Leseprobe Jerry J. Smith "Die Ungezähmte" Roman KUUUK ISBN 978-3-939832-93-5

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26 Seiten Leseprobe zu Jerry J. Smith DIE UNGEZÄHMTE

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Jerry J. Smith Die Ungezähmte

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Marie, eine 22-jährige Tourismuskauffrau, kommt wild und unbeugsam daher, lebt aber dennoch in Berlin ein eher fremdgesteuertes, angepasstes Leben. Der Bruder will sie kontrol­lieren und über sie bestimmen. Ihren großen Traum, die Weinwelt zu bereisen und Winzerin zu werden, stellt sie mehrfach und widerwillig für eine, von ihrem Bruder bevorzugte, sichere Karriere im Management zurück. Marie gelangt nach England, wird nach Wales versetzt – doch dann ändert sich alles und sie entwickelt die Bereitschaft, ihr unge­zähmtes Inneres zur Entfaltung kommen zu lassen. Schließlich reist sie auf eigene Faust, mit ihrem aktuellen Freund Steve, nach Kanada ins Unbekannte. Die Reise über den Atlantik wird ein Durchbruch, bringt Marie aber auch oft an die eigenen Grenzen. Ihr Weintraum kann endlich wahr werden. Die Ungezähmte kommt nun durch. Aber: Sie hat einige existentielle Krisen, darunter auch schwierige Liebesbeziehungen, durchzustehen – und jedem Fortschritt folgt zugleich ein neues Hindernis. Ein Seelenverwandter und enger Freund namens Samuel ist mit seinen Hinweisen aus der Ferne immer präsent und wird zu einem „Guide“, der wichtige Lebensratschläge gibt. Doch um zu überleben und ihren Traum zu verwirklichen, muss Marie endlich den Schritt gehen, vor dem sie ihr Leben lang Angst hatte. Dieses Buch schil­ dert über mehrere abenteuerliche Stationen einen wechselhaften Kampf mit dem Ich. Und zugleich die großartige Selbstfindung einer jungen Frau. Die Schriftstellerin Jerry J. Smith wurde 1978 in Berlin geboren und lebt heute, nach vielen Jahren im Ausland, mit ihrer Familie in Leipzig. Nach der Ausbildung zur Restaurantfachfrau und einer Weiterbildung am deutschen Weininstitut hat sie sich, u.a. in Kanada, als Winzergehilfin intensiv mit dem Weinbau befasst und später auch als Tätowiererin und Jugendschöffin Erfahrungen gesammelt. Seit 2014 lebt sie nun ihren Traum vom Schreiben und legt hier ihren Debütroman vor.

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Jerry J. Smith

Die Ungezähmte Roman

K|U|U|U|K VERLAG MIT 3 U

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek erfasst diesen Buchtitel in der Deutschen Nationalbibliografie. Die bibliografischen Daten können im Internet unter http://dnb.dnb.de abgerufen werden. Alle Rechte vorbehalten. Insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen und Medien – auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere neuartige Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. HINWEIS: Deutsch ist überaus vielschichtig und komplex. Der Verlag versucht, nach bestem Wissen und Gewissen alle Bücher zu lektorieren und zu korrigieren. Oft gibt es allerdings mehrere erlaubte Schreibweisen parallel. Da will entschieden werden. Zudem ergeben sich immer wieder Zweifelsfälle, wozu es oft auch keine eindeutigen Antworten gibt. Schlussendlich haben auch die Autorinnen und Autoren ureigene Sprachpräferenzen, die sich dann bis in die Kommasetzung, Wortwahl und manche Schreibung wiederfinden lassen können. So finden Sie hier in der direkten Rede absichtlich kein Apostroph: „geht’s“ wird zu „gehts“. Bitte behalten Sie das beim Lesen in Erinnerung.

Coverbild und Coverentwurf: © Jerry J. Smith | Bildbearbeitung: Foto für Dich – Fotostudio, 04416 Markkleeberg | Hauptschrift des Buches: Minion Pro | Lektorat: KUUUK | ISBN 978-3-939832-93-5 Erste Auflage Juni 2017 KUUUK Verlag und Medien Klaus Jans Königswinter bei Bonn Printed in Germany (EU) K|U|U|U|K – Der Verlag mit 3 U www.kuuuk.com Alle Rechte [Copyright] © Jerry J. Smith │ kontakt@jerryjsmith.de © KUUUK Verlag | info@kuuuk.com 4 © Copyright KUUUK Verlag mit 3 U ||| ISBN 978-3-939832-93-5


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Wer seine Träume verwirklichen will, muss bereit sein zu kämpfen. Vor allem gegen sich selbst.

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I. Das Versprechen Das ist nicht, was ich will! Marie vergrub sich tief in ihrem grauen Hoodie, zerrte die halb volle Flasche Gin von der Küchenanrichte und trottete ins leere Wohnzimmer. Alles in ihr sträubte sich gegen den Rat ihres älteren Bruders, sie hielt ihr Smartphone fest am Ohr. Als könnte sie auf diese Weise jene Stabilität erlangen, die sie ihm gegenüber brauchte. Die frostige Februarsonne senkte ihr Haupt und Marie ließ sich enttäuscht auf den Boden sinken – den schmalen Rücken an die wärmende Heizung gepresst. Sie antwortete ihm nicht. Stattdessen legte sie die Flasche auf den Fußboden und drehte sie schwungvoll mit Daumen und Mittelfinger mal links, mal rechts herum. „Du hast gar keine Wahl, Marie. In zwei Wochen bist du sonst arbeitslos und obdachlos“, stellte er klar. Dabei war sie so zuversichtlich gewesen, als sie ihre Wohnung zum Ende der Ausbildung gekündigt hatte. Und jetzt? Saß sie in ihrer leer geräumten Zwei-Zimmer-Wohnung, 19 Etagen über der Spree – ohne Aussicht. Hatte sie zu hoch gepokert, sich nur bei den renommiertesten Weingütern der Welt zu bewerben? „Es haben aber noch nicht alle zwölf Weingüter geantwortet!“, setzte sie mutig entgegen und versuchte, sich eine blonde Locke aus dem Gesicht zu pusten. „Jetzt vergiss doch endlich mal den Quatsch mit der Weinreise!“, herrschte er sie an. „Du hast es probiert, es sollte nicht sein, Ende! Du arbeitest für einen der größten Touristikkonzerne der Welt und sie bieten dir Arbeit und Unterkunft in London, damit du dich dort vor Ort für ihr Managementprogramm bewerben kannst. Hallo? Ich 7 © Copyright KUUUK Verlag mit 3 U ||| ISBN 978-3-939832-93-5


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meine, was hast du denn zu verlieren?“ Maries rechte Hand verkrampfte kurz zu einer Kralle, die Ginflasche torkelte aus ihrer Bahn. Ihr Traum war kein Quatsch! „Wertvolle Lebenszeit zum Beispiel? Außerdem ist weder London noch ein riesiger Konzern das, was ich will!“, schoss sie mit trommelndem Herzen zurück. Sie wollte raus aus der Masse, raus aus der bleiernen Wolke und dem Hamsterrad, und ein selbstbestimmtes Leben im Einklang mit der Natur führen. Sie wollte die Weingüter der Welt bereisen, ihre Hände tief in die warme, feuchte Erde graben, sich schmutzig machen und den Saft der Trauben kosten – unter freiem Himmel, bei jedem Wetter, überall auf der Welt. Und dabei alles lernen, was nötig ist, um irgendwann, zur richtigen Zeit, am richtigen Ort ihren eigenen Wein zu kreieren. „Aber darum geht es nicht, Marie. Gott“, stöhnte er. „Du brauchst einen Job und eine Wohnung, jetzt! Begreifst du das nicht? Hör auf zu träumen! Nimm das Angebot deiner Firma an und geh nach London. Bewirb dich für dieses Management-Ding, FLY oder wie das heißt, und mach was aus deinem Leben!“, beharrte er streng. „Für FLY gibt es jedes Jahr 1.300 Bewerber, weltweit“, appellierte sie an seinen Verstand und steckte die nervige Locke hinters Ohr. „Davon erreichen elf das Ziel, elf! Hast du eine Ahnung, wie hart das Auswahlverfahren ist? Hm?“ Sie fingerte nach dem Gin. „Wa­ rum sollten die mich nehmen?“ „Die holen dich doch nicht aus Langeweile nach London“, konterte er leicht genervt. „Du warst Jahrgangsbeste! Schon vergessen? Du kannst das!“ „Das wars? Toll.“ Sie schüttelte wild den Kopf, die Locke hüpfte provokant zurück vor ihre Augen. „Und was dann? Was, wenn sie 8 © Copyright KUUUK Verlag mit 3 U ||| ISBN 978-3-939832-93-5


