5 minute read

Interview Thomas Hengelbrock

Next Article
Lahav Shani

Lahav Shani

Eine revolutionäre Oper

Am 3. Oktober kommt Dirigent Thomas Hengelbrock mit seinen Balthasar-Neumann-Ensembles sowie Solisten der Extraklasse ins Konzerthaus Dortmund. In der Reihe Konzertante Oper steht Glucks »Orfeo ed Euridice« auf dem Programm. Über die Musik und seine Beziehung zu Dortmund sprach Hengelbrock mit hörbar-Autor Dr. Heiko Schmitz.

Herr Hengelbrock, Sie sind gern und oft in Dortmund zu Gast. Was verbindet Sie mit der Stadt und dem Konzerthaus?

Das Konzerthaus Dortmund ist ein außergewöhnlich schönes Haus, es ist mir zweifellos einer der liebsten Auftrittsorte. Mir hat es von Anfang an gefallen, ich habe hier nicht nur in den vergangenen Jahren mit Intendant Raphael von Hoensbroech, sondern schon mit seinen Vorgängern großartige Aufführungen erlebt. Das Haus hat für mich eine der besten Akustiken weltweit, es ist herausragend gelungen. Toll finde ich auch die Lage mitten in der Fußgängerzone des Brückviertels. Die Botschaft lautet: Wir machen Kultur für alle. Darüber hinaus habe ich familiäre Bindungen zu Dortmund. Ich mag den Menschenschlag hier.

Sie treten diesmal in der Reihe Konzertante Oper auf. Mich hat in der vorigen Spielzeit vor allem Wagners »Rheingold« als konzertante Aufführung mit Yannick Nézet-Séguin beeindruckt.

Das passt gut, Wagner war ja ein großer Gluck-Verehrer. Man muss wissen, dass Gluck mit »Orfeo ed Euridice« die Oper revolutioniert hat – wie Wagner selbst ja später auch. Gluck hat den alten Stoff auf das wesentliche menschliche Drama reduziert und von überbordenden Soli mit endlosen Koloraturen befreit – seine Musik ist sehr gut für eine konzertante Aufführung geeignet. Der ganze Dekor des Spätbarock fehlt darin. Wenn Sie – wie beispielsweise in Händels »Alcina« – Arien vor sich haben, die zehn bis zwölf Minuten dauern, brauchen Sie Aktion auf der Bühne und Theatralik. Das ist bei Glucks Oper anders: Die Zeit vergeht in dem Stück sehr schnell.

Was macht Glucks Musik aus, worin besteht die besondere Kunst des Komponisten?

Man darf sicher sagen, dass ihm ein Händel oder Mozart rein musikalisch überlegen war. Aber Gluck ist ein großer Tektoniker, er schafft eine neue Architektur und Form für den uralten griechischen Stoff. Er hat einen großartigen Sinn für Proportionen und die Oper wirkt in sich sehr geschlossen. Der Chor geht hinaus und kehrt wieder zurück ins Drama, das Volk betrachtet und kommentiert. Das Happy End war damals übrigens eine Konzession an den Publikumsgeschmack: Weder Gluck noch sein Librettist Ranieri de Calzabigi waren damit einverstanden.

Wieso musste er hier Kompromisse machen?

Sehr weit reichte die künstlerische Freiheit seiner Tage leider nicht. Das Ganze sollte ein Erfolg werden, auch kommerziell. Die Musik seiner Zeit besteht aus Auftragswerken, in denen Wünsche der Auftraggeber, Kirche, Krone oder auch mächtige Impresarios den Ton angaben. Heute ist der Erfolg beim Publikum zum Glück nicht mehr alles…

Warum ist Gluck eine Schlüsselfigur unter den Opernkomponisten?

Er hat eine herausragende Stellung als Reformator der Oper. Vor »Orfeo ed Euridice« hat er auch Traditionelles mit typischen Bravour-Arien geschrieben. Hier aber führt er das Drama auf seine Essenz zurück – so ähnlich wie die Renaissance-Künstler um 1600, denken Sie nur an Monteverdis Musik zum »Orfeo«. Danach wurde der Einfluss der herausragenden Sängerinnen und Sänger immer größer, die Opern wurden zum Gemischtwarenladen. Die Solistinnen und Solisten brachten Koffer voller Arien mit. Das war pures Entertainment, ein bisschen Las Vegas. Gluck hat damit Schluss gemacht: Er wollte kein Tummelfeld für Eitelkeiten mehr, er stellt den Stoff und das Drama in den Mittelpunkt. Er schafft starke Titelfiguren mit großartigen Hauptrollen, die schlicht und wahrhaftig sind.

Wie setzt er das musikalisch um?

Die Musik ist im besten Sinne prunklos und ergreifend. Es sind auf den ersten Blick relativ einfach komponierte Arien mit innerem Ausdruck. Das aber macht die Aufführung auch so schwer, beziehungsweise für manche offenbar uninteressant. Doch in der Einfachheit liegt die Kunst. Man muss zum Kern vordringen.

Welche Rolle spielt dabei die Aufführungspraxis?

Wir sorgen selbstverständlich dafür, dass wir die richtigen Instrumente an Bord haben und den passenden Stimmton für die Sängerinnen und Sänger. Wir spielen auf den Originalinstrumenten mit 415 Hertz einen Halbton tiefer, die Streicher spielen zudem mit Darmsaiten und alten Bögen. Dazu erklingen Kornett und Chalumeau, um die antikisierende Klangfarbe zu erhalten.

Welche Rolle spielen die Sängerinnen und Sänger?

Eine sehr große. Dortmund kann sich auf eine herausragende Besetzung freuen. Countertenor Jakub Józef Orliński ist einer der besten Sänger unserer Zeit, auch Regula Mühlemann als Euridice ist eine Top-Besetzung. In der französischen Fassung der Oper wird der Orfeo mit einem Tenor besetzt, es ginge auch mit einer Mezzosopranistin. Entscheidend ist, dass die Sänger den Ton und Kern der Musik treffen. Das gilt genauso für Liederzyklen wie die »Winterreise« oder »Dichterliebe«.

Die Botschaft der Oper – und des gesamten Stoffes – lautet: Kunst bezwingt sogar die Schrecken des Todes. Welche Rolle spielen Kunst allgemein und Musik im Besonderen in diesen eher krisenhaften Zeiten?

Kunst kann uns unterhalten, ablenken und zerstreuen, aber auch tief und wahrhaftig mit unserem wahren Leben und seinen Bedingungen konfrontieren. Traurige Musik kann sehr tröstlich sein – Kunst braucht nicht immer ein gutes Ende. Es ist eher das Gefühl, etwas zu erleben, das uns alle umspannt.

Nochmal zur aktuellen Situation: Wie bewerten Sie die auch in deutschen Medien geführte Debatte um russische Künstler und deren Auftritte?

Dazu habe ich eine klare Position. Die aktuelle Debatte wird teilweise unfassbar unfair geführt. Hier werden sehr komplexe Zusammenhänge, etwa beim Thema Abhängigkeit von Sponsoren und Unternehmen, extrem vereinfacht und alles in Schwarz und Weiß gemalt. Auch wir haben russische Künstler im Orchester, die persönlich stark betroffen sind und unter der Situation leiden. Ich kann nur an uns alle im Westen appellieren, dass wir uns mit Urteilen zurückhalten und menschlich bleiben. Ich finde die Debatte in Teilen Zwietracht säend.

Das Interview führte Dr. Heiko Schmitz.

This article is from: