Cerdà

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CERDA

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Ildefons Cerdà (1815-1876)

verschaffen sollte – ist das Streben nach einer Kohärenz, die sich die widersprüchlichen Anforderungen einer komplexen Agglomeration zu Nutzen macht. Er überwindet die Teilperspektiven (die utopische, die kulturelle, die monumentale, die rationalistische Stadt usw.) und widmet sich der Forschung nach einer ganzheitlichen Stadt.

Als dritter Sohn einer Familie, die sich dem Amerikahandel widmete, wurde Ildefons Cerdà auf dem Land geboren, und zwar auf dem Hof Mas Cerdà in Centelles, etwa 50 km nördlich von Barcelona. Schon in seiner Jugend entwickelte er eine offene, fortschrittliche Mentalität, und seine Ausbildung schloss er 1841 an der Madrider Bauingenieursschule ab, an der liberale Ideen vorherrschten. Zuvor war er durch seine Freundschaft mit Narcís Monturiol, dem Erfinder des Unterseeboots Ictíneo, mit den Ideen Cabets und der utopischen Welt seiner Voyage en Icarie (Reise nach Ikarien, 1840) in Berührung gekommen. Als Mitglied der Ingenieurbeamtenschaft wurde er an verschiedene Orte versetzt, bevor er sich in Barcelona niederließ (1848), wo er Clotilde Bosch heiratete. Aufgrund des Todes seiner Geschwister erbte er ein beträchtliches Vermögen, das es ihm erlaubte, die Beurlaubung von der Ingenieurbeamtenschaft zu beantragen und sich aus eigener Initiative dem Studium des Städtebaus und – als Abgeordneter für Barcelona im spanischen Parlament, Stadtrat in Barcelona, Vizepräsident des Provinzialrats ... – der Politik zu widmen. Nach einem Leben, das er der Erschaffung einer neuen Stadt gewidmet hatte, die noch heute ein außerordentliches Modell von universellem Wert darstellt, verstarb Cerdà 1876 in Caldas de Besaya (Santander) an einer Herzerkrankung.

Cerdàs Ideen sind von der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika, den theoretischen Grundlagen der Französischen Revolution und den verschiedenen utopistischen Bewegungen beeinflusst. Die expliziten und impliziten Kriterien und Ziele des Projekts für Barcelona sind von Humanismus durchdrungen, und Gleichheit, Freiheit (Privatsphäre) und gesellschaftliche Kohäsion sind die wesentlichen Grundlagen seines praktischen Wirkens. Kurzum, sein Streben gilt der (vollkommen) „egalitären” Stadt. Dazu gehört unter anderem auch das Gleichgewicht zwischen den urbanen Werten und den ruralen Vorteilen. „Das Urbane ruralisieren, das Rurale urbanisieren”, lautet dann auch die Botschaft, mit der die Allgemeine Theorie beginnt.

Das ummauerte Barcelona Der Beginn der Industrialisierung war der Auslöser einer starken Immigrationswelle, die dazu führte, dass der von Mauern umgebene städtische Raum Barcelonas zu klein wurde. Die zunehmende Enge und Verschlechterung der Lebensqualität lösten eine Protestbewegung aus. „Nieder mit den Mauern!” lautete der Schlachtruf, den der Stadtgouverneur Pascual Madoz, ein Freund Cerdàs, der auch dessen Ideen teilte, aufgriff, als er 1854 den von der Bevölkerung freudig begrüßten Abriss derselben anordnete. Die Altstadt hatte eine schier unglaubliche Bevölkerungsdichte erreicht (890 Einwohner pro Hektar, gegenüber 90 pro Hektar in London, 350 in Paris und 380 in Madrid), und die Menschen waren in sechsstöckigen Gebäuden zusammengepfercht, die über nur vier Metern breiten mittelalterlichen Straßen emporragten. Selbst die Carrer Ample, die so genannte „Breite Straße”, erreichte noch keine acht Meter.

Der Planungsprozess des Stadterweiterungsprojekts Cerdà hatte vom Ministerium für Infrastruktur den Auftrag erhalten, eine topografische Karte der Ebene von Barcelona, eines weitläufigen Geländes, dessen Bebauung aus strategischen Gründen verboten war, zu erstellen. Parallel dazu verfasste er auf eigene Veranlassung die Monografía de la clase obrera (Monografie der Arbeiterklasse, 1856), eine komplette und tief greifende Analyse der Lebensumstände innerhalb der Stadtmauern auf der Grundlage der sozialen, wirtschaftlichen und Ernährungsbedingungen. Die Diagnose war deutlich: Die Stadt war „schäbig” und ungeeignet für die „neue Zivilisation”, die durch die Verwendung der Dampfenergie in der Industrie und im Transportwesen (zu Land und zur See) gekennzeichnet war. Eine neue Zivilisation, die, so Cerdà, über „die Mobilität und die (Tele-) Kommunikativität” definiert werden sollte (der optische Telegraf war die andere relevante Erfindung). Der Paradigmenwechsel bedurfte eines neuen Stadttyps, und Cerdà begann ohne Auftrag, seinen Gedanken eine Struktur zu geben, die er viele Jahre später (1867) in seinem großen Werk systematisch darlegte: Teoría General de la Urbanización (Allgemeine Theorie des Städtebaus). Einer der wichtigsten Züge von Cerdàs Vorschlag – der, der ihm in der Geschichte des Städtebaus eine herausragende Stellung