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mich tatsächlich nehmen? Hm? Dann muss ich die nächsten zehn Jahre etwas machen, was ich nicht will. Allein weil ich es kann?“ Marie lehnte frustriert ihren Kopf an den Heizkörper und stöhnte. Auch er atmete tief. Das Leben pausierte kurz, trügerische Stille kroch durch die Leitung. Dann zog er den Trumpf. „Willst du lieber enden wie Mum? Willst du das?“ Ihr Kopf schnellte hervor, sie riss den Mund auf – doch sie brachte keinen Ton heraus, nur ein empörtes Ächzen. „Hör zu“, versuchte er es sanfter, während die Kälte der Stadt durch Maries nackte Wohnungswände drang und einen lehmartigen Geruch aus dem Gemäuer drückte, der ihr zuvor nie aufgefallen war. Muffig und klamm. Sie schnaubte. „Versprich mir nur eins“, fuhr er fort. Ihr Kopf sank schwer auf ihre Brust. Traurig setzte sie den Tanz der Ginflasche fort. „Was denn?“, quengelte sie. „Versprich mir, dass du es wenigstens versuchst.“ Er wusste, dass ihr Versprechen heilig waren. Und wenn sie etwas machte, gab sie immer hundert Prozent. „Das kann ich nicht“, antwortete sie gequält. Sie müsste sich selbst verraten, um dieses Versprechen einzuhalten. „Doch, natürlich kannst du. Nur versuchen, mehr verlange ich gar nicht“, säuselte er. Sie könnte Nein sagen. Sie könnte sich auflehnen und mit ihrem letzten Geld umherreisen. Könnte sie. Könnte sie? Wieso drängte er sie immer in die Ecke? Ihre Gedanken verzerrten sich vor ihrem inneren Auge zu Fratzen. Sie fröstelte. Es wurde immer dunkler. „Aber ...“ „Kein aber“, fuhr er ihr ins Wort. „Ich muss jetzt los. Also. Ver9 © Copyright KUUUK Verlag mit 3 U ||| ISBN 978-3-939832-93-5


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sprochen?“ Sie war es gewohnt, zu kämpfen und nie aufzugeben. Doch ihr fehlte die Kraft, sich gegen ihn durchzusetzen. Zu sehr sehnte sie sich nach seiner Anerkennung. Marie klemmte die Ginflasche zwischen ihre Schenkel, schraubte hastig den Verschluss auf und trank einen derart kräftigen Schluck auf leeren Magen, dass ihr schwindlig wurde. „Versprochen.“

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m diffusen Licht der ersten Sonnenstrahlen erkannte Marie die schemenhaften Umrisse einer leeren Flasche vor sich. Mühsam richtete sie sich auf. „Oh, mein Kopf ...“, stöhnte sie und rieb sich die Stirn. Schon purzelten die Erinnerungen an ihren Platz. Sie hatte letzte Nacht noch eine ganze Weile an der Heizung gesessen und versucht nachzudenken. Doch der Gin und die rohe Kälte hatten ihr das Genick gebrochen. Eigentlich hatte sie ihrem Bruder nur erzählen wollen, dass sie zu Freunden zog, bis sie Arbeit auf einem Weingut fand. Dummerweise hatte sie gehofft, er würde ihren Traum unterstützen. Aber er interessiert sich nicht mal dafür, seufzte sie und fuhr sich durchs kühle, offene Haar. Traurig fragte sie sich, warum er sich nicht freuen konnte, dass sie bei all den Möglichkeiten, die es heutzutage gab, etwas gefunden hatte, wofür ihr Herz schlug? Schließlich hatte sie ihr Abitur und die Ausbildung zur Tourismuskauffrau nur gemacht, um Zeit zu schinden. Letzteres vor allem auch, um einen Abschluss in der Tasche zu haben. Aber nichts davon bedeutete ihr etwas. Bis sie vor zwei Jahren zufällig auf einer Inforeise ihre Leidenschaft für Wein entdeckt hatte. Eine wohlige Welle der Erinnerung flutete ihren Geist. Lediglich zwanzig Mitarbeiter aus dem Marketing und Verkauf erhielten damals die Möglichkeit, in die Toskana zu fahren, und Marie durfte mit – als einzige Auszubildende. Wie stolz und aufgeregt sie war. Und dann tauchte plötzlich dieser kleine alte Mann auf dem Tenuta, einem Weingut im Chianti-Gebiet, auf. Leicht gebückt stand er fernab der durchorganisierten Führung am Absatz einer Treppe und winkte Marie zittrig zu sich herüber. Sein fusselig graues Haar wippte sanft. Neugierig ging sie zu ihm. Er zog sie sacht zu sich hi11 © Copyright KUUUK Verlag mit 3 U ||| ISBN 978-3-939832-93-5


