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Codewort: Zeitfenster

Titel: Das Haus meines Vaters

Sie haben einen Jausenkorb mitgebracht und eine Decke, die jetzt in der Wiese ausgebreitet liegt. Oben auf dem Zirbitzkogel liegt noch ein wenig Schnee, doch die warmen Sonnenstrahlen lassen den letzten Rest Winter vergessen. Es riecht nach Frühlingsblumen. Hier werden sie wohnen. Am Vormittag haben die Eltern die erste Rate für das Grundstück bezahlt und ihre Ersparnisse in die Zukunft investiert. „Glaubst du, wir können das wirklich schaffen? Ein eigenes Haus“, sagt die junge Mutter. „Warum nicht?“, fragt der Vater, der auch erst 28 wird: „Wir sind eine Familie. Wir brauchen ein Haus. Wo wir jetzt sitzen, wird das Esszimmer sein und wir werden irgendwann nicht mehr daran denken, dass hier einmal Wiese war.“ Wir Kinder haben den verblühten Löwenzahn entdeckt in diesem Sommer 1973. Die Schirmchen der Pusteblumen fliegen durch die Luft. Wir lachen. Was interessiert uns das Geld und die herannahende Ölkrise und die tausend Gemeinheiten dieser Welt, wenn sich doch gerade ein Zitronenfalter

auf

der

Schulter

des

Mädchens

niederlässt?

Es

verscheucht ihn mit der Hand, denn es kitzelt auf der Haut. Der Vater steht wortlos auf und schreitet in großen Schritten, leise zählend

die Grenze entlang. Die Vierjährige ihm hinter her.

Das Grundstück ist leicht abschüssig an einem langgezogenen Hang gelegen.

Man

muss

keine

Angst

haben

vor

Hochwasser

oder

vor

Erdrutschen. Hier ist ein sicherer Ort. Viel Sonne von früh bis spät, Felder und Wiesen soweit das Auge reicht, dann Wälder, die an die sanften Bergketten anschließen und das Bild wie eine Kulisse umranden.

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Häuser

entstehen

Küchentisch

und

im

Kopf.

beobachte

Ich

den

sitze

Vater.

Er

mucksmäuschenstill bewegt

ein

Lineal,

am das

seitlich fixiert ist, vorsichtig über das große Blatt Papier. Die schwarzen Stifte gleiten mit einem leisen Kratzen sicher über die Oberfläche

und

hinterlassen

feine

Linien

manche

sind

dicker,

manche dünner, manche strichliert. Nach außen hin wird sich das Haus mit Satteldach unauffällig in die Landschaft fügen. Im Inneren soll der

Freiraum

dominieren.

Große

Schlafräume

wollen

Badezimmer mit Fenster und ausreichend Platz.

sie

und

ein

Eine Wohnküche als

Zentrum des Hauses. Der Vater denkt über das Stiegenhaus nach, das sich großzügig über zwei Geschosse erstrecken und wie ein Atrium wirken wird. Durch die raumhohe Verglasung im Obergeschoß soll das Licht ins Haus fallen und sich ausbreiten bis in das Vorzimmer. Zwei Jahre später geht es los: Bevor sich der Bagger für den Aushub in die Landschaft gräbt, wird ein Planschbecken mit einem welligen Rand aus leichtem Metall und einem blitzblauen Plastikboden in der Wiese aufgestellt. Fotos entstehen. Die Jüngste sitzt mitten drin, die Älteste hüpft in der Badehose umher. Die Mittlere posiert in einem hellblauen Frotteekleid mit aufgenähten Margeriten und einem weißen Strohhut am Beckenrand als würde sie in Biarritz die Füße ins Meer halten. Bald darauf werden zwei Sandhaufen, die wie Hügel in der umgewühlten Landschaft stehen, zum Sommerhit und locken auch Kinder aus der Nachbarschaft an. Wir legen ein Straßensystem auf dem Berg aus Sand an. Tunnel, Kreuzungen, Sackgassen entstehen. „Wir brauchen einen Kübel Wasser“, rufen wir. „Wir brauchen

mehr

Wasser!“ Mit dem Sandspielzeug entstehen Gebäude in Puddingform; Seepferdchen und

Sterne

orangefarbene

säumen

die

Straßen.

Mischmaschine

rattert

Die

Großen

unaufhörlich

bauen

auch.

Die

und

monoton

vor

sich hin. Zwei Schaufeln Sand, zwei Schaufeln Zement, ein Kübel mit Wasser, dann noch einer. Warten! Manchmal stehen wir daneben und schauen zu bis die dickflüssige Masse in den Schubkarren fließt. Ein Verwandter in blauer Montur schiebt die Scheibtruhe, wie wir sie nennen, über die Rampe aus Brettern mit einem Ruck hinauf, so dass der frische Beton beinahe über den Rand schwappt. 2


Alles läuft gut bis sich der Mann mit dem Scheibtruhe zielsicher unserer Stadt aus Sand nähert. Er wurde ausgesandt um Nachschub zu holen. Vier Augenpaare, die genau wissen, was er vorhat, starren ihn an, bereit ihr Werk mit Zehen und Klauen zu verteidigen. Er erkennt den Ernst der Lage und legt die Schaufel beiseite. Schlussendlich rücken sie im Gegenzug dafür, dass wir uns bereit erklären dem Haus zuliebe etwas Sand zu opfern und ein paar Straßen zu verlegen einige brauchbare

Ziegel heraus, die uns bisher aus Sorge, sie könnten uns

auf die Zehen fallen, vorenthalten blieben. „Gebt ihnen eben ein paar 25er“, sagen sie, aber ich kann keinen Zusammenhang zwischen dieser Bezeichnung und den Ziegeln mit den Löchern herstellen. Die Oberfläche ist rauh und warm von der Sonne. Wir schütten Wasser hinein und benutzen die Klötze als Ablage für unsere Figuren, die sich aus den Stielen vom Löwenzahn im Wasser

in bizarre

Formen

Käsebrote,

Speck,

verwandelten. Später

jausnen

wir

gemeinsam.

Wurst-

und

Radieschen. Hollundersaft für uns und Bier für die Schwerarbeiter, die zufrieden auf den Holzbrettern oder in der Wiese sitzen. Wenn die Betonmischer verstummen, scheint das Vogelgezwitscher lauter zu werden. Dann sagt die Mutter, es sei an der Zeit nach Hause zu gehen. Sand unter den Nägeln, Sand in den Haaren, Sand auf der Haut. Sand fällt aus den Schuhen, Sand in den Ohren. Wir Kinder wachsen und das Haus wächst auch. Die langen Eisenstäbe sind eines Tages im Bauwerk verschwunden und dort, wo einmal die Küche sein wird, ist jetzt ein Wald aus Stehern und Stützen, um die Deckenkonstruktion zu halten – acht Wochen lang. Wir hüpfen und tanzen in dem riesigen kühlen Raum, der sich in der Fantasie in einen Palast mit unzähligen Säulen verwandelt. Es ist ein Palast und ein Abenteuerspielplatz zugleich für uns während der Vater unzählige Stunden lang mauert oder schremmt und Leitungen und Böden verlegt und alles verputzt. Papas können alles, denken wir. Und Mamas unterstützen und sind immer da und helfen – auch wenn der Rücken schmerzt. Man muss die schönen Tage nutzen zum Bauen, meinen die Eltern. Wochentags kommt der Vater von der Arbeit nach Hause, isst und geht auf die Baustelle so bis neun oder bis die Sonne hinter der Grebenzen verschwindet und 3


in südwestlicher Richtung eine phänomenale Farbstimmung am Himmel zurück lässt. „Schön ist er hier“, denkt er, wenn er abends müde ins Bett fällt. Manchmal fährt ein Lastwagen vor, der sich rückwärts die enge Straße entlang schiebt und von einem Fahrer mit angestrengtem Blick, sich seitlich aus der Tür hängend, gelenkt wird und etwas von einem Actionfilm in die ruhige Gegend bringt. „Geht zur Seite, Kinder. Passt

auf!“,

sagen

Stimmen.

