Schauspiel Bern Spielzeit 2021/22
VON SCHLECHTEN ELTERN Tom Kummer
Die Schweiz lässt alles zu. Wir lieben dieses Land. Partner Maske
Merci Warlomont-Anger-Stiftung
Schauspiel Bern Spielzeit 2021/22
VON SCHLECHTEN ELTERN Nach dem Roman von Tom Kummer Uraufführung Fassung von Tilmann Köhler und Felicitas Zürcher
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Jan Maak, Kilian Land, Jonathan Loosli
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BESETZUNG Mit Kilian Land Jonathan Loosli Jan Maak
Regie Tilmann Köhler Bühne Karoly Risz Kostüm Susanne Uhl Musik Jacob Suske Dramaturgie Felicitas Zürcher Licht Hanspeter Liechti
Premiere am 06. November 2021, 19:30, Vidmar 1 Dauer 1 h 45 min, keine Pause Aufführungsrechte vermittelt durch: schaefersphilippen TM, Theater und Medien GmbH, Köln. Regieassistenz: Ruth Mensah Bühnenbildassistenz: Christos Samaras Kostümassistenz: Shayenne Di Martino Inspizienz: Miklos Ligeti Soufflage: Gabriele Suremann-Hellwig Choreografische Beratung: Gina Gurtner Technischer Direktor: Reinhard zur Heiden Leiter Bühnenbetrieb: Claude Ruch Leiter Werkstätten: Andreas Wieczorek Leiterin Kostüm & Maske: Franziska Ambühl Produktionsleiterin Bühnenbild: Konstantina Dacheva Produktionsleiterin Kostüm: Maya Däster Bühnentechnik: Andy Hohl Tontechnik: Valentin Mayans, Peter Tészás Requisite: Karin Heinrich, Karin M eichtry Maske: Anja Wiegmann Die Ausstattung wurde in den Werkstätten und Ateliers der Bühnen Bern hergestellt. Co-Leitung Malsaal: Jann Messerli, Lisa Minder Leiter Schreinerei: Markus Blaser Leiter Schlosserei: Marc B ergundthal Leiter Dekoration: Simon Pinter Leiterin Maske: Martina Jans Gewandmeisterinnen: Mariette Moser, Irene Odermatt, Sina Rieder Leitung Requisite: im Team Leiter Beleuchtung: Bernhard Bieri Leiter Audio & Video: Bruno Benedetti Leiter Vidmar: Marc Brügger
Aeneis
Mitten im Acheron schwamm ein Nachen. Ihn steuerte Charon, der Fährmann des Totenreiches. Grau und verwildert umstarrte der Bart sein Gesicht, die Augen waren wie Feuer. Ein schmutziges Gewand, auf der Schulter zum Knoten geschlungen, bedeckte seinen Leib. Er stiess den eisenfarbenen Kahn mit einer Stange vorwärts, gegen das jenseitige Ufer.
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ZUM STÜCK Tom ist Nachtchauffeur. In seiner Luxuslimousine fährt er ausländische VIPs von den Botschaften im Berner Kirchenfeld durch die dunkle Schweiz. Das Intelligent Driving System erlaubt ihm immer wieder Geisterfahrten, dann träumt er sich in das grün fluoreszierende Licht auf der Windschutzscheibe hinein, bis ihm seine tote Frau Nina erscheint. Draussen in der dunklen Landschaft sehen er und seine Fahrgäste Dinge, die man tagsüber nicht zu erkennen vermag: verborgene Abgründe des Paradieses Schweiz. Der Anker, der Tom jeden Morgen spätestens um 7:00 Uhr zurück in den Berner Ostring fahren lässt, ist sein zwölfjähriger Sohn Vincent, der dann aufsteht und in die Schule geht. Der ältere Sohn Frank ist in den USA geblieben, als Tom nach Ninas Tod zurück in die Heimat zog, nach Bern. Während in der Schweiz Vincents Lehrerin, das Jugendamt und ein paar Nachbarn Vater und Sohn beobachten und auf der anderen Seite des Atlantiks Frank abtaucht, ist Tom immer sicherer: Seine Söhne werden ihn retten, und irgendwann wird die Familie wieder zusammen sein.