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Das „Projekt für die Erneuerung und Erweiterung von Barcelona” (1859)

Originalplan für die Erneuerung und Erweiterung Barcelonas (1859)

Ansicht der überarbeiteten Version (1863) des Erweiterungsprojekts für Barcelona von 1859

Anders ausgedrückt, will Cerdà dem „Inhalt” (den Personen) Priorität über den „Behälter” (die Steine und die Gärten) geben. Die Form, bei den meisten städtebaulichen Projekten obsessiv in den Mittelpunkt gerückt, ist bei ihm nicht mehr als ein Instrument, zwar von höchster Bedeutung, aber nicht, wie so oft, wesentlicher, manchmal übermächtiger Entscheidungsfaktor. Der Zauber der Idee Cerdàs besteht darin, bei der Entwicklung der Stadt von der Wohnung auszugehen. Der Privatsphäre der Wohnung wird absolute Priorität beigemessen, und in einer Zeit der Großfamilien (drei Generationen) die Freiheit aller Familienmitglieder gewährleisten zu wollen, kann durchaus als utopische Idee betrachtet werden. In Cerdàs Augen ist die ideale Wohnung isoliert, rural. Trotzdem zwingen die enormen Vorteile der Stadt dazu, zu verdichten (die Essenz des Urbanen) und eine Wohnung zu gestalten, die in ein hoch gebautes Mehrfamilienhaus integriert werden kann und dank einer sorgfältigen Anordnung sowohl zur Straße als auch zum Innenhof des Blocks hin geöffnet ist. So gelangt auf jeden Fall Sonnenlicht ins Wohnungsinnere. Der zweite große Beitrag des Stadtplaners war eine primäre Gebietseinteilung in „Verkehrswege” (vies) und „Zwischenräume” (intervies). Die ersten dienen als öffentlicher Raum für die Mobilität, die Zusammenkunft, die Versorgungsnetze (Trinkwasser, Kanalisation, Gas ...), die Begrünung (über 100000 Straßenbäume), die Beleuchtung und das Stadtmobiliar. Die „Zwischenräume” (Blöcke) sind Räume (100 x 100 m) für das Privatleben. Hier werden weite Innenhöfe an zwei Seiten von Mehrfamilienhäusern gesäumt, in denen ausnahmslos alle Wohnungen, wie von den Hygienikern gefordert, Sonne, natürliches Licht, Frischluft und joie de vivre (Lebensfreude) empfangen. Dies ist die eindentige Anwendung des Willens „das Urbane zu ruralisieren und das Rurale zu urbanisieren”. Die Verkehrswege sind in Form eine homogenen, rechtwinkligen Netzes als Instrument für eine egalitäre und funktionell effiziente Stadt angeordnet. Das für das Eixample charakteristische Raster ist übrigens keine Erfindung Cerdàs (auch wenn er es ohne Spekulationsinteressen und den Kenntnismangel der Kolonisten rationalisiert). Und es ist, mehr als ein bloßer Irrtum, geradezu eine Beleidigung Cerdàs, das regelmäßige Raster als seinen einzigen oder wichtigsten Beitrag zu betrachten. Das Wegenetz verbindet, gliedert und homogenisiert die Stadt. Es stellt das stabile Gerüst für eine in Höhe und Tiefe variierende Bebauung dar. Der katalanische Schriftsteller Josep Pla nannte das Eixample „ein Chaos auf einem Schachbrett”. Es ist genau diese Berührung zwischen Chaos und Ordnung, aus der das Leben (und die Freiheit) entsteht und erhalten bleibt. Wir wollen uns hier nicht in historischen Details verlieren, aber die 17% Straßenfläche der ummauerten Stadt wurden im Eixample, vierzig Jahre vor Erfindung des Automobils, mit mindestens 20 Meter breiten Straßen und „transzendentalen Wegen”

Luftansicht eines Abschnitts des Eixample an der Grenze zur Ciutat Vella

Ideales Schema der „transzendentalen Wege”, die die Stadt mit ihrer Umgebung verbinden sollten, auf der Originalzeichnung des Cerdà-Plans

Generalitat de Catalunya Regierung von Katalonien Ministerium für Innovation, Universitätswesen und Betriebswirtschaft


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