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nunter, legte ihr kaum merklich die Hand an die Wange, tippte auf Höhe des Herzens an seine Brust und brabbelte verschwörerisch. Da Marie kein Wort Italienisch verstand, nickte sie bloß höflich. Dann lächelte er das warmherzigste Lächeln, das Marie je geschenkt wurde und führte sie eine gewundene, uralte Steintreppe hinab in kühle Kellergefilde – hinein in eine andere Welt. In güldenem Schummerlicht reihten sich betagte Eichenholzfässer dicht an dicht vor unverputztem Gemäuer und liefen am Ende des Raumes auf eine verträumt angeleuchtete Bronzestatue zu. In der Luft lag märchenhafte Magie, als würden Elfen den wertvollen Wein bewachen. Marie konnte die edlen Tropfen beinah reifen hören, so majestätisch still war es hier. Dann zupfte der charmante Greis aus einem der Fässer den Stopfen, entnahm mit einer Pipette etwas Wein, reichte ihn Marie in einem Glas und nickte ermutigend. Sie mochte Rotwein nicht sonderlich, doch sie erlag dem Zauber. Und dann geschah etwas Wunderbares: Die blutrote Flüssigkeit entfaltete sich in ihrem Mund zu einem edlen Feuerwerk aus praller Frucht und kraftvoller Dichte, Wärme und Harmonie – sie schloss die Augen – und berührte die Grenzen ihrer Wahrnehmung. Das Geheimnissvolle hatte sie verzaubert und in eine innere Welt geführt, in der sie ihr eigenes zeitloses Gefühl umhüllte, voll Güte und Zufriedenheit. Sie war glücklich. Einfach so. Seither hatte sie alles verschlungen, was es über Wein zu wissen gab. Denn ihr Herz hatte Feuer gefangen. Sie hatte Kurse belegt und mit anderen Weinliebhabern philosophiert. Und sie wünschte sich nichts sehnlicher, als endlich die staubige Theorie in taufrische Praxis umzusetzen. Wütend äffte sie ihren Bruder nach: „Du kannst das ... Pah! Warum interessiert nur, was ich kann, und nicht, 12 © Copyright KUUUK Verlag mit 3 U ||| ISBN 978-3-939832-93-5


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was ich eigentlich will?“ Mit dröhnendem Schädel schaute sie sich um. Doch sie sah nichts außer ihrem Smartphone und der leeren Flasche Gin. Die Sonne ertrank im trüben Wolkenbrei und kein einziger Hoffnungsschimmer leuchtete ins Zimmer. Und dann schwappte ihr Versprechen wie schwarze Suppe über ihr Gemüt und kroch in jede Zelle ihres Seins. „Oh Gott, ich habe meinen Traum verraten!“ Sie schlug die Hände vor den Mund und rieb sie stöhnend übers Gesicht. Von der Nase zum Haaransatz und außen über die Wangenknochen zurück zum Kinn. Es ergab die Form eines Herzens. Doch ihr Verstand drängte die Tränen zurück in ihr Verlies. Sie atmete so tief ein und aus, wie sie konnte. Reiß dich zusammen, belehrte sie sich. Du hast ein Versprechen gegeben! Und nun geh duschen, trink einen starken Kaffee und ruf Mr. Peter Barth in London an! Unter Flüchen rappelte sie sich hoch. Ihre Muskeln zitterten. Die Nacht auf dem Teppich forderte ihren Tribut. Nach ein paar sinnlosen Dehnübungen schlurfte sie ins Bad. „Ist nicht dein Ernst, wa?!“, Rebeccas Stimme überschlug sich am anderen Ende der Leitung fast. „London? Und wat ist mit dein Weindings? Ick glaubs ja nicht. Wieso denn ditte jetzt auf einmal?“ „Jetzt mach dich mal locker, Becci. Du machst mich ja ganz wirr. Komm einfach rum, dann reden wir in Ruhe.“ „Nee, dit will ick sofort wissen. Wenigstens ’n paar Eckdaten!“, beharrte ihre Freundin aus Grundschulzeiten. „Hmpf, meinetwegen. Ich hab gestern meinen Bruder angerufen, um ...“ „Welchen? Den, den ick gevögelt hab?“ 13 © Copyright KUUUK Verlag mit 3 U ||| ISBN 978-3-939832-93-5