Jonathan Loosli, Jan Maak, Kilian Land
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NIGHT JOURNEYS
Über Trauer, die Gefährlichkeit von Männern und die Utopie, mit den Toten zu leben von Felicitas Zürcher Ende der 1950er-Jahre begann die US-amerikanische Malerin Lee Krasner an einer grossformatigen Werkserie zu arbeiten. Ihre Mutter war gestorben, kurz nachdem Krasners Mann Jackson Pollock 1956 mit dem Auto tödlich verunglückt war. Krasner litt unter chronischer Schlaflosigkeit und arbeitete nachts. Sie malte ohne künstliches Licht, reduzierte ihre Farbpalette auf Weiss und Umbra und entzog den Gemälden so jegliche Farbe. Es entstanden Trauerbilder von grosser expressiver Kraft, die Werke der Serie werden als «Night Journeys» bezeichnet, als nächtliche Reisen. Auch der Limousinen-Chauffeur in Tom Kummers Von schlechten Eltern arbeitet nachts. Tagsüber verkriecht er sich, schläft. Wenn er im Hellen unterwegs sein muss, reagiert er allergisch, seine Haut prickelt, er bekommt Ausschläge, Angstzustände. Die Augen schützt er mit einer dunklen Brille, die Sonne schmerzt. «Schweizer Tageslicht ist Gift für mich», weiss er. Gleichzeitig ist die Nacht mehr als nur eine Notlösung, sie ist Zufluchtsort, Rettung: «Nachts bietet dieses Land perfekte Bedingungen. Stille, Dunkelheit. Keine Menschen. Nichts lenkt hier vom Wesentlichen ab. Ein gesegnetes Land.» Wenn alles Licht verschwunden ist, sieht Tom endlich klar. Die Nacht beruhigt ihn, nachts zeigen die Dinge ihre reale Gestalt – zumindest für einen Trauernden wie Tom. Es kommen Abgründe zum Vorschein, die in der Postkarten-Version der Schweiz verborgen bleiben, sie haben allesamt mit Tod, Zerstörung und Verfall zu tun: tote Tiere, randständige Menschen, sterbende Gletscher – die Kehrseite des idyllischen Urlaubs- und Vorzeige-Landes, die
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im Tageslicht nicht gegen die Schönheit ankommt. Hauptsächlich aber hat Tom nachts die Chance, seiner verstorbenen Frau nah zu sein, sie in seinem Wagen erscheinen zu lassen. In der Dunkelheit gleitet Toms Luxuslimousine durch die Schweiz, auf dem Rücksitz wechselnde Fahrgäste, die er wie ein moderner Charon von der einen Seite auf die andere fährt. Dieser Fährmann des Todes bringt in der antiken Mythologie die Seelen der Verstorbenen über den Totenfluss Acheron; Tom fährt seine Klient*innen von Genf nach Bern, durch den Gotthard oder über die Grimsel am Totensee vorbei ins Tessin, und auch mal an die Absprungkante «High Ultimate», von wo aus ein libyscher Oberst in eine ganz andere Welt gelangen wird. Die Gespräche, die Tom mit den Passagieren auf seiner Rückbank führt, drehen sich um Tod, Trauer und die Frage nach einem Leben nach dem Tod; es sind eher Selbstgespräche, eingebildete Dialoge mit Menschen als auswechselbaren Hülsen, wie es in Nina und Tom heisst. Es ist eine Art langer Meditation, in die sich der Trauernde versenkt, in der die Umgebung wie in Krasners Gemälden die Farbe von Toms innerem Zustand annimmt. In diesem Zustand radikaler Subjektivität behandeln alle Vorkommnisse sein Thema; die gesamte Welt wird ihm Zeichen und ist auf ihn, den Trauernden ausgerichtet. Es gibt eine Vielzahl popkultureller Referenzen in Von schlechten Eltern. Neben Serien wie Stranger Things stechen am deutlichsten die Filme Night on Earth und vor allem Taxi Driver ins Auge, eine deutliche Folie für Von schlechten Eltern: Der Vietnam-Veteran Travis Bickle findet nach seiner Rückkehr in die USA keinen Halt mehr in der Gesellschaft, alles ist ihm fremd geworden, er selbst ist in der Welt ein Fremder geworden. Er bringt seine Fahrgäste hin, wo sie wollen, auch in die dunkelsten Bezirke der Stadt, die Hölle New Yorks – auch er ein Charon, ein wortkarger Begleiter auf dem Weg in die Unterwelt. Travis Bickles eigener Weg geht im Film vom unsicheren Zivilisten über den militärischen Kämpfer zum Outlaw im archaischen Krieger-Look. Auch in Tom ist dieser Weg zumindest angelegt – die
Das komplette Programmheft am Vorstellungsabend oder an der Billettkasse erhältlich.