Schauspiel Bern Spielzeit 2021/22
TUNTSCHI. EINE HÄUTUNG Haider | Marković | Muhar | Sargnagel Wiener Grippe/KW77
Die Sage geht in etwa so: Angeblich haben vier einsame, eklige Sennen eine Puppe gemacht und mit Schnaps getauft, und weil die Berge verrückt sind, ist die Puppe wirklich zum Leben erwacht. Zu einer Art Leben, um Kaffee zu kochen und mit den vier Männern zu ficken. Später haben sie ihr noch Käse über die Lippen geschmiert, da hat sie begonnen zu reden, aber das Reden ging den Sennen sofort auf die Nerven, und sie haben die Puppe zerstückelt und vor der Hütte in alle Richtungen verstreut. Am nächsten Tag kam sie wieder, begann Kaffee zu kochen und zu ficken, hin und wieder zu reden. Und so sind drei Monate vergangen. Der Sommer war aus. Die Sennen mussten wieder runter zu ihren Ehefrauen und wollten sich von der Puppe verabschieden. Sie hatten an dem Tag ein schlechtes Gefühl, und es war richtig, sich Sorgen zu machen. Die Puppe meinte: Stopp, wo wollt ihr hin? Und sie warf den ersten Mann den Hang runter, dass er sich alles brach, dem Zweiten brach sie den Hals, stopfte den Dritten in den Brunnen. Den Unsympathischsten, den Vierten, bewahrte sie bis zum Ende auf, damit er alles sah. Und dann wurde der Unsympathischste geschlachtet und gehäutet, und seine Haut wurde vor der Hütte zum Trocknen gespannt. Happy End. Barbi Marković
Bildlegende
Schauspiel Bern Spielzeit 2021/22
TUNTSCHI. EINE HÄUTUNG von Lydia Haider, Barbi Marković, Maria Muhar und Stefanie Sargnagel (Wiener Grippe/KW77) Uraufführung
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merci
Du unterschätzt, was in den Schweizer Bergen passiert. Partner Maske
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BESETZUNG Mit
David Berger Jeanne Devos Lucia Kotikova Isabelle Menke Jonas Dumke* Nola Friedrich* Maria Goletz* Timo Jander*
* Studierende des HKB-Schauspielstudios
Regie Sara Ostertag Komposition & Live-Musik Jelena Popržan Ausstattung Nanna Neudeck Mitarbeit Choreografie Gina Gurtner Licht Hanspeter Liechti Dramaturgie Michael Isenberg Regieassistenz Ruth Mensah Bühnenbildassistenz Sidonia Helfenstein Kostümassistenz Shayenne Di Martino Inspizienz Denis Puzanov
Premiere am 10. September 2021, 19:30, Vidmar 1 Dauer 1 h 30 min, keine Pause Aufführungsrechte schaefersphilippentm, Theater und Medien GbR Technischer Direktor: Reinhard zur Heiden Leiter Bühnenbetrieb: Claude Ruch Leiter Werkstätten: Andreas Wieczorek Leiterin Kostüm & Maske: Franziska Ambühl Produktionsleiterin Bühnenbild: Konstantina Dacheva Produktionsleiterin Kostüm: Maya Däster Bühnenmeister: Jean-Claude Bögli Tontechnik: Valentin Mayans, Peter Tészás Requisite: Cora Liechti, Gabriela Hess Maske: Samanta Hug, Anja Wiegmann Die Ausstattung wurde in den Werkstätten und Ateliers der Bühnen Bern hergestellt. Co-Leitung Malsaal: Jann Messerli, Lisa Minder Leiter Schreinerei: Markus Blaser Leiter Schlosserei: Marc B ergundthal Leiter Dekoration: Simon Pinter Leiterin Maske: Martina Jans Gewandmeisterinnen: Mariette Moser, Irene Odermatt, Sina Rieder Leitung Requisite: im Team Leiter Beleuchtung: Bernhard Bieri Leiter Audio & Video: Bruno Benedetti Leiter Vidmar: Marc Brügger
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«WARUM SIND DIE SCHWEIZER VON DIESER SAGE SO BESESSEN?» Anmerkungen zum Stück von Michael Isenberg
