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Interview Raphael von Hoensbroech
hörbar 01 | 2018/19
DAS MAGAZIN DES KONZERTHAUS DORTMUND
MUSIK AUS ALLEN HIMMELSRICHTUNGEN
Wie gewohnt erzählt mir mein Interviewpartner von seinen musikalischen Prägungen, Vorlieben, den durchlaufenen Ausbildungsschritten, Stationen – er erläutert die persönliche Sicht auf besondere Werke und wie er sich eine ideale Interpretation vorstellt. Es geht um Perspektivwechsel in der Musik, weniger um einzelne Noten als um deren zauberischen Zusammenklang. Aber in diesem Interview ist alles etwas anders. Der Interviewte ist Dr. Raphael von Hoensbroech, mit dem Saisoneröffnungskonzert am 16. September inaugurierter neuer Intendant und Geschäftsführer des KONZERTHAUS DORTMUND. Was er über Musik erzählt, mag schon ein wenig auf seine Saisonplanung ab 2019 / 20 hindeuten.
Woher stammt Ihre Musikliebe?
Wir besitzen ein sehr altes Instrument in der Familie: Mein Urgroßvater fand eine Geige buchstäblich auf dem Dachboden und spielte sie im Unterricht bei Joseph Joachim. Somit ist es nicht unwahrscheinlich, dass Joachim sie ihm mal aus der Hand nahm und sagte: »Ich zeig dir jetzt mal, wie das geht.« Also habe ich vielleicht seine Fingerabdrücke auf meiner Geige. (lacht) Nachdem es bei meinen beiden älteren Brüdern damit nicht so recht geklappt hatte, ließen meine Eltern mich besonders früh mit Geigenunterricht anfangen. In Japan hatten sie die Suzuki-Methode kennengelernt, und so bekam ich meinen ersten Unterricht mit drei Jahren auf einer Sechzehntel-Geige.
Die ist aber nicht die Ihres Urgroßvaters?
Sie wurde über die Zeiten immer ein Stückchen aufgeblasen, bis sie dann so groß war, dass... (lacht). Nein, das war eine geliehene Geige.
Also denken Sie musikalisch wie ein Streicher, nicht wie ein Pianist…
Die Streicher denken ja sehr viel linearer, weil sie meistens nur eine Melodiestimme zu spielen haben. Insofern fehlte noch etwas, um die Vertikale in der Musik dazuzulernen. Das kam über die Liebe zur Matthäus - Passion, die ich mit sieben Jahren zu Hause auf dem Fußboden liegend hörte – und darüber auch gelernt habe Partituren zu lesen. Die Passion dauerte in der Version von Karl Richter ganz schön lang, und alle halbe Stunde musste ich die Schallplatte umdrehen. Ich weiß noch, dass mich die Arien wahnsinnig genervt haben, weil ich für das Dacapo jedes Mal zurückblättern musste und sich der Text ständig wiederholte. Sie habe ich erst sehr viel später zu lieben begonnen.
Gab es nach dem Erlebnis der Matthäus-Passion noch einen vergleichbaren Impuls?
Es kam tatsächlich ein Mahler-Impuls mit 15 Jahren...
Auch Mahler umfasst ja die Welt...
Und in besonderer Weise in seiner ersten Sinfonie, deren Anfang man wie den Weltentstehungs-Prozess verstehen kann: Aus völliger Stille tut sich, nur aus dem Ton A, der ganze Kosmos auf und beschreibt dann unheimlich viele Wendungen des Lebens im Verlauf der vier Sätze. Diese Sinfonie habe ich einmal, hinten in den zweiten Geigen sitzend, in einem Jugend-Musikcamp mitgespielt. Wir haben uns zwei Wochen lang mit nichts anderem beschäftigt. Und dieses tiefe musikalische Eintauchen hat mir tatsächlich die Spätromantik erschlossen.
Wie kam es dazu, dass Sie in Japan geboren wurden?
Mein Vater hat damals für Bayer gearbeitet, wo er so etwas wie Finanzchef für Ostasien war. Später machte er dann eine 180- Grad-Wende und wurde Biolandwirt, baute in den 1980er-Jahren, als sich noch kaum jemand für diese Themen interessierte, einen Demeter-Obstbetrieb auf.
Sie haben mit ihm Beethovens Frühlings-Sonate gespielt, er war der Pianist im Haus…
Die musikalische Seite kommt vor allem über meinen Vater. Er hatte Klavierunterricht bei Ilana Schapira und wäre wohl gerne Musiker geworden. Aber in der Nachkriegsgeneration ging das offenbar nicht. Er wurde Anwalt und nebenbei staatlich geprüfter Melkergehilfe! Meine Großeltern fanden, er brauche noch etwas Handfestes für den Fall, dass diese Welt wieder zusammenbrechen sollte… Was mich außerdem geprägt hat, ist, dass meine Eltern in Japan eine Art Homebase für Kammermusik-Ensembles wurden: Das Arditti Quartet, Cherubini-Quartett und einige andere, auch Peter Schreier – sie kamen zum Proben, wenn sie in Japan konzertierten, und machten ihre Generalproben als Hauskonzerte bei uns. In Deutschland ging diese Hauskonzerte-Reihe weiter. Ich erinnere mich, dass ich als Kind draußen die Autos eingewiesen und drinnen Sektgläser herumgetragen habe. Zum Konzert durfte ich mich dann unter den Flügel legen. Da habe ich schon als Kind einen sehr spannenden Perspektivwechsel gehabt. Das ist auch ein Thema, das uns sicherlich hier in den nächsten Jahren begleiten wird.
Haben Sie auch Jura studiert, um nicht ganz der brotlosen Kunst anheim zu fallen?
