K3 Literaturpreis 2015 – Motto : Fantasy & Mystery – alle Einreichungen 01 Code: Lomond Das Lied des Assassinen
Wer keinen Namen sich erwarb, noch Edles je gewollt hat, gehört dem Staub der Welt an. - Die Quintessenz der assassinischen Seele ...
Der Assassine gehört dem Staub der Welt an. Er hat keinen Namen, kein höheres Ideal, keine Perspektive, keine Identität. Er ist weder ein Ich bin, noch ein Ich will, noch ein Ich weiß. Er ist der Staub der Welt. Er ist nichts. Egal, ob er in den Diensten des Bettlerkönigs steht, in den Diensten Al'Jebals oder irgendeines anderen Meisters ...
Der perfekte Assassine ist skrupellos. Er hält alles für einen Betrug, das nicht der Lehre seines Meisters entsprungen ist und nichts für ein Verbrechen, was sein Meister befiehlt oder er selbst tut. Er hält genau genommen gar nichts für ein Verbrechen, weil er damit aufgehört hat, Taten zu beurteilen oder Dinge zu bewerten. Mit dieser Einstellung begründet der Assassine seine Gewissenlosigkeit. Der perfekte Assassine in Al'Jebals Reihen heißt Ibaħie, der Gleichgültige, seine Taten sind mulhad, gottlos. Er glaubt an nichts und wagt alles. Er ist ein von weiser, nein, genialer Hand erschaffener Ungläubiger, der mit allen erdenklichen rhetorischen Tricks und über viele Jahre des Studiums des sogenannten Geheimen Wissens, das die Welt in ihrer Nichtigkeit entlarvt, gefügig gemacht wurde. Er ist Samit (ein Stummer) und während ein Krieger aus Leidenschaft fühlt, wofür er kämpft, fühlt er nichts. Denn er wurde mit den unlautersten Mitteln der Sophistik zum eiskalten Pragmatiker und Mörder herangezüchtet, der sich selbst mit dem Nichts gleichsetzt.
Mein Name ist Chara. Ich bin mittelgroß, schwarzhaarig und für viele Männer nicht gerade das, was sie von einer Frau erwarten, mit der sie das Bett teilen. Mein Bizeps ist recht beeindrucken, ebenso wie mein Hintern. Eigentlich ist alles an mir aus grundsolidem stahlharten Muskel. Erfreulich, oder nicht? Jedenfalls ist es das, was meinen Körper zu meinem Körper macht. Mein Beruf? Ich bin eine Assassinin. Was das bedeutet? Nun, das heißt, dass ich keinen eigenen Willen habe, geschweige denn ein eigenes Leben. Assassine zu sein bedeutet zweierlei: Erstens, du tust immer (ohne Ausnahme) das, was man dir sagt. Und zweitens: Heul bloß nicht! Nie! Infolgedessen sieht man mich nie in Tränen aufgelöst. Na ja, so gut wie nie ...
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K3 Literaturpreis 2015 – Motto : Fantasy & Mystery – alle Einreichungen Ich bin Chara. Und Chara singt ein Lied. Sie singt es laut und aus tiefster Überzeugung, so wie jeder andere, der ist wie sie. Das Lied beginnt bei der Dekonstruktion des Ichs, der Deformierung des naturgegebenen Welt- und Selbstbildes, das uns von der Richtigkeit und Wichtigkeit allen Seins erzählt. Es beginnt beim Zweifel an allem, was existiert, weil nichts davon wichtig zu sein scheint. Es beginnt mit der Zerstörung einer Melodie, um eine neue zu schaffen, ein Lied, das Welt in ein anderes, ein trübes, egales Licht taucht. Das Lied berichtet von unwürdigen Cäsaren, von machtsüchtigen Despoten, von der Nichtigkeit der Götter oder ihrer Geschöpfe, von der Bedeutungslosigkeit des Selbst. Das Lied berichtet von der Sinnlosigkeit der Welt an und für sich. Es ist das Lied des Assassinen ... Mein Name ist Chara. Ich arbeite für einen Mann Namens Al’Jebal. Die Stadt, in der ich geboren und aufgewachsen bin, heißt Agyra, die Welt, aus der ich komme Amalea. Dies ist der Traum, der meine Welt veränderte. Es ist ein Traum, der aus einer Ibaħie eine Kriegerin aus Leidenschaft machte. Und du bist hier, weil du entschieden hast, den Traum zu erfahren. Wenn du mit ihm fertig bis, wirst du darüber nachdenken, ob und wie sich Menschen verändern können und warum sie waren, was sie einst waren. Du wirst verstehen, was ein Assassine ist und wie es sich anfühlt, einer zu sein. Du wirst es verstehen ... oder auch nicht ...
Es ist ein Tanz auf dünnem Eis – eine Drehung, eine Bewegung, ein falscher Schritt, ein Knirschen, ein Sprung und dann ... tödliche Wasser. Meine nackten Füße schreiten über die dünne, kalte Eisschicht, als wüssten sie nichts von der Gefahr unter sich. Ich hab meine Stiefel vergessen, meine soliden, robusten, rutschfest besohlten Stiefel. Ein Blick zurück sagt mir, dass ich sie am Ufer stehen gelassen habe, der Meinung, dass Chara auch ohne irgendeinen Schutz bestens zurecht kommt. Dort liegen auch meine Klamotten. Ich blicke etwas verwundert an mir herab und stelle fest, dass ich nackt bin. Schulterzuckend gehe ich weiter. Was soll mir schon passieren? Mir ist nicht kalt. Meine Füße spüren die Kälte des Eises unter sich kaum. Eine Frage drängt sich mir auf: „Welcher aller Tode ist wohl der Schlimmste?“ Ich muss über diese überflüssige Frage lächeln und beginne zu laufen, ohne über den zerbrechlichen Boden unter mir nachzudenken. „Tod ist Tod“, denke ich. „Ende ist Ende. Vergessen ist Vergessen und ich bin ehrlich ganz scharf darauf, mich an nichts mehr zu erinnern.“ Einen kurzen Augenblick bin ich unaufmerksam und rutsche fast aus. Doch ich kann mich gerade noch fangen. Anstatt langsamer zu laufen, beschleunige ich meinen Schritt.
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K3 Literaturpreis 2015 – Motto : Fantasy & Mystery – alle Einreichungen Was soll jemandem wie mir schon passieren? Wieder lächle ich. Diesmal über meinen Größenwahn. Und gleichzeitig freue ich mich darüber, dass es mir egal ist – dass mir alles egal ist. Denn eines ist klar: Was auch immer mit mir geschehen mag – ich bin nicht, wofür diese Welt mich hält, bin nichts, das diese Welt verändern könnte. Kaum dass ich diesen Gedanken aufgefasst habe, stolpere ich und stürze. Gefährlich knirscht das Eis unter meinem Gewicht. Ein Krachen folgt und zwischen meinen Händen und Knien gräbt sich ein Sprung seinen Weg durch die kalte, hauchdünne Schicht gefrorenen Wassers. Ich starre auf das Eis, auf dem ich knie. Plötzlich wird mir klar, dass mich nur ein Hauch von Festigkeit vor der hässlichen Finsternis da unten trennt. Ich blicke auf die Einkerbung in dem gläsernen Nichts unter mir, den Sprung, der sich immer weiter ausdehnt und erkenne, dass ich kurz davor bin, in die Tiefe gerissen zu werden – dass ich wie so oft dabei bin, direkt in das Antlitz des Todes zu starren. Und der Tod beginnt mit mir zu sprechen. Er sagt: „Chara.“ Ich frage: „Was gibt’s Neues?“ Er antwortet: „Nur das Übliche, Chara, das Übliche ...“ „Ach ja“, sage ich und ziehe ein gelangweiltes Gesicht. „Geht es wiedermal um meine Seele?“ Der Tod nickt und lächelt wissend. Mir ist nicht zum Lächeln zumute, also lege ich mich auf den Bauch, begrabe den Sprung im Eis unter meinem Körper und presse meine Nase gegen die durchsichtige harte Kruste. „Die kannst du haben“, sage ich dem Tod, während ich direkt in seine schwarzen Augen blicke. Und ich weiß, dass er längst weiß, dass dem so ist. Meine Antwort ist immer dieselbe. Ich weiß außerdem, was jetzt kommen wird. Der Tod wird seine Hände nach mir ausstrecken und ich werde danach greifen. Das Eis unter mir wird meinem Gewicht nachgeben, der Sprung wird es schließlich entzweireißen und die kalten Wasser werden mich verschlingen. Und genauso passiert es auch. Ich spüre, wie sich die eisige Flüssigkeit um meinen Körper schließt und an meiner bleichen Haut zerrt. Ich spüre, wie ich auf den Grund des Ozeans gezogen werde. Ich spüre, wie der Tod näher und näher kommt, wie er auf mich zutreibt und wie er mich zärtlich umschmeichelt. Es ist doch immer das Gleiche! Erst tut er alles, um mich in seine Arme zu schließen und dann ist er nicht stark und willens genug, mich zu halten! Ich stelle mich darauf ein, den mir schon so vertrauten Kampf gegen meinen alten Freund auszufechten, denn jetzt kommt der Augenblick, wo ich dem Tod die Stirn biete. Es ist der Zeitpunkt, an dem die Macht meines Eides zu wirken beginnt und ich mich an mein Versprechen erinnere. Ich höre Al’Jebals Stimme, die
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K3 Literaturpreis 2015 – Motto : Fantasy & Mystery – alle Einreichungen mir so vertrauten Worte: Du bist mein. Ich höre meine Antwort, obgleich meine Lippen stumm bleiben. Ich kehre zurück. Ich kehre zu dir zurück. Also öffne ich meine Augen, wie gehabt. Ich sammle meine Kräfte und will loslegen. Doch da stutze ich. Erst jetzt fällt mir auf, dass der Tod meine Hände losgelassen hat. Verwirrt starre ich in sein Schattengesicht – abwartend, fragend. Ich schwebe in den kalten Wassern und verstehe nicht. Das Gesicht unter mir bleibt stumm, die blassen Geisterhände reglos. Mein Mund will sich öffnen, um ihn anzuschreien, ihn aufzufordern, um mich zu kämpfen, doch sofort dringt salziges Wasser ein und will meine Lungen füllen. Ich presse die Lippen aufeinander und meine Augen werden schmal. Ich bin wütend, bin fuchsteufelswild! Der Zorn leckt nach meinem Verstand, will mich niederreißen, dem Tod seine verdammte Gleichgültigkeit aus dem Gesicht schlagen. Da fragt der Tod: „Was soll ich mit dir?“ Und ich habe keine Antwort darauf. Ich bin wie vor den Kopf gestoßen. Während ich darauf warte, dass der Tod sich erklärt, beginne ich die Schmerzen zu fühlen, die ich bis jetzt nicht wahrgenommen habe. Mein ganzer Körper brennt vor Kälte – ich kann mich kaum noch bewegen. Wieder erklingt die dumpfe Stimme des Todes: „Chara, Chara“, sagt er kopfschüttelnd. „Was kann ich von dir wollen? Was, sag mir, soll ich mit einer Seele, die nicht einmal versucht, sich zu retten? Was könnte ich für ein Interesse an einer Seele haben, die sich ihrer eigenen Bedeutung nicht bewusst ist?“ Ich warte stumm darauf, dass mir der Sinn seiner Worte klar wird, doch alles was ich verstehe, ist, dass ich verloren bin. Ich bin gefangen in einer Welt zwischen den Welten. Wenn der Tod nicht um mich kämpfen will, kann ich nicht um mein Leben kämpfen. Dann bleibe ich für immer in der Widersprüchlichkeit des Lebens und Vergehens gefangen. Wenn ich nicht lebe, bin ich tot. Wenn ich nicht tot bin, lebe ich. Was passiert, wenn ich weder noch bin? Dann bin ich nichts. Ich will schreien, aber ich kann nicht. Der Tod lächelt ein maliziöses Lächeln, wie ich es bisher nur von Lomond kannte und sagt erneut meinen Namen. „Chara, Chara ...“, flüstert er. „Wo sind deine Stiefel? Wo deine Kleider, deine Rüstung? Wo hast du deine Waffen?!“ Seine Stimme ist jetzt voller Zorn. „Hast du gedacht, du kommst ohne sie klar? Denkst du, weder die Kälte, noch das Wasser, noch der Tod kann dir etwas anhaben? Glaubst du, ohne deine Waffen bist du immer noch unbesiegbar, weil dein Faustschlag genug der Zerstörung ist? Und wozu eine Rüstung, dein Körper ist doch auch ohne sie hart wie Stahl, nicht wahr?“ Ich starre voller Angst in die schwarzen Augen und beginne mit meinen eigenen Augen zu betteln. Stumm flehe ich ihn an, um mich zu kämpfen, damit ich mich endlich gegen ihn wehren kann, damit ich
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K3 Literaturpreis 2015 – Motto : Fantasy & Mystery – alle Einreichungen mich befreien kann und mein Leben zurückerobern. Damit ich meinen Eid halten, meinen Auftrag zu Ende bringen, zu ihm zurückkehren kann. Doch der Tod starrt mich nur an und setzt seine stumpfsinnige Rede erbarmungslos fort: „Es wird Zeit, dass du begreifst, wozu du lebst, Chara. Wach auf! Es ist höchste Zeit, dass du erkennst, warum du leben musst, und dass es nicht egal ist. Dass nichts egal ist und nichts, was du tust, je egal sein wird. Wenn du begriffen hast, dass es einen guten Grund gibt, dass du hier bist und dass du um deiner selbst willen kämpfen musst, vielleicht bin ich dann wieder willens, um dich zu kämpfen.“ Und dann verschwindet sein Gesicht unter mir und ich bin allein. Und ich bin am Ende, denn mir wird klar, dass ich verloren bin. Er hat vergessen, mir zu erklären, wie ich hier wieder rauskomme! Ich weiß nicht, wie ich ein Problem lösen kann, ohne gegen etwas anzukämpfen. Ich muss gegen jemanden kämpfen, um zu siegen! Ich muss kämpfen, um zu spüren, dass ich da, dass ich lebendig bin! Wie kann ich mein Leben retten, wenn ich den Tod nicht besiegen kann? Gegen wen soll ich kämpfen, wen zu Fall bringen? Wo ist mein Gegner? „Ich bin der Bote des Nichts, bin ohne Hoffnung geboren. Ich trag den Mantel der Nacht, hab mich im Schatten verloren. Meine Stimme singt sein Sehnen, meine Seele seine Welt. Seine Worte sind mir heilig, eine Rüstung, die mich stählt. Und ich singe seine Lieder, töte, was das Lied nicht hört, geb' nicht preis und gebe wieder, was allein der Nacht gehört. Und ich singe seine Lieder, sing die Welt in ihren Schlaf, stehe auf und gehe nieder, bis auch ich vergessen darf. Ja, ich singe seine Lieder, bin der Bringer seiner Macht, stehe auf und gehe nieder, und entschwinde in die Nacht ..." Die Worte tanzen über meine Seele wie Wassertropfen über geölten Stahl ... Ich bin der Bote des Nichts ... Meine Gedanken verlangsamen sich, werden träger und zäher ... bis sie gänzlich zum Stillstand kommen. Ein Ruck, dann spüre ich den kalten Ozean, der mich umschließt und mich verschlingen will. Mein Körper meldet sich zu Wort und mein Verstand beginnt wieder zu arbeiten. Er arbeitet sich durch die endlosen Welten des Wahnsinns, der ihn abzutöten droht. Er wühlt sich durch die vielen Schichten illusionärer Bilder, bis er an die Oberfläche dringt, bis er versteht, dass er sich in einem Körper befindet, der in den eisigen Wassern zugrunde geht, wenn niemand ihn rettet. Er versteht, dass er diesen Körper schnellstens hier raus ins Trockene bringen muss und ich begreife, dass mein Verstand Recht hat. Mir wird klar, dass ich in meinem Kopf gefangen bin und dass ich eine Chance habe, mich zu retten. Ich erkenne meinen Gegner,
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K3 Literaturpreis 2015 – Motto : Fantasy & Mystery – alle Einreichungen meinen realen, irrealen Gegner. Ich erkenne ihn in meinen inneren Stimme, meinen irrationalen Fragen, meinen verworrenen Gedanken, die sich um Sinn und Unsinn drehen, um Wahr und Falsch, um Gut und Schlecht, um Leben und Tod. Ich verstehe – mein Kampf ist ein Kampf gegen mich selbst. Meine Rettung liegt im Sieg über alles, was mich in mir selbst gefangen hält und mich zu meinem eigenen Feind macht. Alles, was ich tun muss, ist, aus meinem Kopf in die Wirklichkeit zurückzukehren. Und ich beginne Arme und Beine zu bewegen und die kalten Wasser zu teilen. Ich beginne zu schwimmen ...
Schweißgebadet wache ich auf und ringe nach Luft. Mein Herz rast, mein Atem geht stoßweise. Ich zittere so heftig, dass das Bett unter mir vibriert. Eine Weile höre ich auf meinen Herzschlag und versuche das Zittern zu unterdrücken und meinen Puls zu beruhigen. Schließlich richte ich mich auf und blicke auf die Matratze. Neben mir liegt der warme Körper des Elfen. Seine Brust hebt und senkt sich in regelmäßigen Abständen. Er atmet ruhig. Lindawen schläft den Schlaf der Gerechten. Er wird in seinen Träumen nicht von quälenden Fragen heimgesucht. Ich rieche den Schweiß, den ihm der Tag auf die Haut getrieben hat. Die Erschöpfung steht ihm noch ins Gesicht geschrieben, doch es ist eine wohltuende Erschöpfung, die ihn einlullt und einen kummerlosen Schlaf verspricht. Ich lasse mich zurück auf das Kissen fallen und starre gegen die Decke der Kajüte. Der Tod hat Recht. Ich schließe die Augen und presse die Hand gegen meine linke Brusthälfte. Es ist nicht egal. Nichts ist egal!
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02 Code: Mara Ferr Schweben Seit achtzehn Jahren, fünf Monaten, zwei Wochen und einigen Tagen (wie vielen genau konnte er nur vermuten, nach dem entscheidenden Sturz fehlten ihm ein paar davon; nicht dass diese dürftige Erinnerungslücke eine tragende Rolle spielte bei insgesamt mehr als 6735 „Vierundzwanzig-StundenSequenzen“ – dennoch ärgerte er sich, dass es ihm trotz höchster Konzentration nie gelungen war, die exakte Anzahl herauszufinden) konnte er sehen, hören, riechen und fühlen. Sonst nichts. Er konnte nicht sprechen, nicht schlucken, sich nicht selbständig bewegen (auch nicht die geöffneten Augenlider) und somit allen, die es seit lähmenden Ewigkeiten gut mit ihm meinten, nicht verständlich machen, dass sie ihre nutzlosen Bemühungen einstellen und ihn endlich in Ruhe und der Natur ihren Lauf lassen sollten. Kein Tier würde in vergleichbarem Zustand in freier Wildbahn überleben, kein Tier würde man in vergleichbarem Zustand in Tierkliniken zum Überleben zwingen. Zwei kellerkalte Flaschen Bier waren ihm zum Verhängnis geworden. Nicht beim sorgsamen Hinuntersteigen der alten Steintreppe, nein, beim hastigen Zurückeilen zum Fernseher und dem nervenzerfetzenden Fußballspiel war er gestolpert und in dem verzweifelten Versuch, sein kühles Bierchen zu retten, hatte er die Arme nach oben gerissen – die Flaschenhälse fest umklammert – und war, mangels abfedernder Handflächen, nach vorne gekippt und mit der blanken Stirn ungebremst auf die scharfkantige Stufe aufgeschlagen. Das berstende Knacken, das mit schwingendem Echo in seinen Ohren widerhallte, hatte er den zerschellenden Bierflaschen zugeschrieben und noch panisch gedacht „Nicht in die Scherben greifen!“, bevor seine Welt schwarz wurde. Die nächste Erinnerung hatte er daran, dass jemand an seinen Augenlidern zupfte, schmerzhaft einen grellen Lichtstrahl in seine Pupillen schoss und sachlich bemerkte: „Keine Reaktion.“ Das entsetzte, schluchzende Keuchen, das gedämpft von irgendwo hinten, entfuhr zwischen verkrampften Fingern aus Maries Mund. „Kommen Sie, ich erkläre Ihnen alles in meinem Büro. Nicht hier vor Ihrem Mann. Er kann uns wahrscheinlich hören.“ Raschelnde Bewegungen, klackernde Schritte, das sirrende Öffnen und Schließen einer hydraulischen Türe und dann nichts außer zyklischen Signaltönen von medizinischen Geräten, unterbrochen vom Saugen und Zischen der Beatmungspumpe in konstanten Intervallen. Maximilian war trotz der beängstigenden Situation guter Dinge. Er war grundsätzlich ein positiver Mensch, für den das viel zitierte Glas stets halb voll war und der sich selten aus der Ruhe bringen ließ (nur Fußballspiele hatten eine verheerende Wirkung auf ihn). Daher erkannte er nun zwar den Ernst der Lage, wusste auch bis ins kleinste Detail, wie er sich dahin manövriert hatte, sorgte sich aber nicht weiter, da er aus dem Augenwinkel den klaren Infusionstropf sehen, die wohltuende Kühle der Laken spüren, die süßliche Schärfe der Desinfektionsmittel riechen und die Geräte hören konnte. Schmerzen hatte er keine und Hand, Beine oder Kopf zu bewegen funktionierte nicht, aber zweifellos hatte er sich einige Knochen bei dem Kellersturz gebrochen und war nun ruhiggestellt, wenn nicht sogar von oben bis unten eingegipst. Nichts, was nicht nach ein paar Wochen wieder in Ordnung kam, mit einigen Einschränkungen vielleicht, aber dennoch im Großen und Ganzen intakt. Seine Kehle kratzte, die pelzige Zunge klebte ihm derart am Gaumen, dass er nicht schlucken konnte, er musste dringend jemanden finden, der ihm zu trinken gab. Er konnte keinerlei Bewegungen ausmachen oder hören, der rote Knopf, mit dem Patienten nach den Schwestern rufen konnten, hing an einer grauen Plastiktastatur unerreichbar auf einem silbern glänzendem Balken über seinem Bett. Nun gut, dann würde er eben schreien müssen. Das erschien ihm zwar hysterisch und unangemessen, doch der Drang nach einem
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K3 Literaturpreis 2015 – Motto : Fantasy & Mystery – alle Einreichungen Tropfen Flüssigkeit quälte ihn furchtbar und er versuchte sich zu räuspern, bevor er laut und deutlich rief: „Bitte etwas Wasser!“ Stille. Irritiert stellte er fest, dass er nichts gehört hatte. Seine eigene Stimme war unhörbar, die Buchstaben hatten sich nur in seinem Kopf zu lautlosen Worten geformt. Er konnte nicht sprechen. Auch nicht schlucken. Die Zunge klebte weiterhin am Gaumen. Krampfhafte Versuche, einzelne Teile seines Körpers zu bewegen, scheiterten. Die Pieptöne der technischen Gerätschaften änderten dabei weder Frequenz noch Lautstärke. Langsam kroch ein beklemmendes Gefühl der Hilflosigkeit in ihm hoch, engte seine Brust ein und kalte Angst krallte sich erbarmungslos in seinen Kopf. Tag eins von 6735 hatte begonnen. Als privilegierter Nutznießer einer hochdotierten Krankenversicherung wurde ihm das zweifelhafte Glück zuteil, nach allen Regeln der medizinischen Kunst beatmet, mit Astronautennahrung über eine hauchdünne Magensonde gefüttert, antiseptisch gewaschen, hygienisch gehegt und steril gewindelt zu werden. Mehrere Physiotherapeuten trainierten mehrmals täglich seine Muskeln, die zu verkümmern, sich zusammenzuziehen und zu hässlichen Klauen zu verformen begannen. Eine beflissene Kosmetikerin sorgte monatlich für gepflegte Hände und Füße sowie einen schicken Haarschnitt. Parallel dazu waren Radio oder Fernseher permanent eingeschaltet, um seinem Gehirn Reize anzubieten, die es beharrlich ignorierte. Seine Kinder, Eltern, Freunde und Verwandten gaben sich die Klinke der Intensivzimmertür in die Hand, aufgesetzt heiter plauderten sie mit ihm und waren am Ende genauso entmutigt, verzweifelt und frustriert wie er selbst. Er lernte zu ertragen, zu dulden, zu erleiden, alleine schon deshalb, weil er keine Wahl hatte und wünschte sich mit der Zeit nichts sehnlichster, als abzudriften in die unbekannte, von allen Lebenden außer ihm so gefürchtete Welt. Nach drei unerträglichen Jahren hatten die Ärzte Marie endlich von der Aussichtslosigkeit auf Heilung oder wenigstens Besserung überzeugen können (ein mühsames und beinahe zum Scheitern verurteiltes Unterfangen) und sie gab gemeinsam mit seinen greisen Eltern ihre Einwilligung, alle lebenserhaltenden Geräte abzuschalten. Sie hatte sich zu ihm auf das Bett gelegt, ihren Kopf in seine Halsbeuge gebettet und als sie in der plötzlichen, absoluten Stille spüren konnte, dass sich seine Herzschläge verlangsamten, hatte sie tränenüberströmt wütend mit ihrer zierlichen Faust auf seinen ausgezehrten Brustkorb getrommelt und heiser geflüstert: „Bleib bei mir, ich bitte dich, bleib.“ Sein Herz hatte dem Befehl ihrer Schläge gehorcht und zögerlich, aber stetig weitergeschlagen und seine Lungenflügel gezwungen, sich zu blähen und durch die Kanüle in seinem Kehlkopf Luft aufzusaugen. Marie nahm ihn mit nach Hause. Während sie in den nächsten fünfzehn Jahren seine Zähne putzte, ihm die Windeln wechselte, ihn wusch, cremte und aus- und anzog, seine Augen mit künstlicher Tränenflüssigkeit befeuchtete, Gymnastik mit seinen verkrüppelten, sinnlosen Gliedmaßen betrieb, seine offenen Lippen mit Bier, Wein oder Whiskey beträufelte, seine Sonde wechselte, jeden Bericht über Wunderheilungen bei Komapatienten wie besessen verschlang, ihn in einem Spezialrollstuhl in Konzerte oder auf Berggipfel schleppte, Familienfeste organisierte, zu einer Selbsthilfegruppe pilgerte und bei all der Belastung ihn dennoch liebevoll wie einen ganz normalen Menschen behandelte (außer in Momenten tiefster Hoffnungslosigkeit; da tobte sie, schrie und heulte, zertrümmerte Geschirr und trat gegen sein orthopädisches High-Tech-Bett), übte Maximilian sich in der hohen Kunst des Herzstillstandes. Unter Aufbietung seiner letzten verbliebenen geistigen Kräfte und mit eisernem Willen gelang es ihm mittlerweile, sein Herz anzuhalten und sich selbst in einen Schwebezustand zu versetzen. Zu seinem Bedauern war er noch nicht in der Lage, endgültig zu entgleiten; immer wieder war er zurück in seinen bewegungslosen Körper gesunken. Aber konsequentes Training und die begierige Aussicht darauf, diesem Wahnsinn, der sich sein Leben nannte, eigenhändig ein Ende zu bereiten, erlaubte es ihm, pünktlich zu ihrem dreiunddreißigsten
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K3 Literaturpreis 2015 – Motto : Fantasy & Mystery – alle Einreichungen Hochzeitstag Marie und sich selbst ein wunderbares Geschenk zu machen: Er konnte ungehindert Selbstmord begehen und sie von ihm befreien. Marie war unterwegs, um zur Feier des Tages seinen Lieblingswein zu besorgen und er nutzte die Gunst der Stunde, um sich in Trance zu versetzen und sein Herz still stehen zu lassen. Sie musste es gespürt haben, so wie sie jede seiner Regungen in den letzten 6735 Tagen gespürt hatte. Just in dem Augenblick, als er hoch über seinem Stuhl schwebte und jubelnd feststellte, dass er immer höher und höher stieg und nicht mehr zurückkommen würde, hörte er sie unvermittelt an der Eingangstüre kreischen. „Neiiiiin, Maaax, nein, bitte nicht! Lass mich nicht allein! Max, nicht!“ Sie stürzte weinend durch den schmalen Flur ins Wohnzimmer auf seinen leblosen, an den Stuhl gefesselten Körper zu, die Einkaufstüte platzte, Eier klatschten schleimig auf den Boden, die Milchflasche zerbrach, sie strauchelte über den flauschigen Teppich, ruderte hektisch mit den Armen, drehte sich im Fallen, um das Gleichgewicht wiederzuerlangen, prallte mit dem Hinterkopf auf die Glasplatte des Couchtisches und blieb in einer schwarzroten Blutlache reglos liegen. Er starrte auf sie hinab, sah, wie sich das Blut unter ihren Haaren zwischen tausenden von Glasscherben ausbreitete, einem glitzernden Mosaik gleich, ihre Augen waren geschlossen, doch ihre linke Hand zitterte und der Brustkorb hob sich flach und in Zeitlupentempo. „Marie, lebe, ich bitte dich, lebe! Ich will dich zurücklassen, nicht noch einmal mit mir reißen!“ Sie öffnete die Augen und lächelte. Heiter, zufrieden, glücklich. Sinken. Schnell. Atmen. Hilfe holen. Sofort. Ein kehliges Röhren brach sich durch seine starre Halskanüle Bahn, Tränen gruben Furchen in seine eingefallenen Wangen, das rechte Bein begann zu zittern, rutschte von der Fußhalterung des Rollstuhles auf den Boden und trat unsicher auf. Zurück. Kommen. Jetzt.
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K3 Literaturpreis 2015 – Motto : Fantasy & Mystery – alle Einreichungen 03 Codewort: Haferkekse Dorfgeflüster Es war eine kalte, neblige Novembernacht, die Greta Schinagl sich ausgesucht hatte, um auf den Kugelberg zu gehen. Dorthin war sie schon immer gegangen, wenn Probleme sie belastet hatten. Die Ruhe, die der Wald ausstrahlte, hatte ihr viele Male dabei geholfen, ihre Gedanken zu ordnen und Lösungen zu finden. Greta ging durch den Wald und dachte an ihre Tochter Maria, die von allen Mitzi genannt wurde. Diese hatte ihr nur Stunden vor dem Spaziergang eröffnet, dass sie Hans Maier, ihren Verlobten, verlassen und an Peter Meisters Seite wechseln würde. Greta war bestimmt keine konservative Frau, die eine solche Nachricht aus der Bahn geworfen hätte, doch war Hans Maier nicht Mitzis erster Verlobter gewesen. Zuvor hatte sie Martin Schuster, Alois Möstl und Walter Mierz ihre Verlobungsringe zurückgegeben. Das ganze Dorf wusste über Mitzis Umtriebigkeit in Liebesangelegenheiten Bescheid, und das belastete Greta, die stets um Diskretion bemüht war. Hinter vorgehaltener Hand wurde Mitzi der Liederlichkeit bezichtigt, auch wenn es natürlich so war, dass sich etliche junge Männer Hoffnungen machten, mit dem attraktiven Fräulein zusammenzukommen. Als Greta Schinagl sich einer alten Buche näherte, an deren Stamm gelehnt sie gerne verweilte, fühlte sie, dass etwas anders war als sonst. Sie war nicht alleine im Wald. Sie hörte das Brechen von Zweigen auf dem Waldboden und bald sah sie eine kleine Frau auf sich zukommen. Eine Wolke gab den Vollmond frei und sie erkannte, dass es sich bei der Frau um Waltraud Klinger handelte. Diese war im Dorf als eine Frau bekannt, die über magische Kräfte verfügte. Sie hatte mit ihrer Zauberkunst schon vielen Menschen geholfen, doch hatten die Leute auch Angst vor ihr. Sie fürchteten nämlich, dass Waltraud ihre Magie gegen sie einsetzen könnte, wenngleich die friedliebende Hexe nie in Streitigkeiten verwickelt war. “Kalt ist es heute.”, stellte Waltraud fest. “Ja, Waltraud, das ist es.”, pflichtete ihr Greta bei und seufzte. “Mitzi hat wohl wieder einen Neuen. Oder bist du aus einem anderen Grund in den Wald gegangen?” “Ich weiß nicht, was mit meiner Tochter los ist!”, rief Greta. “Ich könnte dir helfen.” “Wie denn? Bei Mitzi ist doch Hopfen und Malz verloren!” “Ich habe einen neuen Zauberspruch formuliert, der deine Tochter auf den rechten Weg zurückbringen wird. Allerdings verlange ich eine Gegenleistung.” “Ich habe nicht viel Geld, Waltraud, aber was ich dir geben kann, sollst du erhalten.” Die Hexe winkte ab, Geld interessierte sie nicht. Sie flüsterte in Gretas Ohr, was ihr Hexenlohn werden sollte. “Nein!”, entfuhr es Greta. “Das Rezept für meine Haferkekse ist ein uraltes Familiengeheimnis. Ich kann es dir einfach nicht geben.” “Das ist sehr schade, vor allem für deine Tochter.” “Wofür brauchst du es denn? Du bist doch eine Hexe. Dir muss es doch ein Leichtes sein, dieses Gebäck auf den Tisch zu zaubern.” “Das mag schon sein, doch hexe ich niemals für mich selbst. Ich finde, dass sich das nicht gehört.” “Kann ich dir etwas anderes geben?” “Nein, Greta. Ich will das Rezept. Das kann doch nicht zu viel verlangt sein - als Gegenleistung dafür, dass Mitzi endlich ein normales Leben führt.” Greta Schinagl überlegte zwei Minuten, und schließlich willigte sie ein. Waltraud murmelte den Zauberspruch, während Mitzis Mutter das Rezept auf ein Blatt Papier schrieb, das sie in ihrer Jackentasche gefunden hatte. Zwei Tage später besuchte Mitzi ihre Mutter.
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K3 Literaturpreis 2015 – Motto : Fantasy & Mystery – alle Einreichungen “Mama, ich habe beschlossen, Hans doch zu heiraten. Ich weiß nicht, welcher Teufel mich geritten hat, ihn zu verlassen.” Greta lachte innerlich. Sie wusste sehr wohl, was der Grund für den Sinneswandel ihrer Tochter war. “Es freut mich sehr, dass du Hans nicht verlässt, Mitzi. Er ist ein netter Mann und ihr werdet bestimmt glücklich.” Die Nachricht machte rasch die Runde im Dorf, und von einem Tag auf den anderen wurde nicht mehr schlecht über Mitzi Schinagl geredet. In Dörfern ist es oft so, dass ein Mensch schnell die Gunst der anderen verliert, doch wenn sich eine Kleinigkeit ändert, wenn er den Vorstellungen der anderen plötzlich entspricht, ist er wieder wohlgelitten - obwohl er der selbe Mensch ist. Drei Wochen nach der Hochzeit von Mitzi und Hans pochte es an Greta Schinagls Haustüre. Die Hexe stand davor und rief: “Du hast mich betrogen!” “Ich habe dich nicht betrogen, Waltraud.”, antwortete Greta. “Doch, das hast du! Die Haferkekse wollen mir einfach nicht gelingen. Du hast mir bestimmt eine Zutat verschwiegen!” Sie hielt Greta das Rezept vor die Nase. Greta las, was sie geschrieben hatte. “Es tut mir leid, Waltraud. Ich habe das Rezept so aufgeschrieben, wie meine Großmutter es mir damals überliefert hat.” “Ich glaube dir nicht!”, rief die Hexe. “Aus diesem Grund sehe ich mich gezwungen, die Wandlung deiner Tochter zum Guten hin rückgängig zu machen.” Nein, Waltraud, das darfst du nicht tun! Was soll dann aus dem armen Kind werden?” “Das ist mir gleichgültig, Greta!” Die Hexe lief davon und Greta lag die ganze Nacht wach im Bett. Die Sorge um die Zukunft ihrer Tochter ließ sie keinen Schlaf finden. Waltraud Klinger machte ihre Ankündigung nicht wahr, wenigstens nicht auf die Art und Weise, die Mitzi in alte Verhaltensmuster hätte zurückfallen lassen. Mitzi erwachte am nächsten Morgen und lief, nachdem sie ihr Spiegelbild gesehen hatte, zu ihrer Mutter. “Um Himmels willen! Was ist mir dir geschehen, mein Kind?”, stieß Greta entsetzt hervor, als sie ihre Tochter sah. “Ich weiß nicht, wovon du sprichst, Mama.”, gab Mitzi sarkastisch zurück. “Mir war eben danach, mir über Nacht einen Buckel wachsen zu lassen. Auch die beiden Warzen auf meiner Nase stehen mir gut, findest du nicht?” Dann brach sie in Tränen aus. Greta ergriff ihre Hand. “Das ist meine Schuld, Mitzi.” “Was hast du getan, Mama?” Greta erzählte ihr von dem Abend im Wald. “Hast du Waltraud denn das richtige Rezept gegeben?” “Ja, Mitzi, das habe ich. Ich weiß nicht, warum sie es nicht fertigbringt, danach zu backen.” “Was soll ich denn jetzt machen?”, fragte Mitzi verzweifelt. “So, wie ich aussehe, werde ich zum Gespött des Dorfes!” “Ich verspreche dir, dass ich eine Lösung finden werde.”, sagte Greta Schinagl und verließ das Haus. Atemlos pochte sie an Waltraud Klingers Türe. Die Hexe öffnete und sagte: “Gefällt dir deine Tochter, so wie sie nun aussieht?” “Waltraud”, rief Greta, “ich habe dich nicht betrogen!” Doch die Hexe hatte kein Interesse daran, das Gespräch weiterzuführen. “In zwei Tagen kannst du wiederkommen, Greta! Dann sehen wir weiter.” Mitzis verändertes Aussehen blieb niemandem im Dorf verborgen. Gerüchte machten bald die Runde. Die junge Frau wäre ihrem Ehemann untreu gewesen, und der Fluch die Strafe dafür. Ein anderes besagte,
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K3 Literaturpreis 2015 – Motto : Fantasy & Mystery – alle Einreichungen Mitzis Schwiegermutter hätte die Verwandlung bewirkt, um ihr eine Lektion zu erteilen - wofür, das sagte die Person, die das Gerücht in die Welt gesetzt hatte, nicht dazu. Zwei Tage später stand Greta Schinagl erneut vor Waltraud Klingers Haustüre. “Waltraud, bist du nun bereit zu reden?” “Komm herein, Greta.” Sie nahmen am Küchentisch Platz, auf welchem die Hexe die Zutaten für die Haferkekse vorbereitet hatte. “Es wird wohl das Beste sein, wenn du sie vor meinen Augen zubereitest, Greta. Ich werde mir einprägen, was du machst und wie du es machst, und dann backe ich die Kekse vor deinen Augen.” “Einverstanden.”, sagte Greta und machte sich an die Arbeit. Nachdem die Kekse ausgekühlt waren, kosteten die beiden Frauen davon. “Sie schmecken so, wie deine Haferkekse immer geschmeckt haben.”, stellte Waltraud fest. “Nun backe ich welche.” Greta sah der Hexe dabei zu, ohne ein Wort zu sagen. Waltrauds Kekse schmeckten grauenhaft. “Also, Greta, welchen Fehler habe ich gemacht?” “Handwerklich hast du alles richtig gemacht, Waltraud.” “Woran liegt es dann?” “Du hast die Haferkekse ohne Liebe zubereitet. Alles was man macht, muss man mit Liebe machen. Versuch es noch einmal.” Die Hexe machte sich erneut ans Werk, und siehe da, diese Kekse schmeckten vorzüglich. “Wirst du nun den Fluch von Mitzi nehmen?” “Ja, das werde ich.” Sie sprach eine magische Formel, und Mitzi war wieder so schön wie sie zuvor gewesen war. Erneut machten Gerüchte die Runde, doch dieses Mal sorgte Greta Schinagl dafür, dass sie schnell verstummten. Beinahe alle Dorfbewohner waren im großen Bierzelt auf der Festwiese versammelt, als Greta die Bühne erklomm und folgende Worte an die Anwesenden richtete: “Liebe Mitbürger! Ich weiß, dass ihr euch fragt, was es mit Mitzis Verwandlung und Rückverwandlung auf sich hat. Nun, ich kann euch versichern, dass alles in Ordnung ist. Ich war erstaunt, wie sehr ihr euch für meine Tochter interessiert habt, und dafür danke ich euch. Nein, bitte seid nicht betreten und senkt eure Blicke nicht! Ich meine das ehrlich. Da habe ich gefühlt, wie viel Liebe in euch steckt. So viel Liebe, wie ihr auf das Erfinden von Gerüchten verwendet habt, habe ich selten erlebt. Vielen Dank dafür! Ich bin mir nicht sicher, ob sich das gehört, doch habe ich eine Bitte an euch: Legt in Zukunft einfach die selbe Liebe in alles, was ihr macht, also in reale Dinge! Danke!” Das hatte gesessen. Über Mitzi wurde nicht mehr gesprochen, und auch andere Dorfbewohner und deren Taten wurden nicht mehr zu Zielen des Argwohns, des Spottes oder gar der Lüge.
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04 Codewort: Trug Seitenweise Trug
An der Themse war es ruhig. In der Ferne konnte man ein merkwürdiges Stimmengewirr ausmachen, das sich sprachlich allerdings nicht definieren ließ. Der Markt im Hintergrund war leer. Ein einsamer Händler fegte vor seinem Stand und begann ruhig und bedächtig T-Shirts aufzuhängen. Iron Maiden, Metallica, und solche mit der Aufschrift I love London. Ganz ab und zu zog eine Touristengruppe vorbei, meist hektisch und ohne dabei aufzusehen. Das Hochhaus in ein paar Metern Entfernung, ein hoher Glaskomplex, war wohl ein Geschäftsgebäude, denn hinter einem der Fenster huschte ein Mann mit Handy in der Hand wild gestikulierend und sichtlich aufgebracht hin und her. Im Stock darunter lehnte eine Frau im Anzug am Fenster und rauchte. Mit leerem Blick starrte sie auf den Fluss. Darunter saß ein Mann vor seinem Computer, tippte monoton auf seine Tastatur und starrte dabei auf den Monitor. Darunter war nichts. Und darunter war bereits der Eingang mit dem Firmenlogo auf einer automatischen Glastür, die im Minutentakt auf- und zuging. Menschen kamen, Menschen gingen.
Auf einer Bank, auf die just in diesem Moment das Sonnenlicht fiel, saß ein Mann. Kein Engländer, das war offensichtlich. Er hatte die Beine überschlagen und kritzelte in einem Buch herum. „Excuse me, can you tell me where the next undergroundstation is?“, fragte eine Dame und stellt sich ihm demonstrativ ins Sonnenlicht. „Just straight ahead. After five minute walk – right side“, gab der Herr auf der Bank zurück. Sein Englisch klang gut gelernt, aber dennoch nicht einwandfrei. Die Dame bedankte sich und rannte los. Auch sie war nicht von hier. Ihr Gang verriet sie. Der Herr kritzelte weiter. Es musste ein Tagebuch oder etwas Ähnliches sein. Es sah schäbig und mitgenommen aus. Die Seiten flatterten lose herum und würde er das Buch nicht mit aller Kraft fixieren, so hätte es sich vermutlich selbständig gemacht und mit dem Wind in sämtliche Richtungen verabschiedet. Auf einigen Seiten klebten Fotos mit kurzen Vermerken darunter. Auf anderen war unleserlicher Text. Nach einigen Minuten des Kritzelns packte er das Buch in seine Tasche, stellte diese neben sich und sah sich um. Der Markt hatte sich ein wenig gefüllt. Eine Hand voll Leuten war stehen geblieben und schlenderte umher. Das Handy des Banksitzers klingelte. „Ja, bitte?“
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K3 Literaturpreis 2015 – Motto : Fantasy & Mystery – alle Einreichungen „Ja kann ich machen, kein Problem. Ja. Nein. Warum? Aber sicher. Hat Ihnen nicht… Achso, na dann. Ja. Ja. Mein Flieger? Ja der geht morgen. Ja, morgen. Ich hoffe doch. Für Sie immer. Und ja liebe Grüße an… Ja. Das ist nett. Danke. Danke. Danke. Bis dann.“ Er kramte in seiner Tasche, holte einen Kalender heraus und trug etwas ein. Am Stift kauend überlegte er einige Sekunden, dann trug er noch etwas dazu und steckte den Kalender weg. „Ich wusste, dass ich dich hier finde.“ Die Stimme drang von hinten an sein Ohr. Er rührte sich nicht. „Du musst lernen, welchen Menschen man trauen kann und welchen nicht.“ Immer noch regte er sich nicht und starrte ausdruckslos auf den Fluss, der ihm in diesem Moment Ruhe zuführte. Der Mann nahm jetzt neben ihm Platz und wartete ein paar Minuten, ob von seinem Sitznachbarn irgendeine Form von Regung kam. Nichts. „Wovor versteckst du dich, hä? Wovor läufst du davon?“ Nichts. „Weißt du denn eigentlich noch, warum du auf der Flucht bist, Samuel?“ Er wusste es nicht mehr. Er hatte alles ausgeblendet und wollte weder darüber sprechen noch nachdenken. Er wusste nur, dass es da etwas gab und das genügte ihm. „Lass mich in Frieden“, flüsterte er leise. „Deinen Frieden kannst du haben, nur glaube ich nicht, dass er das hier ist!“ „Du weißt nichts. Gar nichts weißt du. Du tauchst hier auf und willst mir erzählen, was gut für mich ist?“ Samuel verschränkte die Hände vor seinem Körper und schaute demonstrativ weg. Nachdem sich einige Minuten nichts tat, sah er vorsichtig zur Seite. Der Jemand war weg. Der Markt war jetzt gut gefüllt. Alle paar Minuten strömten neue Personen zu den Ständen. Ein buntes Treiben, das sich in einem Sprachen-Wirrwarr ausdrückte. Der Fluss schien seinen eigenen Willen zu haben. Mal floss er langsam, dann wieder schnell und hin und wieder kam es Samuel sogar so vor, als würde er stehen. Er musste dann an einen See von früher denken, an das türkise Wasser, das in der Sonne glitzerte. Den Namen hatte er vergessen. Er hatte alles vergessen. „Was steht denn da drinnen?“ Samuel schreckte hoch. Wieder diese Stimme. Und er saß schon neben ihm und deutete auf seine Tasche. Als sich Samuel von seinem leichten Schock erholt hatte, kramte er sein kleines Buch hervor und hielt es dem Unbekannten fragend vor die Nase. „Ja. Genau das. Was soll das sein?“
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K3 Literaturpreis 2015 – Motto : Fantasy & Mystery – alle Einreichungen Samuel blätterte gedankenverloren darin herum und sah nur ab und zu auf. Fast wirkte er ein wenig besessen. Er blätterte vor und zurück, hielt inne und las ein paar Sekunden. Dann blickte er wieder auf und im nächsten Moment war er schon wieder in seiner Lektüre vertieft. Er steckte es weg und holte es wieder heraus, überlegte kurz und steckte es wieder weg. Zwei Sekunden. Er holte es wieder hervor, öffnete den Mund, sagte aber nichts. „Also schön, also schön. Ich habe ja verstanden. Ich weiß ohnehin, was in dem Buch steht. Insofern interessiert es mich mäßig.“ „Woher?“, kam es Samuel über die Lippen. „Mach dich doch nicht lächerlich. Ich weiß es eben.“ Er stand wieder auf und ging. Samuel wollte ihm hinterherschimpfe, da war er allerdings schon wieder verschwunden und sein „Scheißkerl“ blieb ihm im Hals stecken. Ein Pärchen, das gerade vorbei ging, sah ihn verwundert an, drehte die Augen über und ging im Gleichschritt davon. Auch ihnen wollte er etwas sagen, merkte allerdings in diesem Moment, dass er sich nicht besonders gut fühlte. Er packte sein Buch ein und ging den Fluss entlang in Richtung Hotel. Dort packte er seine Sachen, erzählte in kurzen Sätzen dem Portier, was er getrieben hatte, verabschiedete sich von seinem Zimmernachbarn, mit dem er jeden Abend tiefsinnige Gespräche geführt hatte, schrieb, wie in allen anderen Hotels zuvor, einen Zettel mit der Aufschrift Ich war hier, legte diesen in die Schublade neben dem Bett und stellte sich vor, wie ihn sein Nachfolger in der Hand hielt und sich über diesen Blödsinn wunderte. Zumal die Wahrscheinlichkeit, dass dieser Jemand Deutsch konnte, nicht gerade groß war. Vor der Fahrt zum Flughafen gönnte er sich noch eine Kopfwehtablette, ein – so ehrlich muss man sein – grauenhaftes Bier im Pub ums Eck, in dem er ab und an während seines Aufenthalts gewesen war und ein paar ruhige, aber leider verregnete Minuten im HydePark. Auch nach dem Flug und einer halben Flasche Whisky waren die Kopfschmerzen noch nicht weg. Zudem war das Taxi vom Flughafen in seine Wohnung unverschämt teuer und das Wetter bei ihm zu Hause noch scheußlicher als in England und das will was heißen. Sein Zimmer, das kaum größer war als eine Besenkammer, hatte sich leider nicht verändert. Es lag alles noch da, wo er es zurückgelassen hatte. Immer noch roch es nach Rauch und Männerschweiß. Das Fenster wies den selben Sprung auf, wie noch zwei Wochen zuvor und der Wasserhahn tropfte mittlerweile nicht mehr im Takt von Don't let me down sondern in dem von Help. Die Matratze am Boden, der Haufen Kleidung daneben, der volle Aschenbecher und das eine trostlose Bild an der Wand, das er am Strand in Argentinien gezeichnet hatte, obwohl er keine Ahnung von Malerei hatte, erinnerten ihn wieder daran, warum er hier weg wollte. „Hier hast du also deinen Frieden?“
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K3 Literaturpreis 2015 – Motto : Fantasy & Mystery – alle Einreichungen „Nein.“ „Wozu dann das alles?“ „Ich weiß es nicht.“ „Ich glaube schon, dass du es weißt.“ „Wenn ich hier bin, will ich weg und wenn ich weg bin, dann bin ich froh. Genügt das?“ „Genügt es dir?“ „Keine Ahnung. Ich möchte mich niemandem außer mir selbst zumuten. Ich zeige mich der Welt gegenüber solidarisch.“ „Unsinn. Du dachtest, dass du das hier willst. Jetzt hast du es und willst es nicht mehr. Du bist wie ein kleines Kind, das sich zu Weihnachten ein Spiel wünscht, welches es am 26. Dezember im Regal verstaut und nie mehr anrührt. Sei ehrlich zu dir!“ „Auch wenn es nicht so aussieht. Ich bin glücklich, wie es ist und ich habe nicht vor damit aufzuhören.“ „Du siehst nicht glücklich aus.“ „Glück ist ein Gefühl. Gefühle kommen von Innen. Man kann sie einem nicht ansehen. Nicht einem wie mir.“ „Wie tiefsinnig.“ „Danke.“ „Wie kannst du eigentlich jeden Tag in den Spiegel schauen?“ „Ich schaue niemals in den Spiegel.“ „Kein Wunder, weil du es nicht könntest. Lies dir die ersten Seiten deines Buches durch und sag mir, was du denkst! Sag, was du empfindest!“ Schnell spülte Samuel eine Tablette mit einem Glas Wasser hinunter. Der Regen prasselte gegen die Fensterscheibe und schien ihn ein wenig zu beruhigen. Er legte sich aufs Bett und schlug die Decke über den Kopf. Jetzt konnte er nur noch die Tropfen hören. Arhythmisch, aber angenehm. Laut, aber angenehm. Nichtssagend, aber angenehm. Langsam mischten sich auch der Straßenverkehr und ferne Stimmen dazu und später laufende Schritte durch Pfützen. Noch eine Tablette. Es wurde ruhiger.
