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NUR NICHT GEWÖHNLICH

Teodor Currentzis sehnte sich einst nach einem Orchester, das agil und flexibel ist, unglaublich gut ausgebildet – und ihm blind folgt. »Die Revolution liegt immer vor uns«, hat er einmal gesagt. Und so erwartet er auch absolute Revolutionsbereitschaft von den Mitgliedern seines Ensembles MusicAeterna.

Wieviel Geld müsste man Ihnen bieten, damit Sie nach Sibirien ziehen? Und wenn Sie in einem neu gegründeten Orchester Zweite Geige spielen dürften? Und wenn der Dirigent Teodor Currentzis hieße? Ach, den kennen Sie nicht? Gut, das verstehen wir, der ist ja auch noch ziemlich jung und unbekannt. Aber Sie sollten ihn kennenlernen, unbedingt! Also, sind Sie dabei?

Ganz so wird es damals nicht abgelaufen sein, als sich Teodor Currentzis und sein Team 2004 auf die Suche nach Orchestermusikern und -musikerinnen begaben. Denn das taten sie fast ausschließlich im Umfeld von sibirischen Musikhochschulen. Es musste demnach wohl niemand überredet werden, erst noch nach Sibirien zu ziehen. Aber sich einem Dirigenten anzuschließen, von dem bislang nicht allzu viel bekannt war – dazu gehörte auch damals schon Mut. Andererseits: Was sollte die Studierenden in Krasnojarsk, Omsk oder Wladiwostok groß abhalten? Die Karriereaussichten waren (und sind auch heute noch) überall, nicht nur in Russland, bescheiden. Sollte man in diesem Fall außerdem noch dem Kreml kritisch gegenüberstehen, wurde es einem doppelt schwer gemacht.

Nun hilft bei solch gearteten Problemen auch nicht unbedingt der Kontakt zu einem aus Griechenland stammenden jungen Dirigenten, der schon damals zumindest dem »Inner Circle« der russischen Musikwelt beunruhigende Piekser ins ausgeprägte Selbstbewusstseinspolster verpasste. Aber Teodor Currentzis und seine Vision von Orchester und Chor boten immerhin eine künstlerische Perspektive. Oder vielmehr überhaupt irgendeine Perspektive. Dabei war Currentzis wählerisch. Er selbst lebte seit 1994 in Russland, hatte am berühmten Konservatorium in St. Petersburg bei dem damals bereits 90-jährigen Ilya Musin Dirigieren studiert. 2003 wurde er Chefdirigent am Nowosibirsker Staatlichen Akademischen Opern- und Balletttheater. Langer Name, riesiges Haus, große Tradition – und ein schwerfälliger Musikapparat mit Hunderten von Mitgliedern, ein Opernorchester und -chor, wie sie im Buche stehen. Und das war nicht nach Teodor Currentzis’ Geschmack: »Ich verlange von meinen Musikerinnen und Musikern, dass sie noch dreimal verrückter sind als ich.«

In der Findungsphase, im Jahr 2004, organisierte Teodor Currentzis für die zukünftigen Orchestermitglieder Lesungen und Kinoabende. Sie hörten Gedichte von Rilke und Celan und schauten Filme von Derek Jarman. Sie lernten die künstlerische Welt kennen, in der sich Currentzis selbst bewegt. »Musik ist für uns eine Mission und kein simpler Beruf.« Am Opernhaus in Nowosibirsk lässt man Currentzis und MusicAeterna gewähren und gibt dem enthusiastischen Ensemble den Raum, den es braucht. Und doch war man – trotz der durchaus zu verzeichnenden Erfolge – vermutlich auch ein bisschen froh, als die bunte Truppe, zu der inzwischen auch ein Chor gehörte, 2011 fast 2.000 km weiter westlich, nach Perm, zog. Dort am Opern- und Balletttheater war Teodor Currentzis zum Musikdirektor berufen worden, sein Ensemble nahm er mit.

Seit 2019 gibt es nun keine feste Heimat mehr für MusicAeterna, Mittelpunkt ist aber weiterhin Currentzis, der ungefähr zur gleichen Zeit Chefdirigent des SWR Symphonieorchesters wurde. Längere Residenzen sind in Planung, pandemiebedingt richtete sich das Ensemble in den letzten Monaten vor allem im Digitalen ein. An der Einstellung und dem Auftreten hat sich in den fast 17 Jahren seit der Gründung nichts geändert: In mönchsartigen Kutten, die an traditionelle russische Kleidung erinnern, betreten die Musikerinnen und Musiker die Bühne, oftmals sind da dann keine Notenständer oder Stühle zu finden. Man musiziert stehend und aus dem Gedächtnis, angeleitet von Teodor Currentzis in der Mitte. Man spielt Konzerte nachts um drei, manchmal in Hospizen, manchmal in Gefängnissen, trägt mal Kostüme von berühmten Designern oder stellt nebenbei noch ein Parfüm vor. Alles, nur nicht gewöhnlich. Und das beschränkt sich nicht nur auf Äußerlichkeiten, sondern gilt auch fürs Musikalische. MusicAeterna spielt sich durch alle musikalischen Epochen und Stile und findet immer eine Tür, die – so scheint’s – zuvor noch nicht geöffnet worden war. So klingen Beethovens Sinfonien auf der letzten Albumveröffentlichung herrlich trocken und akzentuiert und selbst Mahlers berühmtes (andere würden sagen »durchgenudeltes«) Adagietto aus der Fünften bekommt wieder die Tiefe und Relevanz, die es verdient.

Fr 15.10.2021 · 20.15 Uhr

TEODOR CURRENTZIS & MUSICAETERNA

MusicAeterna, Teodor Currentzis Dirigent

Werke von Retinsky und Mahler

https://bit.ly/Currentzis2021

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