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K3 LITERATURPREIS 2015 / FANTASY & MYSTERY / PREISTRÄGERINNEN

1. Platz, Elisabeth Pranter

Das Nilpferd „Schau Papa, das Nashorn, das du mir geschenkt hast!“ „Aber Konstantin, das ist doch ein Nilpferd! Hast du ihm schon einen Namen gegeben?“ Ich blickte kritisch auf das Stofftier, das vor mir am Teppich stand. Nashörner waren grau, und das Stofftier war auch grau. Also war es wohl ein Nashorn, oder nicht? „Ein Nilpferd?“ Mein Freund Sebastian hatte gestern im Kindergarten ein Pferd gezeichnet, und das hatte ganz anders ausgesehen. Pferde waren doch normal ganz schlank und hatten lange Haare und dünne Beine. Ich wetzte herum und setzte mich in den Schneidersitz, wie Papa. „Ute! Ich nenne es Ute!“, sagte ich schließlich und umarmte das Plüschtier, war doch egal, ob es jetzt ein Nashorn oder Nilpferd war. Papa lächelte. Wie immer saß seine Brille ein wenig schief auf seiner Nase und er rückte sie sich zurecht. „Konstantin?“ Ich sah auf. „Ich bin hier, Mama! Im Wohnzimmer.“ „Was machst du denn hier?“, fragte sie und hockte sich zu mir. Eine blonde Haarsträhne fiel ihr ins Gesicht. Papa streckte die Hand aus und versuchte, sie ihr hinters Ohr zu streichen, aber es gelang ihm nicht. Sie strich sich die Haare selbst hinters Ohr, ohne ihn anzusehen. „Ich habe das Nashorn Ute genannt!“, erklärte ich stolz. „Das Nilpferd!“, besserten mich Mama und Papa gleichzeitig aus und lächelten. „Dann halt Nilpferd.“ Ich drückte es an mich. „Komm, gehen wir Schuhe anziehen“, sagte Mama. „Können wir nicht noch ein bisschen spielen?“, fragte ich und ließ Ute vor mir das Karomuster am Teppich entlang gehen. „Nachher, wir kommen sonst zu spät.“ Jetzt lächelte Mama nicht mehr. Schnell sah ich zu Papa, er brachte Mama doch immer zum Lachen. Und vielleicht konnte er sie überreden, dass wir noch ein wenig spielten. Aber er sah nur in ihr Gesicht, ganz traurig, bevor er sich zu mir drehte. „Tut mir leid, mein Kleiner“, meinte er und streckte die Hand nach meinen Haaren aus, ich spürte einen

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K3 LITERATURPREIS 2015 / FANTASY & MYSTERY / PREISTRÄGERINNEN kühlen Luftzug an meiner Wange. „Es ist Zeit.“ „Konstantin?“ Mama sah mich fragend an. Papa stand auf und blickte Mama an, dann mich, und lächelte. Aber nicht so wie sonst, sondern so wie damals, als Moritz, unser Kater, überfahren worden war und er mir gesagt hatte, dass er jetzt im Himmel so viel Leckerlis bekam, wie er wollte. „Ich hab dich lieb, mein Kleiner! “, sagte er und schaute noch einmal zu mir und winkte, bevor er aus dem Wohnzimmer ging. „Kommst du jetzt bitte?“, fragte Mama, stand auf und streckte mir ihre Hand hin. „Kann Ute mitkommen?“, rief ich und sprang auf, das Stofftier vor mir her wedelnd. „Natürlich!“, antwortete sie, etwas sanfter, und nahm mich an der Hand. „So, setz dich her!“, bat sie mich, als wir im Vorraum waren. Dann holte sie meine schwarzen Schuhe mit dem Klettverschluss aus dem Schrank. „Aber die drücken!“, protestierte ich, dabei drückten sie gar nicht so arg. Aber ich hatte gerade erst ganz tolle Schuhe bekommen, blaue, die weiß und rot blinkten wenn ich damit herumlief. „Tut mir leid mein Schatz, nur heute, ok? Bitte.“ Ich erschrak, Mama sah so traurig aus. „Na gut, dann eben die!“, sagte ich rasch. Wir zogen die Schuhe an, ich die langweiligen schwarzen und Mama die, die ich so gerne mochte, weil sie immer klack klack klack machten. „Fahren wir mit dem Auto?“, fragte ich hoffnungsvoll. Ich war gerne mit dem Auto unterwegs, auch wenn ich hinten auf diesem blöden Kindersitz sitzen musste. Die Bäume fuhren so schnell vorbei und ich konnte meine Benjamin-Blümchen-Kassetten hören. „Nein, mit dem Taxi“, antwortete Mama. „Was ist ein Taxi?“, wollte ich wissen. Mama, die gerade auf die Uhr schaute, antwortete nicht gleich. „Weißt du, was ein Taxi ist?“, fragte ich Ute, aber sie wusste es auch nicht. „Ein Taxi ist ein Auto, das jemand anderem gehört und mit dem jemand anderer fährt“, erklärte Mama. Ein weißes Auto blieb vor unserem Haus stehen, Mama öffnete die Türe und sagte etwas zu der Frau am Steuer, die daraufhin ausstieg, aus dem Kofferraum einen Kindersitz holte und auf den Rücksitz stellte. Ich blieb vor der Garage stehen und beobachtete das Ganze mit zusammengekniffenen Augen, die Sonne blendete. Die fremde Frau war klein und dick, ihre Schuhe machten nicht „klack“ und waren langweilig. „Na komm!“, sagte Mama. Ich lief zu ihr, stieg ins Auto und setzte mich auf den Kindersitz, obwohl er dunkelblau und hässlich war. Mama setzte mich neben mich und schnallte uns an. Ich mochte das Taxi nicht. Es roch komisch hier