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K3 Literaturpreis 2015 – Motto : Fantasy & Mystery – alle Einreichungen 05 Codewort: DokuFake Man postet, es sei eine unglaublich groteske Geschichte. History, Fantasy, Doku in einem, mysteriös sowieso. Wie könne so was zusammengehen? Also hast du dich auf merkur-online eingeloggt – seiner Innovationsfreude wegen ohnedies deine erste Wahl –, öffnest neugierig die Datei "Das Endspiel" und liest:
Das Endspiel Es war ein beispielloses Ereignis. Am Weihnachtstag des Kriegswinters 1914/15 kam es in Flandern zwischen britischen und deutschen Frontsoldaten zu einem spontan initiierten Waffenstillstand, infolgedessen man ein Fußballspiel miteinander wagte. Der hier eingesetzten deutschen Armee, bestehend vorwiegend aus dem 16. Bayerischen Reserveinfanterieregiment, gehörte auch der Gefreite Adolf Hitler an; umringt von Vorgesetzten, die im Dritten Reich seine Untertanen abgeben würden, konnte er bereits reichlich Kompensationsstoff für später sammeln.
Vermittels einer Grätsche, nachgezeichnet durch eine im Morast gut erkennbare Bremsspur, schlitterte Fritz 7 abgefeimt kalkulierend am Ball vorbei, geradewegs auf Tommy 3 zu und stempelte mit seinem schweren Feldschuh den linken Tommy-Achilles wie eine blutige Feldpost. Das Spiel stand gerade auf des Messers Schneide, die Briten führten 1:0, und nunmehr drängte das Spielgeschehen auf deren Tor, als gäbe es nur das eine. Wiewohl die Deutschen innerhalb dieser Daueroffensive nicht einen Fuß in den britischen Strafraum setzten. Aufgeben war der Deutschen Sache zum nämlichen Zeitpunkt schon überhaupt nicht, man warf alles nach vor, und sei es auch nur in der Gestalt eines gestreckten Beins, frontal auf ein ballbesitzendes. Und so hatte Tommy 3 oberhalb seiner Ferse einen Fersentritt abgekriegt, durch den die Achillessehne eine Anspannung erfuhr, die in jedem anderen Fall mit einem Riss geendet hätte, was hier aber nicht passierte: Das Absatzeisen der Ledersohle Fritzens 7 hatte einen Schlammstollen aufgepackt und verlieh dem Tritt eine wohldämpfende Wirkung. Nichtsdestotrotz schrie Tommy 3 auf, rein prophylaktisch, um dem Strafbestand eine Stimme zu verleihen und eventuell spätere Schiedsrichter-Entscheidungen zu seinen Gunsten zu manipulieren. Der belgische Referee, als Einziger am Feld bewaffnet, blieb davon unbeeindruckt; bisher hatte er abgeklärte Arbeit geleistet und trotz evident rauen Kampfgeists von Ausschlüssen abgesehen. In heiklen Spielphasen stützte er demonstrativ die rechte Hand am Pistolenhalfter ab.
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K3 Literaturpreis 2015 – Motto : Fantasy & Mystery – alle Einreichungen Getreu seiner Funktion als Meldegänger machte sich der Bohèmien-Gefreite Adolf Hitler am Spielfeldrand, ungefähr auf Höhe der feindlichen Abwehr, Notizen über den Spielverlauf. In Ermangelung eines Schreibpapiers flickte er seine Reportage emsig in die freien Flächen eines dicken, mit „Jahrelanger Kampf gegen Lüge, Dummheit und Feigheit“ betitelten Manuskripts, dem eine gewisse nachhaltige Relevanz über das Jahrtausend hinaus anzusehen war, so gewichtig er es in der Hand wog und betulich darin blätterte, als durchkämme er es nach nützlichen Leitfäden oder Fußballregeln. Letztere waren dem empfindsamen Ansichtskartenkünstler nur peripher bekannt, im Falle von Unkenntnis beschaffte er sich die nötigen Informationen aus der Umgebung. Bald schon war ein regelrechter Beraterstab aus Kameraden um ihn versammelt, sie erahnten die Bedeutsamkeit seiner Funktion, brachten ihr Fußball-Know-how ein und damit ihre eigenen Ansichten von den Geschehnissen rund um das runde Leder, das heute wieder einmal daran gehen sollte, Weltgeschichte zu schreiben. Oder gar umzuschreiben. Ein fataler Irrglaube Hitlers war etwa, dass es nur eine Hauptspielrichtung (er verwendete das Wort „Hauptstoßrichtung“) gäbe. Die der Fritze. Die nun aufflackernden Konterschläge der Tommies brachten ihn völlig aus dem Konzept. Bei jedem körperbetonten Tackling der Briten forderte er die Rote Karte, obwohl oder gerade weil er diese zutiefst verachtete. Ginge es nach ihm, hätte man bereits die komplette englische Mannschaft ausschließen müssen. Nur wenn der drahtige Linksaußen, den Hitler aus der Sicht der Hauptstoßrichtung als Rechtsaußen falschbestimmt hatte, am Ball war, verstummte sein „Vernichtung!“, „Ausschluss!“ und "Fritze vor". Als ein Fernschuss Fritzens 5 vom Tommy-Tormann mit den Fäusten pariert wurde, kritzelte er über die Worte „Deutsche Mädchen! Werdet deutsche Mütter“: Torraub!!! Dabei schüttelte er den Kopf und raunte etwas davon, dass die Zeit schon noch kommen würde. Als Spieler absonderlicher Veranlagung erwies sich Fritz 2, bürgerlich namentlich Edmund Heines. Generell sehr trickreich verfügte er über die Gabe, seinen Gegnern den Ball bevorzugt zwischen die Beine zu spielen. Ein richtiger Gurkerl-Verteiler. Ein G-Punkt-Player par excellence, dem männlichen Geschlecht per se zugeneigt, sein Kick-Stil weit weg von per aspera ad astra – durch Mühsal gelangt man zu den Sternen –, zeitweilig eine dem deutschen Fußball per definitionem eingeschriebene Tugend. Darüber hinaus erwies er sich als ausgesprochener Spezialist in der Manndeckung. Soeben hatte er einen Beinschuss zwischen zwei Tommy-Beine gelandet, der Ball rollte auf die gespreizte Stellung eines weiteren Engländers zu und auch noch durch diese hindurch. Eine klare Angelegenheit von Doppelgurkerl. Damit weckte Heines die Aufmerksamkeit Hitlers; der Spieler fesselte ihn über das Matchinteresse hinaus, die Neugierde überwand diesseitige historische Dimensionen, streifte kontrafaktische Spitzfindigkeiten … Edmund Heines könnte mit ihm ein paar Jahre später eingesessen sein, nach einem gemeinschaftlichen Putschversuch gegen die Weimarer Republik … falls, ja falls die Geschichte
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K3 Literaturpreis 2015 – Motto : Fantasy & Mystery – alle Einreichungen einen anderen, als den hier eingeschlagenen Verlauf genommen hätte, der Spielball der Ereignisse sonst wo gelandet wäre, vollends transformiert – auf Händen, auf Schultern Getragenes, mit Füßen Getretenes, Verfemtes, Endgelöstes, Vergöttertes, Vergötterdämmertes, Gottverdammtes. Und ein paar weitere Jahre später würde der homosexuelle Heines möglicherweise Opfer der ersten großen internen Säuberungswelle der NSDAP (quasi Hausputz) geworden sein, anlässlich der man zweifelhafte Gesinnungsgenossen den Garaus machte, weil man ihnen – einmal mehr nordmythologischen Fieberträumen entnommen – mangelnde Führerhaftung attestierte. Die Deutschen hatten in der Ekstase ihres Sturmlaufs die Verteidigung der hinteren Territorien schlichtweg ausgeklammert. Dort taten sich Lücken auf, die die Briten umgehend zu füllen wussten: mit einer Ballabnahme knapp außerhalb des Strafraums (Tommy 2 schnappte Fritz 3, der gerade an einer Art Ladehemmung laborierte, den zum Schuss aufgelegten Ball einfach weg); mit zwei halbespielfeldlangen Pässen über die linke Flanke; und schließlich mit einem kurzen Drippling Tommy Dreis mit abschließendem Schuss, ein heimtückischer Aufsitzer, unhaltbar für den deutschen Goalie, untragbar für den Berichterstatter Hitler. Der wollte das schlichtweg nicht wahrhaben. Noch dazu fiel der Schuss mehr oder minder zeitgleich mit dem Spielende, welches wiederum mit einem Pistolenschuss des Referees determiniert wurde, die Interpretation befeuernd, der Torschuss sei gekommen, wie aus der Pistole geschossen. Das war entschieden zu viel für die zartbesaitete Künstlernatur Adolf Hitler. Dermaßen aufgeschreckt gewann er an Verwegenheit und kritzelte gleich unter „Die Sicherung des Deutschtums setzt die Vernichtung Österreichs voraus“ mit energisch geführtem Griffel: 3:2 für Deutschl. Eingedenk des mehrfachen Torraubs und der 1000%igen Torchancen eine mehr als gerechte Parallelwahrheit, gut genug, um für Volk und Vaterland als einzige herzuhalten. Befriedigt packte Adolf-Hermes-Hitler die Lügenschrift in den Tornister, strich mit eingespeicheltem Handballen über seine Siebenmeilenstiefel und die Entenflügelfeder am Helm, startete los, um im wenige Kilometer von der Front entfernten Stabsquartier Meldung zu machen. Heute lächelte die Landschaft aufs Lieblichste; die zu Ruinen zerschossenen Gebäude häuslich einladend, die Schützengräben in Schlucklähmung als gefälliges, landschaftsbildendes Detail, die Bäume und Sträucher gaben wieder voranging Sauerstoff ab, keine Deckung. Viel zu früh erreichte er das Hauptquartier, passierte den Wachtposten („Heil Hermes!“) und betrat das Stabszelt. Als ausgesprochen empfänglich für seine Botschaften erwies sich der Oberfeldwebel Max Amann, er nahm das Manuskript entgegen, warf einen Blick auf den elendslangen Titel und empfahl eine drastische Kürzung. Das Fußballergebnis übernahm er unkommentiert.
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K3 Literaturpreis 2015 – Motto : Fantasy & Mystery – alle Einreichungen Hätte sich der Ball, der die Welt bedeutet, in einer beliebigen Spielphase nur um Außenristbreite stärker seitlich verzogen, und resultierten daraus ganz andere Geschehnisse, dann würde es Amann im Dritten Reich als Untergebener Adolf Hitlers bis zum Präsidenten der Reichspressekammer gebracht haben, um dort die Journalistik zu üben und zu praktizieren, nämlich als Tippse Hitlers, welcher ihm das Machtwerk „Mein Kampf“ diktierte. Sein kaufmännisches Talent könnte Amann in der Tantiemen-Verwaltung des Mega-Sellers gewinnbringend, mindestens verzehnmillionenfacht, eingebracht haben. Mit dabei würde er gewiss bei der Mordaktion gegen den SA-Gruppenführer Edmund Heines gewesen sein … wäre nur die Glückskugel, einer launischen Fügung gehorchend, mit weniger Effet über die Spielfiguren hinweggefegt. Gefreiter Hermes-Hitler ergriff wieder sein Manuskript, knallte sich die Handkante an die Stirn und hob an zum Rückweg. Nahe den schmucken Ruinen sollte es zu irreversiblen Ereignissen kommen. Unvermittelt stieß der Meldegänger Hitler auf einen Blindgänger. Eine magische Anziehung verspürend (denkbar als Folge einer Art Wesensverwandtschaft) kam er nicht umhin, die am Boden schlummernde Granate zu berühren. Das Geschoss erwachte, explodierte und entriss ihm den rechten Arm. Jede Verletzung hatte als angenehme Folgeerscheinung etwas Heldenhaftes – genesen, geläutert, gereift hatte man etwas erlebt ohne abgelebt zu sein –, für den Moment aber war diese Befindlichkeit für Hitler nicht greifbar, erstmals erfuhr er das Heldenhafte als einen von Blüte zu Blüte flatternden, fickrigen Brutalo-Schmetterling. Dann betrübte ihn die Vorstellung eines erigierten, zum Gruße hochgeklappten Armstumpfes von der Länge eines gestreckten Mittelfingers eine Todessekunde lang und er verschied. Eine weitere, in unmittelbarer Nachbarschaft der Blindgängergranate befindliche Blindgängergranate war explodiert. Was ihm zu guter Letzt auch noch einen Gesichtsverlust bescherte. Und die Granatwerfer setzten wieder ein, der frontfußballbedingte Waffenstillstand endigte, Infanteriefeuer knatterte übers Feld, verfing sich zwischen den Fronten. Fritz 5 schoss auf Tommy 1, Tommy 3 auf Fritz 7, mit aufgesetztem Bajonett machte Tommy 4 Jagd auf Fritz 2. Schwere Artillerie keuchte auch über Gefreiten Hitler hinweg; der einzige große, weltumspannende Krieg des Jahrhunderts hatte den Alltag zurückerobert und nahm sich von den Männern, wie er sie nur kriegen konnte. Betroffen schließt du die Datei, suchst nach einem Bewertungsfeld und lässt den Daumen sprechen.
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K3 Literaturpreis 2015 – Motto : Fantasy & Mystery – alle Einreichungen 06 Codewort: QRS QRS 20. APRIL 1896 Alles Schlechte hat auch sein Gutes, so sagt man. Doch auch alles Gute hat auch sein Schlechtes. Ist es deshalb statthaft, über derlei Dinge zu scherzen? Vielleicht dann, entpuppt sich der Scherz schlussendlich als kein Scherz, vielmehr als Gedanke einer vergebenen Hoffnung. Tiefhängendes graues Gewölk überzog den vor wenigen Minuten noch tiefblauen Himmel. Typisches Aprilwetter eben, dachte sich Kutscher Heinrich Müller und beeilte sich aus diesem Grund, sein kleines Fuhrwerk zu besteigen. Hinter ihm türmte sich ein hastig festgezurrter Berg aus Heu, den er von einer großen Scheune zu einem auf der gegenüberliegenden Seite des Städtchens gelegenen Bauernhof zu führen hatte. Einer, der noch ausreichende Vorräte an Heu hatte, verkaufte an einen, dessen Viehbestand seinen Heubestand überstieg. Das äußerst wechselhafte Wetter dieses Jahres hatte es bislang nicht zugelassen, eine erste frühe Heuernte einzubringen, weshalb diese und noch zwei oder drei weitere Fuhren notwendig sein mochten. Eine leichte Brise blies, trieb das dunkle Wolkenband rasch vor sich her, sodass nur ein kurzer Schauer drohte, der die Fuhre nicht angenehm, doch zugleich nicht unmöglich zu machen verhieß, tippte Heinrich Müller aufgrund seiner langjährigen Erfahrungen mit dem hiesigen Wetter. Vielleicht trieb die Brise die Wolken sogar rasch genug über ihn hinweg, ehe diese ihre Pforten öffnen konnten, hoffte er, übertriebene Eile war deshalb gar nicht vonnöten. Dennoch schwang er sich auf das schmale Sitzbrett seines Karrens und erteilte dem angespannten, inzwischen schon recht ältlichen, doch immer noch treu seine Dienste verrichtenden Gaul den Befehl, sich mitsamt dem Karren dran und somit natürlich auch dem Heu und ihm selbst in Bewegung zu setzen. Tatsächlich blies die Brise die Wolken wieder hinfort, ehe ein erster Tropfen gefallen wäre, zufrieden vor sich her pfeifend wählte Heinrich Müller jenen Weg, der ihn quer durch das Städtchen führte, was ein wenig mühsamer zu bewältigen sein mochte, dafür jedoch kürzer. Keiner wusste im April, welche Kapriolen das Wetter noch vorsah, und hatte er seine ersten beiden Fuhren erledigt, lockte ein mit goldenem Bier befüllter Krug im Wirtshaus. Außerdem fand Heinrich Müller es spannender, seinen Gaul durch das Städtchen traben zu lassen, zwischen Marktplatz und anderen geschäftigen Ecken hindurch, als stets nur auf eintönige Äcker starren zu müssen. Gerade hatte er dem Gaul das Zeichen erteilt, in ein schmäleres Seitengässchen einzubiegen, als einen knappen Meter vor dessen Hufen ein unachtsamer Knabe die Straße querte. Heinrich Müller reagierte trotz seines nicht mehr ganz jugendlichen Alters blitzartig wie ein Boxer, der einem Haken seines Gegners auswich, mit aller Kraft zog er an den Zügeln des Gauls und verriss auf diese Weise den Karren, sodass sein Gefährt zwar ins Schlingern kam, sich mehr und mehr neigte und zuletzt sogar umkippte, der Knabe jedoch nicht unter die Hufe des Gauls geriet und unbeschadet blieb. „Sapperlot!“, fluchte Heinrich Müller, der beim Umkippen seiner Karre zwar unsanft vom Sitzbrett gerutscht und in den Staub der Straße gekullert war, sich dabei jedoch nicht ernsthaft verletzt zu haben schien. „Sapperlot! Hat wohl keine Augen im Kopf, der Bengel? Sapperlot!“ „Dem Himmel sei Dank, dem Buben ist nichts geschehen!“ war in diesem Moment eine Frau auf die Straße geeilt, wo sie die Hände in dramatischer Pose über dem Kopf zusammenschlug. Nachdem sie dem Knaben über den Kopf gestrichen und ihm anschließend einen Klaps erteilt hatte, lief sie hin zu Heinrich Müller und half ihm, wieder auf seine Beine zu gelangen. „Dem Himmel sei Dank, das hätte böse enden können. Ist Ihnen etwas geschehen? Sind sie verletzt, guter Mann?“ „Nein, nein, geht schon! Bin nur etwas staubig geworden bei dem Manöver. Und der Karren ist umgekippt. Allein schaffe ich es wohl kaum, ihn wieder aufzurichten.“
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K3 Literaturpreis 2015 – Motto : Fantasy & Mystery – alle Einreichungen „Warten Sie einen Augenblick, ich organisiere einige Männer, die Ihnen gewiss dabei helfen. Hier, die Münzen sind für Sie! Für zwei Bierchen nach dem Schock. Und dafür, dass sie meinem Sohn das Leben gerettet haben!“ „Vielen Dank, gute Frau. Der Bengel kam einfach über die Straße gelaufen, ohne nach rechts oder links zu sehen. War ein großes Glück, dass ich den Karren rechtzeitig verreißen konnte!“ „Nicht auszudenken, was geschehen wäre, wenn nicht!“ begann die Frau für einige Augenblicke heftig zu schluchzen. „Außerdem hat er heute Geburtstag! Sieben Jahre ist er geworden.“ „Geht er weiterhin so gedankenverloren durch die Welt, wird es wohl bald sein letzter sein!“ „Er will eines Tages sogar Künstler werden, wissen Sie? Deshalb ist er mit seinen Gedanken nicht immer dort, wo er sein sollte. Seine Lehrerin ist sich allerdings nicht sicher, ob er dafür auch begabt genug ist.“ Gemeinsam mit einigen in der Zwischenzeit herbeigeeilten Männern machte man sich daran, den Karren aufzurichten. Nach mehreren Versuchen gelang dies auch. Einige weitere Minuten brachte man damit zu, das verlorengegangene Heu wieder auf dem Karren festzuzurren. Ehe Heinrich Müller zurück auf seine Sitzbank kletterte, wandte er sich an den Knaben: „Und du pass in Zukunft gefälligst besser auf, hörst du? Du bereitest deiner Mutter ansonsten noch großen Kummer eines Tages! Nicht auszudenken, welch ein Unglück geschehen wäre“, zürnte er, „wärst du unter die Hufe meines Gauls geraten! Wie heißt du eigentlich?“ „Adolf“, antwortete der blässliche Knabe. „Adolf Hitler!“ „Nein, nicht auszudenken“, wiederholte Kutscher Heinrich Müller, ehe er seinem Gaul bedeutete, den Karren wieder in Bewegung zu setzen.
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K3 Literaturpreis 2015 – Motto : Fantasy & Mystery – alle Einreichungen 07 Codewort: STYR Bericht vom Planeten Styr. Vermehrt Euer Wissen, die ihr begierig seid nach Abenteuern mit schrecklichen Ungeheuern und gar seltsamen Lebensformen und leset meinen Bericht vom Leben auf dem Planeten Styr mit seinen acht Nachbarplaneten, die da eingebettet sind im mächtigen Sonnensystem der exterritorialen Union, der EU. Ich beginne meinen Bericht an einem ganz gewöhnlichen Tag auf Styr. Die Sonne war gerade über den grünen Wäldern aufgegangen und die Bewohner des Planeten Styr erwachten und richteten sich für ihr Tagewerk. Man war sich wieder einmal darüber einig, dass man sich uneinig ist. Der grüne Planet kam nicht zur Ruhe. Der rote Fürst und sein neuer Verbündeter, der schwarze Hermann zogen über die Lande und legten zusammen dass es nur so eine Freude war. Grafschaft um Grafschaft musste sich dem Willen der Herrscher des grünen Planeten beugen. Das Wehklagen der Grafen, die um ihre Pfründe fürchteten, konnte das Herz des Fürsten nicht erweichen. „Seht euch an, was gerade auf dem Nachbarplaneten Carinth passiert“ sagte er zu den Aufmüpfigen, „wollt ihr, dass auf unserem schönen grünen Planeten Styr Ähnliches passiert? Also schweigt und fügt euch den Geboten eurer Herrscher“. Und der schwarze Hermann nickte dazu. Gerade er war es in früheren Jahren gewesen, der dem roten Fürsten Paroli geboten hatte aber in letzter Zeit herrschte eine seltsame Einigkeit zwischen den Beiden. Des schwarzen Hermanns scharfzüngiger Vasall, Christopher der Giftige war mit neuen Aufgaben betraut und schwieg schon lange zum Treiben der beiden Fürsten. Gerade war die Pak gelandet und brachte neue, schreckliche Kunde vom Planeten Carinth. Die Pak, ein mit Antimaterie Protonenantrieb bestücktes Raumschiff war die schnellste Verbindung zwischen den Planeten Styr und Carinth. „Ein schreckliches Untier wütet auf Carinth“ so wusste der Kapitän der Pak zu berichten. „Ein Nilpferd mit gigantischen Ausmaßen verschlingt alles was ihm unterkommt. Nichts gehört mehr den Carinthern, alles verschwindet im riesigen Maul dieses Untiers. Weise Frauen und Männer aus allen Gremien unseres Planetensystems versuchen, das Ungeheuer zu erforschen und zu verstehen, damit man es besser bekämpfen könne, aber es frisst unersättlich weiter und weiter. Schützt euch, Bewohner von Styr, damit das Untier in seiner unersättlichen Gier nicht auch euer Hab und Gut verschlingt.“ Noch immer schreckensbleich von dem was er gesehen hatte, sprach der Kapitän der Pak vor den Vertretern der Planetenpresse, die eifrig das ihre hinzufügten und die Kunde vom Niedergang des Nachbarplaneten auf Styr verbreiteten. Zwar gab es auch auf Styr zahlreiche Ungeheuer, aber keines konnte es an Schrecklichkeit und Gefährlichkeit mit jenem auf Carinth aufnehmen. Eines dieser Styrianischen Ungeheuer, ein Drache Namens Hannes, sorgte gerade wieder für Schlagzeilen. Lange hatte er im Finanzwald sein Unwesen getrieben aber die Drachenjäger waren ihm auf die Schliche gekommen und so war er im Kerker der Planetenhauptstadt gelandet. Sein Jammern und Klagen war weit über das Land zu hören und so entschlossen sich die Richter einen Akt der Gnade zu setzen und entließen den Drachen Hannes in die Freiheit, allerdings versehen mit einem Karfunkelstein, der ihm um die Pranken geschmiedet wurde, damit er den Bereich, den ihm die Richter für seine Freiheit zugestanden hatten, nicht verlassen könne. Kaum erhob er sich in die Lüfte, so war weithin das Glänzen und Glimmern des Karfunkelsteines zu sehen und schon waren die Häscher zur Stelle um ihn an seine Pflicht zu gemahnen, seine Höhle nicht zu verlassen. Hannes kümmerte das aber wenig und so sah man ihn des Öfteren bei gesellschaftlichen Anlässen die ihm eigentlich verboten waren. Drachen haben in der Oper nichts verloren und schon gar nicht Drachen mit Karfunkelsteinen. Als er dann auch noch frech und unverfroren in einer noblen Herberge dinierte, war die Geduld des Richters erschöpft und der Drache Hannes musste seinen Karfunkelstein abgeben und wieder seinen Platz im Kerker einnehmen. Die Kerkermauern wurden daraufhin extra verstärkt, damit man das Jammern und Wehklagen des Drachen nicht wieder weit über das Land hört. Um Euch nicht zu sehr mit den Berichten über Ungeheuer in unserem Planetensystem zu verschrecken füge ich hier ein paar allgemeine Informationen ein, die Euch zum besseren Verständnis gereichen sollen. Unser Planetensystem umfasst 9 Planeten, der Hauptplanet ist der Planet Mund.
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K3 Literaturpreis 2015 – Motto : Fantasy & Mystery – alle Einreichungen Wir nennen die Bewohner dieses Planeten die „Mundels“. Sie selbst nennen sich nicht so und es macht ihnen auch keine große Freude, so genannt zu werden aber das ist uns auf dem Planeten Styr egal. Mehrmals im Jahr fallen die Bewohner des Planeten Mund mit ihren Raumgleitern über unseren Planeten her und fressen unsere Buschenschenken leer. Gut, sie lassen dafür auch ihr Geld hier, also sei ihnen das nachgesehen. In diesem Jahr sind die Mundels ganz aufgeregt denn sie dürfen den großen interplanetaren Gesangswettbewerb austragen, nachdem beim letzten Mal ein Wesen, halb Mann, halb Frau von unserem Planeten Styr diesen Bewerb gewonnen hat. Dieses Wesen wird auch den Wettbewerb auf Mund moderieren, gemeinsam mit Miriam der weichselbraunigen. Die weichselbraunige stammt eigentlich vom Planeten Tyr, arbeitet aber schon lange beim PRF, dem Planetenfunk in Mund. Ein weiterer Planet in unserem System ist der Planet Bur, von dem es eigentlich nichts Besonderes zu berichten gibt. Die Bewohner dieses Planeten erkennt man an ihren ockerfarbenen Füßen. Am weitesten entfernt vom Planeten Styr ist der Planet Xi. Ab und zu landet ein Raumfrachter mit Gesandten des Planeten Xi auf Styr, aber es konnte bisher noch keine Verständigung mit den Bewohnern von Xi hergestellt werden da selbst unsere ausgeklügeltsten Übersetzungscomputer die Sprache der Xirer nicht entschlüsseln konnten. Sie bieten auf unseren Märkten köstliche Milchprodukte an, von denen ich besonders ihren Bergkäse lobend hervorheben möchte. Auf Grund dieser exorbitant hohen und schönen Berge nennt man die Bewohner manches Mal auch „Xiberger“. Weiters möchte ich berichten vom Planeten Sal, einem der schönsten Planeten unseres Systems. Die Bewohner leben hauptsächlich vom Verkauf der planetenförmigen Nachbildung eines ihrer berühmtesten Komponisten. Dann gibt es auch noch die Planeten Nö und Ob. Nö wird von einem fast kahlhäuptigen Wesen regiert. Den Planeten Ob erreicht man am schnellsten mit der Raumfähre Pyhrn. In meiner Aufzählung fehlt noch der Planet Tyr dessen Bewohner hauptsächlich kehlige Zischlaute von sich geben, die man aber dennoch besser versteht als die Bewohner des Planeten Xi. Die Angewohnheit der Tyrer alle Nichttyrer mit einer Körperöffnung gleichzusetzen macht sie nicht gerade besonders sympathisch, besonders wenn sie fast mantraartig den Satz „Bischt a Tyrer bischt a Mensch…..“ von sich geben. Zurück zu unserem Heimatplaneten, den grünen Styr. Ich begann meinen Bericht mit der Schilderung eines Sonnenaufganges auf Styr und beende meine Schilderung mit der Beschreibung des Sonnenunterganges. Langsam schieben sich die immer länger werdenden Schatten ineinander, verschmelzen und werden zur Dunkelheit. Letzte Lichtreste flackern hinter dem höchsten Berg des Planeten, dort wo der Aar noch haust. Ich hoffe, Euer Begehr von Ungeheuern und fernen und nahen Planeten zu hören, wurde erfüllt und wünsche Euch eine selige Nachtruhe auf unserem wunderschönen grünen Planeten.
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K3 Literaturpreis 2015 – Motto : Fantasy & Mystery – alle Einreichungen 08 Codewort: Sommer Die Bootsfahrt Tropf, tropf, tropf… Genervt knipste Alex das Licht seiner Nachttischlampe an und erhob sich. Fuhr mit seiner rechten Hand durch sein Haar und seufzte. Heute war die erste Nacht in seiner neuen Wohnung. Da hieß es doch, dass das, was man träumte, Realität wurde. Leider würde er wohl gar nichts träumen – zumindest wenn es nach dem tropfenden Wasserhahn ging. Das gleichmäßige Geräusch machte ihn fast wahnsinnig und seit einer halben Stunde versuchte er vergeblich, es auszublenden und einzuschlafen. Morgen war Montag, er hatte ein anstrengendes Wochenende hinter sich, an dem er ausschließlich gesiedelt war und brauchte daher dringend seinen Schlaf. Fluchend ging er ins Badezimmer. Zu seiner Verwunderung erkannte er, dass der Wasserhahn nicht vollständig zugedreht war. Alex stutzte. Nach dem Zähneputzen hatte er ihn doch ganz sicher zugedreht! Als das Tropfen jedoch aufhörte und sein Problem gelöst schien, lächelte und ärgerte er sich im selben Moment. Wäre er früher aufgestanden, könnte er bereits schlafen. Er beschloss, nicht länger über diese lächerliche Kleinigkeit nachzudenken und ging zurück ins Schlafzimmer. Tropf, tropf, tropf… Das durfte doch nicht wahr sein! Er hatte sich noch nicht mal ins Bett gelegt. Mit einem tiefen Seufzen machte er sich erneut Richtung Badezimmer auf. Dieses Mal war der Wasserhahn zugedreht – na klar, wer hätte ihn aufdrehen sollen? Trotzdem rann das Wasser scheinbar grundlos in den Abfluss. Alex fluchte, sah aber ein, dass er heute wohl nichts mehr gegen dieses Problem unternehmen konnte. Gerade, als er sich auf den Weg ins Bett machen wollte, hörte das Tropfen abrupt auf. Fassungslos starrte der junge Mann auf die Stelle. Ein tropfender Wasserhahn konnte sich doch nicht einfach so selbst reparieren, oder? Anscheinend doch! Vorsichtig beäugte er das Waschbecken von allen Seiten, konnte jedoch nichts Verdächtiges erkennen. Vielleicht war er einfach schon so übermüdet, dass er halluzinierte. Wie auch immer. Erleichtert, dass das Problem anscheinend behoben war, versuchte er endlich zu seinem wohlverdienten Schlaf zu kommen und schloss die Augen, sobald er sich in sein Bett gekuschelt hatte. Tropf, tropf, tropf… Alarmiert riss er sie wieder auf. Das war doch wohl ein schlechter Scherz! Wie war das möglich? Träumte er schon? Nein, das war ausgeschlossen! Verärgert stand er auf und ging schnellen Schrittes erneut ins Bad. Als er die Tür aufriss, schrie er entsetzt auf. „Was tun Sie in meiner Wohnung?!“ Eine dunkelhaarige, junge Frau drehte sich langsam zu ihm um. Sie trug ein weißes Kleidchen, das viel zu kühl für die aktuellen Temperaturen war. Scheu lächelte sie ihn an. Ihre Haut war so blass, dass sie fast durchsichtig wirkte. Die Einbrecherin strahlte eine tiefe Melancholie aus, die sich augenblicklich auf Alex übertrug. „Was tun Sie hier?“, wiederholte er seine Frage, dieses Mal jedoch ruhiger. „Ich wollte noch diese Bootsfahrt machen“, sagte die Frau leise. Verwirrt runzelte Alex die Stirn. Zweifelsohne stand eine Verrückte vor ihm. Gedanklich versuchte er sich zu erinnern, was sein bester Freund Moritz ihm über psychische Störungen gesagt hatte. Moritz war Psychiater im LSF und hin und wieder erzählte er Alex Anekdoten von seinen Patienten. „Das Wichtigste ist, dass du sie ernst nimmst“, hörte Alex seinen Freund in Gedanken vortragen. „Gib ihnen das Gefühl, dass du ihnen glaubst. Auch wenn du etwas nicht siehst, heißt das noch lange nicht, dass sie es nicht sehen. Für sie ist es real.“ Leicht überfordert fuhr Alex sich durchs Haar. Okay, vielleicht war es real für diese Frau. Aber sie konnte doch keinesfalls glauben, dass sich hier in seinem Badezimmer ein Boot befand!
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K3 Literaturpreis 2015 – Motto : Fantasy & Mystery – alle Einreichungen „Wie kommen Sie hier überhaupt rein?“, stellte er die Frage, die ihm von Beginn an auf der Seele brannte. „Ich habe hier gewohnt“, erklärte die junge Frau. „Sie haben hier gewohnt? Aber… haben Sie Ihren Schlüssel denn nicht abgegeben, als Sie ausgezogen sind?“ Angestrengt dachte er nach. Das war doch ausgeschlossen, oder? Das würde der Vermieter doch wohl nicht erlauben. Abgesehen davon hatte Alex keine dementsprechenden Geräusche gehört. Er hätte es doch hören müssen, wenn jemand die Tür aufsperrte und der Schlüssel sich im Schloss drehte. Alex war so mit seinen Gedanken beschäftigt gewesen, dass er nicht bemerkt hatte, wie die junge Frau sich umgedreht hatte und aus dem Fenster sah. „Okay“, sagte er nochmal, wohl eher um sich selbst zu beruhigen. „Sie haben hier gewohnt, das mag sein. Aber deswegen können Sie nicht einfach mitten in der Nacht hier auftauchen. Jetzt wohne ich hier. Und Sie haben mich verdammt nochmal erschreckt.“ Er seufzte. „Wo wohnen Sie denn jetzt?“ „Nur ein paar Straßen weiter“, antwortete sie. „Gut… dann… wie sind Sie denn hergekommen? Sind Sie zu Fuß hier? Soll ich Sie nach Hause bringen?“ Die Fragen sprudelten nur so aus ihm heraus. Er hätte sie sogar nach Hause gebracht, ja, wenn sie denn dann endlich verschwand. Sie seufzte. „Ich wollte diese Bootsfahrt machen.“ „Welche Bootsfahrt?“, fragte Alex leicht ungeduldig. Traurig sah sie ihn an. „Nick sollte die Bootsfahrt allein machen. Können Sie ihm das sagen?“ „Wer zur Hölle ist Nick?“ „Mein Freund.“ Unsicher lachte Alex auf. „In Ordnung… Ich denke, Sie sollten jetzt wirklich gehen.“ „Können Sie mich nach Hause bringen?“, fragte die Frau. Nur unter größter Anstrengung unterdrückte Alex ein genervtes Aufseufzen, meinte dann aber: „In Ordnung. Kommen Sie mit.“ Die zerbrechliche Frau folgte ihm zur Haustür, die nach wie vor verschlossen war, wie Alex feststellte. Einen Moment überlegte er, ob er sie nochmal fragen sollte, wie sie hereingekommen war, aber vermutlich würde er keine vernünftige Antwort bekommen, also fragte er sie stattdessen, als sie auf den Gang traten. „Wie ist eigentlich Ihr Name?“ „Elisa“, sagte sie kurz angebunden. „Ich bin Alex“, erwiderte er. Während er sprach, erschien sein Nachbar, ein schrulliger, älterer Typ und sah ihn verwirrt an. Alex seufzte. Vermutlich wunderte der Mann sich ebenso wie er über die merkwürdige Aufmachung Elisas. „Sie ist einfach so in meiner Wohnung gestanden“, meinte er deswegen erklärend. Der alte Mann sah Alex jedoch nur an, als habe der nicht mehr alle Tassen im Schrank und schlug die Wohnungstür hinter sich ins Schloss. Mittlerweile bereute Alex es schon, sich für diese und nicht für eine andere Wohnung entschieden zu haben. Dort wären die Nachbarn vielleicht freundlicher und keine ehemaligen Bewohner störten die nächtliche Ruhe. Elisa schwieg weiterhin und auch Alex verspürte keinen allzu großen Drang mehr mit der Verrückten zu sprechen, die bei ihm eingedrungen war. Er würde sie einfach zu Hause abladen und dann war sie nicht mehr länger sein Problem. Wortlos stieg sie auf der Beifahrerseite ein, nachdem Alex sein Auto entriegelt hatte. Nachdem er hinter dem Steuer Platz genommen hatte, startete er den Wagen und sah sie fragend an. „Adresse?“ „Ich zeige Ihnen den Weg.“ Er seufzte tief, erwiderte jedoch nichts und fuhr los. Ein Blick auf die Uhr zeigte, dass es bereits ein Uhr morgens war. Wieso tat er das eigentlich? Er hätte sie genauso gut einfach hinauswerfen können.
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K3 Literaturpreis 2015 – Motto : Fantasy & Mystery – alle Einreichungen Sie waren vielleicht fünf Minuten unterwegs, da hielt Alex es nicht mehr aus und fragte: „Sagen Sie mal, wieso stellen Sie sich mitten in der Nacht in eine fremde Wohnung? Und wie sind Sie überhaupt hineingekommen? Weswegen reden Sie nicht selbst mit Ihrem Freund? Wo ist er überhaupt?“ „Ich kann nicht mit ihm reden“, sagte sie schlicht und ignorierte alle anderen Fragen. Alex seufzte. „Schön. Ich bitte Sie allerdings, das zu unterlassen in Zukunft, okay?“ „Hier ist es“, überging sie seinen Einwand. Fragend sah Alex sich um. „Hier ist nichts – außer dem Friedhof! Ich sehe kein Haus.“ „Hier wohne ich“, sagte Elisa. Ungläubig starrte Alex sie an. Einige Zeit verstrich, dann begann er lauthals zu lachen. „Genau! Ganz sicher!“ Sein Gelächter steigerte sich. „Okay“, meinte er schließlich, nachdem er sich beruhigt hatte. „Wo ist jetzt die versteckte Kamera, hm?“ Er schüttelte den Kopf. „Ich wusste es! Ich wusste, irgendwas wird kommen. Das war Moritz‘ Idee, oder? Ganz sicher war es seine Idee. Das ist seine Rache auf meinen damaligen Streich.“ Er atmete geräuschvoll aus. „Und ich Idiot fahre noch ewig in der Gegend herum, ehe ich dahinterkomme. Wer bist du? Moritz‘ neue Freundin?“ Elisas Miene hatte sich noch immer nicht verzogen. Sie starrte ihn mit dem gleichen Gesichtsausdruck an. „Hier wohne ich“, wiederholte sie stur. „Okay, wir haben alle gelacht, aber jetzt reicht es.“ Langsam wurde Alex wütend. „Ich muss morgen wieder früh aufstehen. Ich hab mitgespielt, aber jetzt ist genug.“ „Ich wollte eine Bootsfahrt machen, aber dann wurde ich krank. Es war klar, dass ich sterbe, aber nicht, dass es so schnell gehen würde.“ Sie sah ihn traurig an. „Nick und ich – wir wollten diese Bootsfahrt gemeinsam machen. Doch ich war zu schwach. Ich bekam einen Infekt. Eine Lungenentzündung und hohes Fieber. Das Antibiotika hat nicht mehr angeschlagen und…“ „Was redest du da?“, unterbrach Alex sie aufgebracht. „Es ist doch klar ersichtlich, dass du nicht tot bist! Wie könntest du sonst neben mir sitzen und dieses Gespräch führen?“ „Ich weiß nicht, warum du mich siehst. Du bist der Erste, der mich sieht.“ Sie seufzte. „Bitte geh zu Nick und sag ihm, dass er die Bootsfahrt ohne mich machen soll. Sag ihm, er soll meine Asche am See verstreuen.“ „Ich dachte, du bist hier begraben“, bemerkte Alex und wunderte sich selbst darüber, dass er überhaupt auf diese kranke Show einging. „Ich hab hier nur eine Gedenktafel. Meine Urne ist bei Nick.“ Bittend sah Elisa ihn an. „Würdest du ihn das für mich fragen?“ „Wie soll ich das denn bitteschön machen? Ich kann doch nicht einfach hingehen und sagen: Hallo! Hier ist der neue Bewohner von Elisas Wohnung. Sie ist mir in der Nacht erschienen und bittet mich nun, Ihnen auszurichten, dass Sie ihre Asche bei einer Bootsfahrt verstreuen sollen.“ Alex schüttelte den Kopf. „Der hält mich doch für total bekloppt!“ „Du musst es ihm ja nicht so sagen“, meinte Elisa und zum ersten Mal sah Alex so etwas wie einen Funken in ihren Augen. Zum ersten Mal sah sie richtig lebendig aus. Was tat er hier eigentlich? War er selbst schon komplett übergeschnappt? Oder war das alles nur ein Traum? „Okay, jetzt reicht‘s!“, sagte er entschlossen. „Ich will jetzt nur mehr in mein Bett und schlafen. Das ist deine letzte Chance. Wenn du mir nicht sagst, wo du wirklich wohnst, dann werfe ich dich hier raus und du kannst den Weg nach Hause laufen.“ Tränen hatten sich in ihren Augen gebildet. „Ach komm“, sagte Alex, klang dabei aber schon etwas weicher. Er konnte einfach niemanden weinen sehen. Das hatte er noch nie können. Sofort regte sich das schlechte Gewissen und er empfand Mitleid für die junge Frau. Ganz offensichtlich war sie tatsächlich krank – wenn auch in anderer Form als sie behauptete. „Weißt du was? Ich werde jetzt einen Freund von mir anrufen, okay? Er wird sich kurz mit dir unterhalten. Und dann überlegen wir, was wir weitermachen. In Ordnung?“
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K3 Literaturpreis 2015 – Motto : Fantasy & Mystery – alle Einreichungen Elisa nickte schwach. „Gut.“ Erleichtert seufzte er und wählte Moritz‘ Nummer. „Es ist mitten in der Nacht, Alex!“, sagte Moritz verschlafen. „Ich hoffe für dich, das ist was Dringendes, sonst…“ „Ich hab eine Frau bei mir“, unterbrach Alex den Psychiater ungeduldig. „Sie ist in meiner Wohnung gestanden und behauptet, tot zu sein und am Friedhof zu wohnen. Sie will, dass ich ihrem Freund ausrichte, dass er ihre Asche bei irgendeiner Bootsfahrt verstreuen soll.“ Schweigen. „Moritz? Bist du noch da?“ Räuspern. „Ja, ich bin da. Hm… okay… Ist sie jetzt bei dir?“ Alex nickte, da fiel ihm ein, dass Moritz ihn nicht sehen konnte, also sagte er hastig: „Ja.“ „Gib sie mir mal!“, forderte Moritz seinen Kumpel auf. „Er will dich sprechen“, sagte Alex an Elisa gewandt. Sie seufzte und entgegnete: „Er wird mich nicht hören!“ Nur mühsam konnte Alex unterdrücken, mit den Augen zu rollen. „Wieso versuchen wir’s nicht einfach?“ Verheißungsvoll hielt er ihr das Handy hin. „Hallo?“, sagte sie lustlos. „Hören Sie mich?“ Sie seufzte. „Sag ich doch! Er hört mich nicht!“ „Das kann nicht sein!“, bemerkte Alex entgeistert. „Probier‘ es nochmal!“ Sie kam der Aufforderung nach – mit demselben Ergebnis. Ungeduldig riss er ihr das Handy aus der Hand. „Moritz? Hast du sie gehört?“ „Nein, ich hab gar nichts gehört!“ Sein Kumpel klang verärgert. „Hör mal, Alex, wenn das ein Scherz sein soll, ist das überhaupt nicht lustig und…“ „Das ist kein Scherz, verdammt! Sie sitzt hier neben mir im Auto, das schwöre ich!“ „Sie sitzt im Auto?“ „Ja, ich bin mit ihr zum Friedhof gefahren!“ Anscheinend hatte Moritz die Verzweiflung herausgehört, denn der Psychiater atmete geräuschvoll aus, ehe seine Stimme weicher wurde und er fragte: „Alex, hast du vielleicht was getrunken heute?“ „Was? Nein, ich… Gott, du glaubst doch nicht ernsthaft, dass ich spinne?!“ „Ich glaube nicht, dass du spinnst. Ich glaube dir, dass du das siehst, aber…“ „Ach, spar dir diesen Scheiß!“, fuhr Alex seinen Kumpel an. „Ich bin nicht einer deiner Psychos. Eine Frau sitzt in meinem Auto und zuerst war sie in meiner Wohnung. Sie ist sehr real und…“ „Da ist Nick!“, hauchte Elisa plötzlich. „Wie bitte?“, fragte Alex überrascht. „Es ist Nick. Es ist sein Auto!“ Und tatsächlich: Keine Minute später stieg ein junger Mann mit gesenktem Kopf aus dem Auto. Seine Schultern ließ er ebenso hängen und er machte ganz offensichtlich keinen glücklichen Eindruck. „Wieso kommt er mitten in den Nacht auf den Friedhof?“, fragte Alex und klang mit einem Mal selbst bedrückt. „Das macht er öfters. Er vermisst mich. Dann hält er es in unserer Wohnung nicht mehr aus“, erklärte Elisa. „Alex? Bist du noch dran?!“ Moritz hatte er fast schon wieder vergessen. Kurzerhand drückte Alex ihn weg und beobachtete Nick, der auf das Friedhofstor zusteuerte. „Es würde mir sehr helfen, wenn du ihm das ausrichten könntest“, versuchte Elisa es erneut. „Und ihm auch.“ „Du bist an einer Lungenentzündung gestorben?“, fragte Alex mit einem Mal nach. „Naja, ich hatte Leukämie. Die letzten Monate waren ein ständiges Auf und Ab. Eigentlich dachte ich, ich wäre wieder gesund. Nick und ich wollten unbedingt eine Bootsfahrt machen, aber irgendwie haben wir es Woche um Woche verschoben. Und dann kam der Rückfall.“ Sie seufzte. „Danach ging es rapide bergab. Meine Blutwerte verschlechterten sich drastisch und dann kam auch noch dieser Infekt hinzu. Das Antibiotika schlug nicht mehr an, ich bekam vierzig Grad Fieber und tja… das hat mein Körper nicht mehr mitgemacht.“
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K3 Literaturpreis 2015 – Motto : Fantasy & Mystery – alle Einreichungen „Ich soll ihm nur das mit der Bootsfahrt ausrichten?“, fragte Alex nach. „Ja.“ „Und dann lässt du mich in Ruhe und kommst nicht mehr in meine Wohnung?“ Sie nickte. Er atmete tief ein und aus und fasste einen Entschluss. Ohne weiter nachzudenken, öffnete er die Autotür und ging zielstrebig zum Friedhof. Trat auf Nick zu. Dieser sah ihn irritiert an. „Hallo!“, grüßte Alex. „Hallo“, kam es zögerlich zurück. „Ahm… kennen wir uns?“ „Nein. Aber ich kannte Elisa“, sagte Alex und pausierte anschließend. Die Wahrheit konnte er nicht sagen, das war ganz klar. Eine Geschichte musste her. Und zwar eine glaubwürdige. Ehe Nick Zeit hatte nachzufragen, meinte Alex: „Meine Frau hatte auch Krebs. Sie und Elisa haben sich im Krankenhaus ein paar Mal gesehen und geredet. Elisa hat ständig von einer Bootsfahrt gesprochen. Sie sagte zu meiner Frau, dass es wahnsinnig toll wäre, wenn ihre Asche auf dem See verstreut wird, falls sie es nicht schafft. Sie meinte, dass es sie freuen würde, wenn Sie diese Bootsfahrt machen würden. Sie wäre in Gedanken dann bei Ihnen und Sie wären nicht allein.“ Fassungslos schaute Nick ihn an. „Wer war Ihre Frau?“ „Tamara. Sie hieß Tamara“, sagte Alex schnell. „Elisa hat sie nie erwähnt.“ „Sie haben sich auch nicht so oft getroffen. Aber irgendwann hat Elisa ihr das Mal erzählt und… ja“, endete er lahm. „Woher wissen Sie, wer ich bin?“, fragte Nick misstrauisch. „Na, Sie stehen vor Elisas Gedenktafel“, fiel Alex geistesgegenwärtig ein. „Noch dazu mitten in der Nacht. Da nahm ich an, dass Sie Nick sind.“ „Und was tun Sie hier?“ Verdammt! Was musste dieser Typ so misstrauisch sein? „Meine Frau ist erst vor kurzem gestorben. Nächste Woche ist das Begräbnis.“ Kaum hatte er ausgesprochen, fühlte er sich mies. Über so etwas log man nicht. Andererseits: Diente diese Lüge nicht dem guten Zweck? „Das tut mir leid“, sagte Nick und seufzte tief. „Danke“, entgegnete Alex. „Naja, ich will Sie jetzt auch nicht länger belästigen. Vielleicht denken Sie ja mal über die Bootsfahrt nach!“ „Das werde ich“, sagte Nick leise. Eilig drehte Alex sich weg und ging zurück zum Auto. Elisa war verschwunden. Verwundert sah er sich um, zuckte dann aber die Schultern und fuhr nach Hause. In dieser Nacht fand er kaum Schlaf und am nächsten Morgen rief ihn ein besorgter Moritz an. Alex tat die ganze Geschichte jedoch ab, indem er meinte, es wäre tatsächlich nur ein Scherz gewesen. Sein Kumpel schien ihm zwar nicht ganz zu glauben, beließ es aber schließlich dabei, als er einsehen musste, dass er nicht mehr aus Alex herausbekommen würde. Anfangs dachte Alex noch ein paar Mal an Elisa, doch er sah sie nicht mehr, also begann er selbst langsam daran zu zweifeln, ob die Ereignisse in jener Nacht tatsächlich stattgefunden hatten, oder ob er alles bloß geträumt hatte. Bis zu dem Zeitpunkt, als zwei Monate später das verhasste Geräusch erneut erklang. Tropf, tropf, tropf. Mit einem Schlag war Alex hellwach und lief beinahe ins Bad. Dort fand er jedoch nicht Elisa vor, sondern eine Nachricht auf dem Fliesenboden, in Sand geschrieben: Vielen Dank! Die Bootsfahrt war wunderschön!
