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interview
ÜBER EINSAMKEIT UND LIEBLINGSRÄUME
In der Fülle der musikalischen Formate Michael Wollnys, von Duo über Trio bis zu Orchesterprojekten, waren Solokonzerte und -aufnahmen bislang eine echte Seltenheit. Dass diese Auftritte und Einspielungen aus dem stillen Kämmerlein heraus bislang die Ausnahme blieben, mag an Wollnys Neugier auf immer wieder neue musikalische Partner liegen. Wahrscheinlich auch an seiner Lust an der kollektiven Suche nach der Magie des Moments. Doch den Wunsch, sich intensiver dem Soloformat zu widmen, hegte Wollny schon lange. Und nun, nach vielen immer neuen Kollaborationen mit Künstlern wie zuletzt Nils Landgren, Émile Parisien oder Vincent Peirani, als mehrjähriger Artist in Residence und Solist beim Norwegian Wind Ensemble sowie Projekten mit Literatur, Schauspiel und zum 100. Bauhaus-Jubiläum, scheint die Zeit reif für den Blick nach innen.
Du spielst zurzeit eine relativ dichte Reihe von Solo-Konzerten mit Material deines Albums »Mondenkind«. Bei Solo-Konzerten fehlt der Input der Band, andererseits sind deine Freiheitsgrade auf der Bühne viel größer, und du musst dich ständig fragen, wie du die Freiheit gestaltest. Eine außergewöhnliche Anstrengung, oder? Das stimmt. Ich hatte ja während der vergangenen Monate Zeit, mich mit der Frage zu befassen, wie ich auf der Bühne damit umgehe. Ich hatte mir überlegt, die Sache ganz klassisch anzugehen, mir eine Setlist zu schreiben und einen festeren Rahmen zu geben. Aber jetzt ist doch auf der Bühne eine Form entstanden, die ich mir gar nicht ausgedacht habe. Ich spiele mehrere freie Improvisationen, und die Zutaten und Themen stammen alle aus dem Album. Dabei vermischen sich manche Stücke, und andere stehen für sich, kriegen aber ganz andere Formen als ausgedacht.
Du hast dich also selbst überrascht. Ja, im Vertrauen darauf, dass auf der Bühne sowieso eine eigene Energie herrscht und man manchmal alle Pläne vergessen kann. Es hat sich gezeigt, dass es so auch wirklich funktioniert. Natürlich habe ich zu Hause und im Proberaum nachgedacht und konstruiert und aussortiert. Dann kamen der Ernstfall und die Bühne, und alles wurde anders. Aber ich habe die Arbeit davor wirklich auch gebraucht.
Beneidest du manchmal Kolleginnen und Kollegen, die Noten auswendig lernen und auf die Bühne gehen und das alles spielen? Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, mich dem Zwang auszusetzen, zu wissen, welche Noten ich gleich spielen werde. Als Teenager habe ich auch klassische Konzerte gespielt, ich beneide aber niemanden darum. Manchmal beneide ich Musikerinnen und Musiker, die Routinen entwickeln, die sich nicht abnutzen. Eine Routine kann ja darin bestehen, dass man ein Stück aussucht, sich damit auseinandersetzt, es erforscht, mit ihm lebt und es aus einer solchen Gründlichkeit heraus interpretiert. Wenn man aber frei spielt und allein, dann ist dieser Prozess immer schon Teil einer Nicht-Routine. Das ist anstrengend, aber es belohnt einen auch. Ein festes Repertoire, das ich abarbeiten müsste, würde mich eher beängstigen.
Beim Solo-Konzert spielst du also frei und benutzt Material aus deinem Album ungefähr wie ein Raumschiff, das auf seiner Reise einen Planeten umrundet, um dessen Schwerkraft für die Fortsetzung der Reise zu nutzen? Ungefähr so läuft es. Ich konnte mich auch gut vorbereiten. Die Einspielung des Albums lag schon einige Zeit zurück, und ich hatte Notizen und die Aufnahmen und konnte mich gründlich mit dem Material auseinandersetzen. Alles war mir vertraut, aber die große Form des Konzerts hatte ich mir vorher nicht ausdenken können. Die ist spontan entstanden und auch zwei Mal nacheinander anders.
Beim »Mondenkind«-Projekt spielte Michael Collins eine Rolle, der Astronaut, der im Juli 1969 in der Columbia den Mond umkreist, während Armstrong und Aldrin ihre ersten Schritte auf dessen Oberfläche tun. Collins verschwindet regelmäßig für eine Dreiviertelstunde im Funkschatten des Trabanten, ist in dieser Zeit der einsamste Mensch überhaupt. Ist Einsamkeit auch Teil der Solisten-Situation? Im Moment fühle ich mich als Solopianist als der glücklichste Mensch der Welt. Ich bin selbst ganz überrascht, wie stark das Glücksgefühl nach den drei Konzerten ist und wie sehr es immer noch anhält. Es gibt einfach keine glücklichere Situation als auf der Bühne zu stehe. Das gilt natürlich auch für Konzerte mit der Band, aber als Solist genießt man das Privileg, wirklich ALLE Freiheiten zu haben und zugleich dem Moment ausgeliefert zu sein, weil die Leute jetzt zuhören. Während des vergangenen Jahres war ich auch viel allein, aber nie so ausgeliefert. Ich hatte Zeit und stand nicht unter Beobachtung. Dass das jetzt wieder anders ist, macht mich sehr glücklich.