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K3 LITERATURPREIS 2015 / FANTASY & MYSTERY / PREISTRÄGERINNEN drinnen, die fremde Frau fuhr so schnell um die Kurven, dass mir schlecht wurde, und es gab keine Benjamin-Blümchen-Kassetten sondern Musik, bei der eine Frau herumschrie wie Moritz, als ich ihm einmal versehentlich auf den Fuß gestiegen war. Und ich, nachdem er mich dann gekratzt hatte. „Mama?“, fragte ich, „wieso fahren wir nicht mit dem Auto?“ „Ich will heute nicht Auto fahren, weißt du?“, sagte sie und zupfte mir einen weißen Teppichfusel von der schwarzen Hose. Ich wusste gar nichts, aber ich schwieg weil mir so schlecht war und drückte Ute fest an mich. Mama blickte aus dem Fenster und sah auch so aus, als ob ihr schlecht wäre. Irgendwann blieb die fremde Frau dann stehen und stellte das seltsame Geschrei ab. „Acht fünfzig macht das dann bitte“, sagte sie mit rauchiger Stimme und Mama gab ihr einen rosa Schein. Wir stiegen aus und ich atmete tief durch. Die Frau fuhr davon. Mit dem furchtbaren Kindersitz, Gott sei Dank. „Alles ok, mein Kleiner?“, fragte Mama und hockte sich neben mich. Ich nickte, obwohl mir noch immer ein bisschen schlecht war. Mama umarmte mich, ganz fest, sodass Ute zwischen uns zerquetscht wurde. „Mama?“, fragte ich. So schlimm war die Taxifahrt jetzt auch nicht gewesen. Sie ließ mich los und lächelte mich an, aber es liefen Tränen über ihre Wangen. „Das wird jetzt nicht angenehm, mein Kleiner, aber wir schaffen das schon“, antwortete sie und strich mir über die Haare, bevor sie aufstand und mich an der Hand nahm. Wir gingen zu einem Tor aus Gitterstäben, und einer quietschenden Klinke. Dahinter waren Steine, geordnet, in Reih und Glied, mit kleinen grauen Wegen dazwischen. Mamas Schuhe machten klack, klack, klack auf dem breiten Weg am Rand, meine langweiligen leuchteten nicht. Ich entdeckte Blumen, violette, gelbe, zwischen den Steinen, wie die bei uns im Garten. Die gefielen mir. Aber die Steine, die mochte ich nicht. „Mama?“, fragte ich, „was machen wir hier?“ Bevor sie antworten konnte, waren wir bei einem Haus angekommen, mit bunten Fenstern. Davor standen Oma, Opa, Tante Judith, Onkel Gustav, Veronika, meine kluge Cousine, die zwei Jahre älter war als ich, Papas Freund Klaus und noch viel mehr Leute, die ich kannte, und auch einige, die ich nicht kannte. Und rechts daneben, unter einem Apfelbaum, saß Papa auf einer Bank und winkte mir zu, aber keiner achtete auf ihn. Jetzt kamen alle auf uns zu, ich bekam Angst und drückte Ute und Mamas Hand ganz fest. „Es tut mir so leid!“ „Ich wünsche euch viel Kraft!“ Ich wich zurück, während Mama Hände schüttelte und sich bedankte. Was war hier los?

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K3 LITERATURPREIS 2015 / FANTASY & MYSTERY / PREISTRÄGERINNEN Ich sah nur schwarze Beine, doch plötzlich beugte sich Klaus zu mir herunter. „Das ist aber ein tolles Stofftier, das du da hast!“ Er streichelte Ute über das kurze, graue Fell. „Das hab ich von Papa!“ „Ja, dein Papa. Der hat dich sehr, sehr lieb gehabt, das weißt du doch?“ „Er hat mich noch immer lieb!“, entgegnete ich erbost. „Ja, ganz bestimmt“, sagte Klaus und lächelte traurig, „und auch wenn er jetzt fort ist…“ „Papa ist nicht fort!“, unterbrach ich ihn wütend. Ich ließ Mamas Hand los und lief zum Apfelbaum. „Konstantin!“, rief Mama mir nach, aber ich lief weiter. Bei der Bank angekommen setzte ich mich neben Papa und schnaufte durch. Ich warf einen Blick zurück, zu Mama, aber sie war mir nicht weit gefolgt. Ich hörte, wie sie zu Onkel Gustav, der in meine Richtung ging, sagte, ich bräuchte wohl einen Moment für mich alleine und es sei schon in Ordnung, sie habe mich im Blick. „Papa?“, fragte ich. „Ja, mein Kleiner?“ Ich zögerte, sah zu Ute, aufs Gras zu den Gänseblümchen, dann wieder auf, zu ihm. „Bist du wirklich tot?“ Mein Herz klopfte schneller. Papa strich mir übers Haar, wieder spürte ich einen Luftzug an meiner Wange. „Ich fürchte ja“, antwortete er langsam und legte den Kopf schief. „Hm.“ Verwirrt musterte ich erst ihn, dann Ute. Wir schwiegen alle drei. Papa rückte seine Brille zurecht. „Bist du mir böse, wenn ich jetzt dann zu Moritz spielen gehe?“, fragte er vorsichtig. Ich überlegte. Klar, Moritz würde sich sehr freuen, Papa wiederzusehen. „Mir wäre es schon lieber, wenn du da bleibst!“, meinte ich, „Und mit mir spielst.“ „Das geht leider nicht“, seufzte er und griff nach Ute. Seine Hand glitt durch sie hindurch. „Hm“, wiederholte ich. „Ich hab dich sehr lieb, mein Kleiner, dich und Mama“, er warf einen Blick zu ihr, sie wurde noch immer von den Leuten umlagert wie Omas Kirschbaum von den schwarzen Amseln, „aber…sieh mich an. Ich werde von Tag zu Tag weniger.“ Ich sah ihn an, und er wirkte tatsächlich schon ein wenig durchsichtiger als vorher im Wohnzimmer und viel durchsichtiger als er noch letzte Woche, bevor ihn dieses blöde Auto niedergefahren hatte, gewesen war. „Kannst du nicht wiedergeboren werden?“, fragte ich, „sowie diese Frau in der Geschichte, die du mir

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K3 LITERATURPREIS 2015 / FANTASY & MYSTERY / PREISTRÄGERINNEN erzählt hast? Die zu einer Ameise geworden ist?“ „Schauen wir einmal!“, kicherte er, „wer weiß, was dann aus mir werden würde!“ „Vielleicht ein Nashorn, wie Ute!“, rief ich. „Ute ist doch ein Nilpferd“, besserte er mich erneut aus. „Ach ja.“ „Vielleicht“, sagte Papa, „vielleicht werde ich ein Nilpferd.“ Ich musste grinsen bei dem Gedanken, wie Papa wohl als Nilpferd immer seine Brille zurechtrücken würde. „Aber jetzt muss ich wirklich gehen, mein Kleiner“, sagte er schließlich. „Mh“, machte ich unwillig. „Aber ich werde auf dich aufpassen. Und auf Mama. Sowie du auf Ute aufpasst!“, versprach er und ich bekam wieder einen Luftzugstreicher über meinen Kopf. „Ich hab dich lieb“, sagte ich, obwohl ich ein bisschen beleidigt war, dass er ging. „Ich dich auch“, sagte er, ich konnte bereits die Banklehne und die Bienen hinter ihm sehen, und schließlich nur mehr die Banklehne und die Bienen. „Konstantin?“, hörte ich Mama hinter mir sagen. „Ja?“ Ich drehte mich um. „Alles in Ordnung?“ Sie fuhr mir sanft über die Wange, ich spürte ihre Hand, keinen Luftzug. „Ja“, antwortete ich und streichelte Ute, die neben mir auf der Bank saß, „Papa ist jetzt vielleicht ein Nilpferd!“

