Programmheft-Vorschau: Jugojugoslavija

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Schauspiel Bern Spielzeit 2021/22

JUGOJUGOSLAVIJA von Bonn Park


So ein gutes, aufrichtiges, freundliches Land. Partner Maske


Schauspiel Bern Spielzeit 2021/22

JUGOJUGOSLAVIJA von Bonn Park

Deutschsprachige Erstaufführung


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Stéphane Maeder, Genet Zegay, Kilian Land


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BESETZUNG Mit

Kilian Land Stéphane Maeder Isabelle Menke Genet Zegay

Kinderchor Singschule Köniz Lielle Bhend Gaia Bilgin Mael Dänzer Dylan Denruyter Salome Frey Noah Green Claire Green Anne Herren Chiara Koch Fabian Müller Leevke Peters Anja Röthlisberger

Regie Anita Vulesica Ausstattung Henrike Engel Musik Friederike Bernhardt Choreografie Mirjam Klebel Video Monja Lalotra Licht Patricia Zwahlen Dramaturgie Felicitas Zürcher Leitung Kinderchor Anett Rest Regieassistenz Désirée Wenger Bühnenbildassistenz Sidonia Helfenstein Kostümassistenz Shayenne Di Martino Inspizienz Denis Puzanov Regiehospitanz Lynn Mäder, Jana Wicki

Premiere am 18. März 2022, 19:30, Vidmar 1 Dauer der Vorstellung 1 h 20 min, keine Pause Aufführungsrechte henschel SCHAUSPIEL, Theaterverlag Berlin Technischer Direktor: Reinhard zur Heiden Leiter Bühnenbetrieb: Claude Ruch Leiter Werkstätten: Andreas Wieczorek Leiterin Kostüm & Maske: Franziska Ambühl Produktionsleiterin Bühnenbild: Konstantina Dacheva Produktionsleiterin Kostüm: Maya Däster Bühnenmeister: Jean-Claude Bögli Tontechnik: Valentin Mayans, Peter Tészás Video: Monja Lalotra, Michael Ryffel Requisite: Karin Meichtry, Gabriela Hess Maske: Anja Wiegmann Die Ausstattung wurde in den Werkstätten und Ateliers der Bühnen Bern hergestellt. Co-Leitung Malsaal: Jann Messerli, Lisa Minder Leiter Schreinerei: Markus Blaser Leiter Schlosserei: Marc ­B ergundthal Leiter Dekoration: Simon Pinter Leiterin Maske: Martina Jans Gewandmeisterinnen: Mariette Moser, Irene Odermatt, Sina Rieder Leitung Requisite: im Team Leiter Beleuchtung: Bernhard Bieri Leiter Audio & Video: Bruno Benedetti Leiter Vidmar: Marc Brügger


Bonn Park, Jugojugoslavija

Das Jahr 2020 war das schlimmste Jahr von allen Jahren. Alles in diesem Jahr war beschissen, alle waren schlecht drauf und es konnte nicht mehr beschissener werden. Doch dann kam das Jahr 2021. Das Jahr 2021 war das allerschlimmste Jahr, das die Menschheit je gesehen hat. Was konnte also noch passieren. Doch dann kam das Jahr 2022, das an Ungnade, Vernichtung, Hass, schlechter Laune, Verderben und Zumutung im gesamten Universum seinesgleichen sucht. Aber dann kam das Jahr 2023, man kann es sich vorstellen, es war nicht so gut. Das Raumzeitkontinuum wollte nichts mit diesem Jahr zu tun haben, so unerträglich war es. Alle führten miteinander Krieg. Es gab vernichtende Erdbeben, vor allem dort, wo es keine Erde gab. Eine Inflation, dass du ein Brot mit einem Geldschein bezahlen musstest, länger als Toilettenpapier. Viele Krankheiten, die Menschen hässlich, dumm, unlustig und tot gemacht haben. Politische Regime, die zum Vergnügen sich selbst in Arbeitslager gebracht und dann Genozid an sich begangen haben. Und heulen, überall heulen, so laut und so niederschmetternd, dass man es vom Weltall aus hören konnte. Und dann, als hätte der Planet endgültig genug gesehen, fror die Welt ein, innerhalb eines Flügelschlags von einem Kolibri. Für zwanzig lange Jahre. Und so kehrte endlich Ruhe in die Galaxie ein. Das Jahr 2024 war ruhig. Und das Jahr 2025 auch. Zwanzig Jahre Stille, man konnte den Sternenstaub durch die Milchstrasse klimpern hören.

