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Verwandtschaften der Seele
Am Konzerthaus ist György Kurtág, einem der bedeutendsten Komponisten des 20. und 21. Jahrhunderts, eine Zeitinsel gewidmet. Er ist ein Künstler, der sich sieben Jahrzehnte hindurch immer wieder neu erfunden hat.
Sie wirkten wie ein Körper. Die gleichen grauen Haare, die gleiche grau-blaue Kleidung. Der gleiche Blick, der hoch konzentriert auf die Noten gerichtet ist: Bach, eine Choralbearbeitung. Aus dem musizierenden Leib ragen vier Arme hervor, die sich überkreu- zen, während die knochigen Finger sich durch den verschlungenen Tonsatz tasten. Die Szene spielt sich 2015 ab, im Music Center in Budapest. Es könnte aber auch anderswo sein, überall dort, wo György Kurtág und seine Frau Márta, die über 70 Jahre verheiratet waren, miteinander musizieren. An der Franz Liszt Akademie in Budapest begegnen sich die beiden 1946 zum ersten Mal. 1947 hei- raten sie. Wenn man also über György Kurtág spricht, den Meister der verdichteten musikalischen Gesten, der expressiv geformten, musikalischen Fragmente, dann berichtet man auch über Márta Kurtág, die im Oktober im Alter von 92 Jahren verstorben ist. Sie war die erste Instanz, wenn es um die kritische Bewertung eines neuen Werkes ging. Sie war eine von zwei Frauen, die György Kurtágs Leben entscheidend geprägt haben. Die andere war die Psychologin Marianne Stein. Sie rettet den Komponisten 1957 in Paris aus einer schweren Depression. »Sie sorgte dafür, dass ich das Leben noch einmal von Neuem anpackte«, sagt Kurtág. »Fast verzweifelt habe ich erkannt, dass nichts von dem wahr ist, was die Welt zusammenhält.« Gemeint ist damit vor allem das eigene Schaffen, die Werke, die Kurtág bis zur Mitte der 1950er-Jahre schreibt, im Stil des Sozialistischen Realismus. Massenchöre sind darunter, Schauspielmusiken und eine »Koreanische Kantate«. Das alles wird mit dem ersten Streichquartett aus dem Jahr 1959 und mit der Behandlung bei Marianne Stein endgültig vom Tisch gefegt. Das Werk ist sein erstes gültiges Opus 1.
Der Lebenslauf des 1926 im rumänischen Lugoj geborenen Kom- ponisten beginnt wie der vieler anderer Musiker. Schon mit fünf Jahren sitzt Kurtág am Klavier. Mit 13 fällt der Entschluss, Komponist zu werden – eine Radioübertragung von Franz Schuberts »Unvollendeter« Sinfonie gibt den Ausschlag. Kurtágs frühes musikalisches Idol ist – natürlich, möchte man fast sagen – Béla Bartók. Die Spuren dieses Komponisten sind bis heute in seinen Werken präsent. Zugleich spielt die klassisch-romantische Tradition bei ihm eine große Rolle, und das, obwohl er auch avantgardistische Techniken einsetzt. »Meine Muttersprache ist Bartók, und Bartóks Muttersprache war Beethoven«, sagt er. Kurtág komponiert oft in konzentrierten, knappen musikalischen Formen. Viele Stücke währen nicht länger als wenige Minuten oder sogar nur Sekunden. Gleich im ersten Konzert der Zeitinsel Kurtág im Februar lässt sich das studieren. Das weltweit gefeierte Arditti Quartet spielt zum Auftakt Werke mit Titeln, die eine Ansammlung kleiner Formen sind: »Moments musicaux« (»Musikalische Augenblicke«), oder auch »Microludes«. Musik wird hier aufs Äußerste verdichtet. Zwölf Stücke passen in zehn Minuten Spielzeit.
