Leseprobe Katja Schraml "JOSEF DER SCHNITZER STUMPF" KUUUK ISBN 978-3-393832-78-2

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Katja Schraml Josef der Schnitzer Stumpf

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1999, 2000. Bayern, Berlin. Der ewig zerrissene Mensch und ein Jahrtausendwechsel. Unser Mann im Pfuhl ist Josef Stumpf, Tischler, arbeitslos, müde von der Enge der überschaubaren Gemeinschaft ... stets im Kopf alle berühmt-berüchtigten Leichen seiner Heimat. „Das Dorf“ lebt. Ja, auch das Weib. Die Gemeinschaft fordert die Eingliederung des Individuums, die rest- und bedingungslose Anpassung. Raus muss er da, weg will er: nach Berlin! Hinein in die saugende Metropole. „Die Stadt“ als Anonymität der Masse – zudem mit einer ganz anderen Sprache. Josef ist nun umso mehr der dialektale Exilant: Er muss ankommen, reinkommen, durchkommen. Was hat zu geschehen, inmitten von Alltags-Verstrickungen um miese Wohnung, starre Arbeitsagentur, laue Bekanntschaften, seltsame Menschen? Die Stadt ist Hamsterin, ewig hungernde Hungrige, Nagerin, Rastlose: Sie packt ihn, nimmt ihn, sie spuckt ihn wieder aus; hat stets noch neue Leichen parat. Der Moloch Berlin. Auch sein Bayern ruft immer wieder. Ist er angekommen? Sünden rufen, Ängste quälen, Ideen locken. Da zieht der Schnitzer von Berlin (alias „Bärlin“), sein Leben improvisierend, durch die Straßen der Großstadt. Einer mehr im Meer. Im steten Exil das Durchwandern einer möglichen und unmöglichen Existenz. Räume. Welten. Systeme. Der Moder der Gehöfte und der Müll der großen Stadt bilden den stinkenden Urdunst dieses Romans, in dem das Leben sich stetig vor- und wieder rückbewegt, alles verarbeitend, vereinnahmend, Hoffnungen machend, das Scheitern besingend. Aufrappeln, Aufstampfen. Josef will weiter. In einer ungewohnten, neuartigen und „eigensinnig“ zu nennenden Sprache – voller Witz, Ironie, Tücke und Klugheit – verfolgen zwei Erzählstimmen diesen Helden des Antiheldentums, jenen „Schnitzer“ Josef Stumpf, beim Jahrtausendwechsel 1999/2000 durch Dorf und Stadt. Es rauscht die Provinz und lärmt die Welt. Man spürt was von Untergang, Aufbruch, Dämmerung. Was wird werden? Josef, was tust du nur? Katja Schraml, geboren 1977 in Bayern, wächst auf dem Land auf. Lehre als Bauzeichnerin. Erste Versuche, die Welt in Wort und Bild zu fassen: Gedichte und Zeichnungen. Mit zwanzig der Umzug nach Berlin, Abitur auf dem Zweiten Bildungsweg. Vertiefung des Schreibens und Skizzierens: Vielfalt, Gegensätze, Brüche. Studium der Literatur, Sprachwissenschaft und Soziologie in Würzburg. Erste Erzählungen und Fotografien: Stabilität und Struktur. 2007 schließlich der Zurückzug nach Berlin. Lektorat und Biografiearbeit: Erinnerung und Geschichte. Seit einigen Jahren nun fest in der Veranstaltungsorganisation tätig, daneben allzeit und andauernd das Leben sprachlich und bildlich einfangen, analysieren, bewältigen: Spiegel, System, Sicherheit. Josef der Schnitzer Stumpf ist ihr erster Roman.

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Katja Schraml

Josef der Schnitzer Stumpf Roman

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek erfasst diesen Buchtitel in der Deutschen Nationalbibliografie. Die bibliografischen Daten können im Internet unter http://dnb.dnb.de abgerufen werden. Alle Rechte vorbehalten. Insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen und Medien – auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere neuartige Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. HINWEIS: Deutsch ist überaus vielschichtig und komplex. Der Verlag versucht, nach bestem Wissen und Gewissen alle Bücher zu lektorieren und zu korrigieren. Oft gibt es allerdings mehrere erlaubte Schreibweisen parallel. Da will entschieden werden. Zudem ergeben sich immer wieder Zweifelsfälle, wozu es oft auch keine eindeutigen Antworten gibt. Schlussendlich haben auch die Autorinnen und Autoren ureigene Sprachpräferenzen, die sich dann bis in die Kommasetzung, Wortwahl und manche Schreibung wiederfinden lassen können. Bitte behalten Sie das beim Lesen in Erinnerung. In diesem Buch werden Sie viele Beispiele finden, wie kreativ und anders mit Sprache umgegangen wird.

