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DIE WAHRE FREIHEIT BEGINNT ERST SPÄTER
Berlin, Prenzlauer Berg an einem strahlenden Mitte-Novembertag. An der Klingel steht einfach »Tetzlaff«. Es ist aber nicht irgendein Tetzlaff, der sich da mit freundlicher Stimme meldet und die Tür aufdrückt. In dem stattlichen Gründerzeithaus ist einer der wichtigsten und vielseitigsten deutschen Geiger zu Hause. Hoch oben auf Dachgeschossebene mit Hauptstadt-Rundblick öffnet uns der quasi zum Gehen bereite Pianist Alexander Lonquich. Doch nicht mit ihm sind wir zum Interview verabredet – Lonquich hat gerade mit Christian Tetzlaff Brahms, Enescu, Webern und Franck für das gemeinsame Recital am nächsten Tag im Pierre Boulez Saal geprobt. Mit Christian Tetzlaff wollen wir über sein im Februar bevorstehendes Dortmunder Konzert sprechen. Die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen ist dann sein Partner bei Johannes Brahms’ berühmtem Violinkonzert.
Herr Tetzlaff, bei einem Programm mit diesem exzellenten Orchester, der Beethoven-Ouvertüre, Schönbergs Kammersinfonie und dem Violinkonzert von Brahms könnte man fast an Kammermusik denken. Und anstelle eines Dirigenten übernimmt der Konzertmeister Florian Donderer Leitungsaufgaben. Haben Sie die Leitung im Brahms?
Dirigiert werden muss da wirklich nicht, das Stück steckt ja in uns. Es besteht immer ein Reiz darin sozusagen in Eigenorganisation zu spielen, weil dann alles auch aus Eigeninitiative und durchs Zuhören kommt. Logischerweise ist dann meine Rolle, noch mehr als sonst das Orchester in bestimmten Momenten zu führen, und in anderen, mich in das, was es vorschlägt, einzufügen.
Bietet sich das Brahms-Konzert da an?
Es ist teilweise sinfonisch gedacht... Durchaus, und bei der Kammerphilharmonie heißt das natürlich nicht, ohne Leitung zu spielen, sondern wir studieren Brahms’ Werk zusammen ein und ganz klar gibt es in den einzelnen Instrumentengruppen Musiker, die anführen.
Kommt das Ihrem kammermusikalischen Denken entgegen?
Sicherlich, ich finde es überhaupt geradezu lächerlich, dass man plötzlich seine musikalischen Instinkte aufgeben soll, nur weil man solo spielt. Aber oft genug ist es ja so, dass bei einem Solisten, der vor dem Orchester steht, sich tatsächlich 100 Leute nach ihm richten müssen. Gerade bei einer Komposition wie dem Brahms-Konzert sollte es ein Geben und Nehmen sein. Ein Blick in die Partitur reicht, um zu sehen: Aha, in diesen 20 Takten begleitet der Geiger eindeutig, und es würde der Schwanz mit dem Hund wedeln, wenn man aus seinen Triolen die Melodien herleiten wollte. Mit einem guten Dirigenten ist es sowieso immer kammermusikalisch gedacht; zu dritt – Orchester, Dirigent und Geiger – hört man sich zu und lässt einander den Vortritt. Im Gegensatz dazu ist häufig die Kammermusik im Verruf als das geigerisch vermeintlich weniger Anspruchsvolle. Ich habe gerade zwei der späten Beethoven-Quartette aufgenommen: Der Geigenpart des B-Dur-Quartetts op. 130 ist viermal so schwer wie das Violinkonzert! Ich glaube sogar, es ist schwieriger für einen ausgebildeten Solo-Geiger im Streichquartett zu spielen, als für den Ersten Geiger eines Streichquartetts etwa das Beethoven-Konzert auszuführen.
Sie haben einmal gesagt, dass Sie den Notentext wörtlich nehmen, Sie Musik als Sprache und das Erlebnis von Musik als existenzielle Erfahrung verstehen ...
Das stimmt alles noch, komisch! [lacht] Sicherlich ist dies mein kleines Credo, es muss aber erläutert werden. Den Notentext ernst nehmen: Wenn man ihn einmal bei der Aufführung eines Violinkonzerts mitliest, ergeben sich vielleicht 20 oder 30 Prozent Übereinstimmung, das ist es dann auch.