Steckbrief
MICHAEL WOLLNY
2002 künstlerisches Diplom mit Auszeichnung an der Hochschule für Musik in Würzburg, 2004 Meisterklassendiplom Gleichzeitig Unterricht bei den Jazzpianisten John Taylor und Walter Norris
Seine aktive musikalische Karriere startete er als Mitglied des Bundesjazzorchesters und als Pianist des Huber Winter Quartetts Es folgte die Gründung seines eigenen Trios, parallel ist er in zahlreichen Trio- und Quartettformationen tätig mit Künstlern wie Nils Landgren, Vincent Peirani und Émile Parisien Im Mai 2017 dreht sich die Zeitinsel am KONZERTHAUS DORTMUND ganz um den Künstler und seine Musik Neben seiner aktiven musikalischen Karriere lehrt Michael Wollny an der Hochschule für Musik und Theater in Leipzig Live im Konzerthaus: Michael Wollny – Solo So 19.09.2021 um 18.00 Uhr mit dem Solo-Programm zu seinem neuen Album »Mondenkind«
Die Einsamkeit eines Pianisten ist ohnehin keine gottverlassene. Du hast gewissermaßen ein ganzes Orchester als Instrument, und du hast deine Geschichte dabei, die sich damit verbinden lässt. Bei dir ist zum Beispiel Franz Schubert immer da oder Messiaen oder Björk oder Joachim Kühn. Genau: Man ist nicht allein, weil es die eigene Geschichte gibt und die Geschichte dieses Instruments. Ich empfinde auch den Flügel als Teil des Raumes, in dem ich spiele. Der Flügel ist ja selbst ein großer Raum und der Konzertraum gewissermaßen sein vergrößerter Resonanzraum. Ich habe oft die Erfahrung gemacht, auch im Studio, dass es nicht gleichgültig ist, wo im Raum ein Instrument steht. Es gibt Situationen, in denen sich das Instrument mit dem Raum und der Architektur verbindet. Wenn man diesen ›sweet spot‹ findet, ist es, als verlängere sich der Flügel bin in die letzte Reihe hinein. Man nimmt die Menschen im Raum wahr und hat eine anonyme, aber innige Verbindung mit jedem, der da sitzt.
Gibt es Lieblings-Konzerträume? Ja, und es gibt viele Kategorien davon. Es gibt zum Beispiel die Clubs, die mit ihrer Enge und Unmittelbarkeit für bestimmte Situationen unersetzbar sind. Aber es gibt auch Erinnerungen, die an einen bestimmten Konzertraum gebunden sind, für mich sind das beispielsweise die Philharmonie in Berlin, seit meiner Residenz das Konzerthaus Dortmund, die Alte Oper in Frankfurt. Die Verbindungen, die dort entstanden sind, verschwinden nicht einfach wieder. Ich denke, man muss letztlich jeden Raum, in dem man spielt, zu seinem Lieblingsraum machen. Wenn man gegen den Raum spielt, verliert einer.
War die Corona-Situation der vergangenen fast anderthalb Jahre eine gute Zeit für die Entwicklung von Solo-Konzepten? Meine Erfahrung ist, dass diese Zäsur auch etwas Bereicherndes hatte. Allerdings wusste man nicht, wann dieser Zustand zu Ende gehen würde. Man weiß das jetzt ja immer noch nicht wirklich. Die Lockdown-Zeit selbst war seltsam abstrakt. Erst jetzt, wo man das, worüber man nachgedacht hat, auf die Bühne bringen kann, kommt das Leben zurück. Entscheidend war, dass vieles, was zuvor die Tage überfrachtet hat, plötzlich sehr reduziert war. Das fällt besonders stark ins Gewicht, wenn man eher gewöhnt ist, im Kontext einer Band zu arbeiten. Ich habe gerade wieder mit einer größeren Besetzung gespielt, das war ein unglaublicher und intensiver und kollektiver Glücksmoment: weniger Wollen und mehr Sog.
Wiederbelebung einer Qualität des eigenen Lebens, die viele Monate lang verbaut und verschüttet war? So ähnlich. Wenn etwas knapp wird, wird es wertvoll.
Nun ist ja Musik etwas sehr Komplexes, und etwa zur Zeit Johann Sebastian Bachs war sie noch nicht kultureller Zierrat, sondern eine Form des Wissens über die Welt und den Wissenschaften prinzipiell gleichgestellt. Ist für dich Musik auch ein Medium, über die Welt nachzudenken? Mein wahrscheinlich wichtigster Lehrer, Chris Beier, hat mir früh die Faszination für eine solche Sicht vermittelt. Wenn man etwa Hindemiths Vorwort zur »Unterweisung im Tonsatz« liest, finden sich da ähnliche Gedanken. Es gibt aus den 1980er-Jahren einen Vortrag von John Cleese über Kreativität, den ich auch an der Hochschule gelegentlich behandelt habe. Darin findet sich der Gedanke, dass in kreativen Prozessen nicht jeder Schritt richtig sein muss. In der Logik ist klar: Jeder Zwischenschritt muss richtig sein, sonst ist das Ergebnis falsch. In kreativen Prozessen können auch falsche Schritte zu wunderbaren Ergebnissen führen.
War nicht auch deine Arbeit an deinem Solo-Projekt strukturell ähnlich? Genau. Ich habe an Setlisten geschrieben und wollte einen strengen Rahmen erarbeiten. Im Konzert hat das dann gar nicht stattgefunden, aber die Vorarbeiten und Zwischenschritte waren dennoch eine sehr gute Vorbereitung. Denn nur so läuft es: Man musste akribisch und geradezu wissenschaftlich arbeiten, damit am Ende etwas ganz Anderes passieren kann konnte.
Das Interview führte Hans-Jürgen Linke.