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K3 Literaturpreis 2015 – Motto : Fantasy & Mystery – alle Einreichungen 09 Codewort Chrysantheme Die Drohung der Allerheiligenblume Es war eine düstere, stürmische Novembernacht. Ich wälzte mich lange im Bett herum, hörte die Balken knarren und die Äste des Nussbaumes ächzen und war gerade eingeschlafen, als ich gewahr wurde, dass es ganz hell im Zimmer geworden war. Ich öffnete die Augen … ... und sah einen weißen Blütenteppich über mir. Die Blütenkelche und Körbchen baumelten unruhig durcheinander, bildeten Wirbel, hoben und senkten sich, machten mich schwindlig. Verwirrt schaute ich mich um. Selbst neben, vor und hinter mir schaukelten Blumenköpfe und gaben mir das Gefühl, zwischen all den Pflanzen zu schweben, in einem weich ausgepolsterten Sarg zu liegen. Ein schwerer, süßlicher und zugleich erdiger Duft hemmte meinen Atem. Plötzlich blieb in diesem Wabern über mir eine „Gefüllte Chrysantheme“ stehen, begann langsam, ganz langsam auf mich herabzusinken, anzuwachsen und den ganzen Raum auszufüllen, bis ihre kühlen Blätter meine heißen Wangen streichelten. Aus ihrer Mitte ertönte eine zärtliche Stimme: „Komm, komm, trinke den Nektar und werde eins mit mir!“ Ihre dicht gruppierten schmalen, langen Löffelchen umklammerten mich. Ein Meer von Händen hob mich hoch. Das gelbe Körbchen in ihrer Mitte verflüssigte sich zu goldenem Honig, umfloss mich und zog mich in das Herz der kugelförmigen Chrysantheme. Hüllte mich in gedämpftes, orangegelbes Licht. Und aus der Blätterwand klang es leise: „Ich bin Kiku. Das heißt Abendsonne auf Japanisch. Ihr Europäer missbraucht mich und Meinesgleichen zu Allerheiligen als Friedhofsblumen und setzt uns bewusst der Kälte aus, die uns den Tod bringt. Das haben wir nicht verdient, zählen wir doch zu den schönsten Blumen. Hast du nicht vor Kurzem zu deiner Schwester gesagt, wie sehr dir die strahlenden Sterne der gelben Spinnen-Chrysantheme gefallen? ...Und dann trägst du diese, meine prächtige Schwester zum kalten Grab deines verstorbenen Mannes! Ich will dir jetzt zeigen, wie sie sich fühlt.“ Schlagartig war es finster. Alles um mich drehte sich, ich landete unsanft auf kaltem Boden und mein Hinterkopf schlug gegen eine harte Kante. Mich fröstelte. Ein Sturm blies mit eisigen Nadeln durch mein dünnes Nachthemd. Es bot mir so gut wie keinen Schutz, obwohl ich versuchte mich so klein wie möglich zusammenzukauern und den Saum über meine nackten Füße zu ziehen. Über mir knackten und knarrten die Äste eines Baumes. Dürre Aststücke schlugen mir rundherum blaue Flecken. Feuchtes Laub wirbelte unter meine Kniekehlen, wurde immer mehr und bildete schließlich ein klammes Polster zwischen meinen Ober- und Unterschenkeln. Vorsichtig versuchte ich mich zu orientieren, meine schweren Lider zu heben. Alles Schwärze. Nur schemenhaft ein überdimensional dicker Baumstamm vor mir. Hinter mir die geraden Umrisslinien eines glatten Steins. Ein paar Meter zur Rechten flackerte eine kleine Flamme. Wie war es möglich, dass sie der starke Wind nicht ausgeblasen hatte? Nach und nach gewöhnten sich meine Augen an die Dunkelheitund ich erkannte eine Grablaterne, die die Kerze schützte. Mein großer Zeh war an einem Dorn eines kleinen Rosenbusches hängengeblieben. Es gelang mir nicht, den Fuß zurückzuziehen und mich von ihm zu lösen. Plötzlich wurde mir klar. Das vor mir war die große, alte Buche, die ich mich immerfort ärgerte, weil sie mit ihrem Laub, dürren Zweigen und Bucheckern die Grabstätte meines Mannes verschandelte. Damit wusste ich auch, was unter meinem Gesäß so spitz und rau durch den zarten Batist stach. Mein Unbehagen wuchs. Die letzte Wärme wich allmählich aus meinem Körper. Ich musste schnellstens von hier weg, doch wie sollte ich in meinem dünnen Nachthemd und bloßfüßig die fünfzehn Kilometer unbeschadet nach Hause kommen? Angst schnürte mir die Kehle zu. Ich wollte ihr entkommen und mich am Sockel des Grabsteines hoch stemmen. Stattdessen griff ich in die Dolden der Chrysantheme, mit der ich zu Allerheiligen das Grab geschmückt hatte. Die Blütenblätter verschmierten in meiner Hand zu einer
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K3 Literaturpreis 2015 – Motto : Fantasy & Mystery – alle Einreichungen klebrigen, stinkenden Masse und im selben Moment hörte ich wieder diese eigenartig summende Stimme. Sie übertönte kaum das Tosen um mich. Ich musste mich zur Blüte beugen, um sie zu verstehen. „ Ihr Menschen seid richtige Trampel, kein bisschen Zartgefühl! Willst du das auch noch zerstören, was Frost und Sturm von mir übrig gelassen haben? Achte ja darauf, dass du mich nicht tötest. Sonst könnte es sein, dass du gleich neben mir deine letzte Ruhestätte findest. Ich meine, es wäre sogar schön für dich, direkt über den Gebeinen deines geliebten Mannes in die Ewigkeit einzugehen. Das gäbe doch eine phantastische Dreierbeziehung mit uns.“ Wie konnte eine so schöne Blume derart zynische Drohungen aussprechen? Ich bebte am ganzen Körper. Dennoch sammelte ich meine Kräfte und schaffte es schließlich, aufzustehen, ohne die letzten Pflanzen, die noch nicht erfroren waren, zu zerstören. Mit bloßen Fingern grub ich die Chrysantheme aus der erstarrten Erde. Als ich aber den Stock anheben wollte, erlosch das letzte Licht um mich und das Brausen wich vollkommener Stille. Jählings war da Krachen, Klappern, Licht das mich blendete, doch binnen Kurzem erlosch, mir dennoch zeigte, dass ich am Fußboden neben meinem Bett auf einem Scherbenhaufen lag. Ein Fensterbalken schlug zu und bald darauf wieder Aufleuchten und Finsternis um mich. Es schüttelte mich. Offenbar sollte ich den störenden Bewegungsmelder abstellen und d ie Balken verriegeln, damit ich endlich ungestört schlafen konnte. Fröstelnd hievte ich mich hoch. Mit weichen Knien und Stechen im großen Zeh humpelte ich zum Lichtschalter. Kaum berührten meine Fingerkuppen die Wippe, durchfuhr auch sie ein furchtbarer Schmerz und ich merkte, dass sie bluteten - nicht nur bluteten, sondern braun, voll Erde waren, genauso wie die Füße und der Saum des Nachthemdes, an dem ein dürres Buchenblatt haftete. Irridiert schaute ich um. Gebannt blieb mein Blick am Fensterbrett hängen. Dort stand in einem lehmigen Topf die gelbe Spinnen-Chrysantheme. Ein Zweig war halb abgerissen und eine Blüte zerdrückt.
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K3 Literaturpreis 2015 – Motto : Fantasy & Mystery – alle Einreichungen 10 Codewort Tiger Wenn wir nur wüssten, wer wir wirklich sind Ich laufe mit wild klopfendem Herzen den Hügel hinauf, auf die Gehege zu. Auf der anderen Seite des Hügels rattert ein alter Zirkuswagon den Kiesweg herauf. Die vorgespannten Pferde schnaufen, Dampf steigt von ihren schwitzenden Körpern auf. Vor Aufregung rutsche ich im taunassen Gras aus und lande auf allen Vieren. Macht nichts! Ein paar Flecken mehr oder weniger auf meinem Kleid, machen wirklich keinen Unterschied. Ich lache und laufe weiter. Franka und Bärbel stehen schon am Tor zum einzigen leerstehenden Gehege und warten. Alt ist das Gehege, und viel zu klein, aber besser als ein stinkender, enger Zirkuswagon allemal. Die Männer vom Zirkus heben gerade die erste der drei großen Kisten aus dem Wagon, als ich nach Luft schnappend neben ihnen zu stehen komme. Das tiefe Knurren, das aus der Kiste dringt, lässt Gänsehaut über meine Arme kribbeln. Ich kann nicht anders als zu grinsen. „Ist er das?!“, keuche ich. Der Zirkusdirektor murrt zur Antwort nur. Geld sollen wir ihm für die Tiere geben, weil er selbst keines mehr hat. Aber viel bekommt er von uns nicht. Wir haben ja auch kaum was. Und was wir haben, brauchen wir, um die Tiere und uns selbst über Wasser zu halten. Gemeinsam tragen wir die drei schweren Kisten in das Gehege. Und dann ist es endlich soweit! Ich ziehe von der anderen Seite des Gitters aus an dem Seil, und die Klappe der ersten Kiste springt auf. Leo heißt er, sagen die Männer vom Zirkus. Dabei ist er gar kein Löwe. Die anderen beiden sind Löwen, ein altes Pärchen, Samantha und Samuel, und Hörner sollen sie haben, wie Steinböcke. Meine bebenden Hände umklammern die rostigen Gitterstäbe. Ich kann mich kaum halten, so lange habe ich darauf gewartet, diese sagenumwobenen Tiere endlich zu sehen! Eine weiße Schnauze taucht aus dem Schatten der Kiste, schnuppert, ganz vorsichtig. Dunkle Augen folgen, blinzeln, überrascht vom hellen Sonnenlicht. Und plötzlich steht er vor mir. Mager ist er, und zerrupft. Aber wir werden ihn schon wieder aufpäppeln. Skeptisch blickt er um sich. Die schlanken Muskeln unter seinem kurzen grauweißgetigertem Fell sind gespannt, bereit zur Flucht – oder bereit zum Sprung. Ich möchte die raschelnden Federn seiner schneeweißen Flügel berühren, doch das Gitter trennt uns. Er fängt meinen Blick auf, fletscht die Zähne, und springt. Wildes Alarmglockenläuten hallte durch die dichter werdende Dämmerung und über die regennassen Dächer der Stadt. Es war aller höchste Zeit zu verschwinden. Eigentlich hätte er das schon vor Wochen tun sollen, dachte Lars reuevoll. Noch vor drei Tagen wäre es ein Leichtes gewesen, aus der Stadt zu kommen. Doch nun. Nun war alles anders. Er schob sich an einem Schornstein vorbei und drückte sich an die hohe Stadtmauer. Die morschen Dachschindeln unter seinen Stiefeln knarrten gefährlich. Ein letzter Blick in die von Schatten gefüllte Gasse weiter unten, und Lars warf den Enterhaken über die Mauer. Rasch kletterte er an dem Seil empor und schwang sich auf den Wehrgang. Eine frostige Nacht hatte die Felder und Wälder geschluckt, die die Stadt umgaben. Lars seilte sich auf der anderen Seite der Mauer wieder ab und ließ sich ebenfalls von der Dunkelheit verschlucken. Das Gitter rattert gewaltvoll von der Wucht, mit der der geflügelte weiße Tiger dagegen springt. Ich stolpere nach hinten und lande mit einem Ächzen auf meinem Hintern. Mein Herz rast, meine Atemzüge sind plötzlich schnell und flach. Es ist jedoch nicht Boshaftigkeit, mit der mich Leos tintenschwarze Augen fixieren, nein, es ist Angst. Tiefe, panische Angst. Prompt ist Bärbel neben mir, schubst mich fort von dem Gehege. „Bedräng ihn doch nicht so, Sofia!“, schimpft sie mich, und besänftigend redet sie auf Leo ein. „Tut, tut, tut!“, macht sie. „Bist du ein armer
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K3 Literaturpreis 2015 – Motto : Fantasy & Mystery – alle Einreichungen kleiner Tiger?“ So klein ist er gar nicht, denke ich. Fast ausgewachsen. Bärbels Gerede irritiert mich. Und mir scheint, Leo irritiert es auch. Fast sieht es aus, als würde er die Augenbraun heben. Verwundert. Gereizt. Bärbel schimpft weiter. Über die Zirkuswärter und wie schlecht sie ihre Tiere behandeln. Über den Norden, wo die Silberwölfe wegen ihres Felles und ihrer Zähne ausgerottet wurden. Wie furchtbar Menschen doch zu den armen, wehrlosen Tieren sind, betont sie gerne. Und ich gebe ihr Recht. Aber ich frage mich auch, ob sie merkt, wie furchtbar sie zu ihren Mitmenschen ist. Vermutlich merkt sie es nicht. Leo sieht mich an, verwirrt und flehend. Lass mich hier raus!, sagt sein Blick. Feuer loderte am Horizont auf. Gelbe und orange Zungen leckten über den Himmel, und schwarze Rauchschwaden verdeckten die Sterne. Doch Lars hob nicht einmal den Kopf. Er lief weiter. Immer weiter, den schlammigen Weg entlang. Fort! Nur fort von hier!, war sein einziger Gedanke. Er wollte nicht hier sein, wenn die Stadt, in der er aufgewachsen war, von demselben Schicksal ereilt wurde, wie die ferne Stadt am Horizont. Und der Krieg würde sie alle holen. Sie würden alle brennen. Ein plötzliches Rumpeln in der Dunkelheit vor ihm, ließ Lars erstarren. Einige Momente später hallten Rufe durch die Nacht und Laternen wurden entzündet. Offenbar war eine Kutsche im Schlamm stecken geblieben. Die Pferde wieherten nervös. „Pass doch auf mit der Ladung!“, brüllte da einer mit rauer Stimme. „Wenn dieses Schätzchen hier zu früh hoch geht, wird Fürst Adémar alles andere als begeistert sein!“ Fürst Adémar, dachte Lars beunruhigt, der berüchtigte Alchemist. Oder zumindest einer von vielen. Und ganz abgesehen davon Lars‘ Onkel – eine Tatsache, die Lars meist verdrängte. Es wurde gemunkelt, dass die Alchemisten ihre neuesten Erfindungen gerne während Kriegen erprobten. Lars aber kannte die Wahrheit. Er wusste, dass gewisse Alchemisten absichtlich Kriege anzettelten, um ihre fragwürdigen Substanzen an der Bevölkerung testen zu können. Denn nichts vernichtete Beweise effizienter, als das Durcheinander eines Krieges. Lars ächzte angewidert – ein Fehler, wie er zu spät feststellte. „Heh! Wer da?“, rief ein Mann von der Kutsche. Ein anderer fluchte. Und noch bevor Lars anfangen konnte sich über sich selbst zu ärgern, geschweige denn in den Wald davonzurennen, knallte es. Ich sitze schon wieder am Gitter des Raubtiergeheges. Genau wie jeden Tag der letzten Wochen. Samantha und Samuel sind immer noch schüchtern. Sie bleiben unter sich. Vor Leo haben sie Angst, aber ich verstehe nicht warum. Er hat sich gut erholt, und seine Flügel sind echt – im Gegensatz zu den Hörnern der Löwen. Angeklebt haben die vom Zirkus ihnen die. Ha! Wie lächerlich! Manchmal glaube ich er möchte mit mir reden. Leo. Er sitzt mir gegenüber und sieht mich so traurig an. Seine weißen Flügel rascheln im Wind und sein grauweißgetigertes Fell glänzt in der Sonne. Ich würde ihn so gerne streicheln, mit ihm spazieren gehen. Es muss schrecklich sein, den ganzen Tag nur in diesem winzigen Gehege auf und ab gehen zu können. „Beißt du mich, wenn ich dich aus dem Gehege lasse?“, frage ich ihn selbstvergessen. Er schüttelt den Kopf. Ich lache. „Du verstehst mich, hm?“ Er nickt. Und jetzt finde ich es nicht mehr lustig, das ist zu viel des Zufalles. Aus einem Impuls heraus, springe ich auf und öffne das Tor zum Gehege. Erst scheint Leo nicht zu wissen, ob ich es ernst meine. Dann, ganz vorsichtig, schleicht er durch das Tor. Ich mache einen respektvollen Schritt zurück, diese Fangzähne sehen doch sehr spitz aus. Er schnuppert, ganz so, als sei die Luft hier draußen frischer, als hinter den Gitterstäben. Und ohne Vorwarnung macht er einen Satz, und halb sprintend, halb fliegend, saust er über die Wiese davon. Sprühende Funken und purpurnes Licht blendeten Lars. Ein unerträglicher Schmerz zuckte durch seinen Körper. Er schrie auf und sackte zu Boden. Seine Gedanken verschwammen zu vagen Bildern und Eindrücken. Im Schlamm liegend, wollte er sich wieder aufrichten, doch seine Glieder weigerten sich, ihm zu gehorchen. Es wurde schwarz vor seinen Augen, schwärzer als die Nacht, die ihn umgab, und er verlor das Bewusstsein.
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K3 Literaturpreis 2015 – Motto : Fantasy & Mystery – alle Einreichungen „Heh! Warte!“, rufe ich Leo nach. Was ich mir davon erwarte, weiß ich wirklich nicht. Er hört mich ja nicht einmal. Verschwindet einfach im Wald. Was habe ich mir dabei nur wieder gedacht? Einfach das Tor zu öffnen? Nichts natürlich. Aber er hat so furchtbar traurig ausgesehen, dort hinter den Gitterstäben. Verstohlen sehe ich zu dem großen roten Ziegelgebäude hinunter, das am Fuß des Hügels steht, und hoffe, dass die anderen Frauen noch länger in den Pferdeställen hinter dem Haus beschäftigt sind. Mit einem Ruck laufe ich los, Leo hinterher. Inmitten einer Lichtung im Wald hole ich ihn ein. Er trottet über die Wiese, schnaufend und schwer atmend, schlägt nur schwach und erschöpft mit den Flügeln. Ich gehe in die Hocke, will ihm nicht das Gefühl geben, eine Bedrohung zu sein. „Leo!“, wispere ich, ganz sanft. Erschrocken und mit angespannten Muskeln fährt er herum, knurrt, tief und drohend. Es kostet mich alle Überwindung meine eigenen Muskeln zu entspannen und mich in das hohe Gras sinken zu lassen. Langsam strecke ich Leo einen zitternden Arm entgegen. Für einen langen Moment zögert er, dann kommt er auf mich zu, mit anmutigen aber vorsichtigen Schritten. Skeptisch sieht er mich an und bleibt schließlich gerade außerhalb meiner Reichweite stehen. Sperrst du mich wieder ein, wenn ich zu dir komme, scheint sein Blick zu fragen. „Lass uns spazieren gehen.“, erwidere ich und er nickt mir zu. Gänsehaut läuft mir über den Rücken. Der Gestank war kaum zu ertragen. Aber noch viel schlimmer waren die verzweifelten und nicht enden wollenden Tierschreie. Und die Hitze. Mit jedem Tag, den Lars in diesem rumpelnden Zwielicht verbrachte, von dem er nicht wusste, wie er dorthin gelangt war, wurde es heißer. Lars. Das bin ich, Lars, wiederholte er immer wieder in seinem Kopf, aus Angst, er würde das auch noch vergessen. Geradezu panisch hielt er an den vagen Erinnerungsstücken fest, die ihm von seinem Leben geblieben waren. Wie Wasser zwischen den Fingern rannen sie ihm davon, die Erinnerungen. Zwischen den Fingern – wenn er nur Finger gehabt hätte. Der Spätsommer schenkt uns goldene Sonnenstrahlen, die Leos weiches Fell unter meinen Fingern wärmen. Ich sitze im Gras, Leo liegt ausgestreckt neben mir, er döst, völlig entspannt. Die Luft ist dampfig und erfüllt vom Zirpen unzähliger Grillen. Unsere Spaziergänge werden von Tag zu Tag ausgedehnter. Heute haben uns unsere Füße bis zum Rand der kleinen Hafenstadt westlich der Auffangstation, und wieder zurück zu den Gehegen getragen. Das Rauschen der Wellen klingt immer noch in meinen Ohren nach, und der Duft der Meeresluft hängt in meinen Haaren fest. Plötzlich höre ich Stimmen den Hügel heraufkommen. Ich springe auf und rüttle den schlafenden Tiger wach. „Schnell, zurück ins Gehege!“, dränge ich ihn. „Bevor Bärbel wieder schimpft.“ Leo wirft mir einen vorwurfsvollen Blick zu, mit diesen dunklen, dunklen Augen, doch er wiedersetzt sich nicht. Träge stapft er durch das Tor des Geheges. Und ich wundere mich, nicht zum ersten Mal, warum er immer noch bei mir ist. So oft in den vergangenen Tagen hätte er schon die Möglichkeit gehabt, fortzulaufen. Aber er hat es nicht getan. Mein Herz wird ganz warm bei dem Gedanken, dass er meine Gesellschaft, der Freiheit vorzieht. Das Knallen der Peitsche ließ Lars zurückschrecken. Wohl oder übel hatte er gelernt sich auf allen Vieren fortzubewegen. Etwas anderes ließ sein Körper gar nicht mehr zu. Ein Mann warf ein Stück rohes Fleisch in das Innere des Wagons – so viel hatte Lars inzwischen verstanden, er befand sich in einem Zirkuswagon. Und bald, bald, hatten die Männer gesagt, war es soweit, der Zirkus würde seine Pforten öffnen, für die Schaulustigen und die Neugierigen. Für all jene, die es nach dem Kuriosen, dem Bizarren und Unglaublichen dürstete. Und der Höhepunkt der Schau, würde ein geflügelter weißer Tiger sein. Ich schreie und strample. „Nicht meinen Tiger!“, schluchze ich. Aber sie nehmen ihn trotzdem fort. Fort von mir. Bärbel hält mich fest, ihre Fingernägel krallen sich schmerzhaft in meine Oberarme. „Du bist doch selbst schuld, Sofia.“, tadelt sie mich. „Warum musstest du auch so nahe an die Stadt mit ihm gehen?“
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K3 Literaturpreis 2015 – Motto : Fantasy & Mystery – alle Einreichungen Beschwert haben sie sich, die Leute aus der Stadt. Angst sollen sie gehabt haben. Vor Leo. Und jetzt holt ihn die Stadtwache. Das Maul schnüren sie ihm zu und in einen viel zu engen Käfig sperren sie ihn. Und mir laufen heiße Tränen über die Wangen, so hilflos fühle ich mich, so furchtbar hilflos. Leo schenkt mir einen letzten Blick, mit diesen unergründlichen, tiefschwarzen Augen, und dann ist er fort. Eine Frau lehnte sich gegen die silbrigen Gitterstäbe, sie gehörte jedoch nicht zu den Wächtern, die Lars von Sofia weggebracht hatten. Sie trug einen Kittel, der einmal weiß gewesen sein mochte, und betrachtete Lars abschätzend. Lars erwiderte die Geste mit einem tiefen Knurren. „Ich bitte Euch, Herr Hagarson, das ist wirklich nicht nötig.“, sagte die Frau, gelassen und kontrolliert. Völlig vor den Kopf gestoßen wich Lars zurück. Woher kannte sie seinen Nachnamen? „Ah, ich sehe, ich liege richtig in meiner Annahme.“, schloss die Frau aus Lars‘ Reaktion. „Es war alles andere als einfach, Eure Identität in Erfahrung zu bringen, das könnt Ihr mir glauben.“ Sie räusperte sich. „Wie auch immer, ich erlaube mir, zum Punkt dieser Konversation zu kommen: als Mitglied der freien Alchemisten Gilde, ist es mir ein Anliegen, zu erfahren, welcher der werten Nobel Alchemisten für die Explosion nahe Eurer Heimatstadt verantwortlich war. Für Gerechtigkeit muss immerhin gesorgt werden. Aus diesem Grund biete ich Euch einen Handel an, Herr Hagarson. Ihr bekommt von mir Eure menschliche Gestalt zurück, und im Gegenzug dazu, bekomme ich von Euch den Namen des Alchemisten, den die Schuld für Euren gegenwärtigen Zustand trifft. Vorausgesetzt natürlich, Ihr kennt diesen Namen.“ Fürst Adémar, Fürst Adémar!, dachte Lars aufgewühlt, und gleichzeitig unermesslich erleichtert , wenigstens diese Erinnerung behalten zu haben. Er nickte. Ein Jahr ist vergangen, seit mir mein bester Freund genommen wurde. Leo, denke ich immer wieder. Leo, wo bist du? Die beiden Löwen im Gehege beachten mich nicht. Samuels Mähne ist grau geworden und Samantha frisst kaum mehr. Wir machen uns Sorgen um sie. Bärbel hat versucht die Löwin wieder aufzupäppeln, aber ohne großen Erfolg. Ich drehe mich um, lehne mich mit dem Rücken gegen die von der Sonne erwärmten Gitterstäbe und sehe den Hügel hinunter. Jemand geht den Kiesweg herauf, über den der Zirkuswagon gerattert war, an dem Tag, an dem ich Leo zum ersten Mal gesehen hatte. Der Junge, unter dessen Stiefeln nun der Kiesel knirscht, ist etwa in meinem Alter. Er hat eine anmutige Art sich zu bewegen, wie eine Katze, leicht und selbstsicher. Seine weißblonden Haare leuchten blass im Sonnenlicht. Ich kann mir nicht erklären, warum mein Herz auf einmal vor Aufregung pocht. Weiß zuerst nicht, warum sich meine Beine in Bewegung setzen, und mich auf den Jungen zutragen. Bis ich vor ihm stehe, in seine dunklen Augen sehe und er meinen Namen sagt.
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K3 Literaturpreis 2015 – Motto : Fantasy & Mystery – alle Einreichungen 11 Codewort: Krokodil Das Nilpferd „Schau Papa, das Nashorn, das du mir geschenkt hast!“ „Aber Konstantin, das ist doch ein Nilpferd! Hast du ihm schon einen Namen gegeben?“ Ich blickte kritisch auf das Stofftier, das vor mir am Teppich stand. Nashörner waren grau, und das Stofftier war auch grau. Also war es wohl ein Nashorn, oder nicht? „Ein Nilpferd?“ Mein Freund Sebastian hatte gestern im Kindergarten ein Pferd gezeichnet, und das hatte ganz anders ausgesehen. Pferde waren doch normal ganz schlank und hatten lange Haare und dünne Beine. Ich wetzte herum und setzte mich in den Schneidersitz, wie Papa. „Ute! Ich nenne es Ute!“, sagte ich schließlich und umarmte das Plüschtier, war doch egal, ob es jetzt ein Nashorn oder Nilpferd war. Papa lächelte. Wie immer saß seine Brille ein wenig schief auf seiner Nase und er rückte sie sich zurecht. „Konstantin?“ Ich sah auf. „Ich bin hier, Mama! Im Wohnzimmer.“ „Was machst du denn hier?“, fragte sie und hockte sich zu mir. Eine blonde Haarsträhne fiel ihr ins Gesicht. Papa streckte die Hand aus und versuchte, sie ihr hinters Ohr zu streichen, aber es gelang ihm nicht. Sie strich sich die Haare selbst hinters Ohr, ohne ihn anzusehen. „Ich habe das Nashorn Ute genannt!“, erklärte ich stolz. „Das Nilpferd!“, besserten mich Mama und Papa gleichzeitig aus und lächelten. „Dann halt Nilpferd.“ Ich drückte es an mich. „Komm, gehen wir Schuhe anziehen“, sagte Mama. „Können wir nicht noch ein bisschen spielen?“, fragte ich und ließ Ute vor mir das Karomuster am Teppich entlang gehen. „Nachher, wir kommen sonst zu spät.“ Jetzt lächelte Mama nicht mehr. Schnell sah ich zu Papa, er brachte Mama doch immer zum Lachen. Und vielleicht konnte er sie überreden, dass wir noch ein wenig spielten. Aber er sah nur in ihr Gesicht, ganz traurig, bevor er sich zu mir drehte. „Tut mir leid, mein Kleiner“, meinte er und streckte die Hand nach meinen Haaren aus, ich spürte einen kühlen Luftzug an meiner Wange. „Es ist Zeit.“ „Konstantin?“ Mama sah mich fragend an. Papa stand auf und blickte Mama an, dann mich, und lächelte. Aber nicht so wie sonst, sondern so wie damals, als Moritz, unser Kater, überfahren worden war und er mir gesagt hatte, dass er jetzt im Himmel so viel Leckerlis bekam, wie er wollte. „Ich hab dich lieb, mein Kleiner! “, sagte er und schaute noch einmal zu mir und winkte, bevor er aus dem Wohnzimmer ging. „Kommst du jetzt bitte?“, fragte Mama, stand auf und streckte mir ihre Hand hin. „Kann Ute mitkommen?“, rief ich und sprang auf, das Stofftier vor mir her wedelnd. „Natürlich!“, antwortete sie, etwas sanfter, und nahm mich an der Hand. „So, setz dich her!“, bat sie mich, als wir im Vorraum waren. Dann holte sie meine schwarzen Schuhe mit dem Klettverschluss aus dem Schrank. „Aber die drücken!“, protestierte ich, dabei drückten sie gar nicht so arg. Aber ich hatte gerade erst ganz tolle Schuhe bekommen, blaue, die weiß und rot blinkten wenn ich damit herumlief. „Tut mir leid mein Schatz, nur heute, ok? Bitte.“
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K3 Literaturpreis 2015 – Motto : Fantasy & Mystery – alle Einreichungen Ich erschrak, Mama sah so traurig aus. „Na gut, dann eben die!“, sagte ich rasch. Wir zogen die Schuhe an, ich die langweiligen schwarzen und Mama die, die ich so gerne mochte, weil sie immer klack klack klack machten. „Fahren wir mit dem Auto?“, fragte ich hoffnungsvoll. Ich war gerne mit dem Auto unterwegs, auch wenn ich hinten auf diesem blöden Kindersitz sitzen musste. Die Bäume fuhren so schnell vorbei und ich konnte meine Benjamin-Blümchen-Kassetten hören. „Nein, mit dem Taxi“, antwortete Mama. „Was ist ein Taxi?“, wollte ich wissen. Mama, die gerade auf die Uhr schaute, antwortete nicht gleich. „Weißt du, was ein Taxi ist?“, fragte ich Ute, aber sie wusste es auch nicht. „Ein Taxi ist ein Auto, das jemand anderem gehört und mit dem jemand anderer fährt“, erklärte Mama. Ein weißes Auto blieb vor unserem Haus stehen, Mama öffnete die Türe und sagte etwas zu der Frau am Steuer, die daraufhin ausstieg, aus dem Kofferraum einen Kindersitz holte und auf den Rücksitz stellte. Ich blieb vor der Garage stehen und beobachtete das Ganze mit zusammengekniffenen Augen, die Sonne blendete. Die fremde Frau war klein und dick, ihre Schuhe machten nicht „klack“ und waren langweilig. „Na komm!“, sagte Mama. Ich lief zu ihr, stieg ins Auto und setzte mich auf den Kindersitz, obwohl er dunkelblau und hässlich war. Mama setzte mich neben mich und schnallte uns an. Ich mochte das Taxi nicht. Es roch komisch hier drinnen, die fremde Frau fuhr so schnell um die Kurven, dass mir schlecht wurde, und es gab keine Benjamin-Blümchen-Kassetten sondern Musik, bei der eine Frau herumschrie wie Moritz, als ich ihm einmal versehentlich auf den Fuß gestiegen war. Und ich, nachdem er mich dann gekratzt hatte. „Mama?“, fragte ich, „wieso fahren wir nicht mit dem Auto?“ „Ich will heute nicht Auto fahren, weißt du?“, sagte sie und zupfte mir einen weißen Teppichfusel von der schwarzen Hose. Ich wusste gar nichts, aber ich schwieg weil mir so schlecht war und drückte Ute fest an mich. Mama blickte aus dem Fenster und sah auch so aus, als ob ihr schlecht wäre. Irgendwann blieb die fremde Frau dann stehen und stellte das seltsame Geschrei ab. „Acht fünfzig macht das dann bitte“, sagte sie mit rauchiger Stimme und Mama gab ihr einen rosa Schein. Wir stiegen aus und ich atmete tief durch. Die Frau fuhr davon. Mit dem furchtbaren Kindersitz, Gott sei Dank. „Alles ok, mein Kleiner?“, fragte Mama und hockte sich neben mich. Ich nickte, obwohl mir noch immer ein bisschen schlecht war. Mama umarmte mich, ganz fest, sodass Ute zwischen uns zerquetscht wurde. „Mama?“, fragte ich. So schlimm war die Taxifahrt jetzt auch nicht gewesen. Sie ließ mich los und lächelte mich an, aber es liefen Tränen über ihre Wangen. „Das wird jetzt nicht angenehm, mein Kleiner, aber wir schaffen das schon“, antwortete sie und strich mir über die Haare, bevor sie aufstand und mich an der Hand nahm. Wir gingen zu einem Tor aus Gitterstäben, und einer quietschenden Klinke. Dahinter waren Steine, geordnet, in Reih und Glied, mit kleinen grauen Wegen dazwischen. Mamas Schuhe machten klack, klack, klack auf dem breiten Weg am Rand, meine langweiligen leuchteten nicht. Ich entdeckte Blumen, violette, gelbe, zwischen den Steinen, wie die bei uns im Garten. Die gefielen mir. Aber die Steine, die mochte ich nicht. „Mama?“, fragte ich, „was machen wir hier?“ Bevor sie antworten konnte, waren wir bei einem Haus angekommen, mit bunten Fenstern. Davor standen Oma, Opa, Tante Judith, Onkel Gustav, Veronika, meine kluge Cousine, die zwei Jahre älter war als ich, Papas Freund Klaus und noch viel mehr Leute, die ich kannte, und auch einige, die ich nicht kannte. Und rechts daneben, unter einem Apfelbaum, saß Papa auf einer Bank und winkte mir zu, aber keiner achtete auf ihn. Jetzt kamen alle auf uns zu, ich bekam Angst und drückte Ute und Mamas Hand ganz fest.
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K3 Literaturpreis 2015 – Motto : Fantasy & Mystery – alle Einreichungen „Es tut mir so leid!“ „Ich wünsche euch viel Kraft!“ Ich wich zurück, während Mama Hände schüttelte und sich bedankte. Was war hier los? Ich sah nur schwarze Beine, doch plötzlich beugte sich Klaus zu mir herunter. „Das ist aber ein tolles Stofftier, das du da hast!“ Er streichelte Ute über das kurze, graue Fell. „Das hab ich von Papa!“ „Ja, dein Papa. Der hat dich sehr, sehr lieb gehabt, das weißt du doch?“ „Er hat mich noch immer lieb!“, entgegnete ich erbost. „Ja, ganz bestimmt“, sagte Klaus und lächelte traurig, „und auch wenn er jetzt fort ist…“ „Papa ist nicht fort!“, unterbrach ich ihn wütend. Ich ließ Mamas Hand los und lief zum Apfelbaum. „Konstantin!“, rief Mama mir nach, aber ich lief weiter. Bei der Bank angekommen setzte ich mich neben Papa und schnaufte durch. Ich warf einen Blick zurück, zu Mama, aber sie war mir nicht weit gefolgt. Ich hörte, wie sie zu Onkel Gustav, der in meine Richtung ging, sagte, ich bräuchte wohl einen Moment für mich alleine und es sei schon in Ordnung, sie habe mich im Blick. „Papa?“, fragte ich. „Ja, mein Kleiner?“ Ich zögerte, sah zu Ute, aufs Gras zu den Gänseblümchen, dann wieder auf, zu ihm. „Bist du wirklich tot?“ Mein Herz klopfte schneller. Papa strich mir übers Haar, wieder spürte ich einen Luftzug an meiner Wange. „Ich fürchte ja“, antwortete er langsam und legte den Kopf schief. „Hm.“ Verwirrt musterte ich erst ihn, dann Ute. Wir schwiegen alle drei. Papa rückte seine Brille zurecht. „Bist du mir böse, wenn ich jetzt dann zu Moritz spielen gehe?“, fragte er vorsichtig. Ich überlegte. Klar, Moritz würde sich sehr freuen, Papa wiederzusehen. „Mir wäre es schon lieber, wenn du da bleibst!“, meinte ich, „Und mit mir spielst.“ „Das geht leider nicht“, seufzte er und griff nach Ute. Seine Hand glitt durch sie hindurch. „Hm“, wiederholte ich. „Ich hab dich sehr lieb, mein Kleiner, dich und Mama“, er warf einen Blick zu ihr, sie wurde noch immer von den Leuten umlagert wie Omas Kirschbaum von den schwarzen Amseln, „aber…sieh mich an. Ich werde von Tag zu Tag weniger.“ Ich sah ihn an, und er wirkte tatsächlich schon ein wenig durchsichtiger als vorher im Wohnzimmer und viel durchsichtiger als er noch letzte Woche, bevor ihn dieses blöde Auto niedergefahren hatte, gewesen war. „Kannst du nicht wiedergeboren werden?“, fragte ich, „sowie diese Frau in der Geschichte, die du mir erzählt hast? Die zu einer Ameise geworden ist?“ „Schauen wir einmal!“, kicherte er, „wer weiß, was dann aus mir werden würde!“ „Vielleicht ein Nashorn, wie Ute!“, rief ich. „Ute ist doch ein Nilpferd“, besserte er mich erneut aus. „Ach ja.“ „Vielleicht“, sagte Papa, „vielleicht werde ich ein Nilpferd.“ Ich musste grinsen bei dem Gedanken, wie Papa wohl als Nilpferd immer seine Brille zurechtrücken würde. „Aber jetzt muss ich wirklich gehen, mein Kleiner“, sagte er schließlich. „Mh“, machte ich unwillig. „Aber ich werde auf dich aufpassen. Und auf Mama. Sowie du auf Ute aufpasst!“, versprach er und ich bekam wieder einen Luftzugstreicher über meinen Kopf. „Ich hab dich lieb“, sagte ich, obwohl ich ein bisschen beleidigt war, dass er ging.