Was heißt das?
In vielen Interpretationen von Violinkonzerten stecken 150 Jahre Tradition. Viele Schüler haben diese Stücke aus irgendwelchen Editionen gelernt, die irgendein berühmter Geigenlehrer über Jahrzehnte zum Unterricht benutzt hat. Natürlich kann man sich beim freien Umgang mit dem Text auf die künstlerische Freiheit berufen, aber wenn alle dieselben Veränderungen machen, dann ist die Freiheit schon wieder in Frage zu stellen. Ich muss etwas ex negativo formulieren: Aus Joseph Joachims Zusammenarbeit mit Brahms besitzen wir eine genaue Beschreibung des Werkes, die Metronomzahlen, seine Briefe, was Phrasieren, was welcher Ausdruck bedeutet, was der Unterschied zwischen espressivo und dolce ist, wir haben die Handschrift mit Brahms’ Eintragungen... aber es schert die meisten Interpreten wenig.
Vom Brahms-Konzert gibt es doch Urtext-Ausgaben?
Sicher, die Töne sind immer gleich. Aber das Werk wurde nie anders gehört oder zu oft gehört und man gibt sich nicht die Mühe, genauer hinzusehen. Dazu zählt, dass wenn da Pianissimo mit einem langen Diminuendo steht, man gewissermaßen zerbrechlich wird und durchlässig für die Gefühle. Für mich stehen alle diese Stücke in einem gewissen Rahmen, der von der Zeit geprägt ist, von allen Hinweisen über Tempi und Dynamiken, die, je näher sie an unsere Zeit reichen, relativ gut fixiert sind. Die wahre Freiheit beginnt erst dann. Freiheit liegt doch nicht darin zu sagen: Heute spiele ich den langsamen Satz mal schneller oder langsamer. Sondern sie liegt darin, über den Ausdruck jetzt an dieser Stelle zu bestimmen. Es sind ganz dezidiert unterschiedliche Ansätze, die mit genau derselben Dynamik und demselben Tempo zu erreichen sind, nur indem wir – wie beim Sprechen – Dinge hervorheben durch ein etwas Breiter oder Stärker oder durch den Rhythmus. Alles was wir aussagen, ist eben nicht die Aussage eines Roboters, sondern ist auch gefärbt von dem, was wir empfinden.
Das Violinkonzert könnte man als durchaus heiteres Stück hören, alle seine Sätze stehen in Dur...
Das ist das Erstaunliche im Vergleich zur zweiten Sinfonie, die ein ganz ähnliches Hauptthema aufweist: Der Geigeneinsatz im ersten Satz ist wie ein Verzweiflungsschrei, aus der »Zigeunermusik« abgeleitet. Dann gibt es die langen, tiefen Momente mit den schweren Harmonien und darin immer wilde Ausbrüche mit dem [singt] in dieses verlorene Pianissimo. Das ist viel exzessiver und faustischer als die Sinfonie daherkommt. Diese Dinge sind für ein D-Dur-Stück vergleichsweise erschreckend und tief. Es ist wirklich existenzielle Musik, gepaart mit den herrlichsten, sehnsüchtigsten Melodien. Das ist, was das Stück so reizvoll zu spielen macht, man darf alles erzählen.
CHRISTIAN TETZLAFF 1966 in Hamburg geboren; Studium an der Musikhochschule Lübeck; 1994 Gründung des eigenen Streichquartetts, aktuelle Tournee mit den Stationen Alte Oper Frankfurt, Elbphilharmonie, Philharmonie Berlin, Palais des Beaux Arts Bruxelles, Wigmore Hall London; 2015 wird das Tetzlaff Quartett mit dem »Diapason d’Or« ausgezeichnet, das Trio mit seiner Schwester Tanja Tetzlaff und dem Pianisten Lars Vogt für einen »Grammy« nominiert; zahlreiche Preise für CD-Aufnahmen; Tetzlaff spielt eine Geige des Geigenbauers Peter Greiner und unterrichtet an der Kronberg Academy
Live im Konzerthaus: Christian Tetzlaff & Die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen; So 16.02.2020 um 16.00 Uhr mit Werken von Beethoven, Schönberg und Brahms