Schauspiel Bern Spielzeit 2021/22
ROSE BERND von Gerhart Hauptmann
Susanne-Marie Wrage Bildlegende
Schauspiel Bern Spielzeit 2021/22
ROSE BERND von Gerhart Hauptmann
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BESETZUNG Rose Bernd Yohanna Schwertfeger Vater Bernd Matthias Redlhammer Marthel Nanny Lina Erika Friebel* Herr Flamm Heiko Raulin Frau Flamm Susanne-Marie Wrage Streckmann Jan Maak August Keil Kilian Land Live-Musik Traktorkestar (Jürg Lerch, Balthasar Streit, Charles Wagner, Maro Widmer, Samuel Würgler, Samuel Zingg) * Studentin des HKB-Schauspielstudios
Regie Roger Vontobel Bühne Claudia Rohner Kostüm Ellen Hofmann Komposition und Live-Musik Matthias Herrmann Lichtdesign Bernd Felder Licht Christian Aufderstroth Dramaturgie Marion Tiedtke / Felicitas Zürcher Regieassistenz Joel Mähne Bühnenbildassistenz Christos Samaras Kostümassistenz Dominique Steinegger Souffleuse Sabine Bremer Inspizienz Hasan Koru
Premiere am 09. September 2021, 19:30, Stadttheater Dauer der Aufführung 2 Stunden, keine Pause Die Inszenierung ist eine Übernahme vom Schauspielhaus Bochum
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Technischer Direktor: Reinhard zur Heiden Leiter Bühnenbetrieb: Claude Ruch Leiter Werkstätten: Andreas Wieczorek Leiterin Kostüm & Maske: Franziska Ambühl Produktionsleiterin Bühnenbild: Konstantina Dacheva Produktionsleiterin Kostüm: Maya Däster Bühnenmeister: David Grütter, Vinzenz Kocher Tontechnik: Urs Haller, Jeremias Schulz Requisite: Barbara Salchli, Karin Meichtry Maske: Martina Jans, Laura Lind
Die Ausstattung wurde in den Werkstätten und Ateliers der Bühnen Bern hergestellt. Co-Leitung Malsaal: Jann Messerli, Lisa Minder Leiter Schreinerei: Markus Blaser Leiter Schlosserei: Marc Bergundthal Leiter Dekoration: Simon Pinter Leiterin Maske: Martina Jans Gewandmeisterinnen: Mariette Moser, Irene Odermatt, Sina Rieder Leitung Requisite: im Team Leiter Beleuchtung: Bernhard Bieri Leiter Audio & Video: Bruno Benedetti
Eintritt um 30 % ermässigt dank der Genossenschaft Migros Aare
Unter dem Patronat von
Merci
Partner Maske
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Es war einmal ein kleines Mädchen, dem war Vater und Mutter gestorben, und es war so arm, dass es kein Kämmerchen mehr hatte, darin zu wohnen, und kein Bettchen mehr hatte, darin zu schlafen, und endlich gar nichts mehr als die Kleider auf dem Leib und ein Stückchen Brot in der Hand, das ihm ein mitleidiges Herz geschenkt hatte. Es war aber gut und fromm. Und weil es so von aller Welt verlassen war, ging es im Vertrauen auf den lieben Gott hinaus ins Feld. Da begegnete ihm ein armer Mann, der sprach: «Ach, gib mir etwas zu essen, ich bin so hungrig.» Es reichte ihm das ganze Stückchen Brot und sagte: «Gott segne dir‘s», und ging weiter. Da kam ein Kind, das jammerte und sprach: «Es friert mich so an meinem Kopfe, schenk mir etwas, womit ich ihn bedecken kann.» Da tat es seine Mütze ab und gab sie ihm. Und als es noch eine Weile gegangen war, kam wieder ein Kind und hatte kein Leibchen an und fror; da gab es ihm seins; und noch weiter, da bat eins um ein Röcklein, das gab es auch von sich hin. Endlich gelangte es in einen Wald, und es war schon dunkel geworden, da kam noch eins und bat um ein Hemdlein, und das fromme Mädchen dachte: Es ist dunkle Nacht, da sieht dich niemand, du kannst wohl dein Hemd weggeben, und zog das Hemd ab und gab es auch noch hin. Und wie es so stand und gar nichts mehr hatte, fielen auf einmal die Sterne vom Himmel, und waren lauter blanke Taler; und ob es gleich sein Hemdlein weggegeben, so hatte es ein neues an, und das war vom allerfeinsten Linnen. Da sammelte es sich die Taler hinein und war reich für sein Lebtag. Die Sterntaler, Gebrüder Grimm
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ZUM STÜCK Seelig liegt Rose Bernd neben ihrem Geliebten, dem Amtsvorsteher Christoph Flamm. Doch das Glück währt nur einen winzigen Moment. Denn Rose ist verlobt und Flamm verheiratet, und der Maschinist Streckmann hat das Paar beobachtet. Rose kann sich nicht dazu durchringen, ihren langjährigen Verlobten August Keil zu heiraten. Der brave und sehr fromme Mann gefällt vor allem Roses Vater und könnte die Familie Bernd mit seinem kleinen Vermögen aus ihrer Armut befreien. Als Rose ein paar Wochen später bemerkt, dass sie schwanger ist, willigt sie überstürzt in die Heirat mit August ein. Flamms Frau errät Roses Geheimnis und verspricht ihr, für das Kind zu sorgen – ohne zu ahnen, wer dessen Vater ist. Um die Hochzeit nicht zu gefährden, sucht Rose Streckmanns Unterstützung, der ihre Situation ausnutzt, sich an ihr vergeht und ihren Ruf trotzdem ruiniert. In ihrer Not und Einsamkeit wird Rose, die es allen recht machen wollte, schliesslich zur Täterin. Gerhart Hauptmann schrieb das Stück 1903; nur ein halbes Jahr nach der Uraufführung in Berlin stand das damals brandneue Stück in der Eröffnungsspielzeit des Stadttheaters Bern 1903/04 auf dem Spielplan. Zum Neustart von Bühnen Bern stellt sich nun, mehr als hundert Jahre später, der neue Schauspieldirektor Roger Vontobel mit dieser Übernahme vom Schauspiel Bochum zum ersten Mal dem Berner Publikum vor.