Die Sage vom Sennentuntschi zählt zu den populärsten Erzählungen des Alpenraums, insbesondere der Schweiz. Der Zürcher Psychoanalytiker Gotthilf Isler sammelte 111 Sagenvarianten, vom Wallis im Westen bis zur österreichischen Steiermark im Osten. Schriftsteller*innen wie Meinrad Inglin, Marie Luise Kaschnitz oder Martina Clavadetscher schufen literarische Bearbeitungen. Für einen Skandal sorgte 1981 die Ausstrahlung der Theaterfassung von Hansjörg Schneider im Schweizer Fernsehen. Es folgten Opern- und Ballettbearbeitungen und mehrere Verfilmungen. Anlässlich des über 5 Millionen teuren Kinofilms von 2010 rief ein Schweizer Boulevardblatt sogar zum «Miss-Tuntschi»-Wettbewerb auf. Warum also sind die Schweizer*innen von dieser Sage so besessen? Mit dieser Frage im Gepäck haben sich vier Wiener Autorinnen im Dezember 2020 auf Recherchereise in die Schweiz begeben (→ Seite 11). Mit dem Flugzeug nach Zürich, von dort ins Rätische Museum nach Chur, wo unter der Inventarisierungsnummer H 1986,52 ein Objekt mit dem Titel «Sennenpuppe» aufbewahrt wird, bis nach Cauco im Calancatal, wo ebendiese Puppe Ende der 1970er-Jahre unter ungeklärten Umständen auftauchte. Kommt man hier, an diesem Fundort, vielleicht dem bis heute andauernden Fluch der Sage am ehesten auf die Spur? Sagen sind keine unschuldigen Geschichten, keine Schauermärchen für Kinder. Ursprünglich sollten sie durch das Einwirken von Geistern und Dämonen das Unerklärliche erklärbar machen. Sie sicherten die moralischen Vorstellungen ihrer Zeit und markierten die Grenze vom
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Vertrauten zum Unheimlichen. Und auch wenn sie heute, in unseren mehr oder weniger aufgeklärten Zeiten, ihre Bedeutung weitgehend eingebüsst haben, geistern ihre Narrative weiter durch unsere Vorstellungen. Die vier Autorinnen unterziehen in ihrem kollektiv verfassten Stück die Sage einem Exorzismus. Sie häuten die Geschichten, indem sie ihnen das Übernatürliche runterreissen, banalisieren, ins Gegenteil verkehren, aktualisieren und übertreiben. Stefanie Sargnagel erzählt in ihrem Reisebericht von vier Autorinnen und einem männlichen Sexpuppentuntschi, Barbi Marković schildert ihre eigene Schöpfung im Widerstand gegen die Wunschvorstellungen ihrer Eltern und die Normen der Gesellschaft, Maria Muhar begibt sich hinein in die düsteren Welten des Internets, in denen Männer – wie die Sennen in der Sage – unter sich sind und ihren Hass und ihre Fantasien auf Frauen projizieren (→ Seite 26), Lydia Haider ruft die Tuntschis aller Länder auf zur grossen Vereinigung und Vernichtung allen Seins und aller Geschichten, die je geschrieben wurden. Das Stück ist auf vielen Ebenen ein Kampf mit den alten Geschichten, die sich das Patriarchat erzählt. Ein lustvoller literarischer Angriff auf ein Schweizer Kulturgut, ganz nach Wiener Art. Ein vielstimmiger, feministischer Racheakt. Doch kann der Fluch des Sennentuntschis am Ende wirklich gebrochen werden? Die Uraufführung von Tuntschi. Eine Häutung wird von der Wiener Regisseurin Sara Ostertag inszeniert, die für ihre genresprengenden Arbeiten an der Grenze von Tanz, Musik und Theater vielfach ausgezeichnet wurde. Als Live-Musikerin auf der Bühne ist die Bratschistin, Sängerin, Komponistin und Performerin Jelena Popržan zu erleben, deren 2020 erschienenes Solo-Album La Folia von der Presse gefeiert wurde.
Das komplette Programmheft ist am Vorstellungsabend oder an der Billettkasse erhältlich.