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K3 Literaturpreis 2015 – Motto : Fantasy & Mystery – alle Einreichungen „Ich dich auch“, sagte er, ich konnte bereits die Banklehne und die Bienen hinter ihm sehen, und schließlich nur mehr die Banklehne und die Bienen. „Konstantin?“, hörte ich Mama hinter mir sagen. „Ja?“ Ich drehte mich um. „Alles in Ordnung?“ Sie fuhr mir sanft über die Wange, ich spürte ihre Hand, keinen Luftzug. „Ja“, antwortete ich und streichelte Ute, die neben mir auf der Bank saß, „Papa ist jetzt vielleicht ein Nilpferd!“
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K3 Literaturpreis 2015 – Motto : Fantasy & Mystery – alle Einreichungen 12 Codewort lettera Der Herzenswunsch Ich schlug meine Augen auf. Ich befand mich in einem Saal. Der Saal hatte früher bestimmt prächtig ausgesehen, voller Gold, Bildmalereien und Kristallen. Doch heute hatte er an Glanz verloren. Die Wände wurden durchzogen von Rissen, die Bildmalereien waren verblichen und bröckelten ab. Alles hier drin wirkte staubig und verlassen. Ich saß auf einem Sockel. Er stand in der Mitte des Raumes und wurde von der Sonne angestrahlt. Sonne? In einem fensterlosen Raum? Mein Blick wanderte nach oben. Ich sah einen tiefblauen Himmel mit einer strahlenden hellen Sonne. Jetzt erst bemerkte ich, dass Teile der Decke abgestürzt waren. Ich setzte mich auf und sah mich noch einmal genauer um, bevor ich aufstand. Der Saal war rund und völlig unmöbliert, keine einzige Tür führte nach draußen, da es keine gab. Langsam wurde ich panisch. Ich rannte zur Wand und tastete sie ab nach Kerben, Löchern, irgendwas. Da hörte ich eine Stimme hinter mir. „Suchst du etwas? “ Ich drehte mich um und blickte direkt in saftig grüne Augen, die umrahmt wurden von einem schwarzen Haarschopf. Das Erscheinungsbild des Jungen wurde noch von einem perfekten, spitzbübischen Lächeln abgerundet. Ich schreckte zurück und stieß gegen diese verdammte Wand. „Tut mir leid, dass ich dich erschreckt habe. Ich heiße Tobi, und du?“, fragte der Junge, der anscheinend Tobi hieß. „Amy. Und ich suche einen Ausgang aus diesem blöden Saal!“ Tobi sah mich ernst an. „Die Frage ist nicht wo du bist, das kann ich dir beantworten. Die Frage ist: warum?“ „Was soll das heißen?“, ich kniff misstrauisch die Augen zusammen. Er nahm einen tiefen Atemzug. „Das hier ist ein Traum. Kein richtiger Traum sondern eher eine ... Ähm... Wunscherfüllungszentrale. Du hast deinen Herzenswunsch laut ausgesprochen, also deinen wahren Herzenswunsch, und bist hier her gekommen. Das schaffen nicht viele. Die meisten denken Sie wüssten, was ihr Herzenswunsch ist, aber er ist es nicht. Wir befinden uns in deiner Traumwelt. Deine Traumwelt besteht aus zwei Parallelen. Wir sind auf der ersten, der obersten. Damit sich dein Wunsch erfüllt, musst du zu dem Meister gelangen, der sich auf der unteren, der letzten Etage befindet. Um dort hin zu gelangen musst du auf dieser Stufe eine Aufgabe lösen, so weiß der Meister, dass du würdig bist, dass dein Herzenswunsch in der Erfüllung geht. Wenn du deine Aufgabe gelöst hast, wird sich eine Falltür in die nächste Parallele zeigen. Das Ganze hat einen Nachteil. Wenn du mit der Reise zum Meister begonnen hast, gibt es kein Zurück mehr. Du wirst nie wieder aufwachen, wenn du scheiterst. Um dir in gewissen Sachen Rat und Gesellschaft zu bieten werde ich dich begleiten. Das ist sozusagen mein Job. Nun frage ich dich, wirst du die Herausforderung annehmen oder aufwachen?“ Er sah mir tief in die Augen. Ich erinnerte mich wieder, was ich mir gewünscht hatte. Ich musste es versuchen. „Ich tu’s!“ Tobi nickte und sah sich im Saal um. „Normalerweise steht immer irgendwo am Anfang einer Aufgabe ein Gedicht oder ein kurzer Text, was wir tun sollen. Manchmal mehr und manchmal weniger gut versteckt.“ Wir sahen uns um. Auf den Wänden, dem Boden und den verbliebenen Teilen der Decke stand nichts. Der einzige Ort, wo wir noch nicht gesucht hatten, war der Sockel, auf dem ich aufgewacht war. Als ich nur noch ein paar Schritte davon entfernt war, krabbelten plötzlich tausende Ameisen über den Steinquader, bis sie ihn völlig verdeckten. Angeekelt wich ich einen Schritt zurück. Ich holte tief Luft und streckte meine Hand aus, um die Ameisen beiseite zu schieben. Es kamen immer mehr. Von dem eingestürzten Dach, den Rillen und den Ritzen der Tapete - bis sie allmählich den Boden zu bedecken begannen. Als wäre das nicht schon schlimm genug, wurden sie dem Anschein nach größer! Ich musste mich beeilen. Ich senkte meine Hand und wischte über den Stein. Einzelne Ameisen die schon die Größe eines Tennisballs hatten, krabbelten meine Arme und meine Beine hoch. Ich schob die Ameisen beiseite, aber eine halbe Sekunde später wuselten dort schon zwei weitere. So würde ich die Schrift nie lesen können. „Ich hätte da einen ziemlich hilfreichen Tipp. Wie du ja schon weißt, befinden wir uns hier in einer Art Traum“, sagte Tobi in einem Ton, als würde er einer Dreijährigen erklären, dass die Welt rund sei ,“
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K3 Literaturpreis 2015 – Motto : Fantasy & Mystery – alle Einreichungen und in einem Traum kannst du alles manifestieren, was du willst. Du musst dir einfach nur vorstellen, was du möchtest und schwubs, kannst du fliegen oder hast den besten Keks aller Zeiten in der Hand. Es gibt eine Bedingung. Du darfst nichts wegmanifestieren, was Teil deiner Aufgabe ist. Sonst könntest du ja diese netten Gesellen einfach im Luft auflösen. Das wäre zu leicht.“ Er grinste mich an, als wäre das alles nur reinste Belustigung. Ich schloss die Augen und stellte mir vor, was diese Biester am wenigsten mochten. Als ich sie wieder aufmachte stand vor mir ein Sack mit Backpulver. Eine Freundin von mir hatte in ihrem Haus eine Ameisenplage. Sie hatte Backpulver auf die Stellen gestreut, an denen sie vermutlich ins Haus gekommen waren und die Ameisen ließen sich nicht mehr blicken. Ich griff in den Sack und holte eine Hand von dem weißen Zeug heraus. Mit einer einzigen Handbewegung schleuderte ich sie über das Podest. Es wirkte, die Ameisen zogen sich zurück. Nun war ein Schriftzug am Quader zu erkennen: Finde die Falltür, dabei hilft dir dies: Es ist ein Mann von Eisen, Ein anderer von Glas, Sie wollten sich befleißen, Einander zu unterweisen, Probierten dies und das. Grund dafür war ein Quader aus Stein Doch als der helle Lichtstrahl des eisernen Herrn traf, heilte das gebrochene Herz aus Glas“
Tobi sah mich entschuldigend an: „Was ich nicht erwähnt habe ist: die Tür kann überall sein. Auf der Decke, am Boden, in der Wand.“ Ich seufzte. Ich wiederholte das Gedicht immer wieder. Plötzlich waberte die Luft vor Energie. Die Erde begann zu beben und Teile des Daches stürzten ein. Ich hob schützend die Arme über meinen Kopf, doch auf einmal war alles wieder still. Ein empörter Aufschrei von Tobi verriet mir, dass ihm nichts fehlte. Ich drehte mich zu ihm um. Er stand vor dem Sockel und schaute völlig überrascht drein. „ Ich habe mich an den Sockel gelehnt und plötzlich war er verschwunden und der Boden wackelte“. Sein Blick wanderte im Raum herum bis seine Augen mit einem Mal größer wurden. „ Oh ... sieh nur Amy, hinter dir.“ Tatsächlich. Etwas hatte sich verändert. Eine große eiserne Figur eines Mannes stand vor einer Malerei, auf der eine Schlacht tobte. Der eiserne Mann hatte einen Arm vor sich ausgestreckt wie ein Polizist, der einem Autofahrer zeigt, dass er stehen bleiben soll. Außerdem hatte der eiserne Herr eine glänzende Rüstung an. Auf der anderen Seite des Saals, der eisernen Statue direkt gegenüber, stand ein Mann aus Glas. Er wiederum hatte Bauernklamotten an. Sein Kinn war stolz in die Luft gereckt. Warum waren sie erschienen?“ Ich ging das Gedicht noch einmal durch. “Aber natürlich!“, rief ich. Es war so klar. „ Grund dafür war ein Quader aus Stein. Der Sockel! Er ist der Auslöser für das alles. Die Frage ist nur wie wir die Tür damit finden können. Wir haben fast alle Zeilen bis auf: >Doch als der helle Lichtstrahl des eisernen Herrn traf, heilte das gebrochene Herz aus Glas<“ Gebrochenes Herz aus Glas, Herz aus Glas, Herz aus Glas, gebrochen. Ich musterte die gläserne Statue. Dort wo das Herz sein musste, zogen sich Risse durch das Material. Das musste es sein. Das gebrochene Herz aus Glas. Blieb nur noch:< heller Lichtstrahl des eisernen Herrn< Ich drehte mich zu der eisernen Statue um. Heller Lichtstrahl. Heller Lichtstrahl. Lichtstrahl. Lichtstrahl. Lichtstrahl. Licht. Sonne. Heller Sonnenstrahl. Eisen. Strahl. Licht. Eisen. Strahl. Licht. REFLEKTION! Wenn die Sonne das Eisen anstrahlte, gab es eine Reflexion. Dieser Lichtstreifen musste den Mann aus Glas treffen und zwar mitten in sein gebrochenes Herz. > Doch als ein heller Lichtstrahl des eisernen Herrn traf, heilte das gebrochene Herz aus Glas.<
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K3 Literaturpreis 2015 – Motto : Fantasy & Mystery – alle Einreichungen „Ich hab’s“, rief ich erfreut. Tobi zog eine Augenbraue hoch. Ich erklärte ihm was ich herausgefunden hatte. „ Wir müssen nur noch die Sonne in die richtige Position bringen und danach sehen wir weiter“, schlussfolgerte ich. Da dies hier eine Traumwelt war, konnte ich natürlich auch die Sonne bewegen. Das tat ich dann auch bis die Sonne vom Eisen reflektiert wurde. Es sah aus, als würde aus der ausgestreckten Hand des eisernen Mannes ein Lichtstrahl schießen. Dieser wiederum traf genau in das kaputte Herz aus Glas. Was nun passierte, war unglaublich. Das Licht wurde gebrochen, ein Regenbogen wurde auf die Decke geworfen. „Dort muss die Tür sein!“, sagte ich. Tobi grinste. „Wow. Beeindruckend!“ Ich war sehr stolz auf mich. Ich schloss die Augen und manifestierte eine Leiter. Ich zögerte. „Wie kann es sein, dass wir uns auf der obersten Parallele befinden wenn die Türe auf der Decke ist?“, fragte ich verwirrt. „ Es ist so, es ist egal wo sich die Tür befindet, wir fallen immer nach unten. Könnte es nicht sein, dass wir gerade auf dem Kopf stehen?“ Ich zuckte mit den Schultern und begann an der Leiter hoch zu klettern. Als ich oben ankam, berührte ich kurz den Regenbogen und die Decke öffnete sich. Ich wurde in ihr Inneres gesogen. Ich spürte wie sich dieses Freier-Fall-ziehen in meinem Bauch ausbreitete. Nach ein paar Sekunden schlug ich weich auf einer Wiese auf. Dennoch so hart, dass sie mir kurz die Luft weg blieb. Während des Falls hatte ich die Augen geschlossen. Nun machte ich sie langsam auf und musste prompt blinzeln, da mir gleißend helles Sonnenlicht in die Augen stach. Als ich mich daran gewöhnt hatte und meine Umgebung wahrnehmen konnte, schnappte ich nach Luft. Die Landschaft, die sich vor mir ausbreitet war einfach unglaublich! Weite saftig grüne Wiesen, ein satter hellblauer Himmel, auf dem ab und zu ein Vogel in hunderten von Farben flog. Hinter einem Weizenfeld, das rhythmisch im Wind tanzte, lag ein Wald, wie ich ihn noch nie zuvor gesehen hatte. Alle Baumarten waren vertreten. Palmen, Nadelbäume, Laubbäume und so weiter. Neben mir blühte eine höchst sonderbare Blume. Sie war lila und sah aus wie eine normale Glockenblume, dennoch war sie anders. Bei jedem Lufthauch, der sie von links nach rechts bewegte, kam eine Seifenblase aus ihrer Blüte. Jetzt erst bemerkte ich, dass wir uns an einem großen Hügel anlehnten. Der Hügel war über und über mit den komischen Seifenblasenblumen bedeckt. Die Luft war erfüllt von Seifenblasen, die hochschwebten und irgendwann zerplatzen. Ich lachte entzückt. Tobi stieß mich an. „Komm - wir müssen weiter den Meister suchen.“ Er hatte leider recht. Wie gerne wäre ich noch hier geblieben, inmitten dieser Seifenblasen. Ich rappelte mich auf und sagte: „ Das beste wäre, wenn wir auf den Hügeln klettern würden. Von dort aus haben wir einen tollen Überblick.“ Tobi nickte. Gesagt getan. Was wir oben sahen, war überwältigend! Wir blickten auf einen riesigen See. Inmitten des spiegelglattem Sees schwamm ein goldener Tempel, der so magisch aussah, dass ich keinen Moment daran zweifelte, dass der Meister dort sein würde. Am Ufer des Gewässers war ein Boot an einen Steg aus geflochtenem Schilf angemacht. Neben dem Steg stand eine riesige Sanduhr. Riesig im Sinne von Hochhaus hoch. Die Sandkörner darin waren so groß wie Steinbrocken. Dennoch gab es keinen Knall wenn der Sand nach unten rieselte. Wir liefen den Hügel hinunter zu dem Steg und stiegen in das Boot. Mit einem Ruck setzten wir uns in Bewegung. Kurze Zeit später hielten wir vor einer Steintreppe die zu einem großen Tor führte. Mit wenigen Schritten waren wir bei dem Tor und stießen es auf. Dahinter befand sich ein Raum in dem es nichts gab außer einem goldenen Thron der zwischen zwei Marmorsäulen stand. Auf dem Thron saß ein Mann mit langen weißen Bart und faltiger Haut. Er trug einen weißen Smoking. Als er sprach, erfüllte seine rauchig-gütige Stimme den Raum. „ Du hast es geschafft. Ich habe dich schon erwartet. Trete näher, auf diesen Stern hier, damit ich dir deinen Wunsch erfüllen und dich zurück schicken kann.“ Mir hatte es die Sprache verschlagen. Ich drehte mich zu Tobi um. „ Es ist soweit. Danke für deine Hilfe, das werde ich nie vergessen. Dich werde ich nie vergessen!“ Ich umarmte ihn. „ Ich werde dich auch nie vergessen“, murmelte er in meine Haare. Wir lösten uns voneinander und ich trat auf den Stern, den ich früher nicht bemerkt hatte. Der alte Meister sah mich forschend an. „ Bist du sicher, dass du das willst?“
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K3 Literaturpreis 2015 – Motto : Fantasy & Mystery – alle Einreichungen Ich nickte. Dann spürte ich ein Ziehen in meinem Bauch und fand mich zu Hause wieder. Schon ein paar Stunden später erfüllte sich mein Herzenswunsch.
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K3 Literaturpreis 2015 – Motto : Fantasy & Mystery – alle Einreichungen 13 Codewort Sunflower Wenn Drachen erwachen … Der Spiegel war ein Erbstück meiner geliebten Großmutter und er war über die Jahre hinweg total in Vergessenheit geraten. Damals hatte er einfach nirgends hingepasst. Also hab ich ihn gut verpackt und in den Keller geräumt, wo er die Jahre über ganz gemütlich vor sich hin staubte. Aber jetzt, in der neuen Wohnung, passte er perfekt in die kleine Ausnehmung neben der alten mit Schnitzwerk verzierten Eingangstür. Er war wirklich nicht schön, eher unscheinbar, hatte einen dunkelblauen Holzrahmen mit kleinen goldenen Ornamenten. Im Glas, nahe dem Rahmen waren geheimnisvolle ineinander verschlungene Zeichen eingraviert. Diese fühlten sich unter meinen Fingerspitzen eigenartig weich und warm an. Mir war ein bisschen schwindelig, und ich kannte dieses Gefühl… nur woher? Also setzte ich mich mit einer Schale selbstgebrautem Kräutertee in meine Lieblingsecke im Wohnzimmer. Da fiel es mir wieder ein! Als ich damals den Spiegel kellerfest machte, musste ich mich auch hinsetzen … war wohl alles ein bisschen viel. Meine Arme schmerzten von der Arbeit und die Schwerkraft siegte über meine Augenlider. Dem Spiegel schaudert – saphirblaue Schuppen reiben sich an kaltem Glas. Er hat sich verliebt in das Ebenbild der Spiegelung, träumt sich in dunkle Augen und wühlt sich in braunes weiches Haar. Er streicht über zarte samtige Haut und windet sich unter den zärtlichsten Fingerspitzen die je seine Oberfläche berührten. Wann war das letzte Mal so intensiv jemand zu ihm durchgedrungen? Es sind die stärksten Gefühle seit er sich erinnern kann! Oder wartete er nur schon zu viele Menschenleben lang auf diese Eine, die Richtige? Blutrote Fingernägel brennen sich in seine Schuppen – Wonneschauer durchfluten seinen Körper. Allein bei dem Gedanken an ihre Berührungen beginnt sein Herz lustvoll zu Schlagen. Vorsichtig setzt er die erste Kralle in die ihm so vertraute und doch so fremde Welt. Er spürt jeden Zentimeter seiner geschuppten Haut, die sich aus dem Spiegel löst und genießt das Gefühl des Abenteuers in der neuen Heimat. Schlagartig weiß er, dass seine Herrin da ist. Rosen- und Forsithienduft schwängern den Raum. Ihre magische Ausstrahlung lässt seine türkisblauen Schuppen smaragdgrün schimmern. Unsichtbare Bande, besetzt mit Liebe und Vertrautheit, ziehen ihn vom Spiegel weg in ihre Richtung. Lang und intensiv betrachtet er das Ziel seiner Begierde und genau so leicht und anmutig wie er dem gläsernen Gefängnis entstiegen war, tastet er mit seinen animalischen Sinnen über ihren schlafenden Körper. Es wird Zeit brauchen sich aneinander zu gewöhnen. Wird sie über ihn verfügen? Er ist da, mit seiner Kraft, seinem uralten Wissen und seinem untrüglichen feinen und gefährlichen Instinkt. Er schließt die Augen, fühlt ihren ruhigen Atem und beginnt sich mit ihr zu verbinden. Es dauerte, bis das Rot des erwachenden Tages über die Nacht siegte. Niemand konnte beim Anblick des so friedlich schlafenden Mädchens auch nur im Ansatz ahnen, welch gefährliches Paar sich gefunden hatte.
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K3 Literaturpreis 2015 – Motto : Fantasy & Mystery – alle Einreichungen 14 Codewort: Jutter
Walter Hoch©: Förderschnecken
Am Anfang eiferten die Zitronen-Schmetterlinge mit dem Gelb der Rosetten des Löwenzahns. Das war in der Zeit der Ewigkeit. Dann traten Arbeitsschuhe auf diese Leichtigkeit und holten das erste Messbare, die Menge an Grünfutter und Heu, von den 1123 Quadratmetern. Seit den Menschen das jedoch zu billig wurde, leiteten sie mit ihren Ideen, erst einmal die Zellkerne und Kreisläufe, das Leben von gestern, platt zu walzen, meine Geburt ein. Eine Geburt von Eisen. In der Phase zwischen den Kriegen wiegte sich die Welt in diesem Werkstoff. Züge und Panzer. Die erste Esse, bei der sich das Schmiedefeuer noch kaum einstellen ließ, dazu viele lange klobige Zangen, die am Gelenk der Schenkel blockierten – sie brachen hier aus dem Boden hervor als meine Milchzähne. Ein ehrgeiziger, dem Technischen zugetaner Mann war mein Erzeuger und Kindermädchen. Herr Sinus verdankte sein Auf-die-Welt-Kommen einem Soldaten, der für zehn Tage vom Isonzo auf Urlaub kam. Als endlich Frieden einkehrte und Geld vom großen Onkel floss, wuchsen meine Arme und Beine ebenso rasant wie mein Strampelanzug – Werkzeug um Maschine um Arbeiter. Wie sich die nun alle als Hamster in dieses Getriebe einschweißen ließen, fanden Leute von außerhalb, Studenten, für etwas, wo man sich am eigenen Schopf herausziehen musste. Für ein paar Hitzeperioden flogen wieder die Fäuste auf den Straßen der Welt, mir hingegen wurden die Lausbubenstreiche abgeschliffen. Mal blattdünn geheftete, dann wieder faustdick geronnene Schweißnähte hatten sich in eine Regelmäßigkeit zu fügen. Es kehrte ein Drill ein, die Metallstücke leicht erhaben zu verschweißen; und erhaben bilanzierte zum 35er Firmenjubiläum auch der Gründer, dass sich die Dinge gesund entwickelten. In mir setzten sich Elektronen und Dioxide, die Biologie von morgen, zu stattlichen Gebissreihen zusammen. Sinus‘ Ansprüche an ein starkes meisterliches ebenso wie ingenieurwissenschaftliches Auftreten in der Wirtschaft waren mein Messerhaarschnitt. Als endgültig nicht der geringste Haarriss in den Bestellungen von nah und fern war, leitete Sinus daraus das Gebot ab, mich vom Klein- zum Mittelbetrieb hochzupäppeln. Dazu aber mussten meine Muskeln in 2 Hallen ein Mehrfaches von dem, was die Muskeln der Arbeiter dirigieren wollten, schweißen, hämmern, nieten und weiter schrauben. Die Burschen glaubten anfangs, sie seien die Riesen vom Berge und keine Ameisen. In meinem Kopf, der ein Bürohaus war, rasselten die Ganglien der Ingenieure. Fäden zog ich von dort über die Hallen bis hinaus zu den Schottergruben und Baustellen – und neu gestählt wieder zurück. In den Wunder-Jahren fegten Himmelsstürme mit einem Kühlschrank
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K3 Literaturpreis 2015 – Motto : Fantasy & Mystery – alle Einreichungen über eine Waschmaschine bis hin zum Schwarzweiß-Fernseher in die Haushalte. Freizeit entstand. Das führte zu mehr Anreiz, im Alter das Verdiente auszukosten, dem Sinus gerne naturgemäß nachkam. Von weiter außen begann zaghaft die Ferne, Hawaii, einzuladen. Guten Gewissens sagte er: „Macht ihr mal!“ Sein Schwiegersohn und Nachfolger, Herr Integral, ein Hüne, nahm den Mittelbetrieb – dass ich ausgewachsen wäre – als seine Verpflichtung. Sein Wille trompete über den Lärm des Metalls in meinem Dreieck hinweg. Meine Seiten, die bestanden aus einem Wässerchen, für normal ein Rinnsal, bei Regen ein reinigender Sturzbach, aus der Längsseite einer großen Wanne, in der Abertausend Kubikmeter Wasser dahinflossen, und einer Landesstraße. Integral und mit ihm die MetallFacharbeiter vergrößerten mein Herz stetig, ich nahm einen Akkord-Puls auf. Eisenplatten wurden von Tiefladern abgelagert, ein, zwei Wochen später wurden sie als Trommeln in der Größe von Kleinbussen auf LKW-Fahrgestelle aufmontiert. Mein Patent war, dass an den inneren Wandungen der Trommeln Schaufeln angeschweißt wurden, die die Form von Spiralen hatten. Darin konnten Sand, Wasser und Zement gar nicht anders, als sich in Vorwärtsdrehungen während der Fahrt zu einer Knetmasse für Architekten zu multiplizieren. Auf der Baustelle wurde auf Rückwärtsdrehung umgeschaltet. Die Spiralen wandten den fertigen Beton in einer Bahn, die exakt aus Winkelfunktionen sowie dem gleichförmigen Quotienten aus Weg durch Zeit berechnet wurde, aus der Trommel heraus und in die Schalungen für die Mauern hinein. Das „vor- und zurückdrehende Prinzip der Förderschnecke“ war es, was den Trott des Sand- und Zement-Einschaufelns bei den StandMischmaschinen nach Neandertal kippte. Der Kleinstadt schwoll das Moderne in ihrem Ruf, mein aufstrebender Organismus strahlte als ein Leitbetrieb im ansonsten einfach gestrickten Bezirk. Ich wurde über 2 Generationen hinweg zum Ehrenschutz für einen Matura- oder Gesellenball erkoren, die Bank gab mir Sonderkonditionen. Ich gab vieles, und heimste vieles wieder zurück. Was Integrals Gattin Integabi, eine von Natur nicht einmal Forsche, aber Mitdenkende, und seine Kinder besser wussten, erreichte ihn doch nicht. Die eigene Überzeugung war maßlos, alle anderen dagegen Winzlinge. Ebensolche, wofür ich die paar Grasbüschel nahm, die draußen auf dem freien Lager gegen die Stähle und Bleche aufbegehrten. Verschrien hätte ich es damals, dass mich der Zustand Lager einmal synchron zu den erschlafften Gliedern des alten Patrons auf breiter Front durchziehen würde. Im letzten Jahrzehnt jedoch dauerte es zwei, dann drei und schließlich bis zu fünf Wochen, bis wieder große Stahlerzeugnisse von mir abtransportiert wurden. Die Leute in mir bekamen allgemein
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K3 Literaturpreis 2015 – Motto : Fantasy & Mystery – alle Einreichungen blassere Gesichter, zwischen manchen Schweißaggregaten bremsten die Radnetzspinnen nicht nur die Flüge von Insekten. Mein Herr Integral, inzwischen über 80, mäanderte und schleppte sich auf mir herum, dass man befürchten musste, er verirrt sich unter die Gabel und die Räder eines Hubstaplers. Es war schon länger eine graue Verfärbung hinter seinen Pupillen zu erkennen. Nun legte sich eine Blockade zwischen meiner Entwicklung ins neue Jahrtausend und dem, womit sich Integral unbedingt am Steuer halten wollte. Sohn Algebra, die Tochter und Integabi rannten die Wände hoch, wie man so kurzsichtig sein konnte! Sie musste so an dem Grundstein, den ihr Großvater gelegt hatte, Absplitterungen hinnehmen, die an die Substanz gingen. Integral, so vieles war angelegt in mir! Was nun an produktiven Kräften dünner zu werden begann, wurde von Leuten mit Papieren in der Hand aufgefüllt. Drei Menschen von der Gemeinde wollten ihre Bedeutung hier einfordern. Sie gingen in Richtung des fast ausgetrockneten Bachs und starrten miesmutig auf die Reste von Metall, die dort im Vertrauen auf Wichtigeres hingeschmissen worden waren. Die echte Herausforderung für sie lauerte, wo diese Reste endeten. Obwohl das Bachbett und die Gräser der kleinen Böschung zwischen braun und grün spielten, bewerteten die Fremden das Grün-Gelb und Bräunliche, das aus einem Rohr von mir abrann, komplett gegensätzlich. Bei einem von ihnen kristallisierte sich ein quadratischer Blick, bevor er in Gummi-Stiefeln anrückte und hinunterstieg. Dann hielt er zwei Probenröhrchen drakonisch zum Abfluss, dass ihm darin nur ja kein vereinzelter silberner und bläulich phosphoreszierender Tropfen entwischte. Dabei sagte er scharf: „So verschämt sieht es aus, wenn Eisen weint!“ Sollte ich nicht mehr vergessen … Einige Wochen später trat eine erweiterte Gruppe um das Rohr zusammen. An die Spitze redete sich ein korpulenter Mann um die 50, der das Wissen um mein Ekzem gepachtet zu haben vorgab. Der im letzten Jahrzehnt Hochgekommene betrieb über dem Bach eine Klinik für plastische Chirurgie. Menschen von der Straße erhielten in den desinfizierten Räumen auf ökologischer Basis Schönheitseingriffe, die Haut an Hals und Kiefer wurde geglättet wie herüben Berg-und-WüsteSchweißnähte mit der Schmirgel-Flex, Knollennasen wurden gebrochen und zu einer schlanken Nase mit leichtem Spitz umgeknorpelt. Der Baugrund war günstig in der Gewerbezone, da hatte Implantat zugegriffen. Alle Leute, vom Taxifahrer bis zum Regierungsrat, die ganze Gesellschaft, waren sich inzwischen fein genug, um Fetteinspritzung und Fettabsaugung, Faltenstraffung und Kinnkorrektur als medizinisch indizierte Maßnahmen anzuerkennen. Die Krankenkassen ächzten, mit ihrem Geld wurde die „Social Beauty Farm“ erwachsen.
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K3 Literaturpreis 2015 – Motto : Fantasy & Mystery – alle Einreichungen Auch Integral wusste bei dieser Begehung alles besser, und so gab es eine Zurüstung aus grausamen Worten. Es half wenig zu einem guten Ausgang, dass er jemand akademischen zugezogen hatte. Die Frau seines viel jüngeren Bruders stammte vom Balkan, ihr Gesicht war gerade nicht kantig genug, um als „lieber nicht anstreifen“ zu gelten. Im Tempo eines Beamten vermaß sie die Beteiligten und den Sachverhalt, bevor sie Integral vorgab, die für ihn richtigen Schlüsse zu ziehen. Integral wollte mehr, dass hier jemand, eine Dr. iur. und Dr. techn., mit Autorität der Gegenseite die richtigen Paragrafen vor die hohe Nase knallte. Folglich sprach und hörte er oft zur Schwägerin hin, erhielt von ihr Auskunft und Rat, das, was ganz unwiderlegbar wäre, ja verstanden, nur das total Unwiderlegbare und sonst nichts, einzusehen. Dennoch sprach er kategorisch: „Stimmt alles nicht! Alles nur Wasser!“ Jene Extremität machte mir selbst zu schaffen, es juckte dort. Wenn der Patron weg war, schlichen sich Sohn und Tochter zu der winzigen Kloake. Wehmütig hörte ich sie sagen: „Das kann man ja mit einem Filter-System ohne Weiteres beheben! Kostet nicht die Welt.“ Der Tonfall aber stand in vollem Gegensatz zur Möglichkeit: er war trostlos. Die Herren von der Gemeinde kamen in kürzeren Abständen, guckten auch ins Innere von mir, wo ich mein Essen, das Eisen, über viele Drehbänke, Schweißaggregate und Nietmaschinen verarbeitete. Wie Magen- und Verdauungssäfte mussten die Schlosser natürlich Bohrmilch, Spezialfette und Molybdän einsetzen. Daneben spritzten massiv Metallspäne und -funken von ihren Winkelschleifern irgendwohin auf den Boden. Auch ich hatte von der öligen Mischung meine Ausscheidung voll. Bloß, habe ich nicht bis vor Kurzem ebenfalls ein Rohr vom Ufer des Klägers in den Bach ragen sehen? Ein Rohr aus dem Keller von Implantat? Leere Kanülen lagen überdies nicht an der Grenze, damit sie sich mit einem Rinnsal füllten. Dass Dinge am Schwelen waren, ätzte sich in die Legierung der Ehegefühle weiter. Zuerst versuchten Integral und Integabi jeweils dem andern den eigenen Plan, wie diese Gerichts-Klage aus der Welt zu schaffen wäre, einzuhämmern. Nachgeben und umbauen oder Konfrontation? Vorkommnisse aus den Zeiten, als sie mich übernommen hatten, wurden ans Tageslicht gezerrt. Die beiden hatten die Goldene Hochzeit hinter sich, sahen sich aber für Tage nicht an. Oft bekamen die Seinen lange Gesichter, als Integral kurz entschlossen und mit praller Aktentasche von mir wegfuhr. Dann seufzten sie kleinlaut: „Was er der Schwägerin jetzt wieder erzählen wird … Dieser Doppelkopf dreht ja alles um!“ Dass die Verwandte einen positiven Effekt ausübte, merkten die Drei, als die Frau Hofrat a. d. streikte. Integral, vor allen anderen ebenfalls a. d., schwirrte in den Leuten vor dem Gerichtssaal herum, versetzt. Die Anschuldigungen konnte er nun nirgendwohin abebben lassen,
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K3 Literaturpreis 2015 – Motto : Fantasy & Mystery – alle Einreichungen weder an seinen zu ruhigen Rechtsanwalt und noch an die verunsicherte Frau. Genüsslich deckten ihn Implantat und sein heller Anwalt zu, der Richter zuckte die Achsel. Integral sah keinen Halt mehr, er riss ein Loch unter der Beweislast auf und brüllte: „Alles Lüge!“ und zum Richter: „Hier stecken ja alle unter einer Decke!“ Dieser wiederum verschaffte dem Verlorenen wieder mehr Luft und setzte ihn hinaus. Inzwischen gab ich nur mehr halb so vielen Facharbeitern Zucker, weniger schwere Reifen führten zu mehr Grasbüscheln. Gestrüpp musste ich am Bach ins Kraut schießen, Metall pelzig rotbraun werden lassen. Eine Halle wurde mir herausgenommen, Einzelteile großer Tore für Fabriken wurden dort hergestellt. Es sollte entschieden werden, ob sich für mich die Zeit nach rückwärts bewegte. Für die andere Richtung war weder der Sohn Algebra, trotz des Titels eine Niete, noch die Tochter, eine mollige Diätassistentin, beide gute Fünfziger, das Traumzugpferd. Beiden lag es im Mund, aber keiner wollte sich mit diesem Stein zuerst bloßstellen: zu munkeln „als Gewerbebetrieb heute zu klein gegenüber großen Werken“. Ich und Integral, das war von meiner Seite aus inzwischen Hassliebe. Was würde schneller kommen – sein Abtritt oder meine Aufteilung? Meine Auslöschung? Gegen das Verschleudern hüstelte der sieche Patron ebenso energisch wie eitel: „Das Familiensilber muss erhalten werden! Nein, bei uns geht das auf keinen Fall: Nach dem Sparer kommt der Zehrer.“ Je mehr alles zum Lager wurde, desto lautere Stimmen und Türenknallen drangen aus dem bis darauf beinahe verwaisten Büro. Die drei mochten diesen und jenen Einwurf wagen. Ohne den Silberstreif einer zündenden Idee blieben sie selbst am Bett der Intensivstation nach einer NotOperation von Integral. Eine Unterdrückung bis an die Rente schnürte den Mumm ab, eigenständig sein Ding durchzuziehen. Auch erlebte es draußen jede Generation gerne, dass sie feiner geriet als die vorige. Statt auf Integrals Art „Koste es, was es wolle“ ein Anliegen durchzuboxen, schielten Algebra und Schwester wohl auf den Organismus von Implantat. Hilflos verging ich zur buchstäblichen Rostlaube. Das bäumte den Patron wieder auf zu dem, wofür er vielen galt: ein Ich-Ungeheuer, ebenso fleißig wie streitlustig. Er müsse Zuhause hungern! Die Seinigen sperrten ihn aus Haus und Werk!, polterte er am Gipfel des Unvermögens, mich zukunftsfit zu machen, herum. Das vor- und zurückdrehende Prinzip hatte auf ihn übergegriffen, nun drehte er alles zurück. Bald sah ich ihn ausdampfen - er ging hoffnungsvoll mit Bruder und Schwägerin essen, danach zusammen auf die Wirtschaftskammer. Obwohl nun sehr vertraulich, hielt sich die Schwägerin sehr in eine einzige Richtung. Das merkte der Ratsuchende doch empfindlich auf. Als sie neuerlich eine Tagsatzung sausen ließ, musste er sich besinnen, wer ihm, der nun den Rollator für gleich
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K3 Literaturpreis 2015 â&#x20AC;&#x201C; Motto : Fantasy & Mystery â&#x20AC;&#x201C; alle Einreichungen wertvoll hielt wie ein Auto, den Lebensabend sicherte. Es dauerte nicht lange, da verriet sein verletzter Stolz zuhause bei mir: Die Zugeheiratete habe vorgeschlagen, seine 50 % zu Ăźbernehmen!?! Ich zog mich am Schopf meiner Nahrung. Es wetteiferte das Anthrazit des Schwermetalls fortan mit dem Silber des Aluminiums der Tore. Das wird sein die Zeit in den Wechseln.
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K3 Literaturpreis 2015 – Motto : Fantasy & Mystery – alle Einreichungen 15 Codewort Charlotte Sparkling Mannor Here it is, the morning light, it wakes you up, it shines so bright, to bring a lucky day to you that’s full of joy and laughter too. Here it is… Die Mädchen erwachten und hörten dieses Lied. Als Charlotte und Kati dann zusätzlich das helle Licht sahen, mussten sie blinzeln. Verschlafen rieben sich die beiden sechsjährigen Mädchen die Augen, um genauer sehen zu können. Mitten in dem Zimmer, wo sie ihre erste Nacht in Sparkling Mannor verbracht hatten, schwebte eine leuchtende Kugel, aus der die Musik zu kommen schien. Zuerst dachten sie schon an eine Art Luftballon, allerdings spielt ein Luftballon von selbst doch eigentlich keine Musik, dachten sie. Staunend betrachteten die beiden die Kugel, bis diese plötzlich verschwand, fast so, als wäre eine Seifenblase zerplatzt. Paula, eine der beiden älteren Mädchen mit denen sie zusammen im Zimmer wohnten, sprang von ihrem Bett und ging zu den beiden. „Guten Morgen! Gut geschlafen?“, fragte sie. Die Mädchen nickten und Charlotte fragte: „Was war das?“ „Was? Ach so! Du meinst den Wake-up-Ball! Das ist unser Wecker! Dame Valentine hatte die Idee dazu. Jeden Morgen schickt sie diese Bälle in alle Zimmer, damit wir rechtzeitig aufstehen.“ „Sie schickt die? Aber wie?“ Charlotte konnte sich keinen Reim darauf machen. „Sie stellt es sich ganz einfach vor.“, erklärte Marianne, die Zimmerälteste, die mittlerweile auch aufgestanden war und sich streckte, sodass einige Gelenke knackten. Charlotte und Kati schüttelten noch immer fragend die Köpfe. Marianne seufzte. „Das ist ganz einfach für Dame Valentine. Sie stellt sich nur vor, wie sie uns alle am besten weckt, bündelt ein Bisschen Licht zusammen mit dem Lied, das ich schon nicht mehr hören kann und schickt es als Kugel in jedes Zimmer.“ „Genau“, pflichtete ihr Paula bei. „Und sie leuchtet und singt so lange, bis wirklich jeder im Zimmer aufgewacht ist. Erst dann verschwindet sie. Gewöhnt euch besser dran!“ Charlotte und Kati waren erstaunt. „Aber warum ist das Lied denn jetzt auf Englisch? Sonst ist doch alles hier auf Deutsch?“ Marianne und Paula lächelten milde. Paula erkundigte sich bei Charlotte: „Hat dir deine Großmutter noch nichts davon erzählt?“ Charlotte schüttelte den Kopf. „Was denn?“, erkundigte Kati sich vorsichtig. „Nichts wovor du dich fürchten musst“, fuhr Paula schnell dazwischen. „Wir sind hier eben auf Islay, einer kleinen schottischen Insel, wo normalerweise alle Englisch sprechen.“ Die beiden Kleinen nickten. „Und da hier Kinder mit ganz besonderen Fähigkeiten aus der ganzen Welt herkommen, liegt auf Sparkling Mannor quasi eine Art Sprachzauber, sodass jeder so lange alles Gesagte in seiner Muttersprache hört, bis alle gut genug Englisch können. Und der Wake-up-Ball singt immer ein englisches Lied, um uns alle daran zu gewöhnen.“ „Mit der Zeit werden es immer mehr Dinge, die Englisch sind. Aber das fällt euch dann schon gar nicht mehr so auf, weil ihr dann die Sprache schon ein Bisschen könnt“, pflichtete Marianne Paula bei. Aufgeregt begannen Charlotte und Kati darüber zu plaudern, als es an der Türe klopfte. „Guten Morgen, Mädchen! Wie geht es euch?“, fragte Charlottes Großmutter, die auf Paulas „come in“ herein getreten war. Sie war es, die die beiden nach Sparkling Mannor brachte – eigentlich gegen den Willen von Charlottes Mutter und Katis Eltern. Aber zuvor geschehene Ereignisse machten es unumgänglich. Charlotte und Kati mussten in sicherer Umgebung lernen mit ihren Gaben umzugehen und dafür konnte es keinen besseren Ort geben als Sparkling Mannor. Eine Art Internat für besondere Kinder, das von Großmutter Elanias Freundin Dame Valentine geleitet wurde. „Nana! Hat dich auch so ein Ball geweckt? Der hat geleuchtet und ein Lied gespielt! Und geschwebt ist der! Von ganz alleine!“, rief Charlotte aufgeregt, die zu ihr gelaufen war um sie zu umarmen. „Yes, Sparkly!“, begrüßte die Großmutter Charlotte mit ihrem Kosenamen. „Auch mich hat der Wake-up-Ball besucht. Nur
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K3 Literaturpreis 2015 – Motto : Fantasy & Mystery – alle Einreichungen habe ich leider kein Lied gehört, sondern Dame Valentine hat mir eine Nachricht damit überbringen lassen. Ich muss heute schon einen Kurs halten über die Besonderheiten von Kräutertees. Na, und wie geht es dir?“ Sie hatte Charlotte einen Kuss auf die Stirn gegeben und wandte sich nun an Kati. „Gut. Danke. Es… es ist sehr aufregend hier!“, antwortete sie mit roten Wangen, nachdem auch sie von der Großmutter auf die Stirn geküsst worden war. Die Großmutter lächelte. „Na wenn das schon aufregend für dich war, dann sei gespannt, was dich sonst noch hier erwartet!“ Elania hatte damit nicht zu viel versprochen. Denn schon kurz nach der Morgentoilette der Mädchen, als die nächste große Verwunderung auftauchte, sollte es zu einem sehr merkwürdigen Zwischenfall kommen. Die große Verwunderung zuvor war, als die Mädchen die Schubladen ihres gemeinsamen Kastens öffneten und sich anziehen wollten. Beide starrten mit großen Augen auf ihre Kleider und stotterten Unverständliches. „Auf diesen Moment hab ich mich ehrlich gesagt schon gefreut“, kicherte Marianne etwas schadenfroh vor sich hin. Paula knuffte sie in die Seite. „Giftnudel“, fauchte Paula in Mariannes Richtung und wandte sich dann an die Kleinen, um ihnen zu erklären, dass in Sparkling Mannor alle Schüler ausschließlich weiß trugen und Dame Valentine daher der Einfachheit halber alle Kleidungsstücke aller Schüler in Weiß verwandelte. Doch sobald man das gesicherte Areal der Schule verlässt, sieht alles wieder so aus wie vorher. Was schon für sehr merkwürdige Farbkombinationen verantwortlich war, wenn man vergessen hatte, welche Ursprungsfarbe dieses oder jenes Kleidungsstück eigentlich hatte. Kichernd bei dem Gedanken an kunterbunte Kleidung, zogen sich Charlotte und Kati endlich an. Ihre Zimmergenossinnen warteten schon darauf mit ihnen in den Speisesaal zu gehen. Besonders Paula war schon ungeduldig, denn Paula liebte es zu essen. Ein Fakt, der bei Marianne auf absolutes Unverständnis stieß. Besonders bei den traditionellen schottischen Gerichten, die hier so gerne serviert wurden. Heute zum Beispiel sollte es wieder Black Pudding, also gebratene Blutwurstscheiben, zum Frühstück geben. Marianne schüttelte sich bei dem Gedanken, als Charlotte und Kati wie kleine weiße Engel neben ihr standen. „Wir sind fertig!“, riefen sie stolz. „Endlich“, seufzte Paula, öffnete die Tür und deutete wie ein eleganter Diener, dass sie Charlotte den Vortritt lassen wollte. Doch gerade als Charlotte das Zimmer verlassen wollte, erschien im Türrahmen eine Art grauer Nebelvorhang mit einem merkwürdigen riesigen schwarzen Zeichen darin. Charlotte wich erschrocken zurück. „Was ist denn?“, rief Paula ungeduldig, als Charlotte beim Zurückschrecken in sie hineinstolperte. „D…d…da!“, stotterte Charlotte und deutete mit zitterndem Zeigefinger zum Türrahmen. Marianne schob die Kleine zur Seite. „Was denn? Da ist doch gar nichts!“, meinte sie voller Überzeugung und ging durch die Tür. Paula und Kati folgten ihr. Kati hatte sich schnell Paulas Hand geschnappt, als sie den Schreck ihrer Freundin Charlotte bemerkt hatte. Vom Gang aus streckte Kati Charlotte ihr die freie Hand entgegen, um sie mitzunehmen. Charlotte war verunsichert. Jedoch schien es, als könnte man einfach so durch diese Nebelwand hindurchgehen. Nur warum konnte sie außer ihr selbst keine sehen? Zögernd griff sie nach der Hand, holte tief Luft und wagte einen Schritt nach vorne. Allerdings sollte es die Kleine nicht aus dem Zimmer schaffen. Denn kaum hatte ihr rechter Fuß die Nebelwand nur halb durchdrungen, gab es plötzlich einen fürchterlich lauten Knall. Die Nebelwand war verschwunden und stattdessen fand sie sich vor einer schwarzen Mauer wieder, die diesmal nicht nur im Türrahmen war, sondern das gesamte Zimmer umfasste. Sogar das Fenster war verdunkelt, sodass kaum mehr Licht ins Zimmer drang. Charlotte schrie vor Angst und als ob ihr dunkles Verließ nicht schon angsteinflößend genug war, heulte dazu noch eine der lautesten Sirenen los, die sie je gehört hatte. „Nana!“, brüllte Charlotte verzweifelt. „Nana! Hilf mir doch!“ Kati, Marianne und Paula schrien auf der anderen Seite nach Charlotte und hämmerten mit Fäusten auf die schwarze Mauer ein, die nun auch für sie erkennbar war. Aber Charlotte konnte sie nicht hören. Die Mauer war offenbar auch schalldicht. Gerade als Charlottes Verzweiflung am größten war, erschien wieder wie aus dem Nichts der Wake-up-Ball. Charlotte blinzelte und hielt sich schnell die Hände vors Gesicht um die Augen vor dem plötzlichen Licht zu schützen. „Sparkly, hab keine Angst“, kam diesmal die Stimme ihrer Großmutter aus der Kugel. „Ich bin gleich bei dir. Halte nur bitte jetzt großen Abstand vom Wake-up-Ball.“
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K3 Literaturpreis 2015 – Motto : Fantasy & Mystery – alle Einreichungen Charlotte tapste langsam rückwärts, bis sie mit dem Rücken an der Wand stand. Sie hatte im Gehen Katis Stofftier zu fassen bekommen, klammerte sich nun daran und versuchte ihren Kopf darin zu vergraben, so als ob sie sich in dem weichen Plüsch verstecken könnte. Denn der Wake-up-Ball wuchs und wuchs und nahm schon fast den halben Raum ein, als er mit einem Mal lautlos zerplatzte und Charlottes Großmutter Elania und die Leiterin Dame Valentine ausspuckte. „Nana“, schluchzte Charlotte und fiel ihrer Großmutter um den Hals. „Ich hatte solche Angst!“ „Das glaub ich dir“, tröstete Elania und setzte sich mit ihrer Enkelin aufs nächstgelegene Bett. „Atme tief durch“, wandte sich nun die weise Dame Valentine, die mächtigste Kristallmagierin, an die kleine Charlotte. „Und dann erzählst du uns bitte ganz genau, was soeben geschehen ist.“ Charlotte brauchte wohl einen Moment um sich zu fangen, aber sie hatte, seitdem Ausbruch ihrer Fähigkeiten schon so einiges von ihrer Großmutter erzählt bekommen, dass sie wusste, wie wichtig es war so schnell wie möglich jedes Detail zu erzählen. Es war einfach alles so anders geworden als sie es bisher daheim in ihrem kleinen Dorf in der Steiermark gewohnt war. Weg von ihrer geliebten Mama, ihren Freunden und auf in ein fremdes Land in diese doch sehr eigenartige Schule mit lauter fremden Menschen. Nur gut, dass sie ihre Großmutter und ihre Freundin bei sich hatte, deren Fähigkeiten, wie bei ihr selbst, auch an ihrem sechsten Geburtstag plötzlich erwacht waren. Charlotte besann sich und begann zu erzählen und versuchte dabei, das schwarze Symbol, das sie gesehen hatte, so gut wie möglich zu beschreiben. Ob sie es denn vielleicht aufzeichnen könne, wurde sie von Dame Valentine gefragt. Aber das war gar nicht notwendig. Denn die wichtigste Information hatte sie sich für den Schluss aufbewahrt. „Nana, ich weiß, dass ich dieses Zeichen schon mal gesehen habe!“ Elania und Dame Valentine musterten sie mit großen Augen. „Und weißt du auch noch wo, Sparkly?“ „Ja, Nana. Gestern. Bei dem Mann auf dem großen Boot. Der, mit dem du nicht so gerne sprechen wolltest. Der hatte genau dieses Zeichen auf dem Arm.“ „Draxine.“ Elania und Dame Valentine pressten dieses Wort gleichzeitig mit versteinerter Miene durch die Zähne. „Was bedeutet das, Nana?“, fragte Charlotte, die sich noch enger an ihre Großmutter kuschelte, da sie spürte, dass etwas gar nicht Gutes im Gange war. „Das bedeutet“, begann Dame Valentine, während sie mit dem Zeigefinger über einen ihrer großen Kristallringe strich, sodass die schwarze Mauer verschwand und ihr Zimmer wieder sein übliches Aussehen bekam. „Dass du fürs Erste einmal deine Freundinnen zurückbekommst und ihr ausnahmsweise gleich hier im Zimmer frühstücken dürft. Clarissa wird euch etwas bringen und euch auch Gesellschaft leisten. Danach sehen wir weiter.“ „Nana, kannst du nicht besser hierbleiben?“ Charlotte versuchte es mit einem mehr als hoffnungsvollen Dackelblick, während ihre drei Zimmergenossinnen verstört ins Zimmer zurück kamen. „Ich muss mich mit Dame Valentine nur rasch um etwas kümmern und komme zu euch so schnell ich kann. Und bis dahin verlässt mir keine von euch Mädchen dieses Zimmer, in Ordnung?“ Elanias warnender Blick ließ die Mädchen rasch pflichtschuldigst nicken. „Oh, gut. Clarissa ist schon hier“, unterbrach Dame Valentine. Die Mädchen sahen zur offenen Tür, aber da war noch niemand. Es dauerte allerdings nur zwei Sekunden und Clarissa stand tatsächlich mit einem großen Tablett im Raum. „Leider nur Tee und Toast mit Marmelade“, sagte Clarissa quasi entschuldigend statt einer Begrüßung mit Blick auf ihr Tablett. „Mehr war auf die Schnelle nicht abzuzweigen von Miss Cherry.“ „Ach, das macht doch gar nichts!“, rief Marianne entzückt aus, weil sie nun so dem Black Pudding entkommen war und nahm Clarissa das Tablett ab um es auf ihrem Schreibtisch abzustellen. Währenddessen waren Elania und Dame Valentine auf schnellstem Wege im nächstbesten Klassenzimmer verschwunden. „Wir brauchen Peter“, begann Elania, als plötzlich die Tür aufging und ein junger Mann hereinkam. „Ich habe ihn natürlich schon verständigt“, sagte Dame Valentine mit einem milden Lächeln. Peter verbeugte sich kurz anstelle einer Begrüßung. Besondere Vorkommnisse ließen gewisse gesellschaftliche Gepflogenheiten offenbar hintanstehen. „Was kann ich für sie tun?“ „Einer von ihnen ist hier!“
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K3 Literaturpreis 2015 – Motto : Fantasy & Mystery – alle Einreichungen „Valentine, willst du nicht…“, wollte Elania ihre Freundin noch unterstützen, aber Peter war schon verschwunden. Elania schüttelte den Kopf. „Ganz werde ich mich an diese Runner wohl nie gewöhnen.“ „Aber praktisch sind sie“, lächelte Dame Valentine. „Und Peter ist einer der Schnellsten! Außerdem braucht man ihm nichts zu erklären.“ „Also ein Runner und ein Reader! Beeindruckend! Gut, wer, wenn nicht du hätte das beste Personal?“ „Und gerade deswegen frage ich mich, wie er hier hinein konnte! Die Schutzmaßnahmen wurden seit eurer Ankunft gestern verdreifacht! Wer sagtest du noch gleich hat euch auf der Fähre bis Port Ellen nicht aus den Augen gelassen?“ „Lervos. Der Lakai von Thorbus.“ „Auch ein Runner.“, überlegte Dame Valentine. „Darum konnte er auch so schnell den Voggy in den Türrahmen stellen.“ „Voggy?“ „Der Name leitet sich von view und fog her. Eben ein Nebel, der irgendwo in eine Art Rahmen gesetzt werden kann, mit dem derjenige, der in erscheinen lässt, in einem weiteren, von ihm geschaffenen Voggy, aus sehr weiter Entfernung beobachten kann, was sich vor oder hinter dem ersten Voggy befindet. Eine relativ neue Idee der Draxine. Und soweit wir wissen sehr wirkungsvoll. Vor allem, da der Voggy nur von wirklich sehr sensiblen Wesen wahrgenommen und dann erst unser Alarm ausgelöst werden kann. Wir hatten so gesehen also Glück, dass Charlotte ihn bemerkt und uns dadurch alarmiert hat. Die anderen Mädchen konnten es offensichtlich nicht. Sonst wären sie nicht so einfach hindurch gegangen.“ „Das mag ja alles sein. Aber warum war es notwendig? Thorbus weiß doch schon, dass sie hier ist.“ „Ja, Elania, das bestimmt. Nachdem du mir gestern Abend schon berichtet hast, dass Lervos euch auf der Fähre gesehen hat, ist der Big Boss der Draxine nun eben auf der Suche nach weiteren Details. Denn vergessen hat er dich bestimmt nicht in all den Jahren…“ „Ich wünschte allerdings, ich hätte es getan, Valentine.“ „Dann hättest du nie mit ihr herkommen dürfen!“ „Hatte ich denn eine andere Wahl?“ Elanias Stimme überschlug sich fast. Dame Valentine schien kurz zu überlegen. „Nein, aber..“ Sie wurde jäh von der auffliegenden Zimmertür unterbrochen. „Im ganzen Gelände ist niemand, der nicht hier sein dürfte.“ Peter war anscheinend mit der Suche nach Lervos fertig. „Allerdings habe ich das hier neben dem Pavillon gefunden.“ Er hielt den beiden Damen ein kleines Samtsäckchen entgegen, dessen Inhalt wie eine Mischung aus Schwarzteeblättern und Asche aussah. „BP. Hab ich es mir doch gedacht“, seufzte Dame Valentine. „Bird Powder? Ich dachte, das gäbe es längst nicht mehr“, hakte Elania nach. „Ich war mir sicher, dass es noch drei Säckchen davon auf der Insel geben müsste und habe danach gesucht. Schlichtweg um den Draxinen eine weitere Möglichkeit zu nehmen einfach bei uns einzudringen. Zwei hatte ich mit der Zeit gefunden.“ „Und das dritte?“ „Das meine liebe Freundin, hat mich mein Alter offenbar vergessen lassen. Und da wir Vögel bisher immer durch unser Schutzschild ließen…“ „Hast du einfach nicht daran gedacht, dass sich die Draxine so mir nichts dir nichts in ein kleines Vögelchen verwandeln und meiner Enkelin zu nahetreten können.“ „Spar dir deinen Sarkasmus, Elania! Jetzt haben wir wenigstens alle drei sicher hier bei uns! Und was Thorbus durch den Voggy gesehen hat, ist im Grunde nicht so dramatisch.“ „Nicht so dramatisch? Wenn Lervos, dieser zwar schnelle aber stumpfsinnige Draxine, einen anderen Auftrag gehabt hätte, als einfach nur auszukundschaften? Er war so wahnsinnig nah dran an Charlotte!“ „Gut, da gebe ich dir recht. Peter hat die Lehrkräfte schon informiert, dass der Schutzwall in den nächsten Minuten nochmals verstärkt werden muss. Wir mussten nur sicher gehen, dass keiner von ihnen mehr hier ist.“ „Und mein Mädchen?“ „Die bekommt natürlich auch besonderen Schutz. Thorbus wird nicht mehr in ihre Nähe kommen.“
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K3 Literaturpreis 2015 – Motto : Fantasy & Mystery – alle Einreichungen „Er darf einfach nicht…“ „Elania, was weiß er denn schon, außer, dass du mir ihr hier bist?“ „Valentine, er ist kein Idiot! Und er will sie bestimmt für sich und seine Zwecke haben! Ihm wird klar sein, wie viel Macht in ihr steckt!“ „Dann wollen wir alles in unserer Macht stehende tun, damit Thorbus seiner Tochter Charlotte, deren Existenz er bisher zum Glück nur erahnen kann, fern bleibt.“
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K3 Literaturpreis 2015 – Motto : Fantasy & Mystery – alle Einreichungen 16 Codewort „Bergschuhe“
Der Herrscher über Raum und Zeit
Irgendetwas Eigenartiges geht hier vor sich. So verwirrt kann mein Hirn nicht sein. Jet-lag her oder hin. Dabei hab ich grad erst vorhin, im Flugzeug, beim Stöbern in der Bordbroschüre erfahren, wie man den überhaupt schreibt. Nach weiß Gott wie vielen Jahren! Hat gar nichts mit den Beinen zu tun. Könnte mich aber auch nicht erinnern, ob in dem Artikel etwas darüber gestanden hätte, dass der einen gerne mal schnell den Draht zur Wirklichkeit verlieren lässt. Beim besten Willen nicht. Ich schließe vorsichtshalber meine Augen und zähle bis 10. In der vorgesehenen Reihenfolge! 1 – 2 – 3 – 4 ...