Für den zweiten Zeitinsel-Abend hat Bariton Benjamin Appl exklusiv die »Hölderlin-Gesänge« von Kurtág einstudiert, gemeinsam mit dem Komponisten in Budapest. »Er ist ein Fragender, ein Suchender, ein Zweifelnder«, charakterisiert ihn Appl im Umfeld der Proben. Studien mit Kurtág sind ein Erlebnis, als Pädagoge ist er eine Legende. Von jeglichem Musikstück hat er genaueste Vorstellungen. Raum für Gestaltung aber bleibt dennoch. »Es war für mich und Márta ein erschütterndes Erlebnis, dass wir mit Benjamin Appl arbeiten konnten«, lobt Kurtág den Sänger. »Diese Probenarbeit hat eine musikalische Freundschaft geöffnet. Ich muss mich beim Konzerthaus herzlich bedanken, weil meine ›Hölderlin-Lieder‹ weiterleben können.«
Von seiner musikalischen Wiedergeburt in Paris an schreibt Kurtág in den folgenden 14 Jahren nur rund anderthalb Stunden Musik. Aber so ist das eben: »Das Kind entscheidet, wann es geboren werden will, nicht seine Mutter«, kommentiert der Komponist dazu, wie immer lakonisch. Eine weitere »Stunde null« in Kurtágs Komponieren kommt dann 1973. In diesem Jahr beginnt er mit der Komposition der »Játekók« (»Spiele«) für Klavier solo. »Ein neues Opus 1«, wie es Kurtág formuliert. Die noch heute immerzu anwachsende Sammlung geht – von der Idee her – wieder auf Bartók zurück, auf das Vorbild der »Mikrokosmos«-Klavierstücke. Pierre-Laurent Aimard stellt den Stücken in seinem Konzert die Musik von Bach zur Seite. Als Kurtág die ersten »Játekók«-Musiken schreibt, arbeitet er als Professor für Klavier und Kammermusik an der Musikakademie in Budapest. Lange Zeit ist er nur Insidern im Westen bekannt. Erst in den 1980er-Jahren und mit dem Fall der Mauer kommt die internationale Anerkennung.
Den jüngsten Höhepunkt in seinem Schaffen bildet die Beckett-Oper »Endgame«, uraufgeführt an der Scala in Mailand im November 2018. Der Verbindung von Sprache und Musik hat Kurtág stets besondere Aufmerksamkeit entgegengebracht. Gleich mehrere Zeitinsel-Konzerte beleuchten das. Um Dostojewski zu lesen und die Gedichte von Rimma Dalos zu vertonen, hat der polyglotte Komponist auch Russisch gelernt. Ergebnis ist der faszinierende Liederzyklus »Szenen aus einem Roman«, klein besetzt und gewürzt mit den Hackbrett-Klängen eines Cymbals. Kurtág liebt solche Kammermusik-Besetzungen. Orchesterwerke sind in seinem Werkkatalog rar. Umso spannender, dass gleich zwei davon live zu hören sind, wie im vorletzten Zeitinsel-Konzert.
Bis 2015 haben Márta und György Kurtág in Paris gelebt. Dann sind sie, aus Altersgründen, wieder nach Budapest zurückgekehrt. Das Music Center ist quasi ihr Zuhause geworden. Dort saßen sie am Klavier, ein musikalisches Kraftwerk, das von György Kurtág befeuert und von seiner Frau kontrolliert wurde. Die großen Seelenverwandten der zeitgenössischen Musik sind nun getrennt. Doch es gilt, für die letzte Fassung von »Endgame« noch weitere Szenen zu komponieren; das Stück ist bislang nur ein Fragment. Auch neue Musik für Benjamin Appl wird, so Gott will, in Budapest ent stehen: György Kurtág hat sich noch etwas vorgenommen.
ZEITINSEL KURTÁG So – Do 02. – 06.02.2020 Ein Festival zu Ehren des Komponisten György Kurtág mit dem Arditti Quartet, Benjamin Appl, Pierre-Laurent Aimard, Kammermusik, dem WDR Sinfonieorchester und einem Clubkonzert mit Filminstallation