siegerbeitrage-2013

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3. Straßengler Literaturpreis, Platz 1, Miriam Leitold

Weiße Murmeln Aus voller Kehle prustete Nala los. Zuerst saß er nur da und blickte sie verwundert und gleichzeitig fasziniert an. Ihr hellbraunes, glänzendes Haar, das sie sich hinter ihr linkes Ohr gestrichen hatte, glitt ihr ins Gesicht. Ein paar einzelne Strähnen blieben auf ihren, vom Lachen feuchten Lippen kleben. Er steckte immer noch verdutz die Hand aus, um sie ihr aus dem Gesicht zu streichen. Dabei berührte er ihre Wange, fühlte die glatte Haut mit seinen Fingerspitzen – kühl und dennoch glühend rot gefärbt. Sie lachte immer weiter, konnte sich kaum noch halten. Tränen begannen ihr aus den großen, rehbraunen Augen zu schießen und über ihre Backen zu kullern. Als die erste Träne seine Haut berührte zuckte er zusammen. Da hielt auch Nala für einen Moment inne, kurz huschte ein Ausdruck von Erschrockenheit über ihr schönes Gesicht, ihre Blicke trafen sich, wenn auch nur für einen Bruchteil einer Sekunde. Und schon begann sie von neuem zu glucksen und zu kichern, aus tiefstem Herzen, unbeschwert... Er hörte sie schon nicht mehr. Sein Herz war ihm so schwer geworden und gleichzeitig so leicht, dass er meinte, es gar nicht mehr wahrnehmen zu können. Trotz allem raste es wie verrückt in seiner Brust. Er stand am Strand des Sees, spürte den warmen weichen Sand unter seinen Füßen. Hier und da kitzelte ihn ein Grashalm an seinen Sohlen. Die Sonnenstrahlen streichelten seinen Rücken, das Wasser tropfte aus seiner schwarz-rot karierten Badehose, die er von Oma zu seinem achten Geburtstag bekommen hatte, Rinnsale bahnten sich den Weg über seine Knubbelknie. Er lief auf sein Handtuch zu, doch plötzlich sah er sie, schlagartig blieb er stehen, wie vom Donner gerührt verharrte er. Sie hatte ihren Kopf in seine Richtung gedreht, das kohlschwarze Haar, von einem feinen Windhauch aus dem Gesicht geweht, umzingelte spielerisch ihr rundes Gesicht, aus dem zwei stahlblaue Augen blitzten. Ihre vollen Lippen waren zu einem kaum erkennbaren Lächeln geformt. Er wusste genau: dieses Lächeln galt nur ihm. Oder wünschte er es sich bloß? Es tat nichts zur Sache. Sie wandte den Kopf wieder ab, die Ärmel ihres T-Shirts waren ihr über beide Schultern gerutscht, ihre nasse, hellrosarote Badehose war zum Trocknen aufgehängt worden und die Räder ihres Rollstuhls hinterließen tiefe Furchen im Sand. In ihrer Hand hielt sie weiße Murmeln, in welchen die Sonnenstrahlen wie kleine Diamanten reflektierten. Er griff zu seiner Kamera und drückte ab. Genau ein Mal. Erst als er das Foto Jahre danach entwickelt hatte, stellte er fest, das perfekte Foto verbildlicht zu haben. All seine Gefühle, Emotionen, jeder noch so kleine Laut und jeder Duft dieses Tages waren auf diesem Bild festgehalten. Es war das Einzige, was ihm noch geblieben war. Von diesem Tag an kam er täglich zum Strand. Da sich ihre Familien kannten, lernte er Maja bald besser kennen. Zusammen bauten die beiden Kinder Sandburgen und plantschten im Wasser. Majas Behinderung störte ihn dabei nie. Vielmehr fiel sie ihm gar nicht mehr auf. An besonders heißen Tagen bildeten sich oftmals dunkle Wolken, die kräftige Sommergewitter zur Folge hatten. Dann rannte er nach Hause, dabei schob er den Rollstuhl so schnell er nur konnte. Das Wasser spritzte in alle Richtungen davon und platschte übermütig unter seinen nackten Füßen hinweg. Maja jauchzte vor Freude. Daheim angekommen wurden die beiden von Majas Mutter in Handtücher gewickelt und vor den Ofen verfrachtet, der im Sommer für solche Fälle in Betrieb genommen wurde. Das Feuer knisterte darin, während er und Maja, an ihrem Kakao schlürfend und genüsslich über die Lippen schleckend, um auch ja keine von den, in der Milchschaumkrone zart schmelzenden, Schokoflocken zu vergeuden, sich Geschichten erzählten. Sie malten sich aus, wie sie einst in einem Schloss leben und jeden Abend heißen Kakao mit Schokoflocken trinken würden... Diese Tage genoss er immer besonders.