Mit jedem neuen Versuch klärt sich mein Umgebungsbild ein wenig. Beim ersten Aufwachen hab ich gedacht, noch immer im Flugzeug zu sitzen. Dabei hatte ich meine Beine so weit ausgestreckt, dass ich schon fast aus dem Fernsehsessel gerutscht wäre. Im Wohnzimmer also. In meinem eigenen Wohnzimmer. Wieder zu Hause. Nach so vielen Wochen. Aber bin ich mir da auch ganz sicher? Es gehen hier nämlich ganz eigenartige Dinge vor sich, die mit jedem Augenaufschlagen noch ein Stück eigenartiger werden. Ich hab meine Beine längst weitestmöglich angezogen und mich unter eine viel zu dünne Decke verkrochen. Kann mich noch verschwommen erinnern, beim Heimkommen fast über den Postwurfhaufen hinter der Wohnungstür gestolpert zu sein. Hab mein Gepäck fallen und gleich dort liegen lassen und bin hier her, ins Wohnzimmer. Die Jet-legs ausstrecken. Aber offenbar ohne vorher die Heizung aufzudrehen. Das sollte ich langsam mal nachholen. Nur werde ich nicht aufstehen. Das kann ich vergessen. Unmöglich! Nicht bevor ich die Welt um mich herum wieder verstanden habe. - Oder sie mich?
Ganz eigenartige Dinge gehen hier - ganz eigenartige. Ich schließe meine Augen und schon greift der Schlaf nach mir. Also wieder auf mit ihnen und eingetaucht in den Tagesrhythmus am Zielort, denn so kann man sich bekanntlich am besten umstellen. Den Jet-lag bekämpfen. Zuerst aufstehen, die Heizung voll aufdrehen. Frische Kleider anziehen. Die Post wegräumen, die Koffer zumindest einmal aufmachen. Dann den Kühlschrank inspizieren, einkaufen gehen, vielleicht einen kleinen Powerwalk, schließlich ist der Urlaub jetzt vorbei und da gilt es, lange aufgeschobene Entscheidungen zu treffen. Na bitte, so schwer ist das auch wieder nicht, mit diesem Jet-lag, solange man nur über die nötige Selbstdisziplin verfügt! Allerdings: Wieso sitze ich dann eigentlich noch? Und warum ist das Bild vor meinen Augen noch immer
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K3 Literaturpreis 2015 – Motto : Fantasy & Mystery – alle Einreichungen ganz schwarz? - Ach so, ich schlafe schon wieder.
Funny things
Irgendetwas Komisches geht hier vor sich. Etwas ganz, ganz Komisches. Nicht Ente, nein .... Oh Gott, mein Hirn denkt längst, was es gerade will, ich habe Hunger und so kalt war mir in meinem ganzen Leben überhaupt noch nie. Trotzdem bleibe ich sitzen. Vielleicht bin ich ja auch schon festgefroren. Aber der Sessel hier, der ist sicher. Und nur der.
Als ich heimgekommen bin, da war es noch hell. Mittelspäter Vormittag. Jetzt ist es dunkel. Das ist der Lauf der Welt, Sunup – Sundown- so gut. Aber – und so läuft die mir bekannte Welt auf gar keinen Fall – die Uhr in meinem Wohnzimmer geht rückwärts. Lange habe ich gebraucht, um das zu bemerken, aber es stimmt. Sie läuft rückwärts - und das zu langsam. Seitdem ich sie genau beobachte, von 2 Uhr 32 auf 2 Uhr 17! Unaufhaltsam und konstant. Jetzt schaue ich bewusst in die andere Richtung. Mein ganzer Nacken hat sich schon verspannt, so schwer fällt es mir, mich nicht nach jedem Ticken umzudrehen. Ich zähle. Das Ticken. 537. Bald 10 Minuten durch. Aber in welche Richtung? Und wie lange? Ich fahre mit der Hand über mein Kinn. - Immer noch dieselben Bartstoppeln. Vielleicht bin ich in zwei Tagen ja wieder glatt rasiert. Oder erfroren. 562. Ich hab als Kind mal bis 3000 gezählt und kann mir heute nicht mehr vorstellen warum. 581 und aus! Die letzten Sekunden sind jetzt ohnehin egal. Ich dreh mich um, der Nacken knarrt und: 2 Uhr 14! Minus 3 Minuten! Wie lange ich wohl zählen muss, bis mich das Taxi wieder abholen kommt? Kopfrechnen ist nicht mein Ding. Kopfdenken offensichtlich auch nicht. Dabei soll Erfrieren sogar ein ganz angenehmer Tod sein. Etwas zerrt an meinem Kopf, aber ich weigere mich zu reagieren. Vielleicht halte ich ja wenigstens noch bis gestern durch. Wenn ich da nicht wieder in Amerika bin. Dann könnte ich versuchen, mich dort anzurufen, im Flughafenhotel. „Room 212 please. Mister Zimmer.“ „Zimmer 212 bitte. Herrn Room.“ - So hat mich unser Turnlehrer damals immer veräppelt. Mister Room, bitte ans Reck! Felgaufschwung und Rumms! Rooms! Haha! Prügelstrafenpädagoge der ganz alten Schule! Nur: Wenn ich den jetzt im 70er Jahre Drillich und in Zeitlupe durch mein Wohnzimmer joggen sehe, dann darf ich mich wohl mit Recht fragen, an welcher Stelle ich erneut eingeschlafen bin.
End of time
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K3 Literaturpreis 2015 – Motto : Fantasy & Mystery – alle Einreichungen So komisch ist eine Rückwärts laufende Uhr dann auch wieder nicht. 23 Uhr 52, die Mitternacht durchstoßen und nichts ist passiert. Noch nicht. Wenn ich doch nur ein bisschen besser im Kopfrechnen wäre, dann könnte ich mir überlegen, wie dieser Slow-mo Count-down im Zusammenhang mit einem möglichen Weltuntergang steht. 23.52 könnte allerdings auch meine Körpertemperatur sein – grob geschätzt. Und wenn die Uhr die ganzen 6 Wochen in die falsche Richtung gelaufen ist, dann ist meine Heizung längst zurück auf Sommerurlaub. Wahrscheinlich kann ich mich ohnehin nicht mehr bewegen. 23.52! Hab’s die ganze Zeit nicht geschafft, dort drüben mitzukriegen, wie man Fahrenheit in Celsius umrechnet. Aber helfen würde mir das jetzt auch nicht. Vielleicht geht die Sonne heute ja im Westen auf. Oder vielleicht haben sich die alten Majas auch einfach nur um ein paar Jahrtausende voll Schaltjahren verrechnet und es ist jetzt endgültig aus. Kein neues Kalenderblatt! Ohne Computer wäre ihnen das wohl zu verzeihen. An der Wand am Ende der Zeit abgeprallt und jetzt schlittern wir alle gemeinsam zurück bis zum Urknall. 23 Uhr 51, und ich habe nicht vor, so lange zu warten.
Ich muss mich loben. Die Beweglichkeit meiner Beine hab ich wirklich perfekt eingeschätzt. Ich rutsche aus dem Fernsehsessel, kippe vornüber und gehe auf die Knie. Zwischen den beiden Teppichhälften ist der Boden sogar noch kälter. Das motiviert mich, in Richtung meiner Heizungsregelstation zu kriechen. Auf allen Vieren. An der Wand hochgezogen, den linken Schieber ganz nach oben geschoben. Wird trotzdem Stunden dauern. Scheiß Nachtabsenkung! Und jetzt? Mein Bett ist sicher komplett durchgefroren und der Sessel zumindest schon leicht angewärmt. Ich krieche am Heizkörper vorbei. Eiskalt. Von wie weit weg holen die eigentlich ihre Fernwärme? Wenn ich das bedacht hätte, hätte ich mir meine eigene Wärme aus dem fernen Arizona mitbringen können. Oder gleich für immer dort bleiben.
Das lange Kriechen hat mich total erschöpft. 23 Uhr 49. Aus der Nähe kann ich sogar den Sekundenzeiger erkennen. Tick! Einen Strich nach vorne. Tick! Ein vergebliches Zucken. Tick! Zwei Sekunden zurück. Tick! Eine Sekunde nach vorne. Tick! Keine neuen Überraschungen! Tick! Als ob das nicht schon genug wäre! Tick! Die Uhr hat hinter einer Mülltonne gelegen. Tick! Aber da ist sie noch in die richtige Richtung gelaufen. Tick! Hab mich im ersten Moment richtig erschreckt und an eine Bombe gedacht. Tick! Oder? Tick! He, hörst du mich nicht? Tick! Versuch dich gefälligst zu vertickterinnern! Tick! Hallo, tickst du nicht mehr ganz richtick? He! He!? – Oh, Entschuldigung, ich schlafe schon wieder. Psssst!
Sunday morning coming down
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K3 Literaturpreis 2015 – Motto : Fantasy & Mystery – alle Einreichungen Ich lebe noch. Und ich schwitze. Glaube aber trotzdem nicht, dass mich meine mystische Retro-Uhr den ganzen Weg zurück nach Arizona getickt hat. Fühl mich irgendwie viel zu europäisch dafür. Keine Ahnung auch, wie lange ich gebraucht habe, um nach dem Aufwachen zum Heizkörper zurück zu kriechen. Irgendwie muss ich auf dem Weg aber noch die Uhr von der Kommode geholt haben. Betrachte sie jetzt in meiner linken Hand. Immer noch dasselbe Spiel. Eins – Null - Minus Zwei. In drei kurzen Takten um eine lange Sekunde zurück. Das Zucken ist kraftloser geworden und ich kann meine Beine wieder bewegen. Aber wozu? Scheiß Jet-leg. Nein, lag! Weil das keiner je verstehen wird, der nie die halbe Nacht steif am Boden lag. Hab ich ja gestern so gelernt... Vorgestern! Oder heute? Oder Morgen?? Hab leider nicht mitgekriegt, auf welcher Seite die Sonne vorhin aufgegangen ist. Ich betrachte die Uhr in meiner Hand und muss lachen. Was soll schon sein? Die Batterie wird langsam leer. Was sonst?
Was sonst? Ha! Und selbst wenn, bedeutet das auch, dass ich nachher nur nach draußen gehen muss, in den Supermarkt ums Eck, mir eine neue kaufen, oder gleich vier, wenn das nicht auch die Anzahl der Augen jener grünen Männchen ist, die mich hinter der Kasse freundlich erwarten, wo mir dann erst auffallen wird, dass es gar kein Obst und frisches Gebäck mehr zu kaufen gibt, sondern nur noch Batterien, was genau mein Glück sein wird, weil sie mich so als einen der Ihren - oder der Irren, wenn ich noch lang so weiter denk, aber die Einsicht hilft mir jetzt auch nichts mehr, denn längst bin ich einer der Iren, in grünes KleeblattGewand gehüllt, mit ihnen tanzend, mein Augendefizit hinter dunklen Nachmach-Strahlen-Blockern aus dem Gestell neben der Kasse verbergend. And singing: „This is the luck of the Steirisch!
Haha! Jet-lag! Wow! Ich steh drauf! Wenn ich das nur früher geahnt hätte, hät ich mir das ganze herumExperimentieren mit den Halluzinogenen als Student sparen können…. und apropos: Seh ich das richtig? Ist sie jetzt wirklich stehen geblieben, meine Uhr? Festgefroren wie das letzte Hustenzuckerl, ausgespuckt vom großen Hustinettenbär, der über uns alle wacht – und Scheiße, ich bin tatsächlich wach wenn ich so was denke und was, wenn die Zeit jetzt tatsächlich stehen geblieben ist? Kann ich dann nach draußen gehen, so wie der Typ aus „Täglich grüßt das Murmeltier“?
Ohne dass ich mich darüber nachdenken gehört hätte, hab ich inzwischen offenbar das Stellrad aus der Rückwand meiner Uhr gezogen. Und auch besser so, denn wenn ich mich dabei beobachtet hätte, dann hätte ich es mich wahrscheinlich gar nicht getraut.
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K3 Literaturpreis 2015 – Motto : Fantasy & Mystery – alle Einreichungen Berühr das gezahnte Rädchen vorsichtig mit meinen Fingerspitzen. Wieder hinein schieben? Könnte es auch problemlos in beide Richtungen drehen. Nach vor oder zurück. Streiche darüber. Verdammt, der Herrscher über Zeit und Raum kann sich einfach nicht entscheiden! Frage mich, wer da alles gerade wartet auf mich. Der junge Mann, dem vor Sekunden das erste, schüchterne „Ich liebe dich“ über die Lippen gekommen ist? Die alte Frau, die es nach dem nächsten Zucken meines Sekundenzeigers endlich hinter sich haben wird? Wem könnte ich verwehren, das alles wieder in Gang zu setzen? Nur wie? Von Hand? Nach meinem eigenen Takt? Wo ich doch schon zu Schulakkordeonaufführungszeiten der Weltrekordhalter beim Minutenwalzer gewesen bin! Muss lachen. Muss an John Cleese denken und an sein Ministerium für zuckend verrücktes Gehen. Muss gleich noch viel mehr lachen und dann fällt mir ein, dass mein Stellrad ja gar keine Kontrolle über den Sekundenzeiger hat – und das muss ich jetzt gar nicht erst ausprobieren, bin längst wach genug. Wach genug erst recht, um mir meiner großen Verantwortung bewusst zu sein. - Und noch bevor es mir gelingt, daran zu verzweifeln, hat meine linke Schulter für mich weiter gedacht. Der Teil meines Körpers, der am Heizkörper lehnt, hat sich an den Schieber erinnert, den ich heute Nacht ganz nach oben geschoben habe und dem ich die wohlige Wärme in meinem Rücken verdanke.
In meinem Steuergerät steckt nämlich auch eine Batterie. Die Bauart-gleiche, wie sie in meine Wohnzimmeruhr passt. Ich muss jetzt nur hinüberkriechen, die Abdeckung hochklappen und zwei Handgriffe später geht alles wieder seinen gewohnten Lauf. Die Welt draußen kann sich weiter drehen. Die Menschheit darf sich lieben und in Frieden sterben, im richtigen Takt. Und wenn ich ohne Strom in meinem Heizungssteuerelement hier drinnen auch wahrscheinlich jämmerlich erfrieren werde, dann ist das ein geringer Preis zu zahlen.
Ein sehr geringer Preis.
Ich werde es tun, und ich werde weiter kämpfen bis zum Schluss, denn auch diese Batterie hier wird nicht ewig halten. Werde mir dicke Socken anziehen, bis in die Küche kriechen, die alte Batterie aufkochen, mir mit frischem Wasser einen heißen Tee aufbrühen und in die Thermoskanne füllen. Genau das werde ich tun ... Wenn ich meine Augen erst wieder offen habe … dann ... dann ... werde ich … Tee ... in die … Thermoskanne ... werde ich … Füllen …. Thermos … Fühlen … Phylen …
Wanderer kommst du nach Ju-Stra, sag, du hast mich hier sitzen gesehen. Festgefroren meine Verpflichtung
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K3 Literaturpreis 2015 – Motto : Fantasy & Mystery – alle Einreichungen der Menschheit gegenüber treu erfüllend.
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17 Codewort Pusteblume Ein Kristall für das Feenvolk Eigentlich war es ein ganz normaler, wundervoller Herbstspaziergang, und doch wieder nicht. Oder ist es Euch schon einmal passiert, dass ihr von einem Feuersalamandermädchen angesprochen werdet? Nun, die ganze Geschichte begann so: Ich spazierte wohl sehr tief in Gedanken versunken durch den bunten Herbstwald. Dachte dieses und jenes, atmete die feuchte Morgenluft ein, und bewunderte die Nebelschwaden, die zwischen den Baumkronen hingen. Es war einfach wunderschön. Da stolperte ich beinahe über einen Feuersalamander, und ein leichter Schauer lief mir über den Rücken. Warum eigentlich, dachte ich bei mir? Nun ja, weil mein Papa Angst vor Feuersalamandern hat, meine Oma, und wahrscheinlich auch meine Urgroßmutter und mein Ururgroßvater auch, und so weiter. Und irgendwie habe ich das gar nicht einsehen wollen, blieb stehen, betrachtete den Feuersalamander aus sicherer Entfernung, und sagte mir selbst:“ Schau dir dieses wunderschöne Tier einfach einmal an. Vielleicht stimmen die Geschichten ja gar nicht, die ich immer zu Ohren gekriegt hab´. Vielleicht ist alles ganz anders?“ Und ich beobachtete es eine Weile und dachte mir:“ Ob du wohl sehr einsam bist, wenn alle sich vor dir fürchten? Wer weiß, vielleicht hast du auch einen Namen?“ Und ich war schon im Begriff etwas Mitleid für das Tier zu empfinden ,da sagte es: “Natürlich hab´ ich einen Namen. Ich heiße Jane, und ich bin nicht einsam. Ich habe sehr viele Freunde.“ Dann marschierte sie weiter und verschwand in einem bunten Blätterhaufen. Aha ,dachte ich, das ist ja sehr interessant. Ich spazierte weiter und in meinem Kopf arbeitete es wild durcheinander. Plötzlich hatte ich so viele Fragen: “Wie wohl ihr zu Hause aussehen mag? Feiert sie auch ihren Geburtstag mit ihren Freunden? Trifft sie sich ab und zu mit jemandem zum Fünf-Uhr-Tee? Wer sind ihre Freunde? Sind das auch Feuersalamander? Nein, ganz sicher nicht, es gibt doch nur wenige im ganzen Wald! Mit ihren kleinen Beinchen könnten sie sich doch gar nicht besuchen gehen….”. Was soll ich Euch sagen, die Antwort kam prompt! Noch ein Feuersalamander kreuzte meinen Weg, und dieses mal fragte ich ihn gleich wie er heißt. „Ich heiße Beat“ antwortete er ganz freundlich. Nanu, wieso haben die lauter englische Namen, dachte ich. „Weil uns das gefällt“ kam sogleich die Antwort.“ Sag mal, Beat, kennt ihr euch untereinander in diesem Wald?“ fragte ich ihn. „Natürlich“ sagte er, “es macht uns sehr viel Spaß durch den Wald zu wandern und dabei treffen wir immer wieder einmal einen netten Bekannten, oder einen aus unserer Familie. Wobei ich sagen muss dass wir uns nicht nur unter Feuersalamandern aufhalten. Wir verstehen uns eigentlich mit allen Bewohnern des Waldes sehr gut. Das liegt wohl daran das wir alle Sprachen verstehen und auch sprechen können, und oft zum Übersetzen gerufen werden, wenn es zwischen verschiedenen Völkern Verständigungsschwierigkeiten gibt. Dadurch sind wir überall bekannt und lernen viele unterschiedliche Lebensformen kennen. Einmal hat mich das Zwergenvolk, das unweit von hier wohnt gerufen um eine Konferenz mit dem Feenvolk der Sabrinäer zu leiten.“ Es war sehr interessant was mir Beat da erzählte. Und ich nahm mir vor meine Vorstellungskraft ein bisschen zu öffnen, und nicht nur menschliche Formen und mir bekannte Dinge zuzulassen. Mir wurde plötzlich bewusst, dass wir die Tiere deshalb nicht verstehen können, weil wir denken, dass es nur diese eine Art von Sprechen gibt, die wir Menschen benützen. Und ich dachte nach wie ich es gemacht hatte Beat zu verstehen. Es war mehr ein hören mit dem Herzen, nicht mit den Ohren. Und was hatte er da von einem Zwergenvolk und von einem Feenvolk erzählt? Wenn ich sie nur sehen könnte! Vielleicht war das mit dem Sehen gleich. Wenn man andere Lebensformen sehen will, muss man vielleicht anders schauen! Man sollte sich einfach frei machen von Vorstellungen, wie die Zwerge oder Feen aussehen müssen, dann wird es sicher klappen! Ich war sehr aufgeregt und wollte mich sofort auf die Suche machen nach Zwergen und
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K3 Literaturpreis 2015 – Motto : Fantasy & Mystery – alle Einreichungen Feen. Da bemerkte ich wie müde ich geworden war. Ich verabschiedete mich nur ungern von Beat und beschloss erst einmal nach Hause zu gehen und die vielen neuen Gedanken ein wenig zu verdauen. Am nächsten Morgen konnte ich es kaum erwarten in den Wald zu gehen und die Suche nach Zwergen und Feen aufzunehmen. Nach einem schnellen Frühstück machte ich mich auf den Weg. Es war wieder einmal herrlich durch den Morgennebel zu stromern, und ich lenkte meine Schritte tief in den Wald hinein. Der Weg führte mich an Himbeersträuchern und dichtem Gestrüpp vorbei bis ich an eine sehr verdächtige Stelle kam, an der ich innehielt. Der Waldboden war über und über bedeckt mit langem, weichem Gras, wilder Hopfen hing wie Lianen von den Bäumen, es war einfach märchenhaft! Ich fand einen Baumstumpf auf den ich mich setzte, um dieses Stück Wald zu beobachten. Hier wäre doch wirklich der ideale Platz für Feen oder Zwerge, und es dauerte auch nicht lange bis ich weit entfernt eine Stimme vernahm, die immer näher kam. Dieses Mal musste ich allerdings noch mehr Vertrauen auf mein Gefühl und mein Herz haben, denn ich konnte mit meinen äußeren Augen nichts sehen! Zuerst hörte ich es, dann fühlte ich es, das jemand mit mir sprach, und erst nach einiger Zeit konnte ich mit meinen inneren Augen eine Gestalt dazu wahrnehmen. Ein rosarotes Etwas, ähnlich einer Pusteblume, begann nach und nach Form anzunehmen und es stellte sich heraus, das ich soeben Bekanntschaft mit einer Fee gemacht hatte! Ich war total aus dem Häuschen! „Guten Tag, mein Name ist Sabrina, ich bin die Königin der Sabrinäer, das Feenvolk, welches hier lebt! Und wer bist Du?“ Ich stellte mich ebenfalls vor, noch immer sehr aufgeregt. Es war wieder dieselbe Art miteinander zu sprechen wie das letzte Mal mit den Salamandern, mehr fühlen als hören! Nun hatte ich für mich den Beweis, dass es wirklich funktioniert! Wir Menschen können mit anderen Wesen sprechen, nicht mit unserem Mund sondern mit unserem Herzen. Und das fühlt sich auch noch viel besser an! Ich wollte mehr über die Sabrinäer erfahren, und Sabrina nahm mich mit auf einen Rundgang durch ihr Reich. Es ist ein kleiner Flecken Wald und man kann die Grenzen ganz deutlich erkennen, denn das Gras ist nur im Land der Sabrinäer so lang und weich. Sobald man über die Grenze tritt ist der Boden wieder normaler Waldboden! Sabrina zeigte mir das Stadttor, ein mächtiger Baum, dessen Wurzelstock von einem kleinen Bach ausgespült worden war, und eine tiefe Höhle bildete. Dort wohnt ein Drache, ein wirklich liebenswerter Drache. Er heißt Caldisor und ist der Wächter des Stadttores. Es war mir nie bewusst welche Sanftmut ein Drache ausstrahlen kann, bis ich Caldisor kennen lernte. Er strahlte mich mit seinen samtigen Augen an und ich verliebte mich auf den ersten Blick in ihn! Nun gibt es dort auch noch Conrin, den Hüter des Drachen. Er ist ein Zwerg, der es sich zur Aufgabe gemacht hat auf Caldisor aufzupassen. Conrin ist ein sehr pflichtbewusster Zwerg, man kann sich auf ihn verlassen. Nur mit den Menschen hat er so seine liebe Not! Er hatte schon mehrmals das Vergnügen mit Menschen in Kontakt zu kommen, und war keineswegs begeistert von ihnen. Er begrüßte mich dennoch sehr würdevoll mit einer Verbeugung. „Conrin ist ein sehr treuer und lieber Freund meines Volkes“, erklärte mir Sabrina, „Er kommt aus Angor, das Land der Zwerge, nicht weit weg von hier.“ Wir überquerten den Bach vor dem Stadttor und standen plötzlich vor einer Waldstraße. Die Feenkönigin seufzte schwer und deutete auf die Straße: “Und das hier ist im Moment unsere größte Sorge! Die Straße wurde mitten durch unsere Stadt gebaut und hat wichtige Energielinien zerstört! Das Volk ist in höchster Aufruhr!“ Ihr könnt euch das so ähnlich vorstellen wie in eurem Haus. Dort gibt es viele Kabel, die den Strom in alle Zimmer bringen. Wenn man nun so ein Kabel durchtrennt gibt es auch keinen Strom mehr. Ganz ähnlich ist es den Sabrinäern ergangen als die Straße gebaut wurde. Eine sehr wichtige Leitung, die die Stadt mit Erden- und Himmelsenergie versorgt hatte wurde dabei zerstört. „Es ist gut, dass wir dich gerade jetzt kennen lernen! Du könntest uns vielleicht eine große Hilfe sein“, Sabrina erzählte mir von der großen Ratsversammlung, die im Wald stattgefunden hatte. „Wir haben beschlossen ein neues Zentrum auf dieser Seite des Baches aufzubauen. Das ist eigentlich gar
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K3 Literaturpreis 2015 – Motto : Fantasy & Mystery – alle Einreichungen keine schwierige Sache. Wir benötigen dazu allerdings die Kraft eines Kristalls und die Hilfe eines Menschen! Der Kristall soll unser neues Zentrum sein und uns durch seine Kräfte wieder an das Energienetz von Himmel und Erde anschließen. Nun muss dieser Kristall jedoch von Menschen an seinen neuen Platz gebracht werden. So befiehlt es das Gesetz des Universums!“ Klingt eigentlich ganz logisch! Wenn man etwas in Unordnung bringt, sollte man dafür sorgen, dass es wieder in Ordnung gebracht wird. Scheinbar hatte ich Sabrina wirklich zum richtigen Zeitpunkt kennen gelernt! Natürlich würde ich den Sabrinäern gerne helfen ihr neues Stadtzentrum aufzubauen. Was sollte ich also machen? Sabrina war überglücklich und tanzte vor Freude um mich herum. „Bringe, wenn du uns das nächste Mal besuchst, einen Bergkristall mit. Lass´ dein Herz den Kristall aussuchen, es weiß genau welcher der Richtige ist!“ Ich hatte das Gefühl als ob mich jemand umarmen würde. Eingehüllt in diese wunderbare Energie, verabschiedete ich mich von der Fee und schien eher nach Hause zu fliegen als zu gehen. Am nächsten Morgen stand für mich natürlich die besondere Aufgabe, den Kristall zu suchen, an erster Stelle. Ich machte mich auf den Weg in die Stadt um in einem Steingeschäft mein Glück zu versuchen. Der Laden war von oben bis unten voller wunderschöner Kristalle in allen Farben des Regenbogens! Wie sollte ich hier bloß den richtigen finden? Ein wenig verzweifelt wanderte ich durch das Geschäft und dachte an Sabrina. Sie hatte gesagt, dass mein Herz den richtigen Stein finden würde! Ich wollte versuchen mit den Kristallen so in Kontakt zu treten wie ich es mit Sabrina und den Salamandern gemacht hatte, und...... es klappte! Kaum hatte ich meine Aufmerksamkeit auf mein Herz gelenkt, konnte ich Schwingungen wahrnehmen, die mir davor entgangen waren. Es dauerte nicht lange und eine Gruppe von Bergkristallen hatte mich in ihren Bann gezogen. Jeder einzelne wurde von meinen Händen eingehend befühlt, doch eigentlich hatte ich mich schon für einen entschieden, den strahlendsten, und einfach wunderbarsten. Ich hielt den Kristall in meinen Händen und es gab für mich keinen Zweifel mehr. Ich wusste einfach dass dieser Stein der Richtige war! Ich war überglücklich, bezahlte, und machte mich auf den Weg nach Hause. Mir kam es wie eine Ewigkeit vor bis ich endlich wieder zu Hause war und mit dem Bergkristall in Richtung Feenland marschieren konnte. Oh Gott, war ich aufgeregt! Ich lief zu dem Baumstumpf auf dem ich gesessen hatte, als ich Sabrina das erste Mal traf. Die Feenkönigin erwartete mich bereits und ich fühlte wieder diese Umarmung, die eigentlich keine Umarmung war.....ein wundervolles Gefühl! Wir begaben uns zum Stadttor. Dort wurde ich besonders feierlich und freudig empfangen. Caldisor, den Drachen und Conrin, den Zwerg, kannte ich ja bereits, doch heute war das ganze Feenvolk versammelt, um gemeinsam mit mir den Kristall an seinen Platz zu bringen. Ein Meer von pastellfarbigen Pusteblumen breitete sich hinter dem Stadttor aus! Es war wunderschön, doch gleichzeitig überkam mich eine Welle von Angst. Würde ich dieser Aufgabe gewachsen sein? Wieso gerade ich? Nun wurde mir ganz plötzlich das Ausmaß dieser Aufgabe bewusst, die ich aus purer Abenteuerlust und Neugierde übernommen hatte. Caldisor bemerkte meine Unsicherheit sofort und stellte sich hinter mich, um mir, im wahrsten Sinne des Wortes ,den Rücken zu stärken. Ich konnte die wohlige Wärme spüren, die von ihm ausstrahlte und fühlte mich augenblicklich geborgen. Was sollte schon passieren? Es war ja schließlich nicht meine Idee. Ich hatte einfach nur getan, worum Sabrina mich gebeten hatte. Nanu? Welch ein Wandel in meinen Gedanken? Ich sah Caldisor erstaunt an, doch er lächelte nur sanft. So ein Drache im Rücken kann Wunder bewirken! Nun konnte es losgehen. Wir begaben uns an die Stelle, an der das neue Zentrum entstehen sollte. Alles war schon vorbereitet. Conrin hatte bereits ein Loch für den Kristall gegraben, und der Platz rundherum war festlich geschmückt. Das Feenvolk versammelte sich um die ausgehobene Stelle, und wartete voller Freude darauf, dass ich endlich den Kristall an seinen Bestimmungsort setzen würde.
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Kurz zögerte ich und wartete auf ein Zeichen von Sabrina ,doch sie lächelte mich nur erwartungsvoll an, also ging ich zu dem Loch, setzte den Kristall hinein und schaufelte mit meinen Händen die Erde wieder darüber. Damit war meine Aufgabe erfüllt. Das ganze Volk jubelte und tanzte um mich herum. Caldisor war sichtlich stolz auf mich, ich fühlte mich geherzt und geküsst, wie im Himmel! Dennoch konnte ich noch nicht wirklich begreifen was ich so besonderes getan hatte. Einen Kristall zu vergraben war doch schließlich keine besondere Herausforderung? Die Feenkönigin erhob ihre Stimme, als ob sie meine Gedanken lesen konnte:“ Du hast uns einen großen Dienst erwiesen. Auch wenn es für dich eine kleine Sache war, so hast du für mein Volk etwas sehr wichtiges geleistet, was von uns niemand hätte erfüllen können. Wir ehren dich, und danken dir dafür aus der Tiefe unserer Herzen!“ Alle stimmten in einen wunderschönen Gesang ein. Ich stand da, zutiefst berührt und glückselig, und badete ausgiebig in dieser Wolke aus Dankbarkeit, Liebe und Fröhlichkeit, die mir vom ganzen Volk entgegengebracht wurde. Erst in der Abenddämmerung begab ich mich zufrieden auf den Heimweg. Was hatte ich getan, um mir diese Hochachtung zu verdienen? Ich hatte ihnen meine Aufmerksamkeit und mein offenes Herz gegeben, das war alles. Wie leicht es doch war jemandem eine Freude zu bereiten! Wir Menschen sind eigentlich wie Radios. Ein Radio hat einen Knopf, oder ein kleines Rädchen, und wenn ihr diesen Knopf dreht könnt ihr die verschiedensten Programme empfangen. Auch jeder Mensch hat irgendwo so einen Knopf mit dem er den gewünschten Sender einstellen kann. Ich hatte einfach mein Rädchen gefunden, und konnte nun verschiedene Programme empfangen. Ein Salamander-Programm, ein Feen-Programm, und ein Stein-Programm. Wer weiß was ich noch alles empfangen kann? Ich werde auf jeden Fall weiter mein „Sendereinstellungsrädchen“ drehen! Vielleicht wollt ihr es auch einmal versuchen?
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Haifischflossen in der Wiese
Im Garten war es wie immer. Die grünen Wiesenflächen mit den gelben Löwenzahntupfen beruhigten ihr Auge, sie stellte sich mitten hinein und atmete tief. Er war schon wieder nicht nach Hause gekommen, aber sie bemühte sich, nicht hysterisch zu werden. Sie wusste, dass nur sie ihm geben konnte, was er brauchte. Die Anderen waren zwar jung und schlank, aber seinen Geist verstanden sie nicht.
Hinter dem Haus wuchs ein kleines Bambuswäldchen, das sie vor einigen Jahren angepflanzt hatte. Eigentlich waren es am Anfang nur drei dünne Ableger, die sie in die Erde gesteckt hatte, aber der Bambus wuchs schnell, seine Wurzeln drängten jedes Jahr an die Oberfläche und im Frühjahr erschienen die Spitzen wie kleine Haifischflossen überall im Gras. Sie liebte die biegsamen Stängel, strich hin und wieder zärtlich über die feinen Blätter und weil sie oft allein war, sprach sie mit ihnen, als wären es Vertraute. Auch als er begann, fremdzugehen.
Weil sie ihm ihre Wut nicht mitteilen konnte, erzählte sie dem Bambus, wie enttäuscht sie war. Manchmal weinte sie und eines Tages bemerkte sie zwei neue Schösslinge, dort, wo ihre Tränen hingefallen waren. Jetzt werde ich schon verrückt, dachte sie bei sich.
An jenem Abend kam er mit einem fremden Geruch in den Haaren zu ihr. Seine Krawatte war unordentlich gebunden und sie war sicher, dass er bei einer anderen Frau gewesen war. Sie stand im Bambuswäldchen, als er sich zu ihr beugte, um sie zu küssen. Verdammt, rief er. Ein Windstoss hatte die schlanken Stängel bewegt und einer war ihm ins Auge gefahren.
Am nächsten Morgen entdeckte sie, dass sich der Bambus weiter ausgebreitet hatte. Sie gewöhnte sich an, die Höhe der Schösslinge zu messen und stellte fest, dass sie schneller wuchsen, wenn sie sich geärgert hatte oder verzweifelt war. Sie blieb den ganzen Tag im Schatten und sah zu, wie die jungen Triebe grösser wurden. Als sie von einer Wespe gestochen wurde, wischte sie das Insekt mit einer Handbewegung fort und ging hinein, um sich einen kühlen Waschlappen auf die Hand zu legen. Später kehrte sie in den Garten zurück und stolperte über einen neuen kleinen Bambustrieb, auf dessen Spitze ein aufgespiesster Wespenkörper steckte. So ein Zufall, dachte sie, dass der ausgerechnet hier....
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Sie setzte sich ins Gras, hielt ihre schmerzende Hand und blickte in den Himmel. Hoch oben säuselten die zarten Blätter und schienen ihr freundlich zuzunicken. Mit einem Knacken zerplatzte der Insektenkörper und fiel in zwei Teilen zu Boden. Ein Wachstumsschub, dachte sie bei sich und musste lachen.
Plötzlich stand sie auf und der Bambus schien sich ebenfalls aufzurichten. Ein Blatt strich über ihre Wange, berührte ihre Lippen und sie fühlte das erstemal seit langer Zeit wieder einen Anflug von Zuneigung.
Mit zitternden Fingern umfasste sie den Stängel und streichelte den ältesten und stärksten Trieb. Er war kühl und glatt und fühlte sich gut an in ihrer Hand. In dieser Nacht schlief sie draußen. Er war nicht nach Hause gekommen und sie wusste, dass er im Gegensatz zu ihr nicht allein schlief. Aber sie war nicht allein: rings um sie herum wuchs ein Bambuswall, der sie beschützte und nichts und niemanden an sie heranliess. Als er frühmorgens heimkam, fand er sie müde, aber glücklich vor.
Ich hoffe, du hattest eine angenehme Nacht, sagte er lächelnd. Ja, Schatz, die hatte ich. Möchtest du Champagner? Er wunderte sich nur kurz, dann willigte er ein und sie liessen sich unterm Bambus nieder. Sie hatte eine rotkarierte Decke ausgebreitet und kredenzte Lachs und Kaviar.
Wie früher! Sie lachte kokett.. Das hattest du doch immer so gern. Mit jedem Schluck wurde sie lustiger. Sie wies ihn auch nicht zurück, als er begann, ihr Bein zu streicheln. Er trank weiter, und danach schlief er ein.
Der Abend dämmerte. Sie liess ihn liegen, blickte kurz zu den hochgewachsenen Bambusstauden hinauf und ging zu Bett.
Tage später, als alles vorüber war, (die Polizei sprach von einem schrecklichen Unfall und wehrte zum Glück sämtliche Journalisten ab), schnitt sie den Bambus zurück. Die grünen Wiesenflächen mit den gelben Löwenzahntupfen beruhigten ihr Auge. Sie stellte sich mitten hinein und atmete tief.