Aufregung

liegt

in

der

Luft.

Hochinteressante Materialien werden da geliefert, die wir noch nie zuvor zu Gesicht bekommen haben. Aus den hellgelben, weichen Ballen würden wir am liebsten ein Zelt bauen, aber sie lassen uns nicht. Nicht einmal anrühren dürfen wir das Zeug! Für die meisten ist das Wunder von Córdoba das wichtigste Ereignis im Jahr 1978, aber für uns ist es der Einzug in das Haus und später, viel später halten wir es für das eigentliche Wunder, dass zwei junge Menschen mit wenig Kapital und kaum Unterstützung es geschafft haben, ein so feines Eigenheim zu erschaffen. Eins, zwei, drei, vier Kinder ziehen mit ein und ein fünftes kommt noch hinzu als das Haus schon einigermaßen eingelebt ist. Am Anfang gibt es eine Etagenheizung in der Küche und vorerst zwei oder drei Räume zum Wohnen. Langsam wird das ganze Haus erobert bis hinauf in den Dachboden, der uns als Versteck und Rückzugsraum dient. Es wird stetig ausgebaut. Die Eltern freuen sich über Dinge wie das neue schmiedeeiserne Geländer im Treppenhaus, aber wir freuen uns auf die Rutschpartie – rücklings hinauf auf die Reling, runter rutschen. Wir versuchen es auch zu zweit und laufen um die Wette bis zum Start. Ab und zu stolpert einer auf den Stufen und weint kurz, um dann sofort weiterzumachen. Im Hochsommer kann es vorkommen, dass alle ins Freie laufen müssen um die Blumentröge in Sicherheit zu bringen, weil sich ein Gewitter zusammenbraut, das von einem Weltuntergang nicht weit entfernt zu sein scheint. Wenn der Himmel schwarz wird und düster, dann nimmt uns das Haus in Schutz. Wir Kinder zählen die Sekunden zwischen den Blitzen und dem ohrenbetäubenden Grollen danach und verstecken uns unter der Bettdecke der Eltern, die mehrmals, in beruhigendem Ton das Wort „Blitzableiter“ wiederholen. 4


Am

nächsten

Morgen,

wenn

die

Sonne

hinter

dem

Zirbitz

hervor

klettert, ist wieder alles vergessen. Tak tsch Tak tsch Tak. Ein Ball prallt endlos gegen die Wand neben der Garage. „Das ist ja nicht auszuhalten“ sagen sie, aber wir hören nicht zu: Werfen, zwei Mal klatschen, fangen. Gegen die Wand werfen, vor und hinter dem Körper klatschen, fangen. Fehler! Der Nächste ist dran. Manchmal schimpft einer mit uns, weil er sich konzentrieren oder ein paar Minuten schlafen will. Soweit wir zurückdenken können, hat sich das Haus nie über etwas beschwert. Im Winter nimmt es den Duft von Keksen, die bis spät in die Nacht hinein gebacken werden, in sich auf und im Sommer den von eingekochter Marmelade. Das Haus hört sich Rockmusik

genauso

an

wie

Schlager.

Das

Haus

weiß

mehr

als

die

einzelnen Bewohner und wenn es sein muss, dann hört es sich endlose Diskussionen

an

ohne

sich

jemals

einzumischen.

Für

so

manches

Problem seiner Bewohner mag das Haus ohnehin keine Lösung parat haben, aber mit Sicherheit können wir aber sagen, dass es keinen von uns im Stich lässt. ***** „Was macht ihr da, bitte?“, fragen die Kinder irgendwann, Jahre später, und die Enkelkinder schauen Oma und Opa verwundert zu und wollen schließlich auch mitmachen. „Dazu“, sagen die Eltern ganz außer Atem, „dazu hatten wir früher keine Zeit“: Der Ball fliegt gegen die Wand, klatschen, fangen. Und jetzt: Auf einem

Bein

stehen,

klatschen. Fangen!

5

den

Ball

werfen,

hinten

klatschen,

vorne


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