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Wenn sich jedoch die Blätter auf den Bäumen zu färben begannen und die Tage allmählich kühler wurden, stellte sich ein beklemmendes Gefühl in seiner Brust ein. Er wusste, er würde Maja seltener sehen, die Tage am See waren gezählt. Der Winter war oft hart für ihn gewesen, erst wenn der Frühling zurück ins Land kehrte und die Natur wieder blühend in neuer Pracht erstrahlte, schien auch er aus seinem Winterschlaf zu erwachen. Bald war er wieder am See, lachte, jauchzte, baute Sandburgen und trank, in ein Handtuch gewickelt mit Maja heißen Kakao am Ofen, in dem das Feuer munter knisterte. So strichen die Jahre dahin. Aus den beiden Kindern wurden eine wunderschöne junge Frau und ein sportlicher junger Mann. An den Zeitpunkt als er sich in Maja verliebte kann er sich nicht mehr erinnern. Umso genauer aber an ihren ersten Kuss. Sie waren wieder in ein Gewitter geraten, vom starken Regen durchtränkt hat er Maja aus ihrem Rollstuhl gehoben. Dabei treffen sich ihre Blicke und verharren ineinander. Sie vergessen alles andere um sich herum. Langsam aber zielstrebig bewegen sie sich aufeinander zu bis sich ihre Lippen berühren. Keine Kälte, keine Nässe, nichts als Glück empfinden sie in diesem Moment. Am Boden unter ihnen hatte sich eine Pfütze gebildet - so viel Wasser war aus ihren durchnässten Kleidern getropft. Besser als an diesem Tag hat der heiße Kakao noch nie geschmeckt. Es dauerte einige Tage, bis er aus seiner Glückstrance allmählich wieder erwachte. Bald verbrachte er nun auch die Winter mit Maja. Er liebte sie bedingungslos und wurde für so manche ihrer Handicaps blind. Daher bemerkte er nicht, dass sie immer schwächer und antriebsloser wurde. Erst als sie eines Tages in ihrem Rollstuhl zusammengesackt war, realisierte er, dass etwas nicht in Ordnung war. Der Krankenhausbesuch ist ihm nur schwach in Erinnerung geblieben, zu groß ist der Schmerz, den er mit der Erinnerung auf sich nehmen müsste. Verschwommene, verzerrte Bilder sind alles, woran er sich zu entsinnen vermag. Als sie das Attest bekamen weinte Maja. Er blieb stumm. Er konnte und wollte nicht begreifen, was geschehen war. Keine einzige Träne vergoss er, kein Wort verlor er über die schockierende Nachricht. Beinahe so, als wüsste er von nichts lebte er weiter. Jedoch lebte er so intensiv, wie noch nie zuvor. Es waren die verrücktesten und aufregendsten achtundvierzig Tage in Majas und seinem Leben. Sie riskierten alles und lebten, liebten als gäbe es kein Morgen. Und das gab es im Grunde auch nicht. Am Abend des achtundvierzigsten Tages kochte er für Maja und sich heißen Kakao und bedeckte die Schaumkrone mit frisch geraspelten Schokoflocken die schlagartig zu schmelzen begannen. Nur an diesem Abend wurde der Genuss des heißen Kakaos von jenem Tag ihres ersten Kusses übertroffen. Wie damals als Kinder saßen sie vor dem Ofen, das Feuer knisterte und sie malten sich aus, wie sie einst in einem Schloss leben und heißen Kakao mit Schokoflocken trinken würden, in einem Schloss über den Wolken... Er hatte keine Träne geweint und auch als Majas Sarg in das Grab hinabgelassen wurde blieben seine Augen trocken. Er hatte nie mehr gelacht, nicht für sich, nur für andere. Er hatte nie wieder geliebt, stieß jede Art von Zuneigung von sich ab, konnte keine Nähe vertragen. Jahrelang. Jetzt saß er da, fühlte zum ersten Mal nachdem er Majas Gesicht von ihren Tränen getrocknet hatte das feuchte Nass Nalas Lachtränen. Als Nala ihm begegnet war, war ihm nicht bewusst gewesen was mit ihm geschah. Und plötzlich lachte er los. Lachte, als ginge es um sein Leben. Tränen schossen aus seinen Augen und sein Herz wurde ihm nach jahrelanger Eiseskälte wieder warm. Mit Nala fest in seine Arme geschlossen krümmte er sich vor Lachen, wie ein kleiner Junge wieherte er vor sich hin. Das Glück überwältigte ihn. Er griff in seine Hosentasche und warf jenes zerknitterte Papier, welches er seit Jahren mit sich herumtrug in das prasselnde Feuer des Kamins vor ihnen. Die weißen Murmeln ließ er zurück in seine Tasche gleiten. Sie saßen da, lachten