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„Welchen denn sonst? Ich hab nur den einen. Na jedenfalls hab ich ihm irgendwie am Ende versprochen, mich für das Managementprogramm der Firma zu bewerben.“ „Irgendwie? Ist nicht wahr! Wat hörste denn auf den?“ „Keine Ahnung, Becci.“ Sie rieb sich die Stirn. „Er hat ’n wunden Punkt getroffen, oder so.“ “Dit macht der immer. Fällt dir dit überhaupt noch auf, Püppi? Egal, wat du machst oder sagst, wenns dem nicht passt, geht der auf Kontra und du ziehst ’n Schwanz ein. Warum haste denn son Respekt vor der Pfeife? Wat hat der blonde Hirni denn schon groß geleistet?“ „Es ist nicht Respekt. Es ist, ich weiß nicht, irgendwie gab es immer nur uns und ...“ „Die Zeiten sind aber vorbei, Püppi“, unterbrach Rebecca sie erneut. „Zieh mal dein Kopf aus seinem Arsch und krieg Rückgrat! Du gibst dem viel zu viel Macht über dich. Dit ist krank. Weeßte, wa?“ Für Rebeccas Job im Trockenbau war ihre direkte Art sicher hilfreich – und wer sie reden hörte, ahnte nie, wie toll sie schreiben konnte – doch dadurch wirkte sie zwischenmenschlich wie eine Axt im Wald. In Maries Herz explodierten kindliche Erinnerungen wie Feuerwerkskörper. Sie rang nach Luft und redete sich ein, dass ihr Bruder jetzt, wo er selbst Vater war, ein besserer Mensch sein würde. Sesshaft und anständig. „Bestimmt will er nur, dass es mir gut geht, so wie ihm.“ „Der? Ick hab den damals nicht ein liebes Wort über dich sagen hören. Der wollte jede Uschi immer gleich heiraten und ’ne Familie gründen. Heile Welt für alle, besser spät als nie. Und deshalb sollst du dit auch. Dit bist aber nicht du!“ 14 © Copyright KUUUK Verlag mit 3 U ||| ISBN 978-3-939832-93-5


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Seit Marie mit 17 zu Hause ausgezogen war, bildete sie sich ein, die Ketten abgelegt zu haben, frei zu sein. Sie ging, wohin der Wind sie trug, beruflich und privat. Dachte sie. „Versprochen ist nun mal versprochen“, nuschelte Marie. „Quatsch! Oder haste ihm dit mit Blut unterzeichnet?“ „Wenn ich etwas verspreche, halte ich es auch. Ich steh zu meinem Wort, das weißt du“, erregte sie sich. „Pff. Wat sagt überhaupt Samu dazu?” „Samuel?“ Marie kratzte sich verlegen am Kopf. Samuel war weit mehr als nur ihr bester Freund – er besaß einen ganz besonderen Stellenwert in ihrem Leben. Ihr Herz krampfte. „Ich hab es ihm noch nicht gesagt. Also, kommst du jetzt rum oder nicht?“, lenkte Marie ab. „Jaja, ist ja gut. Aber dit Gespräch ist noch nicht zu Ende!“ Und wie es zu Ende ist!, beschloss Marie beim Auflegen und lehnte sich gegen den Fensterrahmen. Sie würde nach London gehen, das stand fest – sie hielt ihre Versprechen. Und der Filialleiter Peter Barth hatte sich außerordentlich über ihre Zusage gefreut. Jetzt musste sie selbst dem Ganzen allerdings noch etwas Positives abgewinnen, denn ihr Herz krampfte. Immerhin ist es eine sichere Sache mit Zukunft und ich bin gut darin. Deshalb durfte ich ja auch die Ausbildung verkürzen, versuchte sie, sich mit den Worten ihres Bruders selbst zu bezirzen. In Wahrheit aber stand sie im griesegrauen Nieselwinter mit dem Rücken an der Wand und wusste nicht, ob sie ihren Traum gerade aufgab oder nur auf unbestimmte Zeit verschob. Sie umklammerte das Telefon und starrte in die gähnenden Häuserschluchten. Ihre Gedanken stürzten hinterher: Wie soll ich mein Versprechen halten und zugleich meinen Traum leben? Sie 15 © Copyright KUUUK Verlag mit 3 U ||| ISBN 978-3-939832-93-5



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„Das mache ich nie wieder, Marie, ich verspreche es dir!“ Sie umarmten einander innig und er küsste sie gefühlte tausend Mal über das ganze Gesicht. Den Rest der Nacht verbrachten sie eng aneinandergekuschelt im Homey. Bei Tagesanbruch wurden sie vom Grummeln ihrer Bäuche geweckt. Sie hatten beide lang nichts mehr gegessen und sehnten sich nach einem üppigen Frühstückstisch. Doch essen gehen konnten sie sich nicht leisten, sie mussten ihr Geld zusammenhalten. Also drehten sie sich noch mal um und schlummerten so lange, bis der Supermarkt wieder öffnete. Dann füllten sie ihre Vorräte auf, setzten sich auf Homeys Heckklappe, ließen die Beine baumeln und besprachen ihre Situation. „So geht es nicht weiter. Wir brauchen Geld, und langsam tut mir auch alles weh vom Schlafen im Truck. Wir brauchen einen Job, Love“, fasste Steve friedlich zusammen. „Ich weiß! Aber lass uns bitte nicht irgendwas machen, lass uns Arbeit auf einem Weingut finden. Wir haben so viel dafür aufgegeben und sind so nah dran! Ich will nicht wieder kurz vorm Ziel klein beigeben. Kannst du das verstehen?“ „Klar kann ich das verstehen. Aber wir haben keine Arbeitserlaubnis und ich muss Geld für meine Tochter nach Hause schicken, das war der Deal. Wir sind getourt, haben uns alle Weingüter angesehen und keines davon nimmt uns. Nicht eines.“ Nachdenklich biss er in ein großes Stück Käse. „Unsere Chance kommt, wenn der Wein wächst, dann brauchen sie sicher Hilfe an den Reben“, sagte sie zuversichtlich. „Und bis dahin? Wovon leben wir?“ 121 © Copyright KUUUK Verlag mit 3 U ||| ISBN 978-3-939832-93-5


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Marie wusste, dass er recht hatte. Sie mussten erst mal etwas anderes finden. Also beschlossen sie, zurück nach Vancouver zu fahren. In einer so großen Stadt würden sie sicher erstmal Arbeit finden. Vier Stunden später standen sie klitzeklein in einer riesigen und für sie viel zu teuren Stadt, und fanden nirgendwo ein Fleckchen, wo sie umsonst parken und schlafen konnten. Selbst die Tankstellen und Supermärkte wurden streng kontrolliert. Von Arbeit ganz zu schweigen, sie trauten sich nicht mal zu fragen, denn sie kamen sich fehl am Platz vor, wie Landstreicher. Und Marie fühlte sich an ihre Zeiten in Berlin und London erinnert – die Maskerade, die Hektik und der Stress. Sie verspürte sofort Unbehagen. In dieser Nacht schliefen sie verbotenerweise trotzdem im Homey am Straßenrand und bekamen kaum ein Auge zu, aus Angst erwischt zu werden. Bei jedem Geräusch starrte Marie auf die Vorhänge und wartete regelrecht darauf, das ein Schatten erschien, jemand der sie entdeckt hatte, oder gar Blaulicht. Stattdessen tanzten lediglich die Lichter der vorbeifahrenden Autos auf dem Stoff hin und her. Völlig zermürbt kletterten beide am nächsten Morgen aus dem Truck und fuhren zur nächsten Tankstelle, um sich einen Kaffee zu holen. „Wir müssen raus aus dieser Stadt“, stellte Marie klar und lehnte sich an Homey, den heißen Becher in der Hand. „Aber so was von!“ Steve nickte mit hochgezogenen Augenbrauen und pustete in seinen Kaffeebecher. Grübelnd strich Marie sich eine Locke aus dem Gesicht. „Kompromiss“, sagte sie. „Wir klappern ein paar Farmen ab, mit Farmern lässt sich, wie wir wissen, handeln. Dann jobben wir eben so eine Zeit. Hauptsache Natur. Die eine Hälfte des Geldes schickst du in die 122 © Copyright KUUUK Verlag mit 3 U ||| ISBN 978-3-939832-93-5