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K3 LITERATURPREIS 2015 / FANTASY & MYSTERY / PREISTRÄGERINNEN 2. Platz, Stefanie Loos

Wenn wir nur wüssten, wer wir wirklich sind

Ich laufe mit wild klopfendem Herzen den Hügel hinauf, auf die Gehege zu. Auf der anderen Seite des Hügels rattert ein alter Zirkuswagon den Kiesweg herauf. Die vorgespannten Pferde schnaufen, Dampf steigt von ihren schwitzenden Körpern auf. Vor Aufregung rutsche ich im taunassen Gras aus und lande auf allen Vieren. Macht nichts! Ein paar Flecken mehr oder weniger auf meinem Kleid, machen wirklich keinen Unterschied. Ich lache und laufe weiter. Franka und Bärbel stehen schon am Tor zum einzigen leerstehenden Gehege und warten. Alt ist das Gehege, und viel zu klein, aber besser als ein stinkender, enger Zirkuswagon allemal. Die Männer vom Zirkus heben gerade die erste der drei großen Kisten aus dem Wagon, als ich nach Luft schnappend neben ihnen zu stehen komme. Das tiefe Knurren, das aus der Kiste dringt, lässt Gänsehaut über meine Arme kribbeln. Ich kann nicht anders als zu grinsen. „Ist er das?!“, keuche ich. Der Zirkusdirektor murrt zur Antwort nur. Geld sollen wir ihm für die Tiere geben, weil er selbst keines mehr hat. Aber viel bekommt er von uns nicht. Wir haben ja auch kaum was. Und was wir haben, brauchen wir, um die Tiere und uns selbst über Wasser zu halten. Gemeinsam tragen wir die drei schweren Kisten in das Gehege. Und dann ist es endlich soweit! Ich ziehe von der anderen Seite des Gitters aus an dem Seil, und die Klappe der ersten Kiste springt auf. Leo heißt er, sagen die Männer vom Zirkus. Dabei ist er gar kein Löwe. Die anderen beiden sind Löwen, ein altes Pärchen, Samantha und Samuel, und Hörner sollen sie haben, wie Steinböcke. Meine bebenden Hände umklammern die rostigen Gitterstäbe. Ich kann mich kaum halten, so lange habe ich darauf gewartet, diese sagenumwobenen Tiere endlich zu sehen! Eine weiße Schnauze taucht aus dem Schatten der Kiste, schnuppert, ganz vorsichtig. Dunkle Augen folgen, blinzeln, überrascht vom hellen Sonnenlicht. Und plötzlich steht er vor mir. Mager ist er, und zerrupft. Aber wir werden ihn schon wieder aufpäppeln. Skeptisch blickt er um sich. Die schlanken Muskeln unter seinem kurzen grauweißgetigertem Fell sind gespannt, bereit zur Flucht – oder bereit zum Sprung. Ich möchte die raschelnden Federn seiner schneeweißen Flügel berühren, doch das Gitter trennt uns. Er fängt meinen Blick auf, fletscht die Zähne, und springt.

Wildes Alarmglockenläuten hallte durch die dichter werdende Dämmerung und über die regennassen Dächer der Stadt. Es war aller höchste Zeit zu verschwinden. Eigentlich hätte er das schon vor Wochen tun sollen,

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K3 LITERATURPREIS 2015 / FANTASY & MYSTERY / PREISTRÄGERINNEN dachte Lars reuevoll. Noch vor drei Tagen wäre es ein Leichtes gewesen, aus der Stadt zu kommen. Doch nun. Nun war alles anders. Er schob sich an einem Schornstein vorbei und drückte sich an die hohe Stadtmauer. Die morschen Dachschindeln unter seinen Stiefeln knarrten gefährlich. Ein letzter Blick in die von Schatten gefüllte Gasse weiter unten, und Lars warf den Enterhaken über die Mauer. Rasch kletterte er an dem Seil empor und schwang sich auf den Wehrgang. Eine frostige Nacht hatte die Felder und Wälder geschluckt, die die Stadt umgaben. Lars seilte sich auf der anderen Seite der Mauer wieder ab und ließ sich ebenfalls von der Dunkelheit verschlucken.

Das Gitter rattert gewaltvoll von der Wucht, mit der der geflügelte weiße Tiger dagegen springt. Ich stolpere nach hinten und lande mit einem Ächzen auf meinem Hintern. Mein Herz rast, meine Atemzüge sind plötzlich schnell und flach. Es ist jedoch nicht Boshaftigkeit, mit der mich Leos tintenschwarze Augen fixieren, nein, es ist Angst. Tiefe, panische Angst. Prompt ist Bärbel neben mir, schubst mich fort von dem Gehege. „Bedräng ihn doch nicht so, Sofia!“, schimpft sie mich, und besänftigend redet sie auf Leo ein. „Tut, tut, tut!“, macht sie. „Bist du ein armer kleiner Tiger?“ So klein ist er gar nicht, denke ich. Fast ausgewachsen. Bärbels Gerede irritiert mich. Und mir scheint, Leo irritiert es auch. Fast sieht es aus, als würde er die Augenbraun heben. Verwundert. Gereizt. Bärbel schimpft weiter. Über die Zirkuswärter und wie schlecht sie ihre Tiere behandeln. Über den Norden, wo die Silberwölfe wegen ihres Felles und ihrer Zähne ausgerottet wurden. Wie furchtbar Menschen doch zu den armen, wehrlosen Tieren sind, betont sie gerne. Und ich gebe ihr Recht. Aber ich frage mich auch, ob sie merkt, wie furchtbar sie zu ihren Mitmenschen ist. Vermutlich merkt sie es nicht. Leo sieht mich an, verwirrt und flehend. Lass mich hier raus!, sagt sein Blick.

Feuer loderte am Horizont auf. Gelbe und orange Zungen leckten über den Himmel, und schwarze Rauchschwaden verdeckten die Sterne. Doch Lars hob nicht einmal den Kopf. Er lief weiter. Immer weiter, den schlammigen Weg entlang. Fort! Nur fort von hier!, war sein einziger Gedanke. Er wollte nicht hier sein, wenn die Stadt, in der er aufgewachsen war, von demselben Schicksal ereilt wurde, wie die ferne Stadt am Horizont. Und der Krieg würde sie alle holen. Sie würden alle brennen. Ein plötzliches Rumpeln in der Dunkelheit vor ihm, ließ Lars erstarren. Einige Momente später hallten Rufe durch die Nacht und Laternen wurden entzündet. Offenbar war eine Kutsche im Schlamm stecken geblieben. Die Pferde wieherten nervös. „Pass doch auf mit der Ladung!“, brüllte da einer mit rauer Stimme. „Wenn dieses Schätzchen hier zu früh hoch geht, wird Fürst Adémar alles andere als begeistert sein!“

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K3 LITERATURPREIS 2015 / FANTASY & MYSTERY / PREISTRÄGERINNEN Fürst Adémar, dachte Lars beunruhigt, der berüchtigte Alchemist. Oder zumindest einer von vielen. Und ganz abgesehen davon Lars‘ Onkel – eine Tatsache, die Lars meist verdrängte. Es wurde gemunkelt, dass die Alchemisten ihre neuesten Erfindungen gerne während Kriegen erprobten. Lars aber kannte die Wahrheit. Er wusste, dass gewisse Alchemisten absichtlich Kriege anzettelten, um ihre fragwürdigen Substanzen an der Bevölkerung testen zu können. Denn nichts vernichtete Beweise effizienter, als das Durcheinander eines Krieges. Lars ächzte angewidert – ein Fehler, wie er zu spät feststellte. „Heh! Wer da?“, rief ein Mann von der Kutsche. Ein anderer fluchte. Und noch bevor Lars anfangen konnte sich über sich selbst zu ärgern, geschweige denn in den Wald davonzurennen, knallte es.