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und liebten und in der Glut des Feuers verschmorten die Räder eines kleinen Rollstuhls, dessen Reifen tiefe Furchen in den Sand gezogen hatten. Weiße Murmeln Das trockene Salz auf meiner Haut, umweht von einer Meerespriese, die Wellen wogen, nichts ist laut, ich steh auf einer Blumenwiese. Niemals vergeht das Erinnerungenland, niemals vergess’ ich diese Tage. In meines Herzen Tiefe drin ich trage sie, wie die weißen Murmeln hier in meiner Hand. Der Duft von frisch gemähtem Gras Steigt in meine Nase. Mein Gesicht von Tränen nass, ich begrabe meine Katze, es stirbt mein kleiner Hase. Niemals entweicht mir das Erinnerungenland, niemals vergess’ ich diese Tage. In den Tiefen meines Herzens drin ich trage sie, wie die weißen Murmeln hier in meiner Hand. Jede Sekunde, jeden Augenblick verbringen wir zusammen. Was es zu erleben gilt, erleben, zu erleiden Schmerz, zu verschmerzen manche Schrammen. Doch nie zerreißt der Freundschaft Band, nie vergess’ ich diese Tage. In den Tiefen meines Herzens ich sie trage, wie die weißen Murmeln hier in meiner Hand.

ENDE

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3. Straßengler Literaturpreis, Platz 2, Kurt Ponisch

PAPRIKA - 1 - Paprika Sie hieß Erika Papp. Wir besuchten dieselbe Klasse und konnten einander gut leiden. Mit der Zeit wurde eine dicke Freundschaft daraus. Ihren Spitznamen hat sie mir zu verdanken, weil ich sie ursprünglich Rika nannte. So entstand allmählich Pap-rika. Die Mitschüler wollten sie mit diesem Spitznamen hänseln, hatten aber kein Glück, weil Paprika ihn mochte. Er paßte auch so gut zu ihr! Einmal versuchte ich, Paprika zu küssen. Dummkopf! hatte sie gesagt und wurde wunderschön rot. Da kam ich mir schon sehr erwachsen vor. Aber daß ich mich mehr mit Paprika befaßte als mit meinen männlichen Mitschülern, das nahm man mir übel. Also verdrosch man mich. Ziemlich oft. Eines Tages waren wieder einmal achtzehn gegen einen. Das sah Paprika, sprang mitten in den raufenden Schülerhaufen und sagte laut und energisch, daß es sehr feige sei, was sie da tun. Aus Versehen bekam sie ein blaues Auge, aber dann hörte die Rauferei auf. Einer hatte die grandiose Idee, stattdessen einen Zweikampf austragen zu lassen. Das sei doch fair, oder nicht? Man hatte mir einen würdigen Gegner zugedacht: Fritz! Er war ein Repetent, ein Jahr älter, einen Kopf größer und sehr viel stärker als ich. Und er konnte boxen. Ich nicht. Die Meute hatte sich verzogen, ich lag auf dem Boden und wollte eigentlich sterben. Da wusch mir Paprika das Gesicht und blinzelte mir zu. Ich wollte lächeln, aber die aufgeplatzten Lippen verhinderten es. Da küßte sie mich ganz vorsichtig auf die Wange und half mir, die "Arena" zu verlassen. Ich wollte nicht mehr sterben! Seltsam: Mit dieser Niederlage hatte ich mir den Frieden erstritten. Anderntags frug eine verwunderte Frau Klassenvorstand, weshalb um Himmels willen ich denn Erika ein blaues Auge geschlagen hatte, wo wir doch offenbar bisher so gute Freunde waren - und wie es wohl dazu kommen konnte, daß Erika mich daraufhin so übel zugerichtet hatte. Wir schwiegen. Aufsätze waren Paprikas Stärke nicht. Das konnte ich weit besser. Aber ein schlechter Mathematiker war ich schon immer, ganz im Gegensatz zu Paprika. Was lag da näher als eine gesunde Arbeitsteilung? Es war wohl unvermeidlich, daß wir gefragt wurden, wie es denn komme, daß ich MatheHausaufgaben immer richtig habe, während ich in der Schule weit schlechtere Leistungen erbringe. Und nun zu Paprika! Gute Arbeit, leidlicher Stil zu Hause. In der Schule aber nicht. Ihr seid durchschaut, sagte Frau Klassenvorstand, ihr könnt euch ruhig gegenseitig helfen, indem ihr miteinander lernt, aber es geht nicht an, daß einer des anderen Arbeit tut! Das sahen wir ein. Es war ja auch sehr schön, mit Paprika zu lernen. Sehr schön.