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K3 Literaturpreis 2015 – Motto : Fantasy & Mystery – alle Einreichungen 19 Codewort: Elfenlied Blutpakt Sylvana sprang über einen umgefallenen Baumstamm der sich quer über den Waldboden erstreckte und im fahlen Licht des Vollmondes nur schemenhaft zu erkennen war. Mit sicherem Schritt und Leichtigkeit kam sie auf dem erdigen Waldboden zum Stehen. Trotzdem sie mehrere Kilometer durchgerannt war, atmete sie kaum schwer. Die Gestalt vor ihr hatte ebenfalls angehalten und hockte nun in angespannter Haltung am Boden, nur wenige Meter von ihr entfernt, die Augen geschlossen und die Nase in den Wind gehoben. Sylvanas schillernd silberne Augen warfen das Licht des Mondes zurück und sie fixierte die hockende Gestalt. Ihr pechschwarzes, langes Haar wehte in der sanften Nachtbrise und umspielte zart ihre Hüften. >>Was witterst du? Warum halten wir an?<<, fragte sie ungeduldig. Sie durften keine Zeit verlieren. Nervös blickte sie über ihre linke Schulter und mustere dann ihre Umgebung. Ihre Augen gewahrten jede noch so kleine Bewegung in der Dunkelheit und sie fuhr sich nervös über ihre angespitzten Schneidezähne. Durch den Vollmond waren ihre Kräfte gewachsen und nur durch die Hilfe ihres schlimmsten Feindes war es ihr gelungen aus dem Forschungskomplex der Menschen zu fliehen. Die hockende Gestalt stand nun langsam auf und blickte in die Dunkelheit vor ihnen. Sylvana wurde zunehmend unruhiger und trat nervös auf der Stelle. >>Wir müssen weiter! Wir müssen dein Versteck erreichen und mit Verstärkung zurückkehren um meine Schwester zu befreien!<<, gab sie fordernd zu bedenken. Die Gestalt wandte sich nun um und sie blickte in die goldenen Augen des jungen Mannes. Auf seinem ganzen Körper hatte sich ein pelzartiger dunkelbrauner Überzug gebildet, seine Iris hatte sich mandelförmig verformt und seine Ohren schienen ein wenig spitzer zu sein als zuvor. Als er den Mund öffnete um zu sprechen, kamen spitze Reißzähne zum Vorschein und Sylvanas Nackenhaare sträubten sich in einer unbewussten Geste als wenn sie Gefahr spüren würden. Und tatsächlich stand Sylvana ja ihrem Erzfeind entgegen. Oder besser gesagt: dem Erzfeind ihrer ganzen Familie, ihres ganzen Volkes. Aus der Familie der Abelier, ein Sohn des Abel stand nun vor ihr, jener Urvater des Volkes der Werwölfe, der von ihrem eigenen Urvater einst erschlagen worden war. Cain, der Urvater von Sylvanas Volk, ein Blutsauger, Vampir oder wie die Menschen in früheren Jahrhunderten sie gerne furchterfüllt genannt hatten. Dieses Ereignis hatte vor tausenden vor Jahren die Rollen festgelegt, die Hierarchie bestimmt und so lebten die Werwölfe ab da an im Dunkeln, im Geheimen, im Verborgenen und die Vampire beherrschten sie. Und nun stand sie ihrem Erzfeind Aug in Aug gegenüber und sie war gezwungen ihm zu vertrauen – zu ihrer beider Vorteil, denn zu lange schon beherrschten die Menschen nun die beiden Geschlechter. Vor vielen Jahren hatten die Menschen gelernt die Kraft der Vampire zu unterdrücken und sie zu Forschungszwecken gefangen zu halten. Nur wenigen war damals bei der großen Säuberung die Flucht gelungen und seitdem hatte man nichts mehr von ihnen gehört. Zahlreiche Clans wurden zerstört, die Angehörigen ganzer Familien waren in alle Himmelsrichtungen geflohen und jene von ihnen, denen die Flucht nicht gelungen war, waren gefangen genommen worden, versklavt und ihre Natur wurde durch ein von den Menschen entwickeltes Serum unterdrückt. Sie konnten sich nicht mehr verwandeln, sie konnten ihre Kräfte nicht mehr einsetzen. All das, was Sylvanas Geschlecht ausmachte, hatten die Menschen geschafft zu unterdrücken. Selbst das zum Leben notwendige Blutsaugen war ihnen genommen worden, mit jeder Injektion dieses Serums jeden Monat aufs Neue. Nur durch den Zufall, dass ihr Erzfeind, der nun vor ihr stand, Damian Abelius, aus dem Hause des Abel stammend, in die Gefangenschaft der Menschen gelangt war, war ihr die Flucht gelungen. Sein Volk hatten die Menschen beinahe ausgerottet und noch immer machten sie Jagd auf ihn und seinesgleichen. Aber diesmal hatten die Menschen seine Kraft unterschätzt und ihnen war nicht klar gewesen, dass sie ein Reinblut aus dem Hause des Abel gefangen genommen hatten und nicht etwa eine jener niederen Mischlingshunde, die sie Werwölfe nennen obgleich sie doch nur einfache, durch den Biss eines Werwolfes ebenfalls zu einem solchen Wesen geworden waren, nur ohne den Verstand eines Reinblutes. Denn solche, die nur durch den
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K3 Literaturpreis 2015 – Motto : Fantasy & Mystery – alle Einreichungen Biss zu Werwölfen wurden, hatten keine Kontrolle über ihre Verwandlung und damit auch keine Kontrolle über ihren Verstand während sie sich in der Verwandlung befanden. Sie wurden während diesen Nächten zu reißenden Bestien. Damian aber hatte Sylvana befreit und gemeinsam waren sie nun auf der Flucht vor den Menschen und den Jägern. Sie mussten zusammenarbeiten wenn sie am Leben bleiben und ihre Schwester befreien wollten. Lilith. Mit einem Mal durchzuckte es Sylvana grauenhaft und sie wandte sich erneut nervös an Damian, der noch immer vor ihr stand und sie mit seinen goldenen, mandelförmigen Augen fixierte. >>Du musst dich gedulden. Es liegt noch ein weiter Weg vor uns und die schwerste Aufgabe liegt noch vor uns. Erst müssen wir noch meine Familie davon überzeugen, mit deinem Volk zusammen zu arbeiten.<<, sagte Damian in einem ruhigen Ton, vermutlich um Sylvana etwas zu beruhigen, was ihm aber nicht recht gelang. Stattdessen schürte er ihre Unruhe noch um einiges mehr und eine Mischung aus Wut und Hass brodelte in ihr auf. >>Wir müssen weiter! Meine Schwester ist noch in deren Gewalt! Wir müssen sie befreien!<<, drängte Sylvana und ging dabei unbewusst ein paar drohende Schritte auf Damian zu. Dieser wandte sich nun vollends zu ihr um und fixierte sie erneut scharf. >>Warum beharrst du so darauf sie zu retten?<<, fragte er nun deutlich misstrauisch. >>Sie ist nur eine von vielen. Ihr Leben kann wohl kaum mehr wert sein, als das unserer beider Völker zusammen.<<, gab er kalt zurück. >>Ihr Opfer ist es wert, wenn wir und unsere Völker dafür wieder unsere Freiheit zurück gewinnen.<< Sylvana ließ ein verächtliches Schnauben hören und wandte ihren Blick ab. >>Du hast ja keine Ahnung welchen Wert sie für die Menschen hat. Sie darf nicht in ihrer Gewalt bleiben.<<, sagte sie ohne ihn anzublicken. Stattdessen fixierte sie nun den Vollmond, der sich langsam seinen Weg durch die lichte Wolkendecke hindurch bahnte. Damian wandte sich nun endgültig ihr zu und musterte sie eindringlich. >>Warum sollte sie denn so wichtig sein? Die Menschen halten euch doch schon seit mehreren Jahren gefangen und führen mit euch ihre wahnsinnigen Experimente durch. Da kommt es auf einen Blutsauger mehr oder weniger doch nicht an.<<, sagte er in demselben kalten Ton wie zuvor. Nun fuhr Sylvana auf. Sie ballte die Hände zu Fäusten und warf ihm einen wütenden Blick zu, der ihn ein paar Schritte respektvoll zurückweichen ließ. >>Meine Schwester ist Lilith!<<, schrie sie wütend. Mit einem Mal veränderte sich Damians Blick und ein Anflug von Entsetzen machte sich darin breit. >>Du meinst, deine Schwester ist jene wiedergeborene Lilith? Die Dämonenkönigin? Die erste Frau Adams, deren Kinder wir alle sind? Unser aller Urmutter?<<, fragte er ungläubig und Sylvana nickte nur. Sie standen sich für einige Augenblicke gegenüber, wobei es sich wie eine Ewigkeit anfühlte. >>Sie ist gegen unsere Bisse immun.<<, stellte er mit fragendem Unterton fest. Sylvana nickte kaum merklich. >>Und sie hat die Fähigkeit der Voraussicht.<< Erneut nur ein kurzes Nicken von Sylvana. >>Und, so sie die tatsächliche Wiedergeburt von Lilith, der Dämonenkönigin, ersten Frau Adams ist, vereint sie den Werwolf und den Vampir in sich. Das heißt, sie kann sich verwandeln.<<, Damian sagte das erneut mit demselben feststellenden Frageton und Sylvana nickte abermals nur kurz. Damian schluckte merklich und wandte sich dann entschlossen um. >>Wir müssen sofort zu meinem Clan und Verstärkung holen und deine Schwester dort raus holen.<<, sagte er bestimmt und Sylvana lockerte erleichtert ihre Fäuste. Gerade als sie sich auf den Weg machen wollten, stockte Damian plötzlich und richtete seine Nase in den Wind. Mit einem Mal fuhr er herum und starrte in die Dunkelheit hinter Sylvana. Sie sah ihn verunsichert und fragend an. >>Uns haben zwei Menschen verfolgt. Sie riechen nach Blut und Gift.<<, sagte Damian zerknirscht und wandte sich dann ganz um, wobei er eine angespannte Kampfhaltung einnahm. >>Sie sind bereits hier.<< Auch Sylvana wirbelte nun herum und sah sich zwei Kindern gegenüber die nur wenige Meter entfernt im Halbdunkel der Bäume standen. Mit beinahe ängstlichem Blick wich Sylvana ein paar Schritte zurück. >>Du kennst sie?<<, fragte Damian interessiert wobei er die beiden Kinder nicht aus dem Blick ließ. Sylvana nickte nur kurz.
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K3 Literaturpreis 2015 – Motto : Fantasy & Mystery – alle Einreichungen >>Gabriel und Raphael van Hellsing.<<, antwortete sie stumpf. Damians Ohren zuckten in ihre Richtung und er besah sie mit einem ungläubigen Blick. >>Van Hellsing?<<, fragte er ungläubig wobei in seiner Stimme ein deutlich genervter Unterton mitschwang. >>Das kann doch jetzt nicht wahr sein!<<, sagte er beinahe verzweifelt. Die beiden Kinder traten nun aus dem Schatten der Bäume heraus und kamen näher. Es waren ein kleines Mädchen, das nicht älter als neun oder zehn Jahre sein konnte und ein Junge, der um die sechzehn war. Das Mädchen hatte langes blondes Haar, das ihr in zwei Zöpfen zu beiden Seiten des Rückens herabfiel und in die zahlreiche weiße Lilien eingearbeitet waren. Sie trug ein weißes knielanges Kleid das zum Hals hin hochgeschlossen war, weiße fein gearbeitete Handschuhe und ebenso weiße flache Stiefel die ein wenig über den Knöcheln aufhörten und am Gürtel, der um ihre Taille geschnallt war, hingen mehrere Phiolen die bunte Flüssigkeiten beinhalteten. Der Junge hatte auch blondes kurzgeschnittenes Haar und war ebenso in weiß gehüllt. Er trug eine eng anliegende Hose die in kniehohen geschnürten Stiefeln verschwand und seinen Oberkörper schmückte ein kunstvoll, mit silbernen Blumen verziertes langärmeliges Hemd. Auch er trug an seinem Gürtel zahlreiche buntgefüllte Phiolen. Sylvana und Damian starrten die beiden noch immer wie vom Blitz getroffen an, dann schnippte der Junge mit den Fingern und setzte ein breites Grinsen auf. >>Na? Gibt`s hier eine Nachtparty oder wird das hier eine Freakshow? Oder haben wir euch möglicherweise beim geheimen Stelldichein überrascht? Das kleine Liebespaar?<<, fragte er höhnisch und Damian zog verwirrt die Augenbrauen zusammen. Das kleine Mädchen ließ ein tadelndes Geräusch hören und trat neben den Jungen. >>Raphael. Du sollst doch keine anzüglichen Witze machen.<<, sagte sie tadelnd und warf ihm einen strengen Blick zu. Der Junge kratzte sich verlegen am Kopf und machte dann eine ausholende Bewegung wobei er sich tief verbeugte, sodass sein Kopf beinahe den Boden berührte. >>Ich darf mich vorstellen! Mein Name ist Raphael! Meines Zeichens Hüter des Wissens und der Wissenschaft. Unser lieber Vater, Gott der Allmächtige, nennt mich liebevoll „der Heiler Gottes“.<<, mit dem letzten Wort hob er seinen Blick ein wenig und bedachte Sylvana und Damian nun mit einem bedrohlichen Grinsen. Dann erhob er sich ganz und machte eine dieselbe ausholende Armbewegung zu dem Mädchen hin, das die Hände vor sich wie zum Gebet gefaltete hatte und mit ruhiger, aber ausdrucksloser Miene die beiden vor sich betrachtete. >>Und diese reizende junge Lady ist mein zartes Schwesterlein, Gabriel. Sie ist so rein wie die Lilien in ihrem Haar und niemals wird sie müde die Sünder zu ermahnen vor den heiligen Gesetzen demütig zu sein und zu schweigen. Von unserem Vater, Gott dem Allmächtigen, wird sie liebevoll „die Macht Gottes“ genannt.<< Als er seine theatralische Ausführung beendet hatte machte Gabriel einen kleinen Knicks und nun standen sich die ungleichen Paare bewegungslos gegenüber. Damian machte ein verächtliches Geräusch. >>Das soll wohl ein Scherz sein.<<, sagte er beinahe etwas beleidigt. >>Da schaffen wir zwei es als einzige nach Jahrzehnten aus diesem Komplex auszubrechen und die schicken Kinder um uns zurückzuholen? Das ist ein wenig beleidigend.<< Sylvana gab ihm mit einer Handbewegung zu verstehen still zu sein. >>Du solltest sie nicht reizen, Wolf. Sie mögen Kinder sein, aber du vergisst, dass sie van Hellsings sind. Es wäre unklug sie zu unterschätzen.<<, gab Sylvana vorsichtig zu bedenken und erntete dafür von Damian nur ein spöttisches Grunzen. >>Du willst mir sagen, du hast vor diesen beiden Halbstarken Angst?<<, fragte Damian ungläubig. Aber bevor Sylvana etwas darauf erwidern konnte, meldete sich Gabriel mit sanfter Stimme zu Wort. >>Ihr seid geflohen, Dämonen. Wir werden euch für eure Sünden bestrafen.<< Sylvana und Damian nahmen eine angespannte Haltung an und Raphaels Grinsen wurde nun noch breiter. Er begann an seinen Phiolen herumzuspielen und zog eine mit einer dunkelgrünen Flüssigkeit aus seiner Halterung am Gürtel während Gabriel mit derselben ruhigen Stimme fortfuhr wie zuvor. >>Ihr habt zu schweigen während ich euch eure Sünden aufzeige. Gebot eins: du sollst nur an einen Gott glauben. Gebot zwei: du sollst den Namen Gottes nicht entehren. Gebot drei: du sollst den Tag des Herrn heiligen. Gebot vier: du sollst Vater und Mutter ehren. Gebot fünf: du sollst nicht töten. Gebot sechs: du sollst nicht
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K3 Literaturpreis 2015 – Motto : Fantasy & Mystery – alle Einreichungen unkeusch leben. Gebot sieben: du sollst nicht stehlen. Gebot - <<, noch bevor sie fortfahren konnte, unterbrach Damian sie schroff. >>Wird das jetzt eine Bibelstunde oder wie? Dafür habe ich keine Zeit, Kleine!<<, sagte er gelangweilt. Sylvana zog erschrocken die Luft durch die Zähne ein was ein zischendes Geräusch entstehen ließ. Und noch bevor Damian sie nach dem Grund ihrer Anspannung fragen konnte, ließ ihn die Reaktion von Gabriel starr vor Schreck werden. Gabriels Kopf war in die Höhe geschnellt und sie fixierte Damian mit einem wütenden furchterregenden Blick. Ihre Hände hatte sie starr neben ihrem Körper zu Fäusten geballt und sie bebte merklich am ganzen Körper. Raphael machte nun seinerseits wie Gabriel zuvor ein tadelndes Geräusch. >>Ich sagte, ihr habt zu schweigen und den heiligen Gesetzen zu lauschen!<<, schrie Gabriel nun aufgebracht und zog zwei Phiolen aus ihrem Gürtel. >>Ihr hättet sie nicht unterbrechen sollen!<<, sagte Raphael tadelnd und zog eine weitere Phiole aus seinem Gürtel. >>Lasst mich euch von euren Sünden heilen!<<, schrie nun auch er und mit zwei schnellen Sätzen waren die beiden Kinder schon bei Sylvana und Damian. Sylvana kannte die beiden besser und konnte dem Angriff von Raphael rechtzeitig ausweichen. Eine Phiole mit blauer Flüssigkeit schlug neben ihr am Boden ein, wo bis vor wenigen Sekunden noch sie selbst gestanden hatte, und dort wo sie zerbrach, verätzte sie auf der Stelle die gesamten Pflanzen und hinterließ nur einen grauen Rauchschleier der empor stieg. Damian war nicht so schnell und wurde von dem Angriff Gabriels überrascht. Mit unglaublicher Leichtfüßigkeit wirbelte sie um ihn herum und verteilte dabei den Geruch einer anderen Flüssigkeit, wodurch Damian sofort benommen zusammensackte. Sylvana versuchte zu ihm zu gelangen aber der Dauerbeschuss durch Raphael ließ ihr keine Möglichkeit dazu. Er warf eine Phiole nach der anderen ihr entgegen und als das nichts half, griff er zu einem kleinen Blasrohr und schoss mit giftigen Pfeilen nach ihr. Gabriel dagegen war nun wieder zu ihrer alten Ruhe zurückgekehrt und stand nun völlig ruhig vor Damian. Einzig ihr wahnsinniges Grinsen, das nun ihr gesamtes Gesicht verzerrte, ließ keinen Zweifel daran, dass sie nicht mehr dieselbe war wie noch vor wenigen Augenblicken. Sie nahm langsam eine der weißen Lilien aus ihrem Haar und hob ihren Zeigefinger an Damians Gesicht, das nun auf ihrer Höhe war, da er wie betäubt vor ihr kniete und sie mit verschleiertem Blick und offenem Mund anstarrte. >>Ich werde dich nun für deine Sünden büßen lassen. Schweige vor den heiligen Gesetzen!<<, sagte Gabriel mit einem lustvollen Unterton in ihrer Stimme, der Sylvana erschaudern ließ, und tauchte dann den Stiel der Lilie in eine ihrer Phiolen ein. Sylvana wirbelte nun verzweifelt herum. Sie sammelte ihre ganze Kraft, die durch das Serum, das sich noch immer in ihrem Blutkreislauf befand, geschwächt war und hechtete über Raphael hinweg und auf Damien und Gabriel zu. >>Damian, wach auf!<<, brüllte sie verzweifelt. Gabriel legte ihren Zeigefinger nun sanft auf die Stelle zwischen Damiens Nase und Oberlippe. >>Du sollst nicht töten! Du sollst nicht unkeusch leben! Du sollst nicht stehlen! Du sollst nicht falsches Zeugnis ablegen! Du sollst nicht begehren deines Nächsten Frau! Du sollst nicht begehren deines Nächsten Gut! Dämon, du wirst nie wieder töten!<<, rief Gabriel beschwörend und wollte ihm gerade die vergiftete Lilie in den Mund legen als eine weiche, sanfte Stimme sie in ihrer Bewegung inne halten ließ. >>Halt.<<, sagte die weiche Stimme und auch Sylvana stockte, als sie die Stimme erkannte. Gabriel hielt entsetzt inne und wollte bereits wieder auffahren, aber die Person, zu der die Stimme gehörte war schneller. Mit einer weichen fließenden Bewegung war sie neben Gabriel und blickte sie aus ihren weißen, blinden Augen an. Ihr schneeweißes Haar fiel ihr bis über die Hüfte und ihre zarte kleine Gestalt war gehüllt in ein weißes leichtes Kleid. Sie nahm Gabriel ruhig die Lilie aus der Hand und starrte sie durchdringlich aus ihren blinden Augen an. >>Gebot fünf: du sollst nicht töten.<<, wiederholte sie leise und ließ die Lilie zu Boden fallen. Aus der Dunkelheit wo das Mädchen hergekommen war, erschienen nun zahlreiche andere Gestalten und Sylvana erkannte einige ihres Clans in ihnen wieder. Gabriel war wie gelähmt und bewegte sich kaum. Sie bebte am ganzen Leib und schließlich hob das Mädchen mit dem weißen Haar ihre Hände und legte sie an Gabriels Schläfen. Gabriel keuchte auf und nach wenigen Sekunden sackte sie kraftlos zusammen und verbarg ihr
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K3 Literaturpreis 2015 – Motto : Fantasy & Mystery – alle Einreichungen Gesicht bitterlich weinend in ihren Händen. Ihr Bruder schrie entsetzte auf und eilte an Sylvana vorbei zu seiner Schwester, ohne Sylvana eines Blickes zu würdigen. >>Was hast du mit ihr gemacht, du Teufel?<<, schrie er hysterisch während er Gabriel schützend umarmte und versuchte sie zu beruhigen. >>Ich habe ihr nur ihre Vergangenheit, ihre Gegenwart und Teile ihrer Zukunft gezeigt.<<, erwiderte das Mädchen ruhig. Dann wandte sie sich um und streckte Sylvana ihre Hand entgegen. Sylvana lächelte erleichtert und ergriff die Hand ihrer Schwester. >>Lilith, ich bin so froh, dass es dir gut geht.<<, sagte sie glücklich und nahm ihre kleine Schwester in den Arm. >>Aber wie konntest du entkommen?<<, fragte sie ohne sie los zu lassen. >>Unser Bruder hat sie geschickt um mich zu befreien.<<, antwortete Lilith leise und machte eine Kopfbewegung in Richtung der Personen, die hinter ihr nach und nach aus der Dunkelheit traten. Lilith war erst vierzehn aber sie besaß bereits die Weisheit einer alten Frau und so löste sie sich aus der Umarmung ihrer Schwester und durchdrang auch sie mit ihren blinden Augen. >>Wir müssen gehen, Schwester. Die Menschen sind hinter uns her und sie schicken noch mehr Jäger. Es wird Zeit, dass wir unsere beiden Völker befreien und das einstige Bündnis erneuern, das bestanden hat, bevor unser Vater Cain seinen Bruder verraten und getötet hat.<< Sie sprach mit einer angenehmen Ruhe die keinen Zweifel daran offen ließ, dass ihre Worte der absoluten Wahrheit entsprachen. >>Wir sind doch eine Familie.<<, setzte sie nach und lächelte sanft während sie auch Damian eine Hand reichte, der sich nun langsam von seiner Betäubung erholte. Er blickte sie einen Moment verwirrt an und schien sich zu fürchten, ihre kleine Hand zu ergreifen. >>Du brauchst keine Angst haben, Wolf. Wir werden nun gemeinsam gegen die Menschen kämpfen und bald schon werden wir wieder frei sein.<< Damian zögerte noch einen Moment, dann ergriff er Liliths Hand und erhob sich vollends. >>Gabriel! Gabriel! Hör auf zu weinen! Wir müssen sie bestrafen! Los, steh auf, Gabriel!<< Raphael redete ununterbrochen auf seine Schwester ein, die nach wie vor schluchzend und bitterlich weinend ihr Gesicht in ihren Händen verbarg. Lilith löste sich von Damien und Sylvana und ging auf Raphael zu. Sie legte ihm ihre Hand auf die Schulter und er blickte sie wütend aus tränenerfüllten Augen an. >>Ich will dir deine Zukunft zeigen, Raphael.<<, sagte Lilith ruhig, beugte sich zu ihm herab und legte auch ihm ihre Hände an die Schläfen. Seine Augen verschleierten sich und als Lilith nach wenigen Sekunden ihre Hände wieder senkte, blickte er sie mit versteinerter Miene aus einem bleichen Gesicht an. Lilith durchdrang ihn mit ihren allsehenden Augen und lächelte sanft. >>Die Zukunft ist noch nicht geschrieben. Es liegt an dir, welchen Weg du gehst.<< Mit diesen Worten erhob sie sich vollends und wandte sich ab. Gemeinsam verschwanden Sylvana, Damien und Lilith sowie die anderen Vampire in der Dunkelheit und ließen die beiden Kinder zurück, Gabriel noch immer verzweifelt schluchzend und Raphael mit versteinerter Miene. Dann hob Raphael Gabriels Kinn und lächelte sie sanft an. >>Komm, Schwesterlein. Lass uns nach Hause gehen.<<, sagte er und Gabriel nickte nur zustimmend unter andauernden Schluchzen. Unterdessen beeilten sich Sylvana und die anderen zu Damiens Clan zu kommen, denn auch wenn ein jahrtausendealter Krieg die beiden Geschlechter in Feindschaft getrennt hatte, spürte Sylvana, dass nun ein neues Zeitalter anbrechen würde. Denn sie hatten einen gemeinsamen Feind der sie alle unterdrückte und die Werwölfe beinahe an den Rand der Ausrottung getrieben hatte. Die Vampire wurden von den Menschen beherrscht durch moderne Waffen und einem Serum, welches die Kräfte der Vampire unterdrücken konnte. Aber nun war Lilith frei und mit ihrer Kraft würden sie es schaffen alle zu befreien, die noch von den Menschen gefangen gehalten wurden und es würde ein neues Zeitalter anbrechen, in der sie nicht länger die Sklaven und Forschungsobjekte der Menschen sein würden und vielleicht brächte dieses Zeitalter auch endlich wieder den Frieden zwischen den beiden Geschlechtern. Zwischen Werwölfen und Vampiren. Zwischen Abel und Cain. Denn im Stillen hatten sie eine Übereinkunft getroffen, einen Pakt geschlossen. Einen Pakt der beiden Häuser, der beiden Blutlinien – einen Blutpakt.
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20 Codewort: Spendermensch Unerwarteter Unbekannter
Warum ist das alles so hektisch und rasend schnell hier, kann mein Spender nicht schlafen gehen oder fernsehen. Nein, er rennt um seinen Flieger zu erreichen.Will ich da überhaupt mit? Er dachte, mit online boarding spart er Zeit. Unglücklicherweise war der Akku seines neuen Smartphones defekt und dann kamen Stress und Panik. Woher einen Akku so schnell bekommen. Ticket ausdrucken war gestern. In einem so beanspruchten Spenderkörper ist es mir zu anstrengend. Bei nächster Gelegenheit suche ich einen Hinausweg. Meine Forschungsergebnisse sind gespeichert und abgeschlossen und die Zentrale gibt mir die Information diesen Spender schnellstmöglich zu verlassen.Möglicherweise war dieser Spender ein Irrtum und ich habe den Falschen befallen. Für das was ich vorhatte war dieser Körper nicht geeignet. Wenn der Spender wüsste wie es in ihm aussieht,dann würde er besser auf seine Gesundheit achten und so ein unerwarteter Zwischenfall würde ihn auch nicht aus der Bahn werfen. Welche Körperöffnung soll ich für den Hinausweg nehmen? Dieser Spender war nicht mehr gesund und beim jetten durch die Blutbahn, kam ich nicht mehr überall durch,Verhärtungen und Verklebungen bremsten mich unnötig ein. Welche Körperöffnung soll ich für den Hinausweg nehmen?Am besten sind die Ausgangsöffnungen für Flüssigkeiten geeignet. Durch die Poren, Augen oder durch die Harnblase? Auf keinen Fall durch die Knochen, das würde mein Vorhaben deutlich verzögern. Also am besten den schnellsten Weg nehmen und den effektivsten. Leichter gedacht als durchgeführt. Harnblase gut und schön und schnell aber wo lande ich dann.... Die Augen erscheinen mir momentan ungünstig, da mein Spender nicht melancholisch ist sondern cholerisch. Besser, jetzt wo der Spender so schön schwitzt, durch die Poren austreten und mich dann bei günstiger Gelegenheit fallen lassen. Noch einmal genussvoll durch die warmen Adern jetten und dann dank Unterdruck mich nach Aussen ziehen lassen. Schicht für Schicht komme ich meinem Ziel näher. Schweißperle trage mich noch ein Weilchen. Oh hier werde ich mich fallen lassen. Ich falle und falle und der Aufprall zersprengt mich und doch bleibe ich mit all meinen Teilen in vertrauter Schwingung.Wir versinken im Erdboden und es ist hier deutlich kühler und eine gewisse Starre tritt ein.Wir stellen unseren Energiemodus auf Stand by und warten, ohne Wärmeeinwirkung haben wir einfach Pause und erstarren so vor uns hin. Die Starre hat den Vorteil das wir nicht tiefer in den Boden sinken, sondern alle in einer Ebene ausharren. Jeder Teil von mir ordnet sich und ortet sich,und untersucht die Schwingungen der Lebewesen in der unmittelbaren Umgebung. Der Erdkörper ist ein Spenderkörper mit vergleichsweise anderen Eigenschaften als ein Spendermensch. So viele mögliche Spenderkörper hier unten.Da ich so viele bin,werde ich keinen Körper hier unten befallen können, außerdem habe ich mich auf deine Spezies spezialisiert und warte bis ich wieder zusammengefügt bin. Endlich irgendwann wird es wärmer und wir steigen mit der Wärme wieder auf, setzen uns auf die Dampftröpfchen und dann werden wir wieder zum ich.Mit dem Schwingungsmodus sammle ich mich wieder zusammen und genieße das Schwebegefühl der Schwerelosigkeit. Teilchen für Teilchen werde ich wieder Komplett und auch wieder schwerer. Ein gutes Kontrastprogramm nach der verteilten Starre in der Erde. Meine Energielevel steigen wieder an und dann kommst du und ich ernenne dich zum Spender für
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K3 Literaturpreis 2015 – Motto : Fantasy & Mystery – alle Einreichungen eine gewisse Zeit. Keine Angst , ich ziehe durch eine Pore in dein Inneres, du wirst davon nichts mitbekommen. Ich arbeite mich durch verschiedene Barrieren in dein Arteriensystem und genieße die wärmende Umgebung. Ich jette mit den Blutbahnen in deine Schaltzentren und mein Speichermodus macht ein paar Proben von deiner Lebensform und schickt die Auswertungen an meine Zentrale in der dritten Peralaxie. Du weißt nicht wo die ist-jenseits eures Universums, wir haben euch einiges voraus – schade das wir unsere Beobachtungen nicht austauschen können. Das wird unsere nächste Aufgabe sein. Herauszufinden wie wir mit euch in Kommunikation treten können. Wie kann ich mit jemanden in Kontakt treten, der von meiner Existenz nichts weiß, der nicht die technischen Möglichkeiten hat mich zu entdecken. Keinen Sinn hat mich wahrzunehmen, dabei wünscht ihr euch doch so sehnlich Kontakt mit Außerirdischen, hat mein Speicher mir rückgemeldet. Allerdings haben wir auch unsere Grenzen, da wir gänzlich anders kommunizieren als ihr hier. Was unsere Forschungen festgestellt haben ist: das ihr mit eurer Lebensform meist gut kommunizieren könnt und mit anderen Lebensformen wird es mitunter fast unmöglich.Auf diesem und anderen Planeten haben wir (von mir gibt’s einige Kollegen) mit vielen Lebensformen Kontakt aufgenommen und es ist vermutlich nur eine Frage der Zeit bis wir zu Euch vordringen. Wir dringen immer in Spendermenschen ein ,von denen wir vermuten, sie haben verschieden Kommunikationssysteme geladen und so kam die Schaltzentrale auf dich. Da Du eine spezielle Kommunikationstechnik geladen hast, die nur wenige Menschen geladen haben. Vielleicht hattest du schon einen anderen Außerirdischen Parasiten in dir, der dich programmiert hat und ich soll jetzt versuchen dieses Programm in dir zu aktivieren und ich warte noch auf genaue Anweisungen aus der Schaltzentrale der dritten Peralaxie. Die Schaltzentrale berichtet, in dir waren eine Gruppe von außerirdischen Parasiten am Werk, in nach deiner Zeitrechnung 4 Wochen, haben sie ein Programm installiert und zur Zeit läuft noch ein Simulationsprogramm und wenn dies erfolgreich abgeschlossen ist, darf ich dich aktivieren. Ein Problem ist ,das du nicht besonders viele Informationen zugleich aufnehmen und verarbeiten kannst. Vor allem mußt du registrieren das du eine neue Kommunikationsmöglichkeit hast Wir sollten dies in unserer Programmierung berücksichtigen. Wir kommunizieren in vielen Lebensformen auf diesem Planeten und auch auf anderen. Bei den Pflanzen war es viel einfacher eine Form des Austausches zu erreichen. Das Pflanzenreich ist ein sehr effektives Netzwerk und sehr kommunikationsfreudig. Auch bei Insekten mit Netzwerkerfahrung konnten wir gute Beziehungen aufbauen. Deine Spezies ist bis jetzt unsere Größte Herausforderung. Aus der Schaltzentrale bekomme ich die Information ,das wir diesmal mehrere von eurer Spezies zugleich aktivieren, damit uns die alten Fehler nicht noch einmal passieren. Leider sind bisher alle Aktivierungen daran gescheitert, dass die Spendermenschen, die mit uns Kontakt aufgenommen haben, von den anderen Menschen für verrückt gehalten wurden. Ein anderes Mal wurde dem Aktivierten nicht klar, das er mit uns Kontakt aufnehmen kann, unsere Signale kamen zu schwach durch. Wir sind durchaus in der Lage deine Gedanken zu entschlüsseln und in unsere Austauschinformationen umzuwandeln, umgekehrt hat es bis jetzt nur bei einem beinahe funktioniert. Dabei wurde leider die Information falsch dekodiert.Für den Spenderkörper wars kein Problem.Der schrieb aufregende Geschichten und wurde reich damit. Allerdings konnte kein Informationsaustausch mit uns aufgebaut werden. Das war unser lang angestrebtes Ziel. Denn anders, als die anderen hochentwickelten Systeme auf eurem Planeten ward ihr schon auf dem Mond und strebt weitere Ziele an und mit unserer Erfahrung und Technologie könnten wir euch weiterführende Tipps geben ,ohne das ihr dafür viel unnötigen Aufwand treiben müßt.
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Ich hoffe du freust dich mich kennenzulernen und mit mir Erfahrungen auszutauschen und diese Beobachtungen mit den anderen Aktivierten abgleichen und an andere Menschen weitergeben zu können. Deshalb wurdest du neu programmiert und Du bist jetzt einer von 10 mit dem neuen Programm. Diesmal darf nichts unerwartetes dazwischenkommen.Wenn es diesmal nicht klappt ,werden wir auf einem anderen Planeten eine gleichwertige Spezies aktivieren. Sobald du mit mir Kontakt aufgenommen hast, wirst du mit den anderen 9 Spenderkörpern und Parasiten zugleich Informationen Transferieren ,dekodieren und austauschen. Sowas hast du noch nie erlebt und du wirst überrascht sein , wie einfach das ist. Ein bisschen Ruhe wird gut sein. Also bitte setz dich gemütlich hin und schalte alle Geräuschquellen aus. Gut ,das es schon dunkel ist, damit fallen auch andere Ablenker aus. Du kannst auch noch aufs Klo gehen, ich sitze gut in deinem Schaltzentrum und gehe nicht verloren. Wunderbar, du bist bestens auf deine große Erfahrung vorbereitet und versuchst am besten an nichts zu denken und nichts an das du dich erinnern kannst zu erwarten.
Die Schaltzentrale meldet,das ich dich aktivieren darf. Nach deiner Zeitrechnung noch 10 Sekunden 9,8,7,6,5,4,3,2,1 Jetzt!
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K3 Literaturpreis 2015 – Motto : Fantasy & Mystery – alle Einreichungen 21 Codewort: Ankadrei DIE SÄULE I Miriam stürzte aufgeregt in Papas Zimmer: „Papa, schau schnell aus dem Fenster! Da . . .“ Ihr Vater unterbrach sie streng: „Miri, du hast schmutzige Gartenstiefel an! Du weißt doch, dass . . .“ Aber Miriam deutete aufgeregt aufs Fenster und beachtete Papas Einwand gar nicht. Ihr Vater blickte etwas widerwillig aus dem Fenster, warf den Schreibstift weg und sprang wie von der Hornisse gestochen auf: Er sah eine Säule langsam aus dem Blumenbeet herauswachsen. Aber was war das für eine Säule? Erst war der Vater sehr erschrocken, aber dann kam sein praktischer Sinn wieder zum Vorschein: „Miri, wir gehen hinaus und sehen uns das an!“ Nun standen sie staunend vor Mamas Blumenbeet und konnten es nicht begreifen. Die Säule, die jetzt nicht mehr weiterwuchs, war von anheimelnder Farbe, etwa wie ein schöner Pfirsich, hatte ein sanftes Strahlen an sich und wirkte einfach vertrauenerweckend. Miriam trat auf die Säule zu und wollte sie berühren, als ihr Vater energisch rief: „Nicht anfassen! Wer weiß . . .“ Aber Miriam hatte sie in diesem Augenblick schon berührt. Da begann die Säule hell und mild zu strahlen, so als freue sie sich riesig. Und Miriam umarmte die schöne Säule. Sie konnte einfach nicht anders. Nach einer kleinen Weile zog sie ihr Vater sanft von der Säule weg und sagte: „Da wird Mama aber staunen, wenn sie zurückkommt und in ihrem Blumenbeet diese schöne Säule sehen wird!“ Sie gingen weg, aber als sie noch einmal zurückblickten, sahen sie die Säule so langsam, wie sie herausgewachsen war, wieder in der Erde versinken. Das Blumenbeet sah wieder genauso aus wie zuvor. Tags darauf schrieben die Kinder in der Klasse einen Aufsatz. Thema: „Ein schönes Erlebnis“. Miriam liebte Aufsätze. Sie konnte sehr gut schreiben und musste auch nie lang nachdenken und war meistens als Erste damit fertig. Aber diesmal schrieb sie und schrieb sie, hatte ganz rote Wangen bekommen und war dabei sehr aufgeregt. „Miriam, mach Schluss, die anderen Schüler sind schon alle fertig!“ sagte die Lehrerin. „Du dürftest ja ein tolles Erlebnis gehabt haben!“ Miriam antwortete richtig verträumt: „Ich lese den Aufsatz gerne vor, dann wissen alle, was ich gestern erlebt habe.“ Und Miriam las vor. Gebannt hörten alle zu. Lächelnd sprach die Lehrerin dann von einem seltsamen, aber sehr schönen Traum, von dem Miriam da erzählt hatte. Miriam aber sagte ganz energisch: „Nein, es war kein Traum. Wir haben das wirklich erlebt! Und wenn Sie mir nicht glauben, so fragen Sie doch meinen Vater!“
II Gerti war Miriams dickste Freundin, obwohl sie gertenschlank war.
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K3 Literaturpreis 2015 – Motto : Fantasy & Mystery – alle Einreichungen Trotzdem hatten sie vor dem Schulhaus gestritten, was sonst kaum vorkam. Aber diesmal, glaubte Gerti, habe Miriam nicht nur sie, sondern gleich die ganze Klasse samt Lehrerin belogen. Miriam atmete tief durch, kämpfte tapfer die aufsteigenden Tränen nieder und murmelte: „Das war´s dann“. Sie hatte ihre dickste Freundin verloren. Ohne jedes weitere Wort gingen die beiden auseinander.
Gertis Heimweg führte sie durch den kleinen Park. Diesmal schaute sie weder links noch rechts. Sie weinte. Aber lautes Kinderlachen und –schreien ließ sie endlich aufblicken. Und was sie sah, konnte sie einfach nicht glauben: Zirka ein Dutzend Kinder liefen, sprangen, hüpften auf der Wiese um eine schöne, schlanke, gewiss zwei Meter hohe Säule, die so aussah, wie sie Miri beschrieben hatte. Zögernd trat sie an die Säule heran. Sie umarmte die Säule, so wie Miriam tags zuvor. Und sie spürte dasselbe Glücksgefühl, als die Säule wie vor großer Freude hell zu strahlen begann. Gerti rief zur Säule „Tschüßbababisspäter!“, rannte nach Hause, stammelte etwas Unverständliches zu ihrer Mutter, sprang aufs Fahrrad und strampelte zu Miriam, fiel ihr um den Hals und keuchte ganz außer Atem: „Ich habe die Säule gesehen!“
III Das gibt es nicht, dass eine Säule aus dem Boden wächst und nach einer Weile wieder im Boden verschwindet. Das gibt es nicht. Nicht? Was einem einzigen Erwachsenen und etlichen Kindern erschienen war, darf wohl angezweifelt werden. Oder? Eine kleine Kleinstadt verhält sich ganz gleich wie ein kleines Dorf. Als das Gerücht den Bürgermeister erreicht hatte, wurden Amtshandlungen eingeleitet. Die Polizei bekam die Weisung, in den Park zu fahren und den Sachverhalt aufzunehmen. Miriam samt Papa und auch Gerti wurden vorgeladen. Ihre Aussagen wurden protokolliert und mussten von allen dreien unterschrieben werden. Wie bei einem Verhör oder gar bei einem Staatsakt. Auf Fingerabdrücke wurde großzügig verzichtet, wohl aber wurde auch von psychiatrischen Tests gesprochen. Die wären aber bei so manchen Staatsakten dringender, meinte Miris Vater etwas aufmüpfig. Inzwischen arbeitete die Polizei auftragsgemäß, kam aber nicht voran. Im Park war keine Säule zu sehen. Rex, der Polizeihund, wusste nicht, was er erschnüffeln sollte. Und wie, bitte sehr, könnte der Polizeichef ein Protokoll verfassen, wenn es nichts zu ermitteln gab? Auf dem Parkbankerl saß ein Betrunkener und lallte: „In Ihnerer Haut mecht i net steckn, Herr Tschpekta!“ „Ist schon gut, Simmerl“, sagte der Polizeichef, „hast du keine Säule gesehen?“ – „A wuhl“, antwortete der Betrunkene, „die Mariensaln aufn Kirchnplatzl!“
IV „Die Säule muss vermessen werden!“ entschied der Bauamtsdirektor Pilatus, „denn nur danach kann der Statiker das erforderliche Fundament berechnen.“ Der Ingenieur Anton Messer kratzte sich hinterm Ohr, entgegnete aber nichts. Wie könnte man auch unter eine bereits stehende Säule ein brauchbares Fundament hexen!
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K3 Literaturpreis 2015 – Motto : Fantasy & Mystery – alle Einreichungen Das war eine schwierige Aufgabe für den Ingenieur. Denn die Säule wurde zuletzt zwischen zwei Kastanienbäumen in der Friedrichsallee gesehen, wo sie von zwei faszinierten alten Damen gestreichelt worden war. Als der Ingenieur Messer in der Allee eintraf, fand er weder die zwei alten Damen noch die Säule vor. Enttäuscht wandte er sich um und wollte zurück ins Amt fahren. Aber da stand er vor der Gesuchten, die hinter ihm aus dem Boden gewachsen war. Erst einmal war Messer perplex, aber dann besann er sich seines Auftrages.
Die Säule gefiel ihm sehr, sie sah so freundlich, friedlich und – ja – sympathisch aus. Also sprach er zu der Säule: „Du bist so schön und gut, dass ich mich schäme, dich vermessen zu müssen.“ Da wurde die hell strahlende Säule plötzlich dunkler, und Ingenieur Messer hatte das Gefühl, dass die Säule das nicht wollte. Ingenieur Messer hatte aber einen Auftrag. Er packte seine Instrumente aus und begann zu vermessen. Er notierte: Gegenstand: Säule, rund, glatt, strahlend, pfirsich-farben. Material ohne Labor nicht feststellbar. Umfang = 1 Meter, Höhe = 2 Meter und 50 Zentimeter. Fertig. Dann packte er seine Sachen ein und blickte nochmals zur Säule zurück. – Sowas! Die Säule war nun viel dünner geworden, und höher war sie auch! Neuerliches Messen: Umfang = 50 Zentimeter, Höhe = exakt 2 Meter und 76 Zentimeter! Zurück zum Auto, noch ein Blick zurück: Die Säule hatte nur noch einen halben Meter Höhe und spärliche 15 Zentimeter Umfang! Verdutzt fuhr Messer zurück ins Amt und trug in den Bericht „Säule“ ein: „Säule wegen sich ständig ändernder Maße nicht exakt vermessbar – das heißt, überhaupt nicht messbar. Ein Umstand, den es in der Technik gar nicht gibt. Außerdem konnte amtsseitig vor Ort nicht festgestellt werden, aus welchem Material die Säule besteht.“ Der Bauamtsdirektor Pilatus sandte den Herren Ingenieur Anton Messer sogleich zum Amtsarzt, der ihn ob der Schwere des Falles sofort zum Psychiater weiterschickte. Der Psychiater fand – abgesehen von dem sonderbaren Bericht – keinerlei Anomalien oder Abnormitäten am Ingenieur. Ein Bauamtsdirektor hat es oft sehr schwer. Darum frug er den Ingenieur Anton Messer: „Ja – was sollen wir denn da in den Akt schreiben?“ Ingenieur Messer schlug vor: „Nix halt – oder die Wahrheit.“
V Auch eine verträumte Kleinstadt kann ihre Sensationen haben. Da überfiel doch knapp vor 12 ein Maskierter die Bank, raubte Bargeld, stahl ein Auto und fuhr davon. In der Hast übersah der Räuber eine Hinweistafel, stak in einer Sackgasse und wollte schnellstens im Retourgang hinausfahren. Da wuchs gerade hinter dem Heck des Wagens – eine Säule empor. Sie sah bedrohlich zornesrot aus und war sehr wuchtig. In Panik sprang der Räuber aus dem Wagen und wollte zu Fuß flüchten. Da sprang die Säule auf den Gehsteig, der Räuber prallte dagegen und griff sich benommen an den Kopf. Für den Polizisten Friedrich, der gerade vorbeikam, war es ein Leichtes, den
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K3 Literaturpreis 2015 – Motto : Fantasy & Mystery – alle Einreichungen taumelnden Räuber zu fassen, der in Handschellen ins Krankenhaus gebracht wurde. Man ist ja kein Unmensch.
VI Die Lokalreporterin Helene Flinkstift hatte die Säule fotografiert, die auf der Spielwiese stand und von Kindern bewundert worden war. Ein kleines Mädchen hatte die Stirn an sie gelehnt, ein kleiner Bub sah gebannt auf die Säule, die gerade ihre schöne violette Farbe in ein freundlicheres Orange gewandelt hatte. In der Redaktion gab es Krach. Der Chefredakteur war wütend und sagte ziemlich laut: „Flinkstift, aus Ihnen wird nie eine gute Journalistin, fahren Sie doch ab mit diesem Plunder! Kein Mensch will so etwas lesen oder anschauen!“ VII Helene Flinkstift saß in ihrer Wohnung und schrieb gerade ihre Kündigung, als es klopfte. Herein kam ein sonderbar zerknirschter Chefredakteur, der um Verzeihung bat und erzählte, dass sein Auto von einem Bankräuber gestohlen worden sei, aber der Räuber habe sich in die Sackgasse verfahren und wurde dortselbst verhaftet, weil eine Säule die Flucht verhindert habe. Der teure Wagen sei nun wieder in seinem Besitz. Er bot Helene sogar einen Redakteursposten an und sie könne selbstverständlich über die Säule berichten. Helene zerriss die Kündigung.
VIII Die Säule wuchs in der Mittergasse vor dem Haus Nummer 3 eilig aus dem Boden, war von feuerroter Farbe und sandte aus ihrem obersten Teil weiße Blitze in alle Richtungen, einem Leuchtturm ähnlich. Menschen blieben stehen, sahen zu den Blitzen empor und entdecken Rauch, der aus den Dachziegeln drang. Als die Feuerwehr eintraf, versank die Säule rasch im Boden. Man konnte den Brand rechtzeitig löschen. Ein andermal krabbelte ein kleines Kind in einem unbewachten Augenblick aufs Fensterbrett. Das Fenster war offen, die Wohnung lag im zweiten Stock! Atemberaubend schnell wuchs die Säule aus dem Gehsteig. Ihr oberster Teil formte sich zu einem Gitter, das die Fensteröffnung abschloss. Eine schreckensblasse Mama nahm ihr Kind in die Arme und dankte der Säule, die jedoch rasch wieder im Gehsteig versank.
IX Der Mesner erschrak gewaltig, als er die Säule im Rosenbeet des Herrn Pfarrers stehen sah. Aufgeregt erzählte er dem Pfarrer von diesem Frevel. Der Pfarrer sah sich die Sache an und erklärte dem Mesner, dass bisher kein Schaden zu entdecken sei. Es war ja auch keine einzige Rose geknickt. Der Mesner hatte eher einen Wutausbruch des Geistlichen erwartet. Er verstand die Welt nicht mehr, als er den Pfarrer sprechen hörte: „So kommst du endlich auch zu mir! Wer immer du bist und woher immer du auch kommen magst: Sei herzlich willkommen und lasse dich segnen!“ Er hob seine
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K3 Literaturpreis 2015 – Motto : Fantasy & Mystery – alle Einreichungen Hand und segnete seinen Gast, die Säule. Und die Säule dankte durch besonders schönes Leuchten und Strahlen. Drei Tage lang stand die Säule in Pfarrers Garten. Einige Frauen sprachen von Gotteslästerung. Ein alter Kirchenrenner meinte sogar, dass der Pfarrer mit dem Teufel im Bunde sei. Dies alles kam dem Pfarrer zu Ohren. Deshalb sprach er am Sonntag zu seiner Gemeinde darüber. Er sagte, dass die Säule schön sei. Aber auch, dass sie gut sei und erwiesenermaßen Gutes, und n u r Gutes, getan habe. Und Gutes komme nie vom Teufel. Er, der Pfarrer, habe die Säule gesegnet. Wenn nun aber einige Leute meinten, dass dies eine Gotteslästerung sei, so dürfe er auch keine Schule, kein Kommunalfahrzeug, keinen Rettungswagen, keinen Pflug und so weiter segnen. Nach dem Gottesdienst gingen etliche Leute in den Pfarrgarten – aber die Säule war nicht mehr da.
X Der Kulturreferent Gschaftlhuber war auch für die Fremdenverkehrswerbung zuständig. Er witterte ungeahnte Chancen. Berühmt soll die Stadt werden wegen der Säule! In Massen sollen die neugierigen Menschen aus Nah und Fern heranströmen, die Säule bewundern und einen schönen Batzen Geld dalassen! Er, der Kulturreferent, sah sich schon als Ehrenbürger der Stadt. Er ließ viele Prospekte drucken, schrieb 1000 Reisebüros an, ließ aufwändige Folder großzügig versenden. Der Fremdenstrom ließ nicht lange auf sich warten. Aber auch nicht die herbe Enttäuschung, denn die im Prospekt versprochene Erscheinung einer freundlich strahlenden Säule, die aus dem Boden wachsen konnte, blieb aus. Hohn, Schimpf und Schelte und ein mittlerer Berg Schulden trafen Gschaftlhuber hart. Beinahe hätte man ihn seines Amtes enthoben. Kaum war der Strom der Neugierigen versiegt, wuchs die Säule mitten auf dem Hauptplatz, die schöne Pflasterung durchbrechend, aus dem Boden. Man fürchtete eine Zerstörung, aber nach ihrem Verschwinden war das Pflaster so heil wie zuvor. Gschaftlhuber heulte.