Ich sitze schon wieder am Gitter des Raubtiergeheges. Genau wie jeden Tag der letzten Wochen. Samantha und Samuel sind immer noch schüchtern. Sie bleiben unter sich. Vor Leo haben sie Angst, aber ich verstehe nicht warum. Er hat sich gut erholt, und seine Flügel sind echt – im Gegensatz zu den Hörnern der Löwen. Angeklebt haben die vom Zirkus ihnen die. Ha! Wie lächerlich! Manchmal glaube ich er möchte mit mir reden. Leo. Er sitzt mir gegenüber und sieht mich so traurig an. Seine weißen Flügel rascheln im Wind und sein grauweißgetigertes Fell glänzt in der Sonne. Ich würde ihn so gerne streicheln, mit ihm spazieren gehen. Es muss schrecklich sein, den ganzen Tag nur in diesem winzigen Gehege auf und ab gehen zu können. „Beißt du mich, wenn ich dich aus dem Gehege lasse?“, frage ich ihn selbstvergessen. Er schüttelt den Kopf. Ich lache. „Du verstehst mich, hm?“ Er nickt. Und jetzt finde ich es nicht mehr lustig, das ist zu viel des Zufalles. Aus einem Impuls heraus, springe ich auf und öffne das Tor zum Gehege. Erst scheint Leo nicht zu wissen, ob ich es ernst meine. Dann, ganz vorsichtig, schleicht er durch das Tor. Ich mache einen respektvollen Schritt zurück, diese Fangzähne sehen doch sehr spitz aus. Er schnuppert, ganz so, als sei die Luft hier draußen frischer, als hinter den Gitterstäben. Und ohne Vorwarnung macht er einen Satz, und halb sprintend, halb fliegend, saust er über die Wiese davon.

Sprühende Funken und purpurnes Licht blendeten Lars. Ein unerträglicher Schmerz zuckte durch seinen Körper. Er schrie auf und sackte zu Boden. Seine Gedanken verschwammen zu vagen Bildern und Eindrücken. Im Schlamm liegend, wollte er sich wieder aufrichten, doch seine Glieder weigerten sich, ihm zu gehorchen. Es wurde schwarz vor seinen Augen, schwärzer als die Nacht, die ihn umgab, und er verlor das Bewusstsein.

„Heh! Warte!“, rufe ich Leo nach. Was ich mir davon erwarte, weiß ich wirklich nicht. Er hört mich ja nicht einmal. Verschwindet einfach im Wald. Was habe ich mir dabei nur wieder gedacht? Einfach das Tor zu

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K3 LITERATURPREIS 2015 / FANTASY & MYSTERY / PREISTRÄGERINNEN öffnen? Nichts natürlich. Aber er hat so furchtbar traurig ausgesehen, dort hinter den Gitterstäben. Verstohlen sehe ich zu dem großen roten Ziegelgebäude hinunter, das am Fuß des Hügels steht, und hoffe, dass die anderen Frauen noch länger in den Pferdeställen hinter dem Haus beschäftigt sind. Mit einem Ruck laufe ich los, Leo hinterher. Inmitten einer Lichtung im Wald hole ich ihn ein. Er trottet über die Wiese, schnaufend und schwer atmend, schlägt nur schwach und erschöpft mit den Flügeln. Ich gehe in die Hocke, will ihm nicht das Gefühl geben, eine Bedrohung zu sein. „Leo!“, wispere ich, ganz sanft. Erschrocken und mit angespannten Muskeln fährt er herum, knurrt, tief und drohend. Es kostet mich alle Überwindung meine eigenen Muskeln zu entspannen und mich in das hohe Gras sinken zu lassen. Langsam strecke ich Leo einen zitternden Arm entgegen. Für einen langen Moment zögert er, dann kommt er auf mich zu, mit anmutigen aber vorsichtigen Schritten. Skeptisch sieht er mich an und bleibt schließlich gerade außerhalb meiner Reichweite stehen. Sperrst du mich wieder ein, wenn ich zu dir komme, scheint sein Blick zu fragen. „Lass uns spazieren gehen.“, erwidere ich und er nickt mir zu. Gänsehaut läuft mir über den Rücken.

Der Gestank war kaum zu ertragen. Aber noch viel schlimmer waren die verzweifelten und nicht enden wollenden Tierschreie. Und die Hitze. Mit jedem Tag, den Lars in diesem rumpelnden Zwielicht verbrachte, von dem er nicht wusste, wie er dorthin gelangt war, wurde es heißer. Lars. Das bin ich, Lars, wiederholte er immer wieder in seinem Kopf, aus Angst, er würde das auch noch vergessen. Geradezu panisch hielt er an den vagen Erinnerungsstücken fest, die ihm von seinem Leben geblieben waren. Wie Wasser zwischen den Fingern rannen sie ihm davon, die Erinnerungen. Zwischen den Fingern – wenn er nur Finger gehabt hätte.

Der Spätsommer schenkt uns goldene Sonnenstrahlen, die Leos weiches Fell unter meinen Fingern wärmen. Ich sitze im Gras, Leo liegt ausgestreckt neben mir, er döst, völlig entspannt. Die Luft ist dampfig und erfüllt vom Zirpen unzähliger Grillen. Unsere Spaziergänge werden von Tag zu Tag ausgedehnter. Heute haben uns unsere Füße bis zum Rand der kleinen Hafenstadt westlich der Auffangstation, und wieder zurück zu den Gehegen getragen. Das Rauschen der Wellen klingt immer noch in meinen Ohren nach, und der Duft der Meeresluft hängt in meinen Haaren fest. Plötzlich höre ich Stimmen den Hügel heraufkommen. Ich springe auf und rüttle den schlafenden Tiger wach. „Schnell, zurück ins Gehege!“, dränge ich ihn. „Bevor Bärbel wieder schimpft.“ Leo wirft mir einen vorwurfsvollen Blick zu, mit diesen dunklen, dunklen Augen, doch er wiedersetzt sich nicht. Träge stapft er durch das Tor des Geheges. Und ich wundere mich, nicht zum ersten Mal, warum er immer noch bei mir ist. So oft in den vergangenen Tagen hätte er schon die Möglichkeit gehabt, fortzulaufen. Aber er hat es nicht getan. Mein Herz wird ganz warm bei dem Gedanken, dass er meine Gesellschaft, der Freiheit vorzieht.