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-2 - Paprika 1938: Auf den Straßen marschierte man im Gleichschritt. Und überall wehten Fahnen, Fahnen, Fahnen. Ein einziges Fahnenmeer. Faszinierend! Militärmusik, Sprechchöre, Lieder, markige Parolen. Es konnte einen mitreißen! . . . die Fahne führt uns in die Ewigkeit, ja, die Fahne ist mehr als der Tod . . . Paprika, hast du gestern nacht den Fackelzug gesehen? Ja. Und? Ich habe Angst. Weshalb hast du Angst? Weil ich gehört habe, was sie gerufen haben. Was haben sie denn gerufen? Juda verrecke! haben sie gerufen. Ja, das ist nicht schön, aber weshalb hast du Angst? Weil Mama eine Jüdin ist. Drei Wochen danach ging ich zu Paprika wegen Mathe. Die Tür stand offen. Ich klopfte. Komm herein! hörte ich Paprika sagen. Ihre Stimme war seltsam tonlos. Dann sah ich sie. Ihr liebes Gesicht war weiß wie Kalk sie hockte auf dem Boden und starrte ins Leere. Was ist passiert? Sie haben Mama mitgenommen. Abgeführt. Einfach so! Ja - weshalb denn? Weil sie Jüdin ist - nur deshalb. Sie müssen doch irgend etwas gesagt haben, einen Grund dafür genannt haben! Nein. Nur weil sie Jüdin ist. Und dein Papa? Der ist zur Polizei gegangen und will eine Anzeige machen. Er ist noch immer nicht zurück. Einige Wochen später. Paprika und ich haben die Schularbeiten gründlich verhaut. Die Frau Klassenvorstand hat unsere Eltern hereinbestellt. Paprika hat gesagt, daß nur ihr Vater kommen könne, weil man ihre Mama noch immer nicht entlassen habe. Habe ich Tränen in den Augen der Frau Klassenvorstand gesehen? Kurze Zeit danach. Ich habe Paprika eine Träne von der Wange geküßt. Sie war salzig. Auf dem Tisch lag ein amtliches Schreiben, das den Tod der Frau Rachel Papp mitteilte. Lungenentzündung. Lapidar. Nach weiteren zehn Tagen: Um23 Uhr 30 kam Herr Papp zu meinen Eltern. Er kam so spät, weil er nicht gesehen werden wollte, damit nicht auch wir noch in Schwierigkeiten kommen sollten. Er teilte uns mit, daß er Österreich, das jetzt die Ostmark hieß, mit Erika verlassen müsse. Er selbst sei kaum in Gefahr, aber Erika als Halbjüdin sehr wohl. Ihr Ziel sei England.

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- 3 - Paprika Mein Vater kratzte alles Geld, das wir im Hause hatten, zusammen und gab es Herrn Papp, der es nur widerstrebend annahm. Meine Mutter weinte. Dann umarmten wir uns alle. Ich brachte kein Wort heraus. Herr Papp gab mir einen Brief von Paprika und verließ eilig das Haus. Paprika schrieb: Es tut mir so leid, daß ich mich nicht mehr von Dir verabschieden konnte. Du fehlst mir jetzt schon sosehr. Ich weiß nicht, was Mama und ich verbrochen haben sollen. Wir mögen nicht davonrennen, aber wir müssen. Wenn wir den Krieg und diesen ganzen Wahnsinn überleben, werde ich den Weg zu Dir finden! Ich muß Dir ja den Kuß, den Du mir gegeben hast, wiedergeben. Ich liebe Dich! In Eile Paprika In diesem Schuljahr fiel ich in allen Fächern durch. Mein Vater wurde zur Wehrmacht eingezogen und fiel in Rußland. Für Führer, Volk und Vaterland. Mutter wurde zur stolz trauernden Kriegerswitwe ernannt, wurde kriegsdienstverpflichtet und drehte im Werk II Granaten für den Endsieg. Und ich wurde noch knapp vor Kriegsende zu den Fahnen geeilt. 1945 und danach: Alle Nachforschungen nach Kriegsende blieben erfolglos. Ich konnte nichts über Paprika und ihren Vater erfahren. Nichts.