XI Man hatte sich an die Säule gewöhnt. Man liebte sie. Sie überraschte niemanden mehr, wenn sie irgendwo aus der Erde wuchs. Die Säule war ein gern gesehener Friedensbringer, und die kleine Stadt wurde der friedlichste Ort im ganzen Land. Lange Zeit fiel es niemandem auf, dass die liebe, die gute, die schöne Säule immer seltener aus dem Boden wuchs. Nur Miriam war deshalb traurig, weil sie so etwas wie Abschied ahnte. Sie sprach mit dem Pfarrer darüber. Der aber lächelte nur und meinte, dass die Säule, dieses gute Wesen, gewiss auch anderes zu tun haben könnte. Kurz danach erhielt Miriam eine SMS: ICH WERDE ANDERSWO GEBRAUCHT. BUSSI! DEINE SÄULE
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K3 Literaturpreis 2015 – Motto : Fantasy & Mystery – alle Einreichungen Miriam weinte, freute sich aber trotzdem sehr. Sie erzählte niemandem von der SMS außer mir altem Knaben, der dieses Geheimnis niemals weitersagen wird.
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K3 Literaturpreis 2015 – Motto : Fantasy & Mystery – alle Einreichungen 22 Codewort: Schreibfeder Kyras Entdeckung Kyra saß, wie so oft in letzter Zeit, am Rande der Gesaan-Schlucht und hing ihren Gedanken nach. Hier oben war es einfach herrlich. Die Natur rund um die Schlucht war so wild und unberührt, wie am anderen Ende des Kontinents, am unbewohnten Teil der Welt. Verschiedenste Farne in allen Grüntönen ragten aus der Erde. Die Strauch und Baumvielfalt war überwältigend. Alles war riesig. Kaum ein Mensch traute sich in die Nähe des Abgrunds. So konnte sich die Natur hier frei und ungestüm entwickeln und sich in ihrer ursprünglichsten Form zeigen. Nur ein schmaler Streifen vor dem Abgrund war unbewachsen geblieben. Kyra liebte diesen Ort seit sie ihn als kleines Mädchen das erste Mal, gemeinsam mit ihren Eltern und ihrer Schwester Tega, betreten hatte. Seit sie denken konnte, war es stets ihr großer Traum gewesen, so wie ihre Eltern einst und viele andere erwachsenen Bewohner ihres Dorfes, über die gewaltige Schlucht zu fliegen, auf dem Rücken eines der Zuchthörner, um herauszufinden was sich tatsächlich hinter dem Abgrund befand. Vor etwa neun Jahren betrat sie mit ihrem Vater einmal alleine diesen zauberhaften Ort. Er erzählte ihr damals die Entstehungsgeschichte der Schlucht. Kyra hatte jedes Wort das er sprach aufgesaugt wie ein Schwamm und noch heute konnte sie sich so gut daran erinnern als sei dies erst gestern gewesen. „Der Himmel war von einem Moment auf den anderen grell erleuchtet gewesen, etwas Gewaltiges schlug in rasender Geschwindigkeit, mit surrendem Getöse, auf die Welt ein. Es war ein herabgefallener Stern, ein Meteorit. Dieser riss dieses gewaltige Loch in den Boden und durchbohrte mit seiner Glut die Erdschichten, schmolz sich ins Innerste und teilte den Kontinent beinahe entzwei. So entstand diese gewaltige Schlucht. Der Stern jedoch, der diese Kluft erschuf, jenen nannten die Menschen Gesaan, darum der Name Gesaan – Schlucht. “ Ihre Eltern waren, wie so manch andere Erwachsene, über die Schlucht geflogen um nach Lebewesen auf der anderen Seite zu suchen. Ebenso wollten sie sich die Bedingungen, die dort herrschten, ansehen; inwieweit es möglich wäre drüben wieder Dörfer aufzubauen. Der Meteoritenkrater war vor zig Jahren entstanden, Kyras Eltern waren selbst noch Kinder gewesen als sie durch ihre Großeltern von seiner Existenz erfuhren. Lange wusste man nicht ob der andere Teil des Kontinents bewohnt war. Es sah nicht danach aus, da Urwald den gesamten Erdboden überwucherte. Doch mit Sicherheit konnte dies niemand sagen. So züchteten die Menschen in ihrem Dorf die einst wilden Einhörner, Zuchthörner genannt, welche kräftige Flügel besaßen, um mit ihnen über die Schlucht zu gelangen. Viele der Tiere scheuten jedoch, wurden nervös und wollten die Schlucht nicht überqueren. Zu tief war der Abgrund. Trotz der Fähigkeit große Distanzen in der Luft zurückzulegen, scheiterten einige Einhörner an dieser Aufgabe und stürzten ab. So war es auch ihren Eltern vor zwei Jahren ergangen. Sie waren beide mit ihren Zuchthörnern in die Tiefe gesunken und nie mehr aufgetaucht. Obwohl sie erfahrene Luftreiter gewesen waren. So war mit ihrem Verschwinden auch Kyras Jugend sowie der Traum zu Fliegen schlagartig zu Ende gewesen. Sie musste sich neben ihrer Schwester Tega um das Haus und ihr Auskommen kümmern. Hätte sie sich auf ein Zuchthorn gesetzt und wäre vielleicht auch nie mehr zurückkommen, was wäre aus ihrer Schwester geworden? Tega war nie begeistert gewesen vom Reiten und Fliegen. Es war für sie nie in Frage gekommen, so wie die Eltern, über die Schlucht zu segeln. Ihr Entdeckerdrang hierfür hielt sich arg in Grenzen. Auch das Jagen sagte ihr nicht zu. Wenn es für sie etwas Spannendens gab, so war dies Ihre Stickerei. Sie liebte es Tücher und Stoffe mit den schönsten Mustern zu verzieren. Diese versuchte sie wöchentlich auf dem Markt zu verkaufen. Doch hätte Kyra nicht nach Kaninchen gejagt und Fische gefangen, wären sie inzwischen vermutlich verhungert. Zu wenig Menschen kauften Stoffe, nicht zu Zeiten wie diesen. Doch kein Grund der Welt hätte Tega je auf den Rücken eines Hornes gebracht. Nach dem Unfall hatte sich Kyras Schwester nie wieder in die Nähe der Schlucht gewagt. Tega war, obwohl sie ein Jahr älter war als Kyra, nie mehr an diesen unheilvollen Ort, so wie sie ihn nannte, zurückgekehrt. Zu wild und gefährlich schien er ihr seither. Unvermittelt musste Kyra an das schwarze Wildhorn denken. Das einzige wilde, schwarze Einhorn, welches in der Steppe gefangen wurde, kurz vor dem Verschwinden ihrer Eltern. Kyra war damals noch ein wenig zu jung zum Fliegen gewesen. Doch spürte sie von jeher eine Verbindung zu dem Wildtier. Sie sah ihm, kurz nach seiner Ankunft im Lager, in seine tiefschwarzen Augen und spürte seine Kraft und seinen Freiheitsdrang. So wie sie war es, das wilde schwarze Einhorn, bereit in die Freiheit zu stürmen. Und doch sah sie etwas wie Neugierde in seinem Blick, ja fast so etwas wie Vertrauen.
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K3 Literaturpreis 2015 – Motto : Fantasy & Mystery – alle Einreichungen Vertrauen? Ihr gegenüber? Konnte das überhaupt sein? Es war ein Wildhorn! Eines der ganz wenigen, welches nicht vor einem Jahrzehnt eingefangen und von Menschenhand gezähmt wurde. Es war nicht gewöhnt eingesperrt sein zu müssen. Es konnte den Regen und die Sonne nicht mehr in ihrer ursprünglichen Intensität spüren und fühlte sich verlassen, trotz der anderen Hörner. Oft war Kyra in der Dämmerung heimlich zu den Ställen gelaufen um in seiner Nähe zu sein. Seltsamerweise hatte sich das Wildhorn ihr gegenüber nie wirklich abweisend gezeigt. Ihre Eltern hätten ihr trotzdem niemals erlaubt seinen Rücken zu besteigen. Zu gefährlich, hatten sie gemeint. Seit es die Einhornzucht gab, hatte noch niemand ein schwarzes Einhorn gefangen! Sechs Mann waren nötig gewesen das Wildhorn einzufangen. Alle andern Tiere waren weiß wie Schnee und mindestens zwei Kopf kleiner. Nur dieses eine war pechschwarz wie die Nacht, vom Horn über die gewaltigen muskulösen Flügel bis zu den Hufen. Das schwarze Einhorn könnte die Schlucht überwinden, dachte Kyra, es war stark und unerschrocken. Sie war sich sicher, wenn es jemand schaffen würde seinen Rücken zu besteigen, wäre es ein hervorragendes Flugtier. Diesen Gedanken musste sie jedoch für sich behalten, denn sonst hätte man sie noch für verrückt gehalten. Dem Menschen, der einst versucht hatte auf seinen Rücken zu steigen, hatte das schwarze Wildhorn in beide Arme und ins linke Bein gebissen. Es reagierte für gewöhnlich höchst aggressiv auf alles und jeden, der ihm zu nahe kam. So war es auch in eine eigene Box gesperrt worden, wo es nun einsam stand und vor sich hin vegetierte, ärgerte sich Kyra. Sie hatte sich diesem prachtvollem Tier immer mit einer großen Portion Respekt, jedoch ohne Angst, genähert und es hatte sie stets mit demselben neugierigen Blick gemustert, ohne erregt zu reagieren. Natürlich hatte Kyra stets den vorgeschriebenen Sicherheitsabstand zum Wildhorn eingehalten. Stets, außer in dieser einen Vollmondnacht. Damals, sie konnte nicht schlafen, lief sie ziellos im Lager umher und betrat schließlich auch die Ställe. Sie war in Gedanken versunken vor sich hin geschlendert als sie plötzlich innehielt. Sie stand direkt vor der Box des schwarzen Einhorns. Hocherhoben stand es im Stall, die Ohren gespitzt. Jedoch nicht feindselig. Kyra hatte den Eindruck das Wildhorn lege den Kopf etwas schief, gerade so als wolle es fragen, was tust du den hier um diese Zeit? Suchst du etwas? Kyra erschrak, da sie aus Unachtsamkeit, aus Gedankenlosigkeit dem Wildhorn nahe war wie nie zuvor. Sie wollte sich vorsichtig rückwärts bewegen und stolperte dabei so unglücklich über ein paar Eimer, dass sie nach vorne fiel. Mit beiden Armen stützte sie sich am harten Steinboden ab. Ihr Kopf stieß gegen die Box des Wildhorns. Verdattert stand sie auf. Kyras Kopf schmerzte. Leichter Schwindel machte sich in ihr breit. In diesem Moment trat das Wildhorn einen Schritt auf sie zu. Es hätte sie schwer verletzten können, doch das Wildhorn sah sie nur aus seinen dunklen Augen, mit gewohntem Blick, an und senkte sachte sein schwarzes Horn. Ganz zart berührte das Horn schließlich Kyras rechte Handfläche. Sie hatte sich beim Sturz eine tiefe Schramme zugezogen, welche sie erst in diesem Moment wahrnahm. Das Einhorn verhielt sich so vorsichtig, dass Kyra ihren Schreck vergaß und nur noch fasziniert zusah, als das schwarze Horn des Tieres zu schimmern begann. Eine zarte Kühle breitete sich in ihrer Handfläche aus und umhüllte ihre rechte Hand mit einem zarten, grauen Schleier. Es war ein angenehmes Gefühl und nahm ihr sofort den Schmerz. Kyras Augen weiteten sich noch mehr vor Erstaunen als die Schramme vor ihren Augen zu verschwinden begann. Das Wildhorn hatte mit seinem Horn ihre Wunde geheilt. Langsam hob es seinen Kopf empor. Seit dieser Nacht wusste Kyra, dass Schwarzhorn, wie sie das Tier seither nannte, ihr nie etwas zu leide tun würde. Ach, dürfte ich dich nur reiten, dachte sie bei sich. Doch die Erwachsenen ließen sie bei Tag nie so nah an das Wildhorn heran. Es galt als gleich gefährlich wie die große Schlucht. Plötzlich wurde Kyra aus ihren Gedanken gerissen. Sie war an der Gesaan - Schlucht nicht alleine. Ein knackendes Geräusch hatte sie je in die Realität zurückgeholt. Erschrocken drehte sie den Kopf nach hinten. Es war Tega! Was tat sie hier? Sie wollte doch nie mehr an diesen Ort zurückkehren. Wie konnte es sein, dass sie sich dazu aufraffte, nun doch zu kommen? Es musste etwas passiert sein! „Tega!“ rief Kyra aufgeregt. „Es ist etwas geschehen “ sagte Tega tonlos. Ihr Gesicht war kreidebleich. Sie blickte an ihrer Schwester vorbei, ins Leere. „Tega, um Himmels Willen, was ist denn passiert? Du klingst so seltsam!“ Kyra war aufgesprungen und schüttelte Tega sacht. Ihre Schwester antwortete, als sei sie in Trance. „Ich habe etwas geträumt. Sie haben uns gerufen! Nein, sie haben dich gerufen Kyra!“ „Wovon sprichst du? Tega bitte, sieh mich an. Wer hat nach mir gerufen?“ Tega riss sich von dem Anblick der Schlucht los und blickte Kyra direkt in die Augen. Ihr Blick klärte sich, als sie sagte,“ ich hatte einen Wahrtraum. Mama und Papa haben dich gerufen. Ich habe sie gesehen! Sie standen am Rande einer Höhle, glaube ich. Jedenfalls war nichts als Fels um sie herum und sie riefen deinen Namen. Immer und immer wieder. Dabei haben sie mit den Armen auf sich aufmerksam gemacht. Kyra, es war ein Wahrtraum, das spüre ich! Du weißt, dass ich von Urgroßmutter diese Gabe geerbt habe. Du,… du musst sie
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K3 Literaturpreis 2015 – Motto : Fantasy & Mystery – alle Einreichungen suchen. Sie leben noch! Sie sind… du musst… sie brauchen deine Hilfe!“ „Tega, hör dich nur mal selbst an, du redest wirres Zeug. Das ist doch Unsinn!“ Als Tega zornig den Kopf schüttelt und wieder zu sprechen ansetzte, kam Kyra ihr zuvor. „Du hast geträumt. Es war nur ein Traum! Unsere Eltern sind tot, dass weißt du doch“, sagte Kyra nun sanft. „Ja, ich weiß, dass wir das alle annahmen, als sie nicht zurückkehrten. Ich weiß, dass andere Dorfbewohner sahen wie sie mit ihren Flugtieren abwärts glitten. Doch niemand hat sie abstürzen sehen oder etwa um Hilfe schreien hören. Ich hatte einen Wahrtraum! Kyra, wirklich, sie leben. Ich spüre es!“ Kyra wandte sich ungläubig von Tega ab. „Noch etwas….“ Tega machte eine bewusste Pause, welche Kyra aufhorchen ließ. Diese blickte zu ihrer Schwester als Tega eindrücklich sagte. „Ich sah dich im Traum fliegen…… auf Schwarzhorns Rücken.“ Sie blickte Kyra fest an. Doch dies war nun nicht mehr nötig. Wie von Sinnen rannte Kyra los. In ihrem Kopf drehte sich alles. Schwarzhorn? Schwarzhorn! Das schwarze Wildpferd, welche alle für gefährlich hielten. Sie sollte auf seinem Rücken fliegen? Konnte es doch wahr sein? Hatte ihre Schwester einen Wahrtraum gehabt? Sie wusste, dass Tega diese Gabe besaß. Es war schon zwei Mal geschehen, dass sich ihre Träume nur Tage später bewahrheitet hatten. Tega wäre bestimmt nicht an diesen Ort gekommen, wäre sie sich nicht sicher gewesen. Doch wie konnte es sein, dass ihre Eltern, welche seit zwei Jahren verschwunden waren, nun doch noch am Leben und auf ihre Hilfe angewiesen waren? Kyra konnte sich dies einfach nicht vorstellen. Und doch wünschte sie sich nichts sehnlicher als das Tega Recht hatte. Sie war schon oft auf einem Zuchtpferd geritten. Jedoch noch nie war sie in die Lüfte gestiegen und geflogen. Sie hatte ihren Traum längst für immer aufgegeben. Doch nun sollte sich alles mit einem Mal ändern? Ihre Beine trugen sie wie von selbst Richtung Stall. Sie hielt kein einziges Mal, obwohl der Weg zwischen Schlucht und den Ställen kein geringer war. Völlig atemlos hielt sie schließlich direkt vor der Box des schwarzen Einhorns. Sie versuchte sich zu beruhigen indem sie sich zwang tief durchzuatmen. Sie wollte das Wildhorn nicht in Erregung bringen! Dann wäre alles umsonst gewesen. Dann wäre ich verletzt, bevor ich mich nur auf seinen Rücken wage, dachte sie. „Schwarzhorn“ sagte Kyra sanft und versuchte ihren Atem weiter durch tiefes ein und ausatmen zu normalisieren. „Schwarzhorn, wir machen einen Ausflug! Komm!“ Kyra öffnete sehr behutsam das Gatter und dachte bei sich, dass dies völlig verrückt sei. Erst jetzt bemerkte sie, dass niemand in der Nähe war um sie davon abzuhalten. Die Sonne hatte den Zenit erreicht. Alle waren um diese Zeit für gewöhnlich beim Essen. „Komm“ sagte Kyra noch einmal ganz sachte zum schwarzen Wildhorn. Dieses trat genauso sachte aus seiner Box und blieb dann widererwarten einfach stehen, so als warte es auf Anweisungen von Kyra. Es sah sie nur mit gewohnt neugierigem Blick an und war ganz ruhig. Seltsam, schoss es Kyra durch den Kopf. Sonst wurde es immer aggressiv wenn man ihm zu nahe trat, doch auf mich scheint Schwarzhorn zu hören. Ganz ruhig sprach sie weiter.“ Ich brauche deine Hilfe, Schwarzhorn. Du bist stark und mutig und du kannst bestimmt sehr weit fliegen. Lass mich auf deinen Rücken steigen. Ich werde mich ganz leicht machen. Versprochen! Ich werde dich nicht stören. Nur bitte, bring mich zur Gesaan – Schlucht und führe mich über die gewaltige Kluft hinweg. Wir müssen meine Eltern suchen. Sie sind dort irgendwo. Wir müssen sie finden! Bitte hilf mir!“ Was mach ich hier eigentlich, dachte sie bei sich. Ich flehe ein Einhorn um Hilfe an. Vielleicht versteht es überhaupt kein Wort von dem was ich sage. Doch als Kyra vorsichtig ihre Hand an Schwarzhorns Hals legte und anschließend darüber strich, erwiderte das Wildpferd diese Geste indem es mit seinem Kopf sacht ihre Schulter stubste. Kyra war fest entschlossen, es nun zu versuchen. Sie wollte auf den Rücken des Wildhorns steigen, um auf ihm zu reiten. Gelang es ihr tatsächlich, dann musste Tegas Traum wahr sein. Nur war Schwarzhorn riesig. Sie musste zuerst auf das Gatter klettern und von da aus auf seinen Rücken steigen. Kyra glaubte zu träumen. Es gelang. Schwarzhorn lies es gutmütig geschehen. Erst als sie ihm sachte in die Seiten stieß, setzte er sich in Bewegung. Er folgte ihren Anweisungen als hätte sie das Wildhorn täglich geritten. Beide verstanden sich auf Anhieb. Das ging eine Weile so. Dann kamen die ersten Menschen vom Mittagsmahl zurück und fingen an zu brüllen.“ Rettet das Mädchen!“ „Das Wildhorn ist ausgebrochen!“ „Schnell, kommt her!“ Alle riefen wirr durcheinander und wollten Schwarzhorn wieder einfangen. Von allen Seiten strömten immer mehr Menschen auf Kyra und das Wildhorn zu. Es blieb ihr nichts anderes übrig als zu fliegen. Wie sie es im Lehrbuch gelernt hatte, drückte Kyra mit ihren Händen auf die Stelle hinter den Ohren, nur um sich gleich danach umso fester an das Wildhorn zu klammern, denn dieses hob sogleich vom Boden ab. Kyra hatte Sorge, sie könne Schwarzhorn nicht steuern, doch dieser flog von ganz alleine. Sie brauchte ihm nur die Richtung zu weisen. Es funktionierte! Sie flog. Sie flog tatsächlich! Es war herrlich! Noch nie hatte sie so ein Gefühl der absoluten Freiheit in sich verspürt. Es war als verschmelze sie mit Schwarzhorn zu einem einzigen Wesen, welches nur Freiheit versprühte. So überwältigt war sie, dass sie zuerst gar nicht
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K3 Literaturpreis 2015 – Motto : Fantasy & Mystery – alle Einreichungen bemerkte, dass das Einhorn ganz von selbst Richtung Schlucht zusteuerte. Du kannst mich doch verstehen Schwarzhorn, schoss es ihr durch den Kopf. Und so glitten sie schließlich über die gewaltige Gesaan – Schlucht. Angst kannten sie beide nicht, weder Kyra noch Schwarzhorn. Nur die Freiheit zählte und das unbeschreibliche Gefühl erhaben über die Welt zu sein, durch die Lüfte zu segeln und einfach nur hier oben zu sein. So flogen sie eine geraume Zeit über die Gesaan- Schlucht. Kyra genoss die frische Luft und das Grün rund um die Kluft. Je weiter sie flogen umso eigenartiger war es über den Abgrund zu segeln. Kyra spürte keine Furcht, jedoch denselben Respekt vor der Tiefe, die sie stets vor Schwarzhorn gehabt hatte. Nicht einmal den kleinsten Fleck Boden konnte sie unter sich erkennen. Der Spalt der Gesaan – Schlucht ragte tatsächlich so tief in die Erde, dass nur ein schwarzes Nichts übrigblieb. Hier hinab waren ihre Eltern sowie zahlreiche andere Erwachsene verschwunden und nie mehr gesehen gewesen. Alle abgestürzt, in die Tiefe gefallen. So tief wie man es sich gar nicht vorstellen kann. Etwas wehmütig wurde es Kyra nun ums Herz. Ob es stimmte, dass ihre Eltern dies überlebt hatten? Wie sollte dies möglich sein? Wer hier abgestürzt war, hatte keine Chance. Oder? Tega beharrte stur darauf, dass die Leute im Dorf nur beobachtet hatten wie ihre Eltern abwärtssegelten, jedoch einen Absturz hatte niemand gesehen. Auch waren keine Hilferufe erklungen. Weshalb hätten Mama und Papa wortlos verschwinden sollen? Das ergab keinen Sinn. Oder waren sie so überwältigt gewesen, dass es ihnen vor Schreck die Sprache verschlagen hatte? Kyra wollte sich nicht länger den Kopf darüber zerbrechen. Sie waren nun einmal vor zwei Jahren verschwunden und sollten sie noch am Leben sein, so wollte sie nun alles dafür tun sie zu finden. Deshalb war sie ja hier. Etwa zwei Drittel der Strecke hatten sie inzwischen hinter sich gebracht. Das lange Fliegen, die dünne Luft, das ständige aufmerksam sein, all das machte sie müde. Kyra kämpfte gegen diese Müdigkeit an. Zur Sicherheit band sie sich mit einem Gurt an Schwarzhorns Rücken fest, kaum später gewann die Müdigkeit den Kampf und sie entglitt in einen traumlosen Schlaf. Wie durch ein Wunder war sie nicht einen Zentimeter vom Sattel gerutscht, als sie schließlich erschrocken erwachte. Vor ihr lag, keine 200 Meter entfernt, das Land hinter der Schlucht, der vermutlich unbewohnte Teil des Kontinents. Sie überflog ihn mit Schwarzhorn, um auf einen geeigneten Platz zum Landen, Ausschau zu halten. Schwarzhorn musste auch langsam müde werden, dachte Kyra bei sich. Sie waren nun viele Stunden unterwegs gewesen, ohne dass das Wildhorn sich eine Pause hätte gönnen können. Es gab nichts außer Urwald. Baum um Baum ragte gen Himmel. Nirgendwo gab es eine Möglichkeit zur Landung. Das geliebte Grün wurde nun zum Hindernis. Enttäuscht wendete sie das Wildhorn, sprach ihm gut zu und suchte am Rande der Schlucht weiter nach Landemöglichkeit. Das war der Grund weshalb sie abgestürzt sind, schoss es Kyra durch den Kopf. Die Zuchthörner waren zu erschöpft um nach so langer Zeit noch zu fliegen. Sie hätten landen müssen. Nur so hätten sie genügend Kräfte sammeln können um zurückzufliegen. Es gab auch keinen Hinweis darauf, dass je Menschen im grünen Dickicht gelandet wären. Das Blätterdach war vollkommen zugewachsen. Immer noch war Kyra auf der Suche nach einer Landemöglichkeit. Schwarzhorn war sehr kräftig und ausdauernd, jedoch früher oder später würde selbst er ermüden. Das wäre das Ende. Nein, so durfte sie nicht denken. Es war nötig einen kühlen Kopf zu bewahren und weiter nach Landeflächen Ausschau zu halten. Doch sie hatten kein Glück. Bis zum Abgrund hin war alles überwuchert. Kyra musste eine andere Lösung finden. Hatte nicht Tega etwas von einer Höhle erzählt? Eine Höhle im Fels? Kyra versuchte ruhig zu bleiben und sich an Tegas Worte genau zu erinnern. Sie setzte zum Sinkflug an und blickte aufmerksam um sich. Alles was sie jetzt entdecken würde, rettete ihnen womöglich das Leben. Sie hielt Ausschau nach der Höhle von der Tega sprach. Es war Kyra bewusst dass dies Wahnsinn war, doch was blieb ihr anderes übrig als sich auf den Wahrtraum ihrer Schwester zu verlassen. „Noch ein Stückchen tiefer, Schwarzhorn!“ rief sie. Langsam glitt dass Wildhorn abwärts. So muss es auch bei unseren Eltern gewesen sein, sie waren auf Sinkflug gegangen und für die Bewohner des Dorfes sah es aus als ob sie abstürzten. Aber weshalb sind sie nicht mehr zurückgekehrt? Es war nun nicht die rechte Zeit um sich über solcherlei Fragen den Kopf zu zerbrechen. Kyra sank mit Schwarzhorn weiter ins Kraterinnere. Es wurde kühler und dunkler rund um sie herum. Wie sollte sie hier eine Höhle oder Ähnliches finden. Selbst wenn sie eine Höhle fand, war genügend Platz zum Landen vorhanden? Kyra war nahe vor dem Aufgeben, längst taten ihr alle Konchen weh vom langen Ritt und ihre Kehle war trocken wie nie zuvor, als sie schließlich doch Etwas entdeckte. Die Rettung! Wie in Tegas Traum, sah die erschöpfte Kyra in der Ferne eine Höhle, davor bewegten sich zwei Gestalten. Kyra dachte sie träume. Nein sie musste schon phantasieren. Es waren zwei Menschen die wild mit den Armen gestikulierten. Waren das Mama und Papa? Das konnte nicht sein! Mit letzter Kraft steuerte sie auf die Gestalten zu. Vielleicht konnten sie ihr und dem
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K3 Literaturpreis 2015 – Motto : Fantasy & Mystery – alle Einreichungen Wildhorn noch irgendwie helfen. Ganz weit entfernt hörte sie ihren Namen rufen, immer und immer wieder, bevor sie in die Bewustlosigkeit sank. Als Kyra erwachte, sah sie über sich zwei sie liebevoll anblickende Gesichter. „Mama? Papa?“ brachte sie trocken hervor. Ihre Eltern halfen ihr hoch, gaben ihr Wasser zu trinken und umarmten sie herzlich. „ Wo ist das Wildhorn?“ fragte sie mit heiserner Stimme. Überall um sie herum war Fels. Sie waren tatsächlich in einer Art Höhle. „ Dem wilden Einhorn geht es gut!“ versicherte ihr Vater. „Es trinkt gerade unseren halben Brunnenvorrat leer!“ scherzte er. „Wie hast du uns nur gefunden Kyra?“ fragte ihre Mutter sanft. „Tega! Sie hatte einen Wahrtraum. Sie hat euch gesehen!“ Kyra erzählte ihren Eltern alles und diese wiederum erzählten ihr ihre Geschichte. Dass sie keine Möglichkeit zum Landen auf dem Land gefunden hatten. Dass sie im Fels nach möglichen Unterschlupfen gesucht hatten, da ihre Tiere schon ganz erschöpft gewesen waren. Und dass sie diese faszinierende, unterirdische Welt hier fanden. Erst jetzt sah sich Kyra richtig um. Es war wahrhaftig erstaunlich wo sie sich befand. Es war ein Dorf unter der Erde, eine richtige Zivilisation. Nicht nur eine schlichte, kahle Höhle. Sie verließ ihr Lager und kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. „Aber weshalb unterirdisch?“ fragte sie. „Weil oben die Wildnis regiert! Kein Mensch hätte dort lange überlebt. Es gibt dort keinen Tropfen Wasser.“ „Das stimmt nicht, Mama! Die Bäume……“ . „Die Wurzeln der Bäume reichen tief, sehr tief Kyra“, unterbrach sie ihre Mutter. „Die Atmosphäre auf der Oberfläche des Kontinents hat sich so hingehend veränder,t dass es dort kein Wasser mehr gibt. Nur unterirdisches Leben ist hier möglich. Die Natur hat es geschafft sich dem anzupassen doch wir Menschen verfügen nicht über solche Gaben. „Weshalb seid ihr nicht wieder zurückgekehrt?“ fragte Kyra unvermittelt. „Wir konnten nicht! Unsere Zuchthörner sind abgestürzt, waren zu erschöpft gewesen. Ohne sie sind wir hier machtlos“ erklärte ihr Vater. „ Aber Schwarzhorn….!“ „Das Wildhorn birgt ganz andere Kräfte in sich als unsere Zuchttiere. Ihm geht es gut. Es konnte, nachdem es dich zu uns brachte, auf einem schmalen Felsvorsprung landen und wurde sofort von anderen unterirdischen Bewohnern mit Nahrung versorgt. Erstaunlich wie zahm es wirkt.“ „Wie viele Menschen leben hier?“ wollte Kyra wissen. „Inzwischen sind es ein paar Hundert!“ meinte ihr Vater. Kyra sah sich staunend um. „Ein paar Hundert „ wiederholte sie. „Und sie alle kommen von unserer Seite? Und konnten nicht mehr zurück?“ „Ja Kyra!“ „ Was ist mit den Menschen die vor dem Meteoriteneinschlag auf dem Land lebten? Sind sie auch hier?“ „Bis heute haben wir noch keinen gesehen. Doch das muss nicht heißen, dass es keine Überlebenden gab. Die Erde ist tief und das Land sehr groß. Und du darfst nicht vergessen, dass wir hier ganz am Rande zum Abgrund leben.“ „Kommt ihr mit mir nach Hause?“ „Ja, Kyra, aber natürlich kommen wir mit nachhause! Wir haben dich und deine Schwester so schrecklich vermisst! Andere Forscher werden hier bleiben und versuchen das Geheimnis des Fels und dieser unterirdischen Welt zu ergründen. Doch wir werden mit dir gehen. Zuhause werden wir alles, was wir herausgefunden haben, auf Schriftrollen festhalten. Es wird uns an nichts fehlen Kyra!“ Kyra war so froh dies zu hören, dass sie sofort aufbrechen wollte. „Es gehört noch alles vorbereitet und wir müssen uns noch von unseren Mitbewohnern und Freunden hier verabschieden“ bremsten sie die Eltern. Jedoch nach der Verabschiedung ging es direkt, auf den Rücken des schwarzen Wildhorns, Richtung Heimat. Kyras Eltern staunten erneut über die Zahmheit des Wildpferdes. Ihre Tochter erzählte ihnen alles über das Wildhorn, über die Nacht, wo es mit seinem Horn ihre Wunde geheilt hatte und auch alles weitere. Während sie am Abendhimmel immer weiter Richtung Heimat flogen, Tega winkte schon begeistert von der Ferne und rief ihnen zu, meinten ihre Eltern, das schwarze Einhorn sei etwas ganz Besonderes. „So wie ihr zwei, Tega und du, Kyra, etwas ganz Besonderes seid!“ ENDE
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K3 Literaturpreis 2015 – Motto : Fantasy & Mystery – alle Einreichungen 23 Codewort: Mellon Das Tor ins Ungewisse Wie ein Vogel flog Seraphina auf ihrem Pegasus Arnas über Wiesen und Felder. Der Wind ließ ihre Haare tanzen und die Sonne wärmte ihr Gesicht. Sie fühlte sich frei. Frei von Mühsal und Kummer. Seit einem Monat war sie nun schon unterwegs. Sie musste sich immer in Richtung Westen halten. Das hatte ein alter Mann ihr geraten. Und da flog sie nun über Wiesen und Felder, Berge und Täler auf der Suche nach Tiron dem Seher, dem einzigen Engel, der ihr helfen konnte. Es war schwierig, sein Haus zu finden, doch das Mädchen war fest entschlossen, zu ihm zu gelangen. Leichtfüßig ließ sie ihren Pegasus auf den Boden gleiten und stieg schließlich ab. Arnas faltete majestätisch seine gewaltigen Flügel zusammen und blickte sie abwartend an. Er hatte es gut. Er brauchte sich keine Sorgen um das nächste Essen oder dergleichen machen. Er lebte immer im hier und jetzt. Seraphina ´s Eltern waren gestorben als sie drei Jahre alt gewesen war und so hatte sie sich schon sehr früh selber am Leben halten müssen. An diese Zeit konnte sich das Mädchen jedoch kaum noch erinnern. Denn wenige Monate später hatte Will, ihr Bruder sie gefunden. Ohne zu zögern hatte er sie zu sich genommen und die Rolle der Eltern, des Bruders und des besten Freundes übernommen. Seit diesem Tag waren sie unzertrennlich gewesen. Doch dann war der geflügelte Löwe gekommen und hatte ihn ihr genommen. Den einzigen Engel, an dem ihr Herz hing. Ihr Bruder war ein sehr weiser Engel gewesen. Oft hatte er Seraphina von der anderen Welt erzählt, die angeblich tief unter der ihren lag. Erde hatte er sie genannt. In alten Zeiten waren diese zwei Welten eng miteinander verbunden gewesen. Die Engel hatten die Humani, so nannte man die Bewohner der anderen Welt, begleitet und behütet. Wie ein Schatten waren sie ihnen gefolgt, hatten in der Nacht über ihren Schlaf gewacht und ihnen schöne Träume geschickt. Es war wie eine Bruderschaft gewesen. Der Ältere passte auf den Jüngeren und Schwächeren auf. Denn Humani hatten keine Flügel und waren viel kleiner und zarter als die vergleichsweise mächtigen Engel. Doch diese Bruderschaft dauerte leider nicht ewig. Denn die Humani wurden eifersüchtig auf die Engel. In ihrem Neid begannen sie sich einzureden, dass Engel nur Hirngespinste waren und in Wirklichkeit gar nicht existierten. Und mit Erfolg. Langsam wurden die Augen der Humani immer trüber und die Gestalten der Engel verblassten. Zwar folgten und behüteten die Engel sie noch einige Zeit lang, doch auch die Welten entfernten sich durch die zunehmende Feindseligkeit immer weiter von einander und es wurde immer schwieriger, auf dem Weg von der einen in die andere nicht im Weltall verloren zu gehen. Schließlich sah sich der König der Engel dazu gezwungen, die Tore der beiden Welten zu schließen und endgültig heimzukehren. Doch die Erinnerung blieb tiefverwurzelt in den Herzen der Humani sitzen. Denn die Engel wurden viele hundert Jahre später als Zeichen von Geborgenheit und Schutz verehrt. Und tief im Inneren sehnen sie sich nach dieser Geborgenheit und Freundschaft. Tiron, der Seher wurde zum Wächter der Tore bestimmt. Seither wachte er über die Verbindung der beiden Welten. Sein Haus liegt tief in einem Wald, verborgen und nicht für jedermann zuständig. Nur wer den Weg dorthin kennt oder über großes Durchhaltevermögen verfügt, kann zu ihm und dem Tor gelangen. Oft hatte sich das Mädchen vorgestellt, dass ihr Bruder nun auf der Erde weiterleben würde und auf sie warte. Damals hatte sie sich geschworen, dass sie eines Tages aufbrechen und sich auf die Suche nach ihm machen würde. Vor einem Monat war es schließlich soweit gewesen und Seraphina hatte sich aufgemacht, um Tiron aufzusuchen.
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K3 Literaturpreis 2015 – Motto : Fantasy & Mystery – alle Einreichungen Vorsichtig betrat Seraphina den dunklen Wald, der sich vor ihr erstreckte. Eine Dunkelheit und Kälte ging von den Bäumen aus. Sie wäre gerne darüber hinweg geflogen, doch das Haus des Sehers lag, wenn man den Engeln in der Umgebung Glauben schenken konnte, genau in der Mitte des Waldes. Arnas schien nervös zu sein. Wie jeder Pegasus spürte er die Gegenwart feindseliger Gestalten. Vor ihnen zeichnete sich schwach auf dem Waldboden ein heller Weg ab. Man hatte ihr geraten, nicht von ihm abzuweichen. Denn im dunklen Gestrüpp lauerten tödliche Gefahren. So begann sie auf dem Pfad immer tiefer in den Wald hinein zu marschieren. Arnas folgte ihr beunruhigt. Die Äste der Bäume griffen nach ihnen als sie an ihnen vorübergingen und je tiefer sie in den Wald eindrangen, desto schwieriger wurde es, den Weg unter dem Dickicht nicht zu verlieren. Doch Seraphina war eine erfahrene Fährtenleserin und so kam es, dass sie bereits weit gegangen waren, als die Sonne langsam unterging. Sie begannen sich einen Platz für die Nacht zu suchen, der einigermaßen Schutz bot. Schließlich fanden sie eine verlassene Höhle. Das Mädchen schlug ihr Nachtlager auf und machte Feuer. Nachdenklich saß sie neben den wärmenden Flammen, den Rücken an Arnas gelehnt und blickte hinauf zu den Sternen. Unwillkürlich musste sie an Will denken. Was machte er wohl gerade? Ob es ihm gut ging, dort wo er war? Schließlich schlief Seraphina dicht an Arnas gekuschelt ein. Am nächsten Morgen brachen sie gleich nach Sonnenaufgang auf. Der Tag versprach Unwetter. So beeilten sie sich, um vorher noch so viele Meilen wie möglich hinter sich zu lassen. Doch sie waren noch nicht weit gekommen, als sie plötzlich einen Hilfeschrei vernahmen. Alarmiert duckte sich Seraphina hinter einem der Büsche nahe des Pfades. Auch Arnas ging in Deckung. Die Geräusche wurden immer lauter und bald kamen drei große Unholde in Sicht. Einer hielt eine kleine Fee in seiner gewaltigen Pranke. Unholde waren große, dunkle Geschöpfe, die stets den Drang hatten, alles Schöne zu zerstören. In früheren Tagen waren sie viel zahlreicher gewesen und hatten in großen Städten gelebt. Doch der Krieg, mit dem sie den Engelkönig, dem Herrscher von Menelia stürzen wollten, vernichtete den Großteil der Unholde und zerstreute sie in alle Richtungen. Seither streiften sie durch die dunkelsten Wälder des Landes und lebten wie Tiere in Höhlen oder in eigens angefertigten Tunneln unter der Erde. Die kleine Fee schrie verzweifelt um Hilfe. „Jetzt halt endlich die Klappe!“, brüllte der größte Unhold sie an. Unholde hatten eine Vorliebe für Feeneintopf. Außerdem versprach ihr Feenstaub Glück und Reichtum zu bringen, wenn man sich täglich damit bestäubte. Doch was die meisten nicht wussten war, dass er üblen Ausschlag und Juckreiz verursachte. Die Unholde waren nun auf gleicher Höhe mit dem Busch, hinter dem sich Seraphina versteckte. Wenn sie nicht neben der Fee im Suppentopf landen wollte, musste sie bald etwas unternehmen. Panisch überlegte sie, was sie tun sollte. Doch die Angst machte es ihr unmöglich einen klaren Gedanken zu fassen. Schließlich ergriff sie einen Stein, der neben ihr lag und warf ihn in das Dickicht. Die Unholde horchten auf. „Was war das?“, fragte der Kleinste von ihnen. „Ich weiß es nicht“, antwortete der Größte, „Geh und schau nach!“ „Nie im Leben!“, protestierte der Kleine, „Ich werde sicherlich nicht mein Leben für euch aufs Spiel setzen! Geh selber!“ „Jungs! Jetzt hört auf zu streiten!“, mischte sich nun auch der dritte Unhold ein, „Das bringt uns jetzt auch nicht weiter“ „Warum muss er eigentlich nie gehen?“, fragte der Kleinste den Großen. „Stimmt!“, rief dieser, „Geh du doch nachsehen, wenn du nichts Besseres zu tun hast, als uns blöd anzuquatschen!“ Das Gute an Unholden war, dass sie strohdumm waren. Seraphina war es bis heute ein Rätsel, wie es ihnen gelungen war einen Krieg anzuzetteln. Während die drei dunklen Gesellen miteinander weiterstritten, überlegte das Mädchen, was sie tun konnte. Die Fee hatte sie bereits entdeckt und schien nicht mehr so verzweifelt zu sein. Angestrengt dachte der Engel nach. Schließlich kroch sie vorsichtig unter dem Gebüsch hervor. Sie musste es schaffen, die Fee aus
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K3 Literaturpreis 2015 – Motto : Fantasy & Mystery – alle Einreichungen den Fängen des Unholdes zu bekommen, ohne dass sie selber geschnappt würde. Die drei Unholde hatten nun begonnen, sich zu prügeln. Aggressiv schlugen sie aufeinander ein und zerrten sich gegenseitig zu Boden. Als einer den Größten angriff, ließ dieser die Fee einfach achtlos fallen. Da ihre Flügel im Griff des Unholdes sehr zerdrückt worden waren, schaffte sie es nicht, zu fliegen. Sie sauste durch die Luft in Richtung Waldboden. Schnell stürzte Seraphina zu ihr und fing sie knapp vor dem Boden auf. Die Unholde waren so damit beschäftigt, sich gegenseitig zu verprügeln, dass sie die Gestalt nicht bemerkten, die sich leise mit ihrer Fee und einem Pegasus davonmachte. Erschöpft ließen sich die gerettete Fee und Seraphina ins weiche Moos sinken. Sie waren den ganzen Weg über gerannt. Die Kehle brannte Seraphina wie Feuer und ihr Herz schien ihr aus der Brust zu springen. Der Fee ging es nicht anders. Laut keuchend hielt sie sich an den Ästen eines Strauches fest. Nachdem sie sich ein wenig erholt hatten packte Seraphina ihren Proviant aus und begann zu essen. Der Fee gab sie natürlich auch etwas ab. Denn eine Fee böse zu stimmen war keine gute Idee. Die kleinen Dinger waren furchtbar nachtragend und eitel. „Wie heißt du eigentlich?“, fragte der Engel die Fee. „Mein Name ist Felizitas!“ antwortete das kleine Geschöpf würdevoll, „Ich danke dir übrigens für meine Rettung. Auch wenn es ruhig ein bisschen schneller hätte gehen können. Meine Flügel fühlen sich jetzt noch ganz taub an.“ Seraphina ignorierte die Bemerkung kopfschüttelnd und fragte stattdessen: „Kennst du vielleicht zufällig den Weg zum Haus von Tiron dem Seher und könntest du mich dorthin führen?“ Die Fee schaute sie missbilligend an. „Natürlich kenne ich den Weg zum Seher. Wer kennt den nicht? Allerdings hat alles seinen Preis“, erwiderte sie mit einem Seitenblick in Seraphina ´s Richtung. „Was willst du dafür haben?“, fragte der Engel sichtlich genervt. „Eine Engelhand voll Wolkensteine.“ Die Augen der Fee begannen bei ihren Worten zu leuchten. „Na schön“, willigte Seraphina widerwillig ein. Denn Wolkensteine waren nur schwer zu bekommen. Man musste tief in die Erde ein Loch graben, bis man die Wolkendecke erreichte, auf der Menelia, ihre Welt, lag. Danach musste man ein paar Wolkenfetzen nehmen und diese schockgefrieren. Wenn man dann die erstarrte Masse auf den Boden warf, erhielt man wunderschöne, kleine Kristalle. Nachdem alle wieder zu Kräften gekommen waren führten sie ihre Wanderung fort. Diesmal mit der Fee als Wegweiser. Doch schon bald begann es heftig zu regnen. Es goss wie aus Eimern auf sie herab. Fluchend riss die Fee ein großes Huflattichblatt aus und hielt es sich schützend über den Kopf, damit ihre Flügel nicht nass wurden. Seraphina musste schmunzeln. Sie war froh, Flügel aus Federn zu haben, denen der Regen nichts ausmachte. Als es schließlich aufhörte zu regnen, waren sie alle drei bis auf die Haut durchnässt. Sie hatten beschlossen, an diesem Tag nicht mehr weiter zu gehen und suchten sich nun einen Platz zum schlafen. Seraphina war erschöpft und müde und das ewige Geschimpfe der Fee machte das auch nicht besser. Auch Arnas schien am Ende seiner Kräfte zu sein. Sie waren einige Male von kleinen Dämonen angegriffen worden, die sie bestehlen wollten. Dem letzten Angriff waren sie nur mit knapper Not entkommen. Die Beine taten ihnen weh, sodass sie sich kaum noch aufrecht halten konnten. Nach einer gefühlten Ewigkeit fanden sie endlich eine Höhle. Erleichtert stürzten sie darauf zu. Seraphina brachte es kaum zustande, ein Feuer zu machen, so müde war sie. Mit letzter Kraft schälte sie sich aus ihren triefnassen Kleidern, wickelte sich in ihre warme Decke ein und fiel sofort in einen tiefen Schlaf. Die Fee tat es ihr gleich, wenn auch nicht, ohne sich über den mangelnden Komfort zu beklagen. Am nächsten Morgen brachen sie früh auf. Die Fee sah erbärmlich aus. Feen waren von Natur aus Langschläfer und Felizitas hatte sich zusätzlich noch eine schlimme Erkältung geholt. „Das gibt Extrakosten“, schimpfte sie unter lautem Niesen, „Wir haben nie vereinbart, dass ich euch bei Regen und Sturm durch Stock und Stein führe. Nein! Für so etwas bin ich einfach nicht gemacht. Ich hoffe nur, dass ich mir keine Lungenentzündung geholt habe. Ich sag es noch einmal: Ich verlange eine Erhöhung meiner Bezahlung!“
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K3 Literaturpreis 2015 – Motto : Fantasy & Mystery – alle Einreichungen Seraphina überdrehte nur die Augen. Diese kleinen Biester konnten gewaltig nerven. Doch ohne sie würde sie Tiron ´s Haus wahrscheinlich noch einen weiteren Monat lang suchen. So vergingen die Tage bis sie eines Nachmittages plötzlich auf eine große Waldlichtung stießen. Vor ihnen erstreckte sich eine riesengroße Wiese. Die Luft war erfüllt vom Summen hunderter Bienen und große, bunte Blumen bedeckten das üppige Gras. Noch nie in ihrem Leben hatte Seraphina so schöne und große Blumen gesehen. Sie schlängelten sich an den Stämmen der Bäume entlang hinauf in ihr Geäst oder tanzten im Wind zum Himmel empor. Am Rand des Waldes standen kleine Häuschen, in denen sich Bienenstöcke befanden. Große Schmetterlinge tanzten um Blumen und Bäume und der Wind streifte sanft durch Blätter und Gräser. Völlig berauscht von der Schönheit dieses Ortes strich der Engel mit den Fingern über Blüten und Gräser. Es war die Fee, die sie aus ihrer Trance riss. „Können wir weitergehen oder willst du hier Wurzeln schlagen?“, fragte sie so laut, dass es Seraphina hören musste, „Ich habe nicht ewig Zeit, den Wegweiser zu spielen.“ „Schon gut“, erwiderte das Mädchen verärgert, „Ich komme ja schon.“ Sie durchquerten die Weide und folgten einem Pfad, der wieder in den Wald hinein führte. Allerdings standen die Bäume diesmal viel weiter auseinander, sodass der Weg deutlich zu sehen blieb. Alles sah hier viel gepflegter und einladender aus. Gemeinsam mit Arnas, der sich auf der Wiese mit Gras und Wiesenkräutern gestärkt hatte, wagte Seraphina es sogar ihre Flügeln auszubreiten und in die Luft empor zu steigen. Leichtfüßig glitt sie durch die Luft, immer der Fee nach. Sie musste an die Humani denken, die dieses Gefühl der Schwerelosigkeit und Freiheit nie erleben konnten. Und für einen kurzen Moment verstand sie den Gram und die Eifersucht, die sie angesichts ihrer geflügelten Gefährten verspürt hatten. „Hier liegt das Haus von Tiron dem Seher“, sagte Felizitas schließlich nach Stunden des Fliegens und Wanderns. Sie waren an weiteren, kleineren Lichtungen vorbeigekommen und hatten einige Bäche überquert. Nun standen sie vor einem gigantischen Baum am Waldrand, in welchem eine Tür und mehrere Fenster eingearbeitet waren. Der Baum war innen hohl. Doch er schien trotzdem zu leben, denn seine Äste waren eingehüllt in große Bätter und Wolkenfetzen. Seraphina traute ihren Augen kaum. Sie hatte ihr Ziel wirklich erreicht. Staunend flogen sie näher, bis sie an der großen Tür angelangt waren. Für einen Moment lang zögerte der Engel. Konnte Tiron ihr wirklich das geben, wonach sie suchte? Konnte er wirklich das Tor in die Welt der Humani öffnen? „Worauf wartest du? Klopf an!“, rief Felizitas ungeduldig, „Ich bin dann übrigens weg. Die Pflicht ruft! Lege meine Bezahlung bitte vor das Haus. Ich hol sie mir dann ab.“ Mit diesen Worten verschwand sie und ließ Seraphina alleine auf der Türschwelle stehen. Schließlich fasste sie sich ein Herz und klopfte an. Ein großer Engel mit silberfarbenen Augen öffnete die Tür. Er trug ein hellblaues Gewand und blickte sie warmherzig an. Sein Blick schien sie zu durchbohren, sodass sie den Kopf senken musste. „Du suchst einen Weg in die andere Welt um deinen Bruder wiederzufinden“, sprach er mit samtener Stimme, „Du bist bereit, alle Gefahren auf dich zu nehmen und das Tor zu betreten, das die beiden Welten miteinander verbindet. Ist das wahr?“ „J-ja.“, brachte Seraphina mühsam heraus. Sie war überfordert und eingeschüchtert von der Größe, Kraft und Weisheit, die der Engel ausstrahlte. Auch wenn sie gewusst hatte, dass Tiron nichts entging, was in Menelia vor sich ging, so war sie doch überrascht, dass er den Grund für ihr Herkommen kannte. Nachdem er sie abermals durchdringend angesehen hatte, sagte er schließlich: „Nun, wenn das so ist, dann folge mir.“ Er drehte sich um und Seraphina folgte ihm in einen großen, hellen Raum. In der Mitte befand sich eine steinerne Plattform. Tiron stieg darauf und bedeutete Seraphina, es ihm gleich zu tun. Geräuschlos fuhr die Plattform in den Boden. Immer tiefer glitten sie unter die Erde, bis sie schließlich stehen blieben. Und als Seraphina sich umblickte, stockte ihr der Atem. Sie befanden sich in einer Höhle, an deren Wänden dünne Wasserrinnsale herab flossen. Vor ihr stand das große Tor. Der Boden der Höhle war
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K3 Literaturpreis 2015 – Motto : Fantasy & Mystery – alle Einreichungen bereits von einer Wolkenschicht bedeckt. Dies war das Ende ihrer Welt und Millionen von Meilen unter ihnen musste das Erdreich liegen. Fasziniert beobachtete das Mädchen Tiron dabei, wie er die Torflügel mithilfe eines großen Hebels öffnete. „Bist du dir noch immer sicher, dass du dein Vorhaben ausführen möchtest?“, fragte der Engel, „Es ist noch nicht zu spät, umzukehren.“ „Ich bin mir sicher!“, antwortete Seraphina bestimmt. „Dann werde ich dir jetzt deine Flügel abnehmen, sodass du als Humani auf der Erde leben kannst. Denn als Engel würde dich dein Bruder wahrscheinlich nicht sehen können.“ Seraphina nickte und sah zu, wie die Augen des Engels zu leuchten begannen und ihre Flügel von ihr abfielen. Wie in Trance schritt sie auf das Tor zu. „Und jetzt spring“, rief Tiron und das Mädchen ließ sich in die Tiefe fallen.