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Matthias Redlhammer, Yohanna Schwertfeger, Kilian Land, Jan Maak
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Wenn’s uff mich bloss ankäm … 10
Traktorkestar mit Ensemble
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«ES IST UNSERE SACHE» Rose Bernd als #metoo-Fall von Felicitas Zürcher
Es ist gerade einen Monat her. Anfang August 2021 wurde in Basel das Urteil gegen einen Vergewaltiger abgemildert. Die Begründung der vorsitzenden Richterin: Die Frau habe «mit dem Feuer gespielt», indem sie kurz zuvor mit einem anderen Mann intim gewesen sei, der Täter habe sein Opfer als «leichte Beute» gesehen. Vor mehr als 100 Jahren lässt auch Gerhart Hauptmann eine seiner Figuren sagen: «Eener is aso gutt wie d’r andere! Ich luss’ mir da ooch ni a Laufpass geb’n.» Es ist Streckmann, derjenige, der Rose mit Flamm beobachtet, sie erpresst und schliesslich vergewaltigt – weil er sie als «leichte Beute» sieht. Hauptmann verfasste das Drama, nachdem er 1903 als Geschworener am Prozess gegen eine Kindsmörderin beteiligt war. Dieser Ursprung aus dem Gerichtssaal steckt dem Stück in der DNA. Rose Bernd liest sich wie das Protokoll eines jener zahlreichen #metoo-Fälle, die seit Herbst 2017 ans Licht kommen: Rose steht in einem Abhängigkeitsverhältnis zu ihrem Geliebten Flamm, es ist das hierarchische Verhältnis Dienstherr zu Untergebener. Sie befindet sich in prekären finanziellen Verhältnissen – und aufgrund ihrer ungewollten Schwangerschaft bald auch in einer emotionalen Notlage. Die Befangenheit der Obrigkeit, allen voran Flamms selbst, der als Schulze im Dorf das Sagen hat, verunmöglichen ein objektives Urteil. Roses Umgebung vermag ihre Hinweise nicht ernst zu nehmen und verurteilt stattdessen das Opfer. Und Rose selbst verzichtet auf eine Anzeige, traut sich vor Gericht nicht auszusagen und leistet stattdessen aus Scham einen Meineid.
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Nochmals 100 Jahre früher hat ein weiterer Dichter ein Stück geschrieben, in dem ebenfalls ein #metoo-Fall verhandelt wird: Heinrich von Kleist notierte in seinem zwischen 1802 und 1808 am Thunersee entstandenen «Lustspiel» Der zerbrochne Krug ungefähr das Verhör, das Hauptmann in Rose Bernd ausspart und lediglich in Roses und Flamms Erzählung erahnen lässt. Der Richter Adam in Huisum verhört Eve, das Mädchen, das er abends davor sexuell bedrängt hat. Auch Eve wird eingeschüchtert, gedemütigt und bedroht; auch sie verschweigt die Wahrheit, auch sie ist ein Bauernmädchen, auch sie in emotionalen Schwierigkeiten. Die drei Fälle in Basel, Schlesien und Huisum zeigen deutlich die Rolle der Gesellschaft. Sie alle fussen auf einem Kollektiv, das Frauen in der ganzen Welt seit hunderten von Jahren das Gefühl von Schuld und Scham einredet für die Verbrechen, die an ihnen begangen werden. Bei Rose Bernd (genau wie bei Heinrich von Kleist) ist dieses Kollektiv literarisch verdichtet, komprimiert und äusserst überschaubar. In der Abgeschiedenheit auf dem Land gibt es kaum Auswahl, weder was den Richter noch was den Bräutigam betrifft. Und auch die Nachbarschaft kann man sich nicht aussuchen, es wissen sowieso alle über alles Bescheid. «D’r Himmel is hoch, und de Welt is weit!», beschwört Rose ihre Möglichkeiten, aber Alternativen gibt es in ihrem Leben nicht. Sie hat einen kranken Vater und eine kleine Schwester zu versorgen, sie kann nicht weggehen, die Verantwortung nicht abschütteln: «Wenn’s uff mich bloss ankäm …» Rose ist emotional an ihre Familie gebunden und finanziell abhängig von ihrem Arbeitgeber und Geliebten Flamm. Und sie ist finanziell abhängig von ihrem Verlobten August Keil, der die Familie Bernd mit seinem kleinen Vermögen und einem eigenen Haus aus der finanziellen Misere befreien kann. «Die Kunst der Heutigen umfasst mit klammernden Organen alles, was lebt», notiert der Theaterreformer Otto Brahm 1889 über den neuen Stil des Naturalismus, kurz bevor er die Leitung des Deutschen Theaters übernimmt und Gerhart Hauptmann zu seinem Hausdichter macht, «sie
Das komplette Programmheft ist am Vorstellungsabend oder an der Billettkasse erhältlich.