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URSPRÜNGLICH UND UNBEGREIFLICH

Seit Jahren begeistert der Countertenor mit großer Konstanz und einer berührenden Stimme, deren Repertoiregrenzen er immer wieder neu auslotet. In Dortmund überrascht Philippe Jaroussky sein Publikum mit einem Programm, in dem er mit Werken von Franz Schubert das deutsche Lied erobert.

Eigentlich gehören sie zur Spezies der Schummler, sie gaukeln sich und dem Publikum etwas vor, denn sie sind »Falsettisten«, Menschen, die ihre Stimmbandränder schwingen lassen, um die Stimme so in irre Höhen zu schrauben. Sie singen »falso«, falsch. Das ist die Welt der Kastraten, der Countertenöre, der Altisten. Musikforschern würden, wenn man diese Begriffe so unscharf nebeneinander stehen ließe, die Haare zu Berge stehen; sie umrahmen ein Phänomen, das lange Zeit tabuisiert schien und das erst in den letzten Jahrzehnten eine beispiellose Renaissance erlebt hat.

Die Tradition der Kastraten ist alt. In der späten Renaissancezeit und im Barock schnellten Sänger wie Farinelli und Senesino zu bleibendem Ruhm. Sie waren die Carusos und Kaufmanns ihrer Zeit. Wann immer es um den Ausdruck des Magischen, des Übernatürlichen, des Spirituellen ging, wurden früher Falsettisten ein gesetzt. Heute leuchtet das Ruhmeslicht über ihnen nicht mehr ganz so hell wie im Italien des späten 16. und des 17. Jahrhunderts, als sie Göttern gleich verehrt wurden. Dennoch erstrahlen sie inzwischen wieder hell genug, um beim Publikum einen besonderen Zauber zu entfachen. Mit ihren hohen Tönen sind sie die beliebtesten Sonderlinge in der Klassik-Manege.

Der Franzose Philippe Jaroussky zählt zu den Hauptvertretern der Sänger, die die Countertenöre wieder ins Rampenlicht zurückgeführt haben. Über die eigene Stimme zu sprechen ist für ihn ein Wagnis: »Vielleicht klingt sie ein bisschen nach Frühling. Auf jeden Fall hat sie etwas Junges, Frisches.« Für Jaroussky ist die Stimme ein entwicklungsfähiges Instrument. Das hat er mehrfach bewiesen, etwa wenn er sich auf Terrain vorgewagt hat, das außerhalb des Gebiets von Händel, Porpora, Cavalli oder Purcell liegt. Wenn er sich beispielsweise Lieder des 19. Jahrhunderts vornimmt, Musik von Gabriel Fauré oder Reynaldo Hahn – oder neuerdings auch Musik von Franz Schubert. Wenn man Jaroussky mit solchen Liedern hört, kann man nur zu dem Schluss gelangen: Auf die Ausdruckskraft kommt es an, nicht auf das Stimmfach. »Gesang ist etwas Unvergängliches«, lautet Jarousskys bündig-umfassende Antwort.

Countertenöre bewegen sich durch die stimmlichen Regionen eines Mezzosoprans, oft auch darüber. Sie streifen mit Risikolust durch hohe Lagen, mit einem wachen Sinn für das Geschmeidige und für die vielen kleinen Nuancen und Farbwechsel. Auch bei Jaroussky hat der Gesang oft etwas Irdisch-Engelhaftes, er verfügt über die nötige vokale Kraft, aber auch über die erforderliche Form von Zärtlichkeit in der Stimme, über Anmut und einen schier endlos langen Atem. Wenn er lange Notenketten zu geschwungenen Girlanden verbindet, spiegelt sich darin eine Kunst, die etwas Ursprüngliches und zugleich Unbegreifliches besitzt.

Jaroussky, in einer kleinen Stadt im Umfeld von Paris geboren, hat mit elf Jahren Geigen-, vier Jahre später auch Klavierunterricht bekommen. »Erst mit 18 hat sich mir das Universum des Gesangs aufgetan.« 1999 wurde er für eine größere Öffentlichkeit entdeckt, anlässlich einer Aufführung des Oratoriums »Sedecia« von Alessandro Scarlatti. In Deutschland wurde er 2004 bekannt, als er für einen erkrankten Kollegen einsprang. Inzwischen weiß Jaroussky angesichts des regelmäßigen Rummels um seine Person, wie wichtig es ist, die Stimme zu schonen und ihr Auszeiten in seinem Kalender zu gönnen. So hat er Anfang 2019 eine mehrmonatige Pause eingelegt. Doch untätig war er nicht, zumal Jaroussky seit einiger Zeit eine nach ihm benannte Académie musicale betreibt, um jungen Schülern und Studenten den Weg zu erleichtern – nicht im Sinne von gesangstechnischer Ausbildung, sondern um sie zu unterstützen bei der Wahl ihres Repertoires und bei den Herausforderungen, in sich selbst hineinzuhorchen und den besten Weg zu finden. »Wenn ich nicht selbst einen entscheidenden Lehrer in der Schule gehabt hätte, der meinen Eltern gesagt hat, dass ich unbedingt Musik machen soll, wäre ich wohl nie Sänger geworden.« Inzwischen liebäugelt Jaroussky auch mit einer Teilzeitarbeit als Dirigent. Er kalkuliert mit knapp vier Jahren, bis er seine erste Barockoper aufführen wird. »Dann bin ich gleichzeitig ein alter Sänger und ein junger Dirigent.«

Auch auf Tourneen achtet er sorgsam darauf, dass er sich nicht völlig dem Musikbetrieb hingibt und sich darin verliert. Manchmal sind es Kleinigkeiten, die ihm helfen: »Kochen ist eine gute Methode, um den Kopf frei zu kriegen. Auf Konzertreisen bitte ich oft um ein Bügeleisen in der Garderobe. Dann kann ich mein Hemd selber glätten. Ich bügle meine Kleidung und gleichzeitig mein Hirn – denn dabei vergesse ich, auf meine Stimme zu achten.«

LIEDERABEND PHILIPPE JAROUSSKY Philippe Jaroussky Countertenor, Jérôme Ducros Klavier Schubert-Lieder

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