Ich verfüge ja leider über kein Melker-Diplom! (lacht) Auf der einen Seite war klar, dass ich etwas mit Musik studieren möchte – aber nicht Kapellmeister und auf gar keinen Fall Geige. So bin ich bei der Musikwissenschaft gelandet, weil sie sich auf sehr unterschiedlichen Ebenen mit Musik auseinandersetzt: Es gibt ja neben der historischen Musikwissenschaft z. B. noch die systematische, Ethnologie, Psychologie und Psychoakustik – alles ziemlich spannende Felder. Darüber hinaus wollte ich Denkschulen kennenlernen. Deshalb bin ich einerseits zu den Philosophen gegangen und andererseits zur Juristerei, die sich ja über den Gutachtenstil in einer unvergleichlich systematischen Weise logisch Problemstellungen nähert.
Und welchen biografischen Aspekt hat Ihre Promotion über Mendelssohn gehabt?
In Oxford in der Bodleian Library konnte ich eine Skizze zu seinem Oratorium »Christus« entziffern; sie war der Initialpunkt für die Dissertation. Deshalb durfte ich in Mendelssohns Briefen und Manuskripten wühlen – was unglaublich war. Ich war wie elektrisiert, darin mit der bloßen Hand blättern zu dürfen. Heute ist das höchstens noch mit weißen Handschuhen erlaubt. Irgendwie macht das Haptische in der Kunst etwas mit mir, auch als ich vor vielen Jahren im Rodin-Haus in Paris seine Skulpturen anfassen konnte – was man ja heute auch nicht mehr kann. Vielleicht hatte das etwas mit Realitätsvergewisserung zu tun. Auch ein wichtiges Thema unserer Zeit: Die zunehmende Flucht in virtuelle Welten, von Facebook bis Second Life; und das wirklich Reale muss sich mit virtuellen Idealen messen lassen. Die Gefahr ist, dass das Reale nicht mehr gut genug scheint und Menschen sich deshalb immer wieder von ihrer tatsächlichen Realität abwenden.
Stehen Sie denn der Digitalisierung skeptisch gegenüber? Sie haben doch in Berlin einiges in dem Bereich gemacht.
Nein. Ich bin begeistert und fasziniert von den Möglichkeiten, auch für uns als Konzerthaus. Digitalisierung ist z. B. eine Riesenchance, andere Menschen zu erreichen oder Perspektivwechsel zu bieten. Man darf sich den digitalen Raum nur nicht zum Idealbild machen – im Gegenteil möchte ich dann das Publikum wieder zum Live-Konzert zurückführen. Ich denke, da hat auch Musik eine wichtige Funktion, gerade im Konzert, wo das Publikum sich der unmittelbaren Realität der Aufführung aussetzt. Auch unser eigener Musikmarkt steht in dem Risiko, sich an technisch aufgemotzten Idealen zu messen – davon müssen wir unbedingt wegkommen.
Ist es das, was Sie meinen, wenn Sie sagen, im Konzert gehe es darum Musik zu machen statt Noten zu spielen?
Das ist jedenfalls ein sehr wichtiger Aspekt daraus... Vielleicht lässt es sich über die Kraft von »live« erklären: Es ist eben ein Unterschied, ob wir in digitalisierter Form Musik ins Ohr bekommen oder ob ein Mensch unmittelbar die Schallwellen produziert; denn er sendet mehr als nur den Klang. Wenn ich dafür empfänglich bin und die Musiker vorne auf der Bühne nicht nur die Noten runterspielen, sondern Musik machen, wenn sie also in diesem Moment etwas von ihrer Persönlichkeit einfließen lassen, dann bewegt das bei mir als Hörer etwas. Insofern ist es unsere Aufgabe als Konzerthaus, den Rahmen zu schaffen, dass der Künstler fokussiert auf die Bühne treten kann, um etwas von sich in die Musik zu legen. Aber auch, dass das Publikum in die Lage versetzt wird, das in sich aufzunehmen. Musik kann dann eine Wirkung entfalten, die über unsere kognitive Wahrnehmung hinausgeht, das Herz berührt, uns erahnen lässt, dass es da noch etwas Größeres gibt. Es gibt Konzerte, da tut sich ja im wahrsten Sinne der Himmel auf. Dafür sollten wir Räume schaffen.
Sehen Sie heute Mittel, um klassische Musik aus vergangenen Epochen in eine Zukunft zu führen?
Wenn Musik die eben beschriebene Kraft entfaltet, dann ist sie bereits im Heute angekommen, dann ist sie nicht museal. Aber ganz konkret gibt es auch planerische Aspekte, an denen wir gerade arbeiten, die sich mit dem schon erwähnten Perspektivwechsel beschäftigen: Wie kann ich in Musik auch anders eintauchen, sie aus anderen Blickwinkeln sehen und besser verstehen? Seit ungefähr 150 Jahren existiert unser klassisches heutiges Konzertformat, davor hat man Konzerte auch anders gehört – mich interessiert, wie es weitergeht. In Berlin habe ich klassische Konzerte in allen möglichen Konstellationen, Formationen und an ungewöhnlichen Orten erleben dürfen. Auffällig war dabei die Lust junger Menschen, sich mit klassischer Musik auseinanderzusetzen. Sie denken sie anders als unsere Elterngeneration oder auch wir selbst, die wir diese Musik gut kennen. Viele Menschen hören heute über Spotify eine Playlist zum Joggen, eine zum Kochen und eine dritte, um einen romantischen Abend zu verbringen – sie kommen auf diese Weise an denselben klassischen Werken vorbei, auf die sie aber eine andere Perspektive haben als wir. Wenn wir daher Perspektivwechsel anbieten, triggern wir eine andere Lust, sich mit der Musik zu beschäftigen.
Das Interview führte Jan Boecker.