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K3 LITERATURPREIS 2015 / FANTASY & MYSTERY / PREISTRÄGERINNEN Das Knallen der Peitsche ließ Lars zurückschrecken. Wohl oder übel hatte er gelernt sich auf allen Vieren fortzubewegen. Etwas anderes ließ sein Körper gar nicht mehr zu. Ein Mann warf ein Stück rohes Fleisch in das Innere des Wagons – so viel hatte Lars inzwischen verstanden, er befand sich in einem Zirkuswagon. Und bald, bald, hatten die Männer gesagt, war es soweit, der Zirkus würde seine Pforten öffnen, für die Schaulustigen und die Neugierigen. Für all jene, die es nach dem Kuriosen, dem Bizarren und Unglaublichen dürstete. Und der Höhepunkt der Schau, würde ein geflügelter weißer Tiger sein.

Ich schreie und strample. „Nicht meinen Tiger!“, schluchze ich. Aber sie nehmen ihn trotzdem fort. Fort von mir. Bärbel hält mich fest, ihre Fingernägel krallen sich schmerzhaft in meine Oberarme. „Du bist doch selbst schuld, Sofia.“, tadelt sie mich. „Warum musstest du auch so nahe an die Stadt mit ihm gehen?“ Beschwert haben sie sich, die Leute aus der Stadt. Angst sollen sie gehabt haben. Vor Leo. Und jetzt holt ihn die Stadtwache. Das Maul schnüren sie ihm zu und in einen viel zu engen Käfig sperren sie ihn. Und mir laufen heiße Tränen über die Wangen, so hilflos fühle ich mich, so furchtbar hilflos. Leo schenkt mir einen letzten Blick, mit diesen unergründlichen, tiefschwarzen Augen, und dann ist er fort.

Eine Frau lehnte sich gegen die silbrigen Gitterstäbe, sie gehörte jedoch nicht zu den Wächtern, die Lars von Sofia weggebracht hatten. Sie trug einen Kittel, der einmal weiß gewesen sein mochte, und betrachtete Lars abschätzend. Lars erwiderte die Geste mit einem tiefen Knurren. „Ich bitte Euch, Herr Hagarson, das ist wirklich nicht nötig.“, sagte die Frau, gelassen und kontrolliert. Völlig vor den Kopf gestoßen wich Lars zurück. Woher kannte sie seinen Nachnamen? „Ah, ich sehe, ich liege richtig in meiner Annahme.“, schloss die Frau aus Lars‘ Reaktion. „Es war alles andere als einfach, Eure Identität in Erfahrung zu bringen, das könnt Ihr mir glauben.“ Sie räusperte sich. „Wie auch immer, ich erlaube mir, zum Punkt dieser Konversation zu kommen: als Mitglied der freien Alchemisten Gilde, ist es mir ein Anliegen, zu erfahren, welcher der werten Nobel Alchemisten für die Explosion nahe Eurer Heimatstadt verantwortlich war. Für Gerechtigkeit muss immerhin gesorgt werden. Aus diesem Grund biete ich Euch einen Handel an, Herr Hagarson. Ihr bekommt von mir Eure menschliche Gestalt zurück, und im Gegenzug dazu, bekomme ich von Euch den Namen des Alchemisten, den die Schuld für Euren gegenwärtigen Zustand trifft. Vorausgesetzt natürlich, Ihr kennt diesen Namen.“ Fürst Adémar, Fürst Adémar!, dachte Lars aufgewühlt, und gleichzeitig unermesslich erleichtert , wenigstens diese Erinnerung behalten zu haben. Er nickte.

Ein Jahr ist vergangen, seit mir mein bester Freund genommen wurde. Leo, denke ich immer wieder. Leo, wo bist du? Die beiden Löwen im Gehege beachten mich nicht. Samuels Mähne ist grau geworden und

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K3 LITERATURPREIS 2015 / FANTASY & MYSTERY / PREISTRÄGERINNEN Samantha frisst kaum mehr. Wir machen uns Sorgen um sie. Bärbel hat versucht die Löwin wieder aufzupäppeln, aber ohne großen Erfolg. Ich drehe mich um, lehne mich mit dem Rücken gegen die von der Sonne erwärmten Gitterstäbe und sehe den Hügel hinunter. Jemand geht den Kiesweg herauf, über den der Zirkuswagon gerattert war, an dem Tag, an dem ich Leo zum ersten Mal gesehen hatte. Der Junge, unter dessen Stiefeln nun der Kiesel knirscht, ist etwa in meinem Alter. Er hat eine anmutige Art sich zu bewegen, wie eine Katze, leicht und selbstsicher. Seine weißblonden Haare leuchten blass im Sonnenlicht. Ich kann mir nicht erklären, warum mein Herz auf einmal vor Aufregung pocht. Weiß zuerst nicht, warum sich meine Beine in Bewegung setzen, und mich auf den Jungen zutragen. Bis ich vor ihm stehe, in seine dunklen Augen sehe und er meinen Namen sagt.

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K3 LITERATURPREIS 2015 / FANTASY & MYSTERY / PREISTRÄGERINNEN 3. Platz, Alexandra Kumer

Kleines Monster, große Wirkung

Alfred trat erschöpft, aber glücklich in seine Wohnung, stellte die Aktentasche aus Wildleder auf der Garderobe ab und schloss die Tür. Er nestelte mit klammen Fingern an den Knöpfen seines Mantels bis sie aufsprangen. Draußen pfiff ein kalter Nordwind und er freute sich schon auf ein heißes Bad. Lächelnd ließ Alfred die letzten Stunden Revue passieren: er hatte dutzende Hände geschüttelt und war Leuten vorgestellt worden, deren Namen er gleich wieder vergessen hatte - vor allem aber hatte er so viele Bücher signiert, dass ihm das rechte Handgelenk schmerzte. Er war stolz, dass sein neuestes Werk beim Publikum gut angekommen war. „Schatten“ war der letzte Band einer Mystery-Trilogie, die von der Jagd nach einem übernatürlichen Serienmörder handelte. Nach dem Bad wollte er sich einen gemütlichen Abend machen, sich eine Bloody Mary mixen und „Die Vögel“ auf DVD ansehen. Geistesabwesend hängte er seinen Mantel an den Hutständer, zog die tropfnassen Schuhe aus und ging ins Bad.