ENDE

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3. Straßengler Literaturpreis, Platz 3, René Wolfsberger

Annas Kindheit am Pal-Gong Die beinahe 900 km² große Stadt Daegu befand sich im Süden Koreas. Sie war eingekesselt von Bergen. Beinahe auf jedem Plateau prunkte eine altehrwürdige Tempelanlage. Wie ein Juwel hob sich der Pal-Gong von den anderen Gipfeln ab. Mitten in seinem dichten Kiefernwald befand sich der Winterblumen-Tempel. Weitläufig erstrecken sich die dazugehörigen Einsiedeleien. In einer davon hatte eine alte Schamanin seit vielen Jahrzehnten ihr zu Hause gefunden. Ihre Tochter, Annas Mutter, war hier aufgewachsen. Und nun war auch ihre Enkelin in ihre Obhut gegeben worden. Obwohl die Hütte von außen gesehen ärmlich wirkte, war Anna überrascht, wie viel Platz sie im Inneren des Steinbaus vorfand. Sobald sie einkehrte, befand sich das Mädchen im behaglichen Hauptzimmer. Die Feuerstelle in der Raummitte verlor für Anna über all die Jahre ihre faszinierende Anziehung nicht. Neben diesem großen Raum, wies die Hütte noch drei kleine Zimmer auf. Zwei davon boten der Alten und ihren seltenen Gästen einen Schlafplatz; das dritte war der Teeraum, in dem sie auch schamanische Reinigungs- und Heilungsriten durchführte. Strom gab es keinen. Im Schuppen nebenan, der in den Berg hineingebaut war, lagerte die alte Frau ihr Gemüse, die Kräuter und die selbst fabrizierten Elixiere. Östlich vom Lagerraum stand ein überdachter Port für das Feuerholz. Badezimmer war keines vorhanden. Tag für Tag vermisste Anna diese Errungenschaft der modernen Zivilisation. Das sechsjährige Mädchen hasste es, morgens und abends zum Bach zu laufen; mit kaltem Wasser musste sie sich dort waschen und – was noch schlimmer war – die Zähne putzen. Immer wieder kam es deswegen zu einem Streit zwischen Anna und der alten Frau. Ansonsten gestaltete sich ihr Zusammensein überaus friedlich. * »Om Mani Padme Hum«, chantete die Alte Schamanin das heilige buddhistische Mantra vom Diamanten im Lotus. Der Duft von Weihrauch, der monotone Gesang der versammelten Mönche, sowie das leise Klopfen von Holzschlaginstrumenten, verzauberte die Atmosphäre. Sanft wurde das schlafende Mädchen von diesen mystischen Klängen geweckt. Anna rieb sich ihre müden Augen und blickte neugierig zu den Meditierenden. Immer wieder, wenn das Mantra endete und bevor es abermals begann, wurde die weihevolle Stille in der Lehrhalle unfassbar dicht und fest; Anna versuchte manchmal, diese Stille mit ihren Kinderhänden anzufassen. Das Mädchen liebte es auf diese Weise zu erwachen. Es verlieh ihm eine umfassende, tiefe Geborgenheit. Schläfrig wunderte sich Anna: ›Wie die Oma das schafft?‹ Jeden Morgen erwachte die Alte Schamanin um vier Uhr. Und jeden Abend war sie bis spät in die Nacht mit ihrer seltsamen Arbeit beschäftigt. Niemals sah Anna ihre Großmutter schlafen. Manchmal, so wie an diesem Frühlingsmorgen, packte die alte Frau das noch selig träumende Bündel mit dem zerzausten Haar und trug es mit sich zum Winterblumen-Tempel. Während die alte Frau an der Morgenandacht teilnahm, schlummerte Anna in einer Ecke der Tempelhalle weiter. Erst mit der aufgehenden Sonne wurde das Mädchen munter. Wie ein blindes Katzenjunges befreite es sich sodann aus dem warmen Deckenknäuel, in das es von ihrer Großmutter gewickelt worden war. Anna gähnte. Sie nahm eine Bürste aus der Tasche und begann sich zu kämmen. Die Alten Schamanin hatte ihr den Kamm mitgegeben, damit dem Mädchen nicht langweilig wurde. Nach dem Bürsten des Haares, flocht sich Anna zwei Zöpfe. Noch immer sangen die Mönche. Hörbar atmete Anna aus: »Hhmm…«