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ZUM STÜCK Kann bitte einfach alles mal gut sein? Und zwar nicht nur gut, sondern richtig gut? Super super gut? Doch, kann es, und zwar in Jugojugoslavija. Dort gibt es weder Streit noch Probleme. Nur Liebe. Mit diesem naiven, aber grundmenschlichen Bedürfnis beginnt der deutsch-koreanische Autor Bonn Park seinen Traum einer besseren Welt: Aus der Zukunft blicken vier Übriggebliebene zurück in unsere Gegenwart der 2020er-Jahre, die ziemlich schwierig ist: Naturkatastrophen, Krankheiten, Kriege. Bis der Planet genug hat und einzufrieren beschliesst. Im Jahr 2024 ist endlich Ruhe. Nichts bewegt sich mehr, alles ist still. Erst nach 20 Jahren im Eis wird ein neuer Versuch unternommen und die Menschheit erhält eine zweite Chance: mit ES. ES bringt Wärme, Freude, Glück und Liebe. Und zwar in einem weltumspannenden Reich – vom Mississippi bis zum Mekong, vom Marianengraben bis zum Himalaya. Doch jede Utopie ist brüchig, und so kippt auch der bezaubernde Versuch, mit Jugojugoslavija ein Reich des Glückes zu errichten, in Diktatur und Gewalt, ganz wie Titos Jugoslawien, das reale Vorbild, an dem sich Bonn Park für sein Stück orientierte. Jugojugoslavija wurde in Belgrad in der Regie des Autors uraufgeführt. In Bern bringt die in Kroatien (Ex-Jugoslawien) und Deutschland aufgewachsene Regisseurin Anita Vulesica die deutschsprachige Erstaufführung auf die Bühne.


Stéphane Maeder, Genet Zegay, Isabelle Menke


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NEUSTART BITTE!

Über das Kippen von Utopien und den Menschen als «homo puppy» von Felicitas Zürcher Der Wunsch nach einem Neuanfang manifestiert sich seit einigen Jahren immer dringlicher: Unsere Gesellschaftsordnung ist an einem Endpunkt angelangt; höher, weiter, schneller geht nicht mehr, das Ende unserer Gattung und vielleicht des ganzen Planeten ist eine reale Möglichkeit geworden und nicht länger Fantasie aus einem Science-Fiction-Film. Dieses Bedürfnis nach einem frischen Versuch hat Bonn Park in seinem 2020 für das Belgrader Theater geschriebenen Stück formuliert und damit gleichzeitig eine Metapher über Utopien und deren Scheitern vorgelegt. Dabei ist unsere Gegenwart beängstigend treffsicher beschrieben. Nicht nur, dass es seit der Entstehung des Stückes tatsächlich kontinuierlich bergab zu gehen scheint: 2021 wurde leider wirklich nicht besser, und 2022 hat beileibe nicht gut angefangen. Krankheiten, Naturkatastrophen, Krieg – die Situation ist desolat. Dass der Planet irgendwann genug davon hat, ist nachvollziehbar, und es scheint eine gute Idee, für ein paar Jahre einzufrieren und einfach mal Pause zu machen, um zu überlegen, wie es mit dem «homo sapiens» nun eigentlich weitergehen soll. Bonn Park rechnet 2024 damit. Dass der Neuanfang im Jahr 2045 ausgerechnet mit Jugojugoslavija geschieht, einem Land, das höchst durchschaubar das reale Jugoslawien als Blaupause nimmt, ist überraschend, hat doch das blutige Ende dieses sozialistischen Versuchs sein utopisches Potenzial ziemlich vergessen lassen. Dabei erprobte der Vielvölkerstaat auf dem Balkan unter Titos Führung ab seiner Gründung 1945 die Vision eines friedlichen Zusammenlebens aller Ethnien und