„Da bist du ja endlich!“ Alfred zuckte ein wenig zusammen, als er die Stimme vernahm, hatte aber keine Angst. Manchmal, wenn er ein Buch zu Ende gebracht hatte, hörte er die Stimmen seiner Protagonisten nachhallen. Selten waren es ganze Sätze, aber er vermutete, dass seine Nerven nach der Präsentation einfach überreizt waren. Er war von Haus aus wenig schreckhaft – eine Eigenschaft, die ihm bei seinem Beruf und seinen Hobbys nur dienlich war. So sammelte er mit Leidenschaft Filmrequisiten, die er in seiner Wohnung ausstellte. Besonders stolz war er, einen der Werwölfe aus „Dog Soldiers“ ersteigert zu haben. „Sally“, wie er das Monstrum getauft hatte, stand nun mit hoch erhobenen Pranken in seinem Wohnzimmer. Seine besten Einfälle hatte Alfred gehabt, wenn er in dem gemütlichen Ohrensessel neben Sally an seinen Geschichten tüftelte. Neben Sally nannte er einige Requisiten aus „Der Herr der Ringe“ sein Eigen, einen Kelch, der Alistair Crowley gehört hatte und eine schier unzählbare Menge an DVDs und Büchern, die Alfreds ausgewählten Geschmack in Sachen Mystery und Fantasy widerspiegelten. Unter anderem hatte er es geschafft, den Director's Cut zu „Farben der Magie“ zu ergattern. Alfred liebte seine Sammlung. Er fand es nur ein wenig schade, dass er noch keine Frau gefunden hatte, die seine Leidenschaft teilte. Die meisten suchten das Weite sobald sie Sally sahen. Nur eine war ein bisschen länger geblieben, aber die hatte Alfred höchstpersönlich vor die Türe gesetzt, als sie in etwas „Bequemeres“ schlüpfen wollte und in Lack und Leder

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K3 LITERATURPREIS 2015 / FANTASY & MYSTERY / PREISTRÄGERINNEN gequetscht wieder aus dem Bad kam.

Während das Wasser in die Wanne brauste, zog Alfred sich aus und glitt sanft in das duftende Nass. Dann legte er den Kopf in den Nacken und stöhnte erleichtert auf. Seine Gedanken kreisten um „Schatten“ und die Trauer, die er empfand, weil er sich nun wieder ein neues Thema suchen musste. Ein Buch abzuschließen hieß immer, einem – wenn auch fiktiven – Teil seiner Lieben „Auf Wiedersehen“ zu sagen. Immerhin hatten ihn die Protagonisten der Trilogie sechs Jahre lang überall hin begleitet. Worüber sollte er jetzt schreiben? Oder sollte er sich eine Schaffenspause gönnen? Vielleicht eine Geschichte über homosexuelle Vampire? Alfred kicherte. Was wohl Stephenie Meyer oder Anne Rice dazu sagen würden? „Jetzt reicht's aber! Alfred, reiß' dich zusammen! Das kannst du besser!“ Wasser schwappte über, als der Autor sich ruckartig in der Badewanne aufsetze. Die Stimme war zurück! „Du solltest was Authentisches schreiben. Nicht so wie die beiden. Weißt du, was ich der Meyer immer und immer wieder gesagt habe?“ Alfred schüttelte unwillkürlich den Kopf. „'Wenn ich in die Sonne könnte, glaubst du wirklich, dass ich freiwillig um Mitternacht bei dir auftauche?', hab ich sie gefragt. Ausgelacht hat sie mich und etwas von schriftstellerischer Freiheit gefaselt! Und dann hat sie mich glitzern lassen! In der Sonne!“ Was zum Teufel... ob er verrückt wurde? Wann war er das letzte Mal beim Arzt gewesen? Alfred fuhr sich mit den Handflächen über das Gesicht und legte seine Hände wie ein Zelt über seinen Mund. Er atmete mehrmals in die improvisierte Tüte, um sich zu beruhigen. Mittendrin hielt er inne. Was hatte die Stimme da gezischt? Sonnenlicht... Mitternacht...glitzern... Was zur Hölle?!? Doch noch bevor sich Alfreds Herzschlag normalisiert hatte, wurde er von jener obsessiven Haltung zum Beruf befallen, wie sie nur Vollblutautoren und Teilchenphysiker kennen. War es möglich? Es war verrückt, aber warum auch nicht? Vielleicht war direkt in seiner Wohnung ein Portal in eine andere Dimension aufgegangen! Eine Dimension, in der alle bisher erdachten Figuren real waren! Ein wohliger Schauer jagte über seinen Rücken. „Ach, wäre das schön! Ich könnte alle meine Charaktere treffen. Und nicht nur das! Auch andere könnten dort hin!“ Alfred sah bereits die Werbeflächen vor seinem inneren Auge: FanFictionTours - Ihr Reiseunternehmen in eine andere Welt. Lesen war gestern! Lernen Sie Ihren Lieblingscharakter persönlich kennen!

„Okay“, fuhr die Stimme fort. „Bei dir ist wohl mehr als eine Schraube locker.“ Alfred konnte nicht herausfiltern, ob es sich um eine Frage oder eine Feststellung handelte. Die Stimme hatte Probleme mit der Interpunktion - die Figur konnte folglich nicht von ihm sein. Schade. Er beschloss, sich in Ignoranz zu üben.

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K3 LITERATURPREIS 2015 / FANTASY & MYSTERY / PREISTRÄGERINNEN „Ich wusste es. Ach Sigismund, wenn du das jetzt sehen könntest! Du hast mich schon vor Bram gewarnt, aber nein, ich musste ja losziehen. Wer hätte da schon wissen können, dass ich als blutsaugendes Monster enden würde… und dann auch noch seine Nachfolger, die auf Kuschelkurs gingen. Ich kann nicht sagen, was schlimmer ist, aber ignoriert wurde ich noch nie! Genug ist genug!“ Alfred kicherte. „Willst du etwa behaupten, du wärst die Vorlage für 'Dracula'? Gesetz dem Fall, ich würde eine logische Schlussfolgerung in Betracht ziehen, dann – bist du ein Vampir?“ „Nein, verdammt! Ich bin nicht ein Vampir. Durch einen blöden Zufall bin ich der Vampir – wie in der letzte seiner Art.

„Du bist was?!“ Alfred fuhr erschrocken auf. „W... Wie... Wieso das denn? Weil die Menschen nicht mehr an euch glauben und ihr deshalb in Vergessenheit geratet und sterbt?“, versuchte Alfred seine Frage selbst zu beantworten. „So viel Quatsch in einem Satz hab ich seit Ewigkeiten nicht mehr gehört. Du bist einer von denen, die auch an den Weihnachtsmann glauben, oder?“ Alfred runzelte die Stirn.