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Das Rezitieren der Mantren wollte heute kein Ende nehmen. Das Mädchen schlich sich zu ihrer Großmutter und flüsterte ihr ins Ohr: »Ich habe schon so einen Hunger!« Die Schamanin war zu versunken um abgelenkt zu werden. Nach einer weiteren Viertelstunde, die dem Kind wie eine Ewigkeit vorkam, freute es sich: ›Endlich singen sie das Abschlusslied.‹ Die Kleine dehnte und reckte sich in Vorfreude auf das Morgenmahl. Noch einmal gähnte sie für alle hörbar. Die Alte Schamanin kam auf ihre Enkelin zu, packte sie unter den Armen und drückte ihr einen dicken Kuss auf die Wange. »Guten Morgen, mein Liebchen«, sagte sie ganz leise. Ein junger Mönch warf ihr einen strafenden Blick zu. Er fühlte sich in seinem Schweigen gestört. Anna wischte sich den feuchten Schmatz der Großmutter mit ihrem Handrücken ab. »Du Oma…«, begann sie in normaler Lautstärke, dämpfte dann aber ihre Stimme, als die Großmutter ihren Zeigefinger an die Lippen legte und flüsterte: »Pschhhht! Nicht jetzt.« »Aber ich muss dir erzählen, was ich heute Nacht Lustiges geträumt habe«, hauchte Anna aufgeregt. »Später, mein Liebchen, wenn wir am Marktplatz sind«, raunte ihr die Großmutter zu. Dann hielt sie sich wieder ans Gebot des Schweigens. »Au ja!«, rief das herzige Mädchen leise. Sie konnte ihre Vorfreude kaum im Zaum halten: »Bekomm ich dann auch was zum Naschen?« ›Du bist doch das Allersüßeste‹, dachte sich die alte Frau schmunzelnd, äußerte aber kein weiteres Wort. Als sie über den Glockenpavillon zum Mitteltor des Tempelbezirkes schritten, durfte Anna endlich wieder sprechen. Ihre Fragen überschlugen sich: »Was machen wir am Markt? Bekomme ich Schokolade? Gehen wir auch die Mama besuchen?« Die Schamanin betrachtete die zahlreichen Kamelienbäume. Vor Jahrhunderten waren sie auf dem flachen Hügel hinter dem Pavillon von mitfühlenden Mönchen gepflanzt worden. Frühling für Frühling erblühten sie in den schönsten Farben. Gleichermaßen verzaubert von der malerischen Tempellandschaft, wie vom Liebreiz ihrer Enkelin sagte sie: »Natürlich, mein Liebchen. Alles was du möchtest.« Schelmisch forderte Anna zu wissen: »Wirklich alles!?« Und voller Zuneigung schimpfte sie die Alte: »Du kleiner Fratz!« Durch das zweistöckige Mitteltor schreitend, verließen die beiden das Klostergelände. Sie wählten den abschüssigen Weg in die Stadt hinab. Es versprach ein sonnenstrahlender Frühlingstag zu werden. Im Nu gelangten die beiden ins Stadtzentrum. Anna tänzelte neben der alten Frau auf und ab. »Lass uns zuerst Schokolade kaufen gehen!«, rief sie. »Oder…«, fuhr sie fort und hob den Zeigefinger in die Höhe, »oder zur Mama.« »Zuerst müssen wir zum Arzneimittelmarkt!« »Warum?«, quengelte Anna. »Warum müssen wir immer zuerst zum Arzneimittelmarkt.« Geduldig erklärte ihr die Großmutter: »Weil ich da das Geld bekomme, damit ich dir Süßigkeiten kaufen kann.« Als sie am Yangnyeongsi, dem ältesten Arzneimittelmarkt Koreas, ankamen, war es noch früh am Morgen. Obwohl sie den ganzen Weg über im strahlenden Sonnenschein zurückgelegt hatten, fiel es Anna nicht auf, dass es im Stadtzentrum erst kurz nach Sonnenaufgang war. Am Marktplatz wimmelte von Menschenmassen. Alle schrieen kreuz und quer. An vielen Ständen wurde die Alte Schamanin ehrfurchtsvoll begrüßt. Anna fragte ihre Großmutter erstaunt: »Kriegen die alle was aus deinem Beutel?« »Ja, alle!«, antwortete die Schamanin. 8


