaffeejause am vierten Adventsonntag des letzten Jahres weißt. Warum sonst hätte er anstelle der Vanillekipferln zu Lillis Keksen „mit schmackhafter Markknochenfüllung für ein glänzendes Fell“ gegriffen? Schummriger Kerzenschein und grauer Star, offenbar eine schlechte Kombination. Ähnlich begründet ist wohl auch jener Zwischenfall, als er die selig schlafende Lilli plötzlich unsanft mit seinen großen Händen aufhob und mit ihr zur Mülltonne in den Keller ging. Du konntest gerade noch verhindern, dass er den völlig verdatterten Dackel in die Biomülltonne warf. Er hatte Lilli für ein


Päckchen Obstabfall gehalten und war sichtlich bestürzt, sein „Butzi“ fast auf die Mülldeponie befördert zu haben. Zugegeben, auch sein Englisch lässt zu wünschen übrig, wie du immer wieder augenverdrehend feststellst. Er liest gerne das Magazin „News“, das er „Nefs“ ausspricht und in ein paar Jahren wird ihm die Einführung des Euro mit seinen „Zents“ zu schaffen machen. Dass er die Familie König von nebenan ständig „Fürst“ nennt – mit Adelstiteln nimmt er es anscheinend nicht so genau – bringt dich ebenfalls zum Seufzen. Aber dennoch weiß man immer, wen oder was er meint und das ist doch das Wichtigste. Momentan, mit 16 Jahren, sind dir die Eigenheiten eines 86-Jährigen natürlich unverständlich. „I’m embarrassed by my Grandpa“ – das wolltest du vor den Ferien in die Englischaufgabe schreiben, hast es dann aber doch nicht getan. Denn irgendwie warst du auf einmal „embarrassed by yourself“, nicht wahr? Denn plötzlich hast du dir gedacht, wer weiß, wie ich selbst auf meine Enkelkinder im Jahr 2067 wirken werde? Schrullig, schräg, zurückgeblieben, altmodisch – oder gar peinlich? Auch wenn du es heute noch nicht glauben kannst, all das wird einmal ein jähes Ende nehmen. Die Kellertreppe wird nie mehr kleben, niemand wird seine Brille verlegen, keiner mehr im Garten in weißen Knickerbockern auf den Millionengewinn warten. Was du jetzt noch viel weniger glauben wirst: Es wird dir fehlen. Aber du wirst dich daran erinnern und du wirst es aufschreiben, wenn es passt. Wenn es gilt, eine Kindheitserinnerung zu konservieren. Alles Liebe, deine Kathrin, 32 Jahre


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