„Oh nein!“, stöhnte die Stimme enttäuscht. „Ach was soll's, ich geb's auf. Es war eine blöde Idee, hierherzukommen. Mach's gut!“ „Warte!“, rief Alfred in das leere Bad hinein und überschlug sich fast bei dem Versuch, aus der Wanne zu klettern. Er musste sich vergewissern, dass die Stimme einen Körper besaß. Oder dass er sich die Stimme nur einbildete. Alfred konnte es sich nicht erlauben, im Niemandsland zwischen den beiden Möglichkeiten stecken zu bleiben. Also nahm er den letzten Rest Verstand zusammen und keuchte: „Ich glaube dir ja! Ich... ich glaube dir ja!“, als er nach einem Handtuch griff und es sich um die Taille schlang. Doch es blieb still. „Jetzt komm' schon – wenn es dich wirklich gibt, dann zeig dich!“ „Ich bin hinter dir“, fiepste es. „hier oben!“ Alfred drehte sich langsam um und blickte zur Decke. Was er da sah, entsprach so gar nicht seinen Erwartungen. Er blinzelte ein paar Mal. Zur Sicherheit kniff er sich in den Unterarm, bis es weh tat. „Sag, bist... wer... oder... ich meine, bist du das?“ Seine Stimme zitterte leicht. „Natürlich nicht! Ich bin Jennifer Lopez!“, kam es rotzfrech zurück. Alfreds Gegenüber wurde ihm immer unsympathischer. Von der Decke baumelte eine verwahrlost aussehende Fledermaus. Moment mal – hatte er nicht gerade erst einen Artikel über ein mysteriöses Massensterben unter Fledermäusen gelesen?

Alfreds Sprachlosigkeit wich recht schnell einer Entrüstung, die direkt aus seinen Eingeweiden zu kommen schien. Vampir hin oder her – dieser vorlaute Mistkerl war bei ihm eingebrochen. In seine Wohnung! „Komm' runter! Du schuldest mir mehr als eine Erklärung!“, rief er etwas zu laut. Täuschte er sich oder blickte die Fledermaus verlegen drein? Sie nahm den Kopf zwischen die Flügel und nuschelte etwas Unverständliches. „Wie bitte?“ „... hänge gerade noch mit letzter Kraft hier... Flug nach unten raubt mir die

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K3 LITERATURPREIS 2015 / FANTASY & MYSTERY / PREISTRÄGERINNEN Energie, die ich zur Verwandlung brauche. Würdest du mich bitte einfach… runter nehmen?“ Alfred fluchte laut auf. „Sag mal – wie hast du es geschafft, deine Spezies zu überleben? Schämst du dich nicht für den Auftritt?“, polterte Alfred, während er ins Schlafzimmer ging um sich etwas Vernünftiges anzuziehen. Dann holte er eine Leiter und stieg fluchend die Sprossen hoch. Gerade, als er das zerfledderte Tier vorsichtig in die Hände genommen hatte und noch einen Schritt vom Boden entfernt war, gab es ein grunzendes Geräusch von sich und wechselte die Gestalt. Alfred verlor vor lauter Schreck den Halt. Mit einem lauten Krachen landeten beide auf dem Boden.

Der Autor fasste sich als erster. „Wie bist du eigentlich zum Vampir geworden? Hast du im Lotto gewonnen, oder was?“ „Tut mir leid.“, nuschelte der bunte Haufen vor ihm. „Ich hatte schon immer ein Problem mit frühzeitiger Transformation.“ „Auch das noch!“, dachte der Alfred beklommen, als er vorsichtig aufstand und sich abklopfte. „Wenn er mir jetzt auch noch mit Potenzstörungen kommt, dann…“ „Also nein“, wurden seine Überlegungen lautstark unterbrochen. „Das hab ich sicher nicht. Ich kann dir hunderte von… ach nein, kann ich nicht mehr.“, seufzte das Bündel, das nun wackelte und langsam einen braunen Lockenschopf erkennen ließ. Dann folgte eine Hand, ein Fuß und schließlich konnte Alfred den Vampir in seiner vollen Größe begutachten – mehr als einen Meter fünfzig brachte der Kleine jedoch nicht zustande. Er konnte einem fast schon leid tun. „Du bist ja noch ein Kind!“, entfuhr es Alfred. „Natürlich nicht! Ich bin sogar ein sehr großer Vampir!“ Der Autor sah ihn entrückt an. „Vampire sind kleinwüchsig?“ „Ich bin ein großer Vampir, hörst du?“ Der Blutsauger machte eine Geste, die wohl an Dracula erinnern sollte. Alfred beeindruckte das wenig. Dennoch hob er beschwichtigend die Hände: „Also ich bin ja kein Experte, aber bleibt die menschliche Gestalt denn nicht in ihrer ursprünglichen Form erhalten?“

Der kleine Mann sackte in sich zusammen und ließ sich auf den Fließenboden plumpsen. Mit einer weit ausladenden Geste überkreuzte er seine Arme auf seinen Knien und ließ seine Stirn drauf plumpsen. Der Vampir schniefte laut auf. Äußerst theatralisch, fand Alfred, doch schließlich fasste sich der Autor ein Herz und reichte dem Vampir in Ermangelung von Alternativen ein Handtuch damit er sich schnäuzen konnte. „Du hast ja recht“, schnaubte der Blutsauger. „Ich bin ein Versager auf ganzer Linie. Ich habe im Leben nichts zustande gebracht und als Untoter bin ich noch schlimmer. Ich gebe es ja zu - ich war nie größer.“ Jetzt packte Alfred doch ein wenig das schlechte Gewissen. Er klopfte seinem Gegenüber unbeholfen auf die Schulter, um ihn zu trösten. „Ist ja gut.“, murmelte er beschwichtigend. Dabei hatte er immer geglaubt, Vampire hätten keine Gefühle. „Wie heißt du denn?“ Der Blutsauger sah ihn über die verschränkten Arme erschrocken an: „Du bist ein Mensch! Du würdest den Klang meines Namens...“ Alfreds Blick und eine Geste

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K3 LITERATURPREIS 2015 / FANTASY & MYSTERY / PREISTRÄGERINNEN machten dem Gehabe des Vampirs schnell ein Ende. „Boa eh. Klaus. Mein Name ist Klaus.“