Hier verkaufte sie ihre Kostbarkeiten: Ihre gesammelten Kräuter und selbst gemischten Heilmittel. »Und jetzt die Schokolade«, schlug Anna vor. Die Großmutter entgegnete: »Wollen wir nicht zuerst die Mama besuchen?« Es war der Alten nicht recht, mit einem Beutel voller Geld und Süßigkeiten bei Annas schwer arbeitender Mutter aufzutauchen. Halbherzig willigte das Mädchen ein: »Okay.« Wieder dauerte es nicht lange, schon war die Alte mit ihrer Enkelin in der Hafengegend. Hier herrschte ein raues Klima und alles roch nach Fisch. »Mama, hallo, Mama«, rief Anna. Das Mädchen winkte ihrer Mutter zu und hüpfte ihr freudig entgegen. Die fleißige Arbeiterin sah ihre Tochter schon von der Ferne hin und her springen. Annas Stimme klang wie ein feines Silberglöckchen in ihren Ohren. Gerne wäre sie ihr entgegengelaufen. Doch vor ihrem Verkaufsstand befand sich eine Traube von Leuten. Schreiend feilschten sie um den besten, größten und schmackhaftesten Teil eines Haifisches. Die Vierunddreißigjährige konnte ihre Arbeitsstelle nicht verlassen. Selbst als die Besucher schon an ihrer Seite standen, kam es der Frau noch wie eine Ewigkeit vor, bis sie endlich Zeit fand, ihre geliebte Anna in die Arme zu schließen. Doch zuerst begrüßte sie die alte Frau: »Guten Morgen, Mutter.« Dann beugte sie sich zu ihrer Tochter nieder. Sie packte Anna fest und hob sie in die Höhe. »Hallo mein Liebchen, mein Schatz!«, rief sie vor wehmütiger Freude. »Wie geht es dir?« Ungeniert sagte die Kleine: »Mama, lass mich runter, du stinkst.« Ihre Mutter küsste sie rechts und links auf die Wange. Anna, die solche Liebkosungen nicht ausstehen konnte, wischte sich ihre Küsse sogleich mit ihrem Handrücken weg. Wieder kamen Käufer zum Fischstand und verlangten Aufmerksamkeit. Eine ältere Frau raunte ihrer Nachbarin zu: »Einfach unverschämt, wie die da in der Öffentlichkeit mit dem Kind herum tut.« Die Alte Schamanin dachte: ›Wie schade, dass man so schnell mit einem Urteil zur Hand ist, ohne die näheren Lebensumstände zu kennen!‹ Ihre Gedanken waren so nachdrücklich, dass es die Frau hören konnte, der die Maßregelung galt. Anna teilte der Mutter voller Begeisterung mit: »Mama, wir gehen jetzt Schokolade kaufen!« Wohl oder übel musste sich die Verkäuferin wieder um ihre Kundschaft kümmern. Erst wenige Minuten später hatte Annas Mutter noch einmal kurz Gelegenheit, ihre kleine Tochter in die Arme zu schließen. Anna in die Höhe haltend, fragte sie die Alte Schamanin: »Kaufen Sie ihr wirklich Schokolade?« Die Großmutter antwortete lediglich mit einem Schmunzeln. »Brauchen Sie etwas Geld dafür?«, fragte die junge Frau verdattert. Sie konnte sich weder für sich selbst noch für Anna Schokolade leisten. »Nein, nicht nötig, mein Kind. Dieser Beutel ist voller Geld!«, sprach die Einsiedlerin. Nicht wissend, dass dies der Wahrheit entsprach, dachte sich ihre erwachsene Tochter: »Seltsame Scherze treibt meine Mutter wieder mit mir.« Endlich bekam die Sechsjährige ihre Schokolade! Vor einem Süßigkeitengeschäft drückte ihr die Großmutter einen großen Won-Schein in die Hand und sagte: »Hier, kleiner Fratz. Du gehst jetzt in dieses Geschäft und kaufst dir soviel Naschwerk wie du möchtest.« Anna sah sie mit großen, strahlenden Augen an: »Wirklich?« So etwas hätte es bei ihren Eltern nie gegeben.