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Religionen und vereinte sie unter den sozialistischen Werten Einheit und Brüderlichkeit. Jugoslawien sah sich damals als Vorbild für ganz Europa. (Saša Stanišić zitiert in seinem autobiografischen Roman Herkunft die Überzeugung: «Wäre Tito noch am Leben, wäre Jugoslawien heute wie die Schweiz, nur weniger verstockt.») Doch nach dem Tod des Staatsgründers brach das Konstrukt innerhalb weniger Jahrzehnte auseinander, aus dem jugoslawischen Traum wurde ein Trauma. Am Beispiel dieser Nation lassen sich nun die Funktionsweise von Utopien und deren Kipp-Punkte wie unter einem Brennglas betrachten; Bonn Parks Retrotopie Jugojugoslavija wird auf der Basis des realen Jugoslawiens zu einer Art Super-Jugoslawien, einem Meta-Staat und vielleicht dem ultimativen Versuch des Glücks. Das Stück kann also auf mehreren Ebenen gleichzeitig gelesen werden: Einerseits beschreibt es mit den angesprochenen Eckdaten konkrete historische Ereignisse des Staates Jugoslawien. Gleichzeitig markieren diese aber auch zentrale Elemente und Sollbruchstellen in Utopien, die vielen Versuchen gemeinsam sind, grossen Projekten wie dem jugoslawischen Staat oder kleinen Gruppen, die mitunter Gefahr laufen, in sektenartigen Systemen von Gewalt und Abhängigkeit zu münden. Beginn der neuen Zeitrechnung in Jugojugoslavija ist ES – das einerseits für Tito steht; Titos Tod ist auch das Ende von ES. Aber ES heisst nicht zufällig so – ES ist unglaublich wandelbar, kann mit jeder anderen Führerfigur gefüllt werden, könnte der Gral der Artusrunde genauso sein wie eine göttliche Idee oder eine spirituelle Kraft, die den menschlichen Urwunsch nach Frieden verwirklicht: «ES hatte viele Gesichter, vielleicht alle, vielleicht noch mehr. ES war schön. Wunderschön.» Mit ES ist alles sehr einfach – es bedarf lediglich der Änderung der Grundprämissen, und alle Probleme sind gelöst: Streit, Unzufriedenheit und Feindschaften zwischen Völkern gibt es nicht mehr, es geht immer gerecht zu in


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Jugojugoslavija. Auf die ungläubige Frage des Kinderchores, «Aber wie denn nur?», gibt es simple Antworten: «Verfeindet sein war einfach nicht so gern gesehen.» Man verfolgt also eine Politik der Freundschaft, «Verliertorik» wird UnterrichtsFach, denn Unrecht haben fühlt sich gut an und Verlieren ist angesagt. Weil mitmachen zählt und nicht gewinnen, kann auch die 84jährige Tijana Xiu Ying Marjanovic-Touré bei den Olympischen Spielen antreten. Vielleicht schwingt dabei Sarajewo 1984 mit, als Jugoslawien das Zentrum der Völkerverständigung und des friedlichen Wettkampfs war, kurz bevor die Wintersportanlage durch den Krieg zerstört wurde. Aber wenn im Jahr 2072 die Olympischen Spiele in der mongolischen Hauptstadt Ulaanbaatar ausgetragen werden, ist das ein deutlicher Kommentar auf Beijing 2022, denn in Jugojugoslavija sind ja alle Länder vereint: «Was mal Tibet und China waren, war jetzt Jugojugoslavija und man freute sich einfach, dass es warm war. Aber auch Hongkong und China, USA und China, Uigurien und China. Sowieso alle und China, es war alles in Ordnung.» Mit dem Wissen um das Ende Jugoslawiens ist auch das Scheitern von Jugojugoslavija vorgezeichnet, auch in Jugojugoslavija gibt es diesen Punkt, an dem Risse deutlich werden. «Es war nicht alles gut in Jugojugoslavija», wird geraunt. Feinde des Systems tauchen auf und verderben die Stimmung. Menschen verschwinden, Kinder wachsen ohne ihre Eltern auf. «Manchmal kamen sie zurück und waren zufriedener», will man wissen. Die Lager, in die diese Feinde kommen, stehen nicht nur für die Lager an der kroatischen Adria, wie sie auch das Tito-Regime unterhielt, sondern für jegliche Umerziehungslager für Oppositionelle. Dass diese Orte in Jugojugoslavija «Zentren für angenehme Umstände» heissen, ist eine kleine Referenz an George Orwells Roman 1984, in dem Gegner*innen der Partei ins Liebesministerium gebracht werden, wo man ihnen beibringt, dass 2+2=5 ist. Der Traum in Jugojugoslavija ist im Jahr 2109 also ausgeträumt. Die Gegenwart ist nicht gut, einzige Freude dieses Grüppchens von Übriggebliebenen ist das Erinnern an

Das komplette Programmheft ist am Vorstellungsabend oder an der Billettkasse erhältlich.


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