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Heimat, von der anderen leben wir. Und in ein paar Wochen fahren wir zurück zu den Weingütern. Okay?“ Sie sah ihn treuherzig von der Seite an. „Ich brauche aber auch ein Bett, Love. Ein echtes.“ „Fein, dann lass uns sehen, ob wir einen Deal aushandeln können. Kost und Logis oder so etwas. Was meinst du?“ „Bitte vergiss nicht, es muss auch Geld dabei rausspringen. Ich habe eine gewisse Verantwortung“, sagte er mit vorwurfsvollem Unterton. „Das weiß ich!“, zischte sie leicht gereizt zurück. Ein kleines Gewitter blitzte zwischen ihren Augen auf und donnerte kurz in ihren Herzen. „Lass es uns einfach versuchen. Okay? Oder hast du einen besseren Vorschlag?“ Er hatte die halbe Nacht über nichts anderes nachgedacht und: nein, den hatte er nicht.

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aut Tourismusbüro gab es auf Vancouver Island viele Farmen, die gern kurzfristig Hilfe annahmen. Also kratzten sie ihr letztes Geld zusammen und setzten mit der Fähre auf die 32.000 Quadratkilometer große Insel über, um dort ihr Glück zu versuchen. Sie fuhren auf den Trans-Canada Highway, folgten ihm nördlich in Richtung Duncan und fragten überall nach, ob sie sich für etwas zu Essen oder Bargeld nützlich machen konnten. An dem Handel störte sich tatsächlich keiner. Doch entweder gab es nur Arbeit für einen oder gar keine. Als es dunkel wurde, fuhren sie, der Verzweiflung nahe, in ein Waldstück am Lake Cowichan. Sie mussten den Truck abstellen, weiteren Benzinverbrauch stoppen und zur Ruhe kommen. Sie brauchten einen neuen Plan. „Ich hab null Empfang hier. Du?“, fragte Steve ins Dunkel. „Nichts. Wir können hier auf keinen Fall übernachten.“ Marie verriegelte ihre Tür und machte das Licht an. „Warum denn nicht?“, wunderte sich Steve. „Wir brauchen die Telefone nicht. Eine Straßenkarte müsste im Handschuhfach sein. Damit können wir genauso gut planen.“ „Wir sind hier mitten im Wald! Meilenweit ist nix drumrum. Was machen wir, wenn ein wildes Tier kommt oder ein Verrückter?“ Sorge zerrte an ihrer Stimme. „Echt jetzt? Du gibst alles auf, lässt alle Sicherheiten hinter dir, um in ein fremdes Land zu reisen, schläfst wochenlang in einem Truck mitten in der Natur, obwohl du einen Grizzly gesehen hast – live, wohlbemerkt! Und jetzt fällt dir plötzlich ein, es könnte gefährlich sein? Mach dich nicht lächerlich, Love.“ Er nahm den sarkastischen Unterton aus der Stimme und fragte: „Willst du lieber mitten in der Nacht solange rumfahren, bis du einen Balken auf dem Display 124 © Copyright KUUUK Verlag mit 3 U ||| ISBN 978-3-939832-93-5