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»Wirklich!«, versicherte die Alte Schamanin, »ich gehe inzwischen zum Gemüsemarkt und kaufe leckeres Obst für uns beide.« Als Anna wieder aus dem Geschäft kam, stapelten sich Naschereien in ihren Händen. Um den Mund hatte sie bereits eine dicke Schicht Schokolade. Ihre Finger waren haselnussbraun und klebrig. Auch die Alte Schamanin stand an derselben Stelle wie zuvor; den großen Beutel am Rücken gefüllt mit Obst und sonstigen Alltagsgütern. Nicht alles konnte sie in der Einsiedelei selbst herstellen. Annas Mund von der verschmierten Schokolade reinigend, meinte sie: »Zum Glück habe ich auf die Zahnpaste nicht vergessen.« Anna wand sich hin und her, doch sie konnte dem feuchten Taschentuch der alten Frau nicht entkommen. Bevor die beiden ihren Heimweg antraten gab es ein schlichtes Mittagsmahl. Die Großmutter und ihre Enkelin saßen am Ufer des Sincheon und erfreuten sich an den warmen Strahlen der Frühlingssonne. Nach dem Essen wurde Anna schläfrig. Sie konnte ihre halbmondförmigen Augen kaum noch offen halten. Ihre Großmutter forderte sie auf: »Komm, leg dich in meinen Schoß.« Der Rock der Alten Schamanin duftete nach Weihrauch und frischen Kräutern. Von einer Sekunde auf die andere fiel Anna in einen tiefen Schlaf. Er war mit bunten Träumen durchzogen. Als sie wieder munter wurde lag Anna – wie am Morgen – in Decken gehüllt am Rande einer buddhistischen Halle. Das kleine Mädchen konnte ihre Großmutter von hinten sehen. Die alte Frau saß am Boden vor dem Hauptheiligtum des Winterblumen-Tempels. Eine zweieinhalb Meter hohe Buddhastatue aus reinem Gold ragte vor ihr empor. Daraus schloss Anna, dass sie sich in der Goldenen Halle befanden. Die Schamanin, andere Mönche, sowie Besucher von außerhalb waren in tiefe Meditation versunken. Anna wusste: ›Jetzt darf ich nicht stören!‹ So schloss sie ihre Augen wieder und döste weiter in der süßen Stille des erhabenen Ortes. Es dauerte nicht lange, da träumte Anna von einer großen Wiese. Sie war voll mit roten Mohnblumen. In weiter Ferne tanzte eine junge Frau. Auch sie hatte rote Mohnblumen im Haar. Zu Füßen der tanzenden Frau ruhte ein mächtiger Tiger. »Du musst dich nicht fürchten«, sagte die Frau freundlich zu ihr, »komm näher!« Anna wollte wissen: »Warum frisst dich der Tiger nicht?« Die schöne Frau mit dem roten Mohn im Haar erklärte: »Der Tiger ist meine Kraft. Ich habe sie Jahrhunderte lang gezähmt. Darum dient sie mir heute.« Die Tänzerin drehte sich schnell um ihre eigene Achse; ihr Rock blähte sich auf. Dann ließ sie sich anstrengungslos niedersinken. Nun sah Anna nur noch ihren Rücken. Die Frau saß da und regte sich nicht. Anna fragte: »Meditierst du?« »Ja«, antwortete die Frau nun ohne Worte und fügte hinzu: »Es ist an der Zeit, dass du das schönste und teuerste Obst nimmst, es wäschst und dem Buddha opferst.« Da erwachte das kleine Mädchen. Die Sonne strahlte vom Westen in die Goldene Halle. Auf dem gesamten Boden waren rote Blütenblätter gestreut. Einer Eingebung folgend ging Anna zum Beutel der Alten Schamanin und suchte darin das schönste Obst aus. Am Eingang Tempelhalle war ein Wasserbecken aus Stein. Hier sollte man sich selbst und die Opfergaben an den Buddha reinigen, bevor man den heiligen Raum betrat. Anna wusch den Apfel, den sie als Opfergabe auserkoren hatte, und legte ihn auf den kleinen Altar vor dem goldenen Buddha. Ihre Großmutter öffnete lächelnd ihre Augen. Voller Liebe betrachtete sie ihre entzückende Enkelin. Als sich die beiden am frühen Abend auf den Nachhauseweg machten, sagte die Schamanin zu Anna: »Ich danke den Göttern dafür, dass du da bist.« Die Kleine hüpfte lustig an ihrer Seite hin und her. Freudig rief sie: »Ich auch! Ich auch für dich.« Noch bevor die Einsiedlerhütte erreicht wurde, verdüsterte sich Annas Gemüt. Sie begann zu raunzen und zu jammern. 10


»Oma«, klagte sie. »Du brauchst nichts zu sagen«, antwortete die Alte, »ich kann alles von deinem Gesicht ablesen.« »Was denn? Ich hab so Bauchweh.« Ganz gebückt legte Anna die letzten Meter zum Steinbau zurück. »Das macht die Schokolade, mein Liebchen«, sagte die Großmutter in einem leichten Singsang. In der Hütte war es abends noch recht kalt. Die Schamanin entfachte ein Feuer, während sich ihre Enkelin vor Krämpfen auf einem Lager am Boden krümmte. »Oma, mach’ was!«, bat sie. »Mein Bauch tut so weh.« Die Alte murmelte: »Ich wusste schon bevor du sämtliche Süßigkeiten verschlungen hast: Das wird sich rächen.« Weinend wunderte sich Anna: »Wieso hast du mich das alles kaufen lassen?« Das Kind als ebenbürtigen Gesprächspartner ansehend, fragte die alte Frau: »Hätte ich es dir verbieten sollen?« Anna wusste keine Antwort. Was wäre gewesen, wenn ihr die Großmutter bei den Süßigkeiten Einhalt geboten hätte? Herzzerreißend flehte die Kleine: »Oma, mach das Bauchweh weg, bitte!« Die Alte Schamanin ertrug es nicht länger, ihr Ein und Alles leiden zu sehen. Sie hoffte inständig, dass Anna die Lektion in Sachen Maßlosigkeit gelernt hatte. Dann kniete sie sich neben der Kranken auf den Boden. Anna riss sofort ihr Leibchen hoch und drehte ihren süßen, kleinen Bauch der Großmutter entgegen. Die Alte legte ihre heilenden Hände auf den aufgeblähten Magen. Sogleich spürte Anna ein leichtes Vibrieren von den Händen der Schamanin ausgehen. Die Krämpfe lösten sich und die blockierte Energie begann wieder zu fließen. Kaum fünf Minuten später, war Anna wieder wohlauf. »Danke!«, seufzte sie erleichtert und nahm sich fest vor: »Ich will nie wieder Schokolade essen!« ENDE

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