Alfred grinste und hielt Klaus die ausgestreckte Hand hin. „Freut mich, dich kennenzulernen. Also, was kann ich für dich tun? Du bist doch nicht hier um mich zu töten, oder?“ Der Blick, den der Blutsauger ihm zuwarf, ließ Alfreds Grinsen gefrieren. Dem Autor blieb die Luft weg, er stützte sich am Waschbecken ab, schloss die Augen (wobei seine Wimpern verdächtig zuckten) und zwang sich, tief durchzuatmen. Zischend presste er eine Antwort hervor: „Wenigstens bist du ehrlich. Dir ist wohl die Kraft ausgegangen und jetzt bist du von deinem vermeintlichen ‚Opfer‘ abhängig.“ Ein herzzerreißendes Schluchzen bestätigte die Vermutung des Autors. „Was bin ich froh, dass du so unfähig bist.“, seufzte Alfred erleichtert. Dann runzelte er die Stirn und murmelte etwas Unverständliches. Plötzlich öffnete er die Augen, machte einen Satz nach vorne und packte Klaus bei den Schultern. „Das ist es! Ein tollpatschiger Vampir... das ist der Stoff aus dem Bestseller gemacht werden!“ Er rüttelte den verdatterten Blutsauger durch. „Sto... sto.. hal...“, stotterte Klaus, doch Alfred war nicht zu bremsen. „Lass' das!“, brachte der Vampir schließlich hervor und befreite sich mit letzter Kraft aus Alfreds Griff. Dieser sah ihn mit fiebrigen Augen an. „Hör' zu, erzähl mir alles. Wenn mir gefällt, was ich höre, bekommst du ein bisschen Tomatensaft.“ „Bäh – willst du mich umbringen?“ Der Kleine funkelte Alfred zunächst noch böse an, doch dann glättete sich seine Stirn und er brachte ein Lächeln zustande. Alfred schauderte, da die hochgezogenen Mundwinkel die Eckzähne des Vampirs in ihrer vollen Größe freigaben. „Vielleicht hättest du ja ein bisschen Whiskey?“ Alfred zog eine Augenbraue nach oben. Klaus seufzte. „Ihr Menschen und euer eingebildetes Halbwissen über Vampire… wir ernähren uns von Blut und Whiskey. Das Gebräu heißt nicht umsonst ‚Wasser des Lebens‘. Johnny war einer von uns – ohne seine Destille hätten wir niemals genügend Nachschub herstellen können. Oder warum glaubst du, dass die Welt nicht schon längst von Vampiren überbevölkert ist?“

Johnny Walker ein Vampir? Alfred brummte der Schädel. „Ach, auch egal! Ich mache mich mal auf die Suche nach deinem 'Wasser des Lebens'. Mittlerweile könnte ich auch eines vertragen.“ In Hochstimmung versetzt trottete Alfred in Richtung des Wohnzimmers, in dem neben Sally auch eine kleine Bar aus Ebenholz stand.

„Ich möchte vorausschicken, dass ich ein großer Fan bin.“, plapperte Klaus munter drauf los, als er dem Autor folgte. „Ich liebe deine Geschichten!“ Alfred hielt inne und starrte den Kleinen mit unverhohlener Neugier an. „Ein Fan? Soll das heißen, Vampire lesen?“ „Teufel noch eins! Natürlich tun wir das! Wir lesen, wir schreiben, wir sind... waren... wie ihr – nur besser.“ Erneut lief Alfred ein leichter Schauer über den Rücken. Ein übersinnlicher Bewunderer… das war fabelhaft, im wahrsten Sinne des Wortes! „Kannst du dich noch an deine Geschichte mit dem Serienmörder erinnern, der sich als Riesenfledermaus von einem

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K3 LITERATURPREIS 2015 / FANTASY & MYSTERY / PREISTRÄGERINNEN anderen Planeten entpuppte?“ „Aber natürlich“, meinte der Autor mit stolz geschwellter Brust. „Mitunter eine meiner besten Arbeiten – ich habe die Trilogie gerade abgeschlossen!“ „Ja“, nickte der Vampir versonnen. „Leider. Denn wäre diese Geschichte nicht gewesen, dann gäbe es außer mir noch andere Fledermäuse auf Erden.“ Alfred runzelte fragend die Stirn. „Natürlich bist du nicht direkt dafür verantwortlich, aber ohne das Buch... ach, ich will nicht nachtragend sein.“ Alfred verdrehte innerlich die Augen, mahnte sich aber zur Ruhe. Klaus trat derweil verlegen von einem Fuß auf den anderen. „Ich habe dein Buch gelesen und nach dem ersten Teil regelrechte Panik vor Fledermäusen entwickelt. Dann bin ich dem Whiskey verfallen und habe mich in einer Destillerie versteckt. Von dort aus habe ich in meinem Rausch zunächst fast alle tierischen Fledermäuse getötet. Und dann kamen meine Freunde dran...“

In Alfreds Kopf schwirrte es wie in einem Bienenstock. Seine Geschichte hatte eine Rasse ausgelöscht – nein, eigentlich fast zwei! Und alles nur wegen eines besoffenen Vampirs mit einem deftigen Napoleon-Komplex und einer Phobie? „Als ich bemerkte, dass ich selbst zum Serienmörder geworden war, da war es zu spät!“, riss Klaus Alfred aus seinen Gedanken. Der Vampir stand jetzt ganz nah bei ihm, umarmte den perplexen Autor und weinte echte Tränen, die zu Alfreds Erstaunen blau waren. Das Hemd konnte er jedenfalls vergessen. „Na, na, das wird schon wieder.“, Alfred tätschelte den Kleinen und umarmte ihn äußerst unprofessionell. In einem Anflug väterlicher Güte fragte Alfred: „Wie kann gerade ich dir helfen?“ Kaum hatte er den Satz ausgesprochen, löste sich Klaus geschickt von seinem Gegenüber. Er gestikulierte wie Jack Black, während er mit einer Stimme, die wohl verschwörerisch klingen sollte sein Anliegen vorbrachte: „Gut das du fragst. Keine große Sache - du musst dich nur von mir beißen lassen.“ „WAS? ICH? WARUM?!?“ Entsetzt machte Alfred einen Satz nach hinten.

„Naja, sieh dich mal um.“ Klaus vollführte eine Pirouette und deutete mit den ausgestreckten Händen auf das Inventar. Dann sah er den Autor aus zusammengekniffenen Augen an und stach Alfred bei jedem zweiten Wort schmerzhaft in die Brust. „Du wolltest doch immer schon einer von uns sein und ich brauche Hilfe beim Aufbau einer neuen Generation Vampire. Stell' dir nur vor: mittendrin statt nur dabei! Die Recherche für neue Bücher wäre ein Kinderspiel!“ Alfred schluckte.

Ein Jahr später

Die Teenies kreischten wie verrückt, als Alfred aus dem Flugzeug stieg. Er war zu einem Kultautor avanciert.

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K3 LITERATURPREIS 2015 / FANTASY & MYSTERY / PREISTRÄGERINNEN Nicht nur, weil seine Geschichten blutrünstiger und authentischer waren als alles, was bisher auf dem Markt zu finden war, sondern auch, weil er keine Skrupel zu kennen schien. Binnen kürzester Zeit hatte er mit seinen Vampirromanen die Welt erobert. Dass er offen zugab, Blut zu trinken, angeblich ein Verhältnis zu einem Werwolf namens Sally pflegte und nur des Nachts Lesungen gab, tat sein Übriges.

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