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hast? Und dabei riskieren, dass der Tank alle ist und wir in einem echten Notfall nicht mehr abhauen können?“ Großspurig legte er nach: „Außerdem bin ich ja auch noch da, um dich zu beschützen. Und wir haben ein Vorhängeschloss.“ Sie riss ungläubig die Augenbrauen hoch: „Und das soll mich beruhigen?“ Steve war wirklich tapfer, aber doch eher schmal und klein – wie das Vorhängeschloss. Und draußen war es inzwischen so dunkel, dass sie nicht mal sahen, wo die Straße aufhörte und die Bäume anfingen. Der Wald schien derart dicht zusammengewachsen, dass sie keine Sterne sehen konnten. Alles schwarz. Pitchblack, wie die Kanadier sagten. Marie kuschelte sich in ihren Hoodie, überlegte kurz und kam zu dem Entschluss, dass sie genauso gut auch hierbleiben konnten, um erst mal die Lage zu sondieren, anstatt panisch weiterzufahren. „Aber lass uns die Sandwiches aufessen, bevor wir irgendwelche Tiere anlocken“, legte sie fest. „Daran soll es nicht scheitern.“ Steve zwinkerte ihr zu und nahm die Brote aus dem Rucksack. „Aber du holst das Bier von hinten“, stänkerte er. Marie starrte aus dem Beifahrerfenster und sah in ihre eigene Reflexion. „Äh, wie wärs mit Schnick, Schnack, Schnuck? Der Verlierer steigt aus und holt das Bier“, schlug sie vor. „Du meinst Stein, Papier, Schere? Okay.“ Sie drehten sich auf ihren Sitzen zueinander und wedelten mit ihren Fäusten durch die Luft. Dieses Spiel ließ sie kurz vergessen, dass sie mitten in einem Wald, irgendwo fern ab der Zivilisation, in einem fremden Land saßen – in einem uralten Truck. Marie zählte: „Schnick, Schnack, ...“ Da hämmerte es hart gegen 125 © Copyright KUUUK Verlag mit 3 U ||| ISBN 978-3-939832-93-5


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die Ladeklappe. Das Lächeln gefror ihnen auf ihren Gesichtern. Schnell machte Steve das Licht in der Fahrerkabine aus, um draußen etwas sehen zu können. „Was war das?“, flüsterte Marie mit weit aufgerissenen Augen, als es erneut, diesmal direkt an ihre Tür trommelte. Schreiend vergrub sie ihren Kopf in den Händen. Steve starrte wie gelähmt zu Maries Tür und versuchte, etwas zu erkennen. In dieser Sekunde stachen ihm Lichtblitze in die Augen. Eine Taschenlampe zuckte hin und her. „Was macht ihr hier?“, donnerte eine eiserne Männerstimme zu ihnen hinein. Marie und Steve stierten einander an, unsicher wie sie die Stimme einordnen sollten. Ein Verrückter oder ein Serienkiller, den sie in seinem Versteck aufgescheucht hatten? Es hämmerte erneut, nicht so dumpf wie eben, etwas nachgiebiger: „Habt ihr eine Panne?“ Steve war der Erste, der seine Sprache wiederfand. Er ärgerte sich kurz, dass er seine Tür nicht verriegelt hatte, widerstand aber dem Impuls, es jetzt zu tun. „Wer sind Sie?“, rief Steve in die Nacht. Der Mann mit der Lampe leuchtete sich in sein rauschebärtiges Gesicht. „Kinder, ihr steht auf meinem Grundstück. Die Frage ist wohl eher: Wer seid ihr?“ Marie öffnete ihr Fenster einen winzigen Spalt: „Verzeihung, wir dachten, dies sei einfach ein Wald. Wir sind nur auf der Durchreise.“ „Das ist ein Wald, aber ihr seid vor etwa einer halben Meile durch ein großes Tor gefahren – da beginnt die Sunshinefarm. Ich wollte gerade mit Skipper hin, um es zu schließen.“ Er leuchtete kurz auf einen großen Schäferhund zu seiner Rechten, der mit gespitzten 126 © Copyright KUUUK Verlag mit 3 U ||| ISBN 978-3-939832-93-5



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Stell dich deinen Ängsten, so reparierst du dein Schiff. Lerne loszulassen, so verlässt du den Hafen. Öffne dein Herz, und deine Segel füllen sich mit Wind. Vertraue dir selbst, und du wirst der Kapitän.

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