Licht umgab sie. Nichts als Licht. Es umhüllte sie wie eine zweite Haut. Vor ihr erstreckte sich ein großer Tunnel. Er leuchtete in allen Farben, die Seraphina je gesehen hatte. Sie sauste hindurch, wie ein abstürzender Stern. Um sie herum tauchten Bilder auf. Erinnerungen, die tief in ihrem Inneren vergraben gewesen waren. Das Bild ihrer Eltern zog an ihr vorüber, ebenso wie Erlebnisse und längst vergessene Gedanken. Sie sah das Bild ihres Bruders. Doch dann umhüllte sie Dunkelheit. Sie würde als Säugling zur Welt kommen, und dann konnte sie mit ihrer Suche beginnen.
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K3 Literaturpreis 2015 – Motto : Fantasy & Mystery – alle Einreichungen 24 Codewort: Andorra Kleines Monster, große Wirkung Alfred trat erschöpft, aber glücklich in seine Wohnung, stellte die Aktentasche aus Wildleder auf der Garderobe ab und schloss die Tür. Er nestelte mit klammen Fingern an den Knöpfen seines Mantels bis sie aufsprangen. Draußen pfiff ein kalter Nordwind und er freute sich schon auf ein heißes Bad. Lächelnd ließ Alfred die letzten Stunden Revue passieren: er hatte dutzende Hände geschüttelt und war Leuten vorgestellt worden, deren Namen er gleich wieder vergessen hatte - vor allem aber hatte er so viele Bücher signiert, dass ihm das rechte Handgelenk schmerzte. Er war stolz, dass sein neuestes Werk beim Publikum gut angekommen war. „Schatten“ war der letzte Band einer Mystery-Trilogie, die von der Jagd nach einem übernatürlichen Serienmörder handelte. Nach dem Bad wollte er sich einen gemütlichen Abend machen, sich eine Bloody Mary mixen und „Die Vögel“ auf DVD ansehen. Geistesabwesend hängte er seinen Mantel an den Hutständer, zog die tropfnassen Schuhe aus und ging ins Bad. „Da bist du ja endlich!“ Alfred zuckte ein wenig zusammen, als er die Stimme vernahm, hatte aber keine Angst. Manchmal, wenn er ein Buch zu Ende gebracht hatte, hörte er die Stimmen seiner Protagonisten nachhallen. Selten waren es ganze Sätze, aber er vermutete, dass seine Nerven nach der Präsentation einfach überreizt waren. Er war von Haus aus wenig schreckhaft – eine Eigenschaft, die ihm bei seinem Beruf und seinen Hobbys nur dienlich war. So sammelte er mit Leidenschaft Filmrequisiten, die er in seiner Wohnung ausstellte. Besonders stolz war er, einen der Werwölfe aus „Dog Soldiers“ ersteigert zu haben. „Sally“, wie er das Monstrum getauft hatte, stand nun mit hoch erhobenen Pranken in seinem Wohnzimmer. Seine besten Einfälle hatte Alfred gehabt, wenn er in dem gemütlichen Ohrensessel neben Sally an seinen Geschichten tüftelte. Neben Sally nannte er einige Requisiten aus „Der Herr der Ringe“ sein Eigen, einen Kelch, der Alistair Crowley gehört hatte und eine schier unzählbare Menge an DVDs und Büchern, die Alfreds ausgewählten Geschmack in Sachen Mystery und Fantasy widerspiegelten. Unter anderem hatte er es geschafft, den Director's Cut zu „Farben der Magie“ zu ergattern. Alfred liebte seine Sammlung. Er fand es nur ein wenig schade, dass er noch keine Frau gefunden hatte, die seine Leidenschaft teilte. Die meisten suchten das Weite sobald sie Sally sahen. Nur eine war ein bisschen länger geblieben, aber die hatte Alfred höchstpersönlich vor die Türe gesetzt, als sie in etwas „Bequemeres“ schlüpfen wollte und in Lack und Leder gequetscht wieder aus dem Bad kam. Während das Wasser in die Wanne brauste, zog Alfred sich aus und glitt sanft in das duftende Nass. Dann legte er den Kopf in den Nacken und stöhnte erleichtert auf. Seine Gedanken kreisten um „Schatten“ und die Trauer, die er empfand, weil er sich nun wieder ein neues Thema suchen musste. Ein Buch abzuschließen hieß immer, einem – wenn auch fiktiven – Teil seiner Lieben „Auf Wiedersehen“ zu sagen. Immerhin hatten ihn die Protagonisten der Trilogie sechs Jahre lang überall hin begleitet. Worüber sollte er jetzt schreiben? Oder sollte er sich eine Schaffenspause gönnen? Vielleicht eine Geschichte über homosexuelle Vampire? Alfred kicherte. Was wohl Stephenie Meyer oder Anne Rice dazu sagen würden? „Jetzt reicht's aber! Alfred, reiß' dich zusammen! Das kannst du besser!“ Wasser schwappte über, als der Autor sich ruckartig in der Badewanne aufsetze. Die Stimme war zurück! „Du solltest was Authentisches schreiben. Nicht so wie die beiden. Weißt du, was ich der Meyer immer und immer wieder gesagt habe?“ Alfred schüttelte unwillkürlich den Kopf. „'Wenn ich in die Sonne könnte, glaubst du wirklich, dass ich freiwillig um Mitternacht bei dir auftauche?', hab ich sie gefragt. Ausgelacht hat sie mich und etwas von schriftstellerischer Freiheit gefaselt! Und dann hat sie mich glitzern lassen! In der Sonne!“
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K3 Literaturpreis 2015 – Motto : Fantasy & Mystery – alle Einreichungen Was zum Teufel... ob er verrückt wurde? Wann war er das letzte Mal beim Arzt gewesen? Alfred fuhr sich mit den Handflächen über das Gesicht und legte seine Hände wie ein Zelt über seinen Mund. Er atmete mehrmals in die improvisierte Tüte, um sich zu beruhigen. Mittendrin hielt er inne. Was hatte die Stimme da gezischt? Sonnenlicht... Mitternacht...glitzern... Was zur Hölle?!? Doch noch bevor sich Alfreds Herzschlag normalisiert hatte, wurde er von jener obsessiven Haltung zum Beruf befallen, wie sie nur Vollblutautoren und Teilchenphysiker kennen. War es möglich? Es war verrückt, aber warum auch nicht? Vielleicht war direkt in seiner Wohnung ein Portal in eine andere Dimension aufgegangen! Eine Dimension, in der alle bisher erdachten Figuren real waren! Ein wohliger Schauer jagte über seinen Rücken. „Ach, wäre das schön! Ich könnte alle meine Charaktere treffen. Und nicht nur das! Auch andere könnten dort hin!“ Alfred sah bereits die Werbeflächen vor seinem inneren Auge: FanFictionTours - Ihr Reiseunternehmen in eine andere Welt. Lesen war gestern! Lernen Sie Ihren Lieblingscharakter persönlich kennen! „Okay“, fuhr die Stimme fort. „Bei dir ist wohl mehr als eine Schraube locker.“ Alfred konnte nicht herausfiltern, ob es sich um eine Frage oder eine Feststellung handelte. Die Stimme hatte Probleme mit der Interpunktion - die Figur konnte folglich nicht von ihm sein. Schade. Er beschloss, sich in Ignoranz zu üben. „Ich wusste es. Ach Sigismund, wenn du das jetzt sehen könntest! Du hast mich schon vor Bram gewarnt, aber nein, ich musste ja losziehen. Wer hätte da schon wissen können, dass ich als blutsaugendes Monster enden würde… und dann auch noch seine Nachfolger, die auf Kuschelkurs gingen. Ich kann nicht sagen, was schlimmer ist, aber ignoriert wurde ich noch nie! Genug ist genug!“ Alfred kicherte. „Willst du etwa behaupten, du wärst die Vorlage für 'Dracula'? Gesetz dem Fall, ich würde eine logische Schlussfolgerung in Betracht ziehen, dann – bist du ein Vampir?“ „Nein, verdammt! Ich bin nicht ein Vampir. Durch einen blöden Zufall bin ich der Vampir – wie in der letzte seiner Art. „Du bist was?!“ Alfred fuhr erschrocken auf. „W... Wie... Wieso das denn? Weil die Menschen nicht mehr an euch glauben und ihr deshalb in Vergessenheit geratet und sterbt?“, versuchte Alfred seine Frage selbst zu beantworten. „So viel Quatsch in einem Satz hab ich seit Ewigkeiten nicht mehr gehört. Du bist einer von denen, die auch an den Weihnachtsmann glauben, oder?“ Alfred runzelte die Stirn. „Oh nein!“, stöhnte die Stimme enttäuscht. „Ach was soll's, ich geb's auf. Es war eine blöde Idee, hierherzukommen. Mach's gut!“ „Warte!“, rief Alfred in das leere Bad hinein und überschlug sich fast bei dem Versuch, aus der Wanne zu klettern. Er musste sich vergewissern, dass die Stimme einen Körper besaß. Oder dass er sich die Stimme nur einbildete. Alfred konnte es sich nicht erlauben, im Niemandsland zwischen den beiden Möglichkeiten stecken zu bleiben. Also nahm er den letzten Rest Verstand zusammen und keuchte: „Ich glaube dir ja! Ich... ich glaube dir ja!“, als er nach einem Handtuch griff und es sich um die Taille schlang. Doch es blieb still. „Jetzt komm' schon – wenn es dich wirklich gibt, dann zeig dich!“ „Ich bin hinter dir“, fiepste es. „hier oben!“ Alfred drehte sich langsam um und blickte zur Decke. Was er da sah, entsprach so gar nicht seinen Erwartungen. Er blinzelte ein paar Mal. Zur Sicherheit kniff er sich in den Unterarm, bis es weh tat. „Sag, bist... wer... oder... ich meine, bist du das?“ Seine Stimme zitterte leicht. „Natürlich nicht! Ich bin Jennifer Lopez!“, kam es rotzfrech zurück. Alfreds Gegenüber wurde ihm immer unsympathischer. Von der Decke baumelte eine verwahrlost aussehende Fledermaus. Moment mal – hatte er nicht gerade erst einen Artikel über ein mysteriöses Massensterben unter Fledermäusen gelesen? Alfreds Sprachlosigkeit wich recht schnell einer Entrüstung, die direkt aus seinen Eingeweiden zu kommen schien. Vampir hin oder her – dieser vorlaute Mistkerl war bei ihm eingebrochen. In seine Wohnung! „Komm' runter! Du schuldest mir mehr als eine Erklärung!“, rief er etwas zu laut. Täuschte er sich oder
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K3 Literaturpreis 2015 – Motto : Fantasy & Mystery – alle Einreichungen blickte die Fledermaus verlegen drein? Sie nahm den Kopf zwischen die Flügel und nuschelte etwas Unverständliches. „Wie bitte?“ „... hänge gerade noch mit letzter Kraft hier... Flug nach unten raubt mir die Energie, die ich zur Verwandlung brauche. Würdest du mich bitte einfach… runter nehmen?“ Alfred fluchte laut auf. „Sag mal – wie hast du es geschafft, deine Spezies zu überleben? Schämst du dich nicht für den Auftritt?“, polterte Alfred, während er ins Schlafzimmer ging um sich etwas Vernünftiges anzuziehen. Dann holte er eine Leiter und stieg fluchend die Sprossen hoch. Gerade, als er das zerfledderte Tier vorsichtig in die Hände genommen hatte und noch einen Schritt vom Boden entfernt war, gab es ein grunzendes Geräusch von sich und wechselte die Gestalt. Alfred verlor vor lauter Schreck den Halt. Mit einem lauten Krachen landeten beide auf dem Boden. Der Autor fasste sich als erster. „Wie bist du eigentlich zum Vampir geworden? Hast du im Lotto gewonnen, oder was?“ „Tut mir leid.“, nuschelte der bunte Haufen vor ihm. „Ich hatte schon immer ein Problem mit frühzeitiger Transformation.“ „Auch das noch!“, dachte der Alfred beklommen, als er vorsichtig aufstand und sich abklopfte. „Wenn er mir jetzt auch noch mit Potenzstörungen kommt, dann…“ „Also nein“, wurden seine Überlegungen lautstark unterbrochen. „Das hab ich sicher nicht. Ich kann dir hunderte von… ach nein, kann ich nicht mehr.“, seufzte das Bündel, das nun wackelte und langsam einen braunen Lockenschopf erkennen ließ. Dann folgte eine Hand, ein Fuß und schließlich konnte Alfred den Vampir in seiner vollen Größe begutachten – mehr als einen Meter fünfzig brachte der Kleine jedoch nicht zustande. Er konnte einem fast schon leid tun. „Du bist ja noch ein Kind!“, entfuhr es Alfred. „Natürlich nicht! Ich bin sogar ein sehr großer Vampir!“ Der Autor sah ihn entrückt an. „Vampire sind kleinwüchsig?“ „Ich bin ein großer Vampir, hörst du?“ Der Blutsauger machte eine Geste, die wohl an Dracula erinnern sollte. Alfred beeindruckte das wenig. Dennoch hob er beschwichtigend die Hände: „Also ich bin ja kein Experte, aber bleibt die menschliche Gestalt denn nicht in ihrer ursprünglichen Form erhalten?“ Der kleine Mann sackte in sich zusammen und ließ sich auf den Fließenboden plumpsen. Mit einer weit ausladenden Geste überkreuzte er seine Arme auf seinen Knien und ließ seine Stirn drauf plumpsen. Der Vampir schniefte laut auf. Äußerst theatralisch, fand Alfred, doch schließlich fasste sich der Autor ein Herz und reichte dem Vampir in Ermangelung von Alternativen ein Handtuch damit er sich schnäuzen konnte. „Du hast ja recht“, schnaubte der Blutsauger. „Ich bin ein Versager auf ganzer Linie. Ich habe im Leben nichts zustande gebracht und als Untoter bin ich noch schlimmer. Ich gebe es ja zu - ich war nie größer.“ Jetzt packte Alfred doch ein wenig das schlechte Gewissen. Er klopfte seinem Gegenüber unbeholfen auf die Schulter, um ihn zu trösten. „Ist ja gut.“, murmelte er beschwichtigend. Dabei hatte er immer geglaubt, Vampire hätten keine Gefühle. „Wie heißt du denn?“ Der Blutsauger sah ihn über die verschränkten Arme erschrocken an: „Du bist ein Mensch! Du würdest den Klang meines Namens...“ Alfreds Blick und eine Geste machten dem Gehabe des Vampirs schnell ein Ende. „Boa eh. Klaus. Mein Name ist Klaus.“ Alfred grinste und hielt Klaus die ausgestreckte Hand hin. „Freut mich, dich kennenzulernen. Also, was kann ich für dich tun? Du bist doch nicht hier um mich zu töten, oder?“ Der Blick, den der Blutsauger ihm zuwarf, ließ Alfreds Grinsen gefrieren. Dem Autor blieb die Luft weg, er stützte sich am Waschbecken ab, schloss die Augen (wobei seine Wimpern verdächtig zuckten) und zwang sich, tief durchzuatmen. Zischend presste er eine Antwort hervor: „Wenigstens bist du ehrlich. Dir ist wohl die Kraft ausgegangen und jetzt bist du von deinem vermeintlichen ‚Opfer‘ abhängig.“ Ein herzzerreißendes Schluchzen bestätigte die Vermutung des Autors. „Was bin ich froh, dass du so unfähig bist.“, seufzte Alfred erleichtert. Dann runzelte er die Stirn und murmelte etwas Unverständliches. Plötzlich öffnete er die Augen, machte einen Satz nach vorne und packte Klaus bei den Schultern. „Das ist es! Ein tollpatschiger Vampir... das ist der Stoff aus dem Bestseller gemacht werden!“ Er rüttelte den verdatterten Blutsauger durch. „Sto... sto.. hal...“, stotterte Klaus, doch Alfred war nicht zu bremsen. „Lass' das!“, brachte der Vampir schließlich hervor und befreite sich mit letzter Kraft aus
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K3 Literaturpreis 2015 – Motto : Fantasy & Mystery – alle Einreichungen Alfreds Griff. Dieser sah ihn mit fiebrigen Augen an. „Hör' zu, erzähl mir alles. Wenn mir gefällt, was ich höre, bekommst du ein bisschen Tomatensaft.“ „Bäh – willst du mich umbringen?“ Der Kleine funkelte Alfred zunächst noch böse an, doch dann glättete sich seine Stirn und er brachte ein Lächeln zustande. Alfred schauderte, da die hochgezogenen Mundwinkel die Eckzähne des Vampirs in ihrer vollen Größe freigaben. „Vielleicht hättest du ja ein bisschen Whiskey?“ Alfred zog eine Augenbraue nach oben. Klaus seufzte. „Ihr Menschen und euer eingebildetes Halbwissen über Vampire… wir ernähren uns von Blut und Whiskey. Das Gebräu heißt nicht umsonst ‚Wasser des Lebens‘. Johnny war einer von uns – ohne seine Destille hätten wir niemals genügend Nachschub herstellen können. Oder warum glaubst du, dass die Welt nicht schon längst von Vampiren überbevölkert ist?“ Johnny Walker ein Vampir? Alfred brummte der Schädel. „Ach, auch egal! Ich mache mich mal auf die Suche nach deinem 'Wasser des Lebens'. Mittlerweile könnte ich auch eines vertragen.“ In Hochstimmung versetzt trottete Alfred in Richtung des Wohnzimmers, in dem neben Sally auch eine kleine Bar aus Ebenholz stand. „Ich möchte vorausschicken, dass ich ein großer Fan bin.“, plapperte Klaus munter drauf los, als er dem Autor folgte. „Ich liebe deine Geschichten!“ Alfred hielt inne und starrte den Kleinen mit unverhohlener Neugier an. „Ein Fan? Soll das heißen, Vampire lesen?“ „Teufel noch eins! Natürlich tun wir das! Wir lesen, wir schreiben, wir sind... waren... wie ihr – nur besser.“ Erneut lief Alfred ein leichter Schauer über den Rücken. Ein übersinnlicher Bewunderer… das war fabelhaft, im wahrsten Sinne des Wortes! „Kannst du dich noch an deine Geschichte mit dem Serienmörder erinnern, der sich als Riesenfledermaus von einem anderen Planeten entpuppte?“ „Aber natürlich“, meinte der Autor mit stolz geschwellter Brust. „Mitunter eine meiner besten Arbeiten – ich habe die Trilogie gerade abgeschlossen!“ „Ja“, nickte der Vampir versonnen. „Leider. Denn wäre diese Geschichte nicht gewesen, dann gäbe es außer mir noch andere Fledermäuse auf Erden.“ Alfred runzelte fragend die Stirn. „Natürlich bist du nicht direkt dafür verantwortlich, aber ohne das Buch... ach, ich will nicht nachtragend sein.“ Alfred verdrehte innerlich die Augen, mahnte sich aber zur Ruhe. Klaus trat derweil verlegen von einem Fuß auf den anderen. „Ich habe dein Buch gelesen und nach dem ersten Teil regelrechte Panik vor Fledermäusen entwickelt. Dann bin ich dem Whiskey verfallen und habe mich in einer Destillerie versteckt. Von dort aus habe ich in meinem Rausch zunächst fast alle tierischen Fledermäuse getötet. Und dann kamen meine Freunde dran...“ In Alfreds Kopf schwirrte es wie in einem Bienenstock. Seine Geschichte hatte eine Rasse ausgelöscht – nein, eigentlich fast zwei! Und alles nur wegen eines besoffenen Vampirs mit einem deftigen Napoleon-Komplex und einer Phobie? „Als ich bemerkte, dass ich selbst zum Serienmörder geworden war, da war es zu spät!“, riss Klaus Alfred aus seinen Gedanken. Der Vampir stand jetzt ganz nah bei ihm, umarmte den perplexen Autor und weinte echte Tränen, die zu Alfreds Erstaunen blau waren. Das Hemd konnte er jedenfalls vergessen. „Na, na, das wird schon wieder.“, Alfred tätschelte den Kleinen und umarmte ihn äußerst unprofessionell. In einem Anflug väterlicher Güte fragte Alfred: „Wie kann gerade ich dir helfen?“ Kaum hatte er den Satz ausgesprochen, löste sich Klaus geschickt von seinem Gegenüber. Er gestikulierte wie Jack Black, während er mit einer Stimme, die wohl verschwörerisch klingen sollte sein Anliegen vorbrachte: „Gut das du fragst. Keine große Sache - du musst dich nur von mir beißen lassen.“ „WAS? ICH? WARUM?!?“ Entsetzt machte Alfred einen Satz nach hinten. „Naja, sieh dich mal um.“ Klaus vollführte eine Pirouette und deutete mit den ausgestreckten Händen auf das Inventar. Dann sah er den Autor aus zusammengekniffenen Augen an und stach Alfred bei jedem zweiten Wort schmerzhaft in die Brust. „Du wolltest doch immer schon einer von uns sein und ich brauche Hilfe beim Aufbau einer neuen Generation Vampire. Stell' dir nur vor: mittendrin statt nur dabei! Die
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K3 Literaturpreis 2015 – Motto : Fantasy & Mystery – alle Einreichungen Recherche für neue Bücher wäre ein Kinderspiel!“ Alfred schluckte. Ein Jahr später Die Teenies kreischten wie verrückt, als Alfred aus dem Flugzeug stieg. Er war zu einem Kultautor avanciert. Nicht nur, weil seine Geschichten blutrünstiger und authentischer waren als alles, was bisher auf dem Markt zu finden war, sondern auch, weil er keine Skrupel zu kennen schien. Binnen kürzester Zeit hatte er mit seinen Vampirromanen die Welt erobert. Dass er offen zugab, Blut zu trinken, angeblich ein Verhältnis zu einem Werwolf namens Sally pflegte und nur des Nachts Lesungen gab, tat sein Übriges.
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K3 Literaturpreis 2015 – Motto : Fantasy & Mystery – alle Einreichungen 25 Codewort: Herzkönigin Stradivari Sie steht am Fenster des letzten Wagons und blickt auf die dunklen Gleise. In der Reflektion der Scheibe sieht sie wie sich ein Mann ihr nähert. Zügig geht er auf sie zu, die Hände in den Taschen seines Jacketts vergraben, eine Trillerpfeife um den Hals und einen schwarzen, runden Hut auf dem Kopf. „Ticketkontrolle!“ Elise kramt in ihrer Tasche, „Wo ist das blöde Ticket?“, gerade eben hat sie es doch noch gehabt. Vorsichtig zieht sie ein zerknittertes Stück Papier aus ihrer schwarzen Tasche. Sie faltet es auf und streicht es glatt bevor sie es dem Mann entgegenhält. Verlegen lächelt sie ihn an. Er runzelt die Stirn und dreht sich seinen „Charlie Chaplin“-Schnauzer zurecht. Er wirft einen kurzen Blick auf den Zettel, den sie ihm entgegenhält, ehe er sich am Stand umdreht und in die selbe Richtung verschwindet, aus der er gekommen ist. „Komischer Kauz“, Elise schaut ihm kopfschüttelnd nach während sie das Ticket wieder zurück in die Tasche steckt und diese neben sich abstellt. Ein lautes Pfeifen ertönt und langsam setzt sich der Zug in Bewegung. Elise steht am hintersten Fenster und blickt hinaus auf die Gleise. Der Zug wird immer schneller, das Rauschen immer lauter. Die Lichter der Station entfernen sich weiter und weiter, die Gleise, die Umgebung kaum noch zu erkennen, nur noch Schatten in der Dunkelheit. Elise wird schwarz vor den Augen. Um nicht zu fallen greift sie nach einer Halterung. Elise streckt beide Arme nach vorne, versucht Halt zu finden, doch es scheint als hätte der Zug in eben diesem Moment nochmal an Geschwindigkeit zugenommen, als wäre der Zugfahrer abrupt aufs Gaspedal gestiegen. Durch den Ruck fällt sie zurück und schlägt unsanft am Boden auf. Elise öffnet ihre Augen, sie liegt noch immer am kalten Zugboden. Langsam versucht sie sich aufzusetzen. „Au!“, sie kneift die Augen zusammen und fasst sich an den Hinterkopf. „Das gibt eine Beule“, stöhnt sie. Vorsichtig richtet sie sich auf und schaut aus dem Fenster, Dunkelheit. Niemand sonst ist in dem Wagon. Sie blickt erneut aus dem Fenster, in der Hoffnung an den vorbeifliegenden Schatten etwas erkennen zu können, das ihr verrät wo sie gerade ist. Wieder ertönt das laute Pfeifen, der Zug wird langsamer und rollt in die Station ein. Ein Klicken, der Lautsprecher geht an. „Letzter Halt! Dieser Zug endet hier. Wir bitten alle Passagiere auszusteigen!“ Klick, Ende der Durchsage. „Letzter Halt? – Oh nein, ich muss wohl länger weggetreten gewesen sein als befürchtet.“ Sie hebt ihre Tasche auf und bewegt sich in Richtung Tür. Mit einem Rucken bleibt der Zug stehen, es zischt, ein Klack, dann öffnet sich die Tür. Langsam steigt sie die Stufen hinunter auf die Plattform. Ein kurzer Blick zurück, die Türe schließt sich hinter ihr, der Zug fährt ab. Mit beiden Beinen am Boden blickt sie um sich. Nach links, nach rechts, wieder nach links. Irgendwie so bekannt, und doch so anders. Auf der Plattform herrscht reges Treiben, Männer in ausgefallenen Gewändern queren die Station. Der ein oder andere begleitet von einer Dame, mit hochtoupierten Haaren und kunstvoll verzierten Kleidern. „Wo bin ich denn hier gelandet?“, orientierungslos sieht sie sich um. Ihre Augen wandern nach oben zu einem Schild. Sie muss ein paar Schritte zur Seite machen um es ganz lesen zu können. In Kupferbuchstaben steht dort ‚Wien Westbahnhof‘. Ungläubig blinzelt Elise. Sie liest es nochmal. „Wien Westbahnhof. - Das kann nicht sein.“ Erneut blickt sie um sich. Nach links, nach rechts, auf das Schild und wieder nach rechts. Sie dreht sich einmal um die eigene Achse und da entdeckt sie einen Zeitungsstand an der Ecke. Sie macht sich auf, und stößt dabei fast in ein junges Mädchen, das ihr kichernd ausweicht. Elise nimmt zögernd eine Zeitung vom Stand. Ihre Augen wandern zum Datum. 27.April. Erleichtert will sie die Zeitung wieder zurück legen, als sie sich selbst abrupt in der Bewegung stoppt. Ihr Blick fällt erneut auf das Datum. „27. April“, Elise reißt die Augen auf, „1810!“. Sie erstarrt, ihr Atem stockt. Es fühlt sich an als
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K3 Literaturpreis 2015 – Motto : Fantasy & Mystery – alle Einreichungen wäre ihr die Kehle verschnürt worden, sie spürt wie ihr die Zeitung aus den Händen rutscht und langsam zu Boden sinkt. Aus der Ferne hört sie Musik kommen, so schön, so magisch. Ohne nachzudenken geht sie der Musik entgegen. Weg vom Bahnhof, entlang der Straßen folgt sie dem Klang. Die Musik wird lauter, die Melodie klarer. Sie kennt das Stück, kann es aber nicht benennen. Wie in Trance setzt sie einen Fuß vor den anderen, fast läuft sie schon. Ihre Umgebung, die Gebäude, die Leute rund um sie bemerkt sie nicht. Getrieben von zauberhaften Klängen wandert sie durch die Stadt. Die letzten Takte des Stückes spielen. Elise bleibt stehen. Sie steht vor einem alten Haus. Gelbe Mauern, eine morsche Türe und ein großes Fenster, mit eingeschlagener Scheibe, als hätte jemand einen Stein hindurch geworfen. Vorsichtig wagt sie einen Blick durchs Fenster. Die Bar ist gut besucht. Männer und Frauen amüsieren sich, lautes Gequatsche, Wein und Gelächter. Alle tragen sie weiße Perücken, die Männer mit Rollen auf den Seiten, die Frauen hoch auf-toupiert, Es wird getanzt, gelacht und getrunken. Und es ist offensichtlich, Elise ist nicht gekleidet für dieses Spektakel. Dennoch kann sie nicht widerstehen. Die Musik trägt sie über die Schwelle, hinein ins Geschehen. Stille. Alles ist still. Alle Augen sind auf sie gerichtet. Elise fühlt sich wie im Scheinwerferlicht. Verunsichert sieht sie sich um. Spannung liegt in der Luft. Sie lässt ihren Blick durch die Menge schweifen und da sieht sie ihn. Mit dem Rücken zu ihr beim Klavier sitzend. „Beim Cembalo sitzend“, korrigiert sie sich selbst. Seine weißen Locken sind im Rücken zusammengebunden, er ist ein zierlicher Mann, ein junger Mann – nicht älter als 20 kann er sein. Ob er derjenige ist, der so schön gespielt hat“, fragt sie sich. Sie goldener Kittel bewegt sich als er sich zu ihr umdreht und sie direkt anspricht. „Sag, was ist dein Name, meine Liebe?“ - „Elise.“ „E-l-i-s-e, hm“, er hebt seine Hand und winkt sie zu sich. „Komm doch einen Schritt näher, Liebes. Ich hab‘ hier etwas für dich.“ Zögerlich geht sie auf ihn zu. Die anderen Gäste beobachten sie genau. Elise steht nun neben dem jungen Pianisten. Er grinst sie schief an und gibt ihr einen Koffer, zugebunden mit einer roten Schleife. Elise ist sich unsicher. „Soll ich ihn jetzt öffnen?“ Er nickt ihr zu. Elise zieht an der Masche, das Band löst sich. Zaghaft öffnet sie den Koffer. Als sie seinen Inhalt erblickt fangen ihre Hände zu zittern an. Fragend sucht sie des Jungens Blick. Er fordert sie auf das Geschenk aus der Verpackung zu nehmen. Ihre Finger berühren das Holz, so fein verarbeitet, so delikat, so rar. Vorsichtig hebt sie ihr Geschenk heraus und streicht sanft über sie Saiten. Nie zuvor hat sie etwas so schönes gesehen. „Für mich?“, spricht sie mit zittriger Stimme während sie die Geige in ihren Händen bewundert. Er reicht ihr den dazugehörigen Bogen und spricht: „Du bist Elise, nicht wahr?“ Hastig nickt sie. „Dann ist sie für dich, Elise.“ Er lächelt ihr zu und beginnt ein neues Stück zu spielen, seine zarten Hände fliegen nur so über die Tasten. Es ertönt die schönste Melodie, die sie je gehört hat. „Komm, spiel mit mir Elise“, flüstert er ihr zu, „das ist dein Lied.“ Und dann spricht er lauter, wendet sich an alle im Raum, „denn das, meine Freunde ist ‚Für Elise‘ “. Die Spannung verwandelt sich in Jubel und Gelächter, das Spektakel geht weiter als sie gemeinsam musizieren. TRRRRR TRRRRR. Sie stöhnt auf und reibt sich die vom Schlaf verquollenen Augen. TRRRRR TRRRRR. Langsam rappelt sie sich auf, wälzt sich auf die andere Seite des Bettes und schaltet den Wecker aus. Mit einem Lächeln auf den Lippen lässt sie sich zurück in die Pölster fallen. „Netter Traum war das“, denkt sie sich, „musizieren mit Beethoven.“. Elise setzt sich auf, zieht ihren Morgenmantel an und macht sich auf den Weg in die Küche. Sie geht vorbei an ihrem Notenpult und muss über ihre eigene, sehr rege Fantasie kichern als sie die offenen Noten zu ‚Für Elise‘ sieht. Lächelnd schlendert sie in die Küche, nimmt ihre Lieblingstasse aus dem Schrank und lässt sich einen Kaffee herunter. „Hmm.“ Der Kaffeeduft erfüllt den Raum. Elise nimmt die heiße Tasse und dreht sich um. Ihr Blick fällt auf den Tisch in mitten des Raums. > BUMM. KLIRR. PLATSCH. < Die Tasse ist hinüber, der Kaffee auf ihren Füßen, aber sie bemerkt es nicht. Fixiert starrt sie auf den Tisch. Am Tisch steht ein Koffer,
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K3 Literaturpreis 2015 – Motto : Fantasy & Mystery – alle Einreichungen zugebunden mit einer roten Schleife. Daneben liegt ein kleines Stück Papier mit der Aufschrift – ‚Für Elise am 27. April zur Erinnerung von L. v. Bthvn.‘. Ende.
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K3 Literaturpreis 2015 – Motto : Fantasy & Mystery – alle Einreichungen 26 Codewort Augen Grüne Augen Und schon wieder fiel etwas zu Boden. Ich zuckte zusammen und fuhr herum. Es war eine staubige, alte Schachtel, voll gepackt mit Zeitungen. Mit hastigen Griffen warf ich die herausgefallenen Exemplare zurück in die Kiste. Ich erhaschte das Titelbild der zuoberst liegenden, es war eine rothaarige Frau darauf abgebildet, die mir irgendwie bekannt vorkam. Allerdings hatte ich keine Zeit mich näher mit ihr zu beschäftigen, denn ich war spät dran und wollte mich weder mit Gelegenheitsbekanntschaften, noch mit verjährten Zeitungen abgeben. Wer zum Teufel sammelt überhaupt alte Tageszeitungen? Naja, Messies sind ja wirklich keine Seltenheit. Ich zog meine Weste über und eilte aus dem Haus. Dabei hätte ich fast einen jungen Mann niedergelaufen. Ich entschuldigte mich hastig und rannte weiter. Nicht jedoch, ohne zuvor seine wunderschönen, grünen Augen wahrzunehmen, in denen ich meinen Blick liebend gerne noch etwas länger verweilen lassen hätte. Im Büro wartete ein Stapel Arbeit, welchem ich mich, wenn auch mit wenig Begeisterung, hingab. Irgendwie ging mir die Arbeit leichter von der Hand als sonst. Lag es vielleicht daran, dass sich zwischen den Akten über Spielwarendiebstahl, versuchtem Bankraub und Belästigung in der Straßenbahn zwei leuchtend grüne Augen in mein Bewusstsein blinzelten? Der Tag verging recht schnell und bald war ich am Weg nach Hause. Es war ein heißer Sommertag geworden und ich freute mich auf einen erfrischenden Sprung in die Weihermühle, bevor ich es mir daheim gemütlich machen würde. Als ich im Bad aus dem Wasser kletterte erschrak ich: Einen Moment lang verharrte ein Paar tiefgrüner Augen in meinem Blick, ehe der junge Mann, ohne eine Miene zu verziehen weiterging. Mein ganzer Körper bebte. „Luna“, ermahnte ich mich selbst, „reiß dich zusammen!“ Für eine Romanze hatte ich gerade gar keine Zeit, ich konnte mich ja nicht einmal erinnern, wann ich meine Freundinnen zuletzt gesehen hatte. Denn seitdem ich auf diesen kuriosen Mordfall von 2006 gestoßen bin, widme ich ihm all meine Aufmerksamkeit. Mein Chef würde es besessen nennen, darum sage ich ihm nichts davon und nütze die Zeit vor der Arbeit, um das Haus, in dem Georg Grabner zuerst eine junge Frau erschossen und in die Mur geworfen und anschließend sich selbst erhängt hatte, zu durchsuchen. Er hatte hier gewohnt. Die Leiche der Frau wurde in Werndorf angespült, seinen Körper fand man an einem Strick baumelnd im Haus. Ich habe ihn nie zu Gesicht bekommen, von ihr habe ich einmal ein Foto gesehen. Sie war jung und hübsch mit einer beinahe scharlachrot leuchtenden Mähne. An vertraulichere Dokumente komme ich nicht heran. Ich bin ja eigentlich nicht dafür zuständig Morde aufzuklären. Mir obliegt die spannende Aufgabe die Akten darüber zu ordnen und die Büroarbeit zu erledigen. Dabei bin ich auf diesen Fall gestoßen, der mich, Gott weiß
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K3 Literaturpreis 2015 – Motto : Fantasy & Mystery – alle Einreichungen warum, einfach nicht loslässt. Da sich keiner für ein Haus interessiert, in dem ein Doppelmord geschehen war, stand es von diesem Zeitpunkt an leer. Halb im Wald versteckt ist es mir ein Leichtes am frühen Morgen dort ungesehen einzusteigen. Ich wusste nicht warum mich dieser Fall so fesselte, aber ich war überzeugt davon, dass bisher etwas Wichtiges übersehen worden war, und ich musste herausfinden, was es war. Als ich am nächsten Morgen zu dem Haus kam, traute ich meinen Augen nicht. Schon wieder stand da der junge Mann mit den unwiderstehlichen, grünen Augen. Er lächelte mir zu. Ich lächelte zurück. „Guten Morgen“, sagte er mit etwas heiserer Stimme „ich weiß, das klingt jetzt seltsam, aber ich hatte gehofft, dich hier zu treffen. Ich habe dich gestern gesehen und... hättest du vielleicht Lust spazieren zu gehen?“ Er lächelte mich so unverschämt charmant an, dass ich nicht ablehnen konnte. So ließ ich das Haus hinter mir, jetzt war der Fall schon so viele Jahre her, da kam es auf den einen Tag mehr oder weniger auch nicht mehr an, dachte ich mir. Ja, das dachte ich. Denn von nun an erwartete mich mein grünäugiger Schönling, der sich mir als Sebastian vorstellte, jeden Morgen. Wir spazierten über Felder, streiften durch Waldwege am Kugelberg, redeten, lachten und ich vergaß alles um mich herum, so verliebt war ich. Das Einzige, was mir nicht aus dem Kopf gehen wollte, war dieser Mordfall. Da war etwas faul daran. Ich konnte nicht eher ruhen, ehe ich herausgefunden hatte, was es war. So hegte ich den Plan, mich nachts in das Haus zu schleichen. Ich wartete bis es dunkel war, holte mein Rad aus dem Keller und fuhr los. Ich begegnete keinem Menschen. Ich war erleichtert. Stellte mein Fahrrad ab und ging zur Tür. Ich holte den Schlüssel aus dem Blumentopf, in welchem ich den selbigen immer verwahrte und steckte den Schlüssel in das Schloss. Gerade als ich ihn umdrehen wollte, räusperte sich jemand hinter mir. Ich erschrak fast zu Tode und fuhr herum. Im ersten Moment war ich erleichtert, als ich sah, dass es Sebastian war, der aus der Dunkelheit trat. Im nächsten Moment wurde mir klar, dass ich seit langer Zeit keinen mir näher bekannten Menschen mehr getroffen hatte, nicht einmal mein Chef wollte mich sprechen, er ließ mich machen und meine Tage verstrichen einsam im Büro, aber Sebastian tauchte plötzlich überall auf, wo ich war. Mir wurde ein wenig schwindelig. Lag es an der gerade gewonnen Erkenntnis oder doch an seinem unwiderstehlichen Lächeln? „Was machst du denn immer hier?“, fragte er. Tja, dass diese Frage eines Tages kommen würde war irgendwie klar, trotzdem hatte ich keine plausible Antwort parat. Ich fühlte mich ertappt. Die Wahrheit wollte ich ihm nicht sagen, eine Bürofrau die Dedektivin spielt? Nein, das gab ein schlechtes Bild ab. „Ach, ich gieße hier die Blumen. Für eine Freundin, die verreist ist“, log ich. Er runzelte die Stirn: „Seit Wochen?“, fragte er. Ich räusperte mich „ja. Ja, sie ist in... in Amerika, ja in Amerika...für ein Jahr!“ Er nickte. Ich wollte unbedingt in dieses Haus, aber ohne ihn. Er schien sich aber nicht von der Stelle rühren zu wollen. „Komm, gehen wir nach Hause“ sagte er. Was meinte
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K3 Literaturpreis 2015 – Motto : Fantasy & Mystery – alle Einreichungen er mit ‚nach Hause’? Wir wohnten ja nicht zusammen. „Aber die Blumen...“ „Die können warten“, fiel er mir mit Bestimmtheit ins Wort. Und ich gab mich ihm hin. Wir gingen zu mir und es war eine wunderschöne Nacht. Am nächsten Morgen frühstückten wir zusammen und verabredeten uns für den Abend, ehe ich zur Arbeit fuhr. Dort beschloss ich kurzerhand, nachdem mein Chef sich wieder nicht blicken ließ, zum Haus zu fahren. Diesmal hatte ich Glück. Ich war allein. Ich öffnete die Tür und ging ins Haus. Ich zitterte so sehr, dass ich vor Aufregung über einen Teppich stolperte. Als ich ihn wieder geraderücken wollte, bemerkte ich, dass etwas unter dem Teppich verborgen war. Ich schob ihn zur Seite und entdeckte eine Falltür. Vor Aufregung bebend, öffnete ich diese und stieg hinab. Ich stand im Dunkeln. Ich tastete mich auf der Suche nach einem Lichtschalter an der Wand entlang. Endlich spürten meine Finger einen kleinen Hebel auf. Ich drückte ihn hinunter, das Licht flackerte auf und ich erschrak. Sofort löschte ich das Licht wieder aus. Nein, das konnte nicht sein. Ich fürchtete mich davor, das Licht wieder anzumachen, hatte jedoch keine andere Wahl. Mit der Ohnmacht ringend, blickte ich mich in dem kleinen Raum, der mit Fotos von mir vollgepostert war, um. Ich hatte einen Stalker. Und als ich die Visitenkarte am Schreibtisch liegen sah, wusste ich auch wer es war: Sebastian. Jedoch stand neben dem kleinen Foto von ihm, das darauf zu sehen war sein vollständiger Name: Georg Sebastian Grabner. Ich wollte losschreien. Ich hatte mich in einen Toten verliebt? Wie verrückt war ich geworden? Und seit wann sah ich überhaupt Tote? Ich bebte vor Angst. Kletterte so schnell als möglich nach oben und nun wurde mir erst recht schwarz vor Augen. Da baumelte Sebastian von der Decke, genauso, wie er vor neun Jahren ums Leben gekommen war. Mir lief ein Schauer über den Rücken; wenn jetzt die Polizei kommt, werde ich zur Hauptverdächtigen. Ich sprang auf. „Nichts wie weg!“, sagte ich mir. Am Weg zur Tür kam ich an einem Spiegel vorbei und als ich mein Spiegelbild darin erhaschte, kam mir ein spitzer Schrei aus: Meinen Kopf zierte eine glühend rote Mähne. Nun durchfuhr es mich wie ein Blitz. Ich rannte zum Schrank und riss die alte Kiste mit den Zeitungen, die ich vor einigen Wochen eilig weggesteckt hatte, heraus. Zuoberst lag das Exemplar mit dem Portrait der Frau. Ich blickte mir selbst ins Gesicht. „Luna, 26, aus Gratwein, erschossen. Leiche in Mur gefunden. Motiv: unklar“ stand darunter. Erschossen? Ich wurde erschossen? Langsam senkte ich meinen Blick in Richtung Brust. Dort durchtränkte ein großer, roter Fleck meine Bluse. Ich sprang auf. Ich musste meine Bluse waschen. Ich brauchte Wasser. Ich wollte den Wasserhahn aufdrehen, doch es kam kein Wasser heraus. Ich stürmte aus dem Haus. Wasser. Ich brauchte ganz dringend Wasser. Ich hörte ein Rauschen. Die Mur! Da gab es Wasser. Ich rannte zum Ufer und warf mich in die Fluten. Noch einmal blitzten zwei tiefgrüne Augen in mein Bewusstsein, ehe mein toter Körper die Mur hinabtrieb.
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