Umschlagentwurf samt Fotos: © Katja Schraml. Hauptschriften des Buches: Linux Libertine und Alegreya. Lektorat: KUUUK. ISBN 978-3-939832-78-2 Erste Auflage Mai 2015 KUUUK Verlag und Medien Klaus Jans Königswinter bei Bonn Printed in Germany (EU) K|U|U|U|K – Der Verlag mit 3 U www.kuuuk.com Alle Rechte [Copyright] © Katja Schraml © KUUUK Verlag – info@kuuuk.com

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„Man muß die Welt sehen können und zu ihr hingehn.“ Alfred Döblin, Berlin Alexanderplatz

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I. Frühlingsmorgen. Heimat. 1 Die Kellertür steht auf. Ist offen. Geöffnet. Sperrangelweit. Oder gut, einen Spalt, was aber dasselbe. Die Kellertür steht so weit auf, dass das fahle Licht aus der Tiefe herauf (aus dem Finstern heraus) hinein in die Diele über Josefs woll­ bestrumpfte Füße schummern kann. Schon zucken sie zurück, als ob der harte Lichtschein glatt ohne Widerstand ins weiche Fleisch hinein­ geschnitten. Als ob als ob. Dabei wuselt der Schein nur dunkel diffus über die Fliesen hinweg, streichelt die Zehen nur ein wenig, gleitet sanft darüber wie eine Mädchen­hand. Was machst du denn da, Josef ? Josef schnellt auf, stramm aufrecht erschrocken steht er bereit. Für was da auch mag. Aber es kommt nichts. Behutsam dreht er sich im Kreise, umsichschauend, aufhorchend, nichtatmend. Keine Angst, Josef. Da sind nur wir. Hinter dir. Ganz nah an dir dran. Los, geh weiter, mach auf die Tür, die Tore weit, mach dich bereit zum Empfang. Aber Josef will nicht. Will einfach nicht folgen. Bleibt stehen wie angegossen und mag nicht voran. Wohl wegen des Schabens und Scharrens, das auf dem Lichtschein reitend durch den Türspalt wallt und aufregend ihm die Haare sträubt. Von dort unten dringt er herauf, der alte Schlager, hätten wir lieber das – was? – vergraben. Die Füße gefrieren schon auf dem kahlen Fliesenboden, müssen übereinander streichend sich wärmen. Kontakt suchend sich reiben. 7 © Copyright KUUUK Verlag mit 3 U


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Die zweite Fliese vor der Kellertür, Josef, geh ein Stück voran. Weißt du nicht mehr, wie schön warm sie ist, diese Fliese? Diese ganze Reihe von der Küche durch die Diele bis zur Treppe, wo keine Heizung, nur das Rohr, das unter­ irdisch Wärme vorgaukelt. Natürlich weißt du es. Erinnre dich. Erinnere dich. Geh ein Stück weiter. Und siehe da: als ob als ob. Die zweite Fliese vor der Tür, sie ist mit einem tapferen und sogar nur winzig kleinen Schritt erreicht. Siehst du? Ist gar nicht so schwer. Musst nur mal los, die Füße heben, mutig sein, Josef, mutig. Jetzt steht Josef bis zu den ausgebeulten Cordhosenknien im miefigen Kellerlicht. Dort unten an der Decke hängt sie fest, die Birne, die glühende, inmitten von schwarz schimmerndem Plastik. Nur ein dünnes Eisendrahtgestell hält sie gefangen, bewahrt sie samt geschätzten drei Milliarden leblosen Insektenkörpern vor dem Fall. Neue, frisch angesaugte Leiber liegen auf verschmorten Staubskeletten. Warum niemand diese Lampe anfasst und WAHRSCHEINS auch noch niemals nie angelangt hat: Weil die Leichen liegen bleiben müssen. Weil niemand sie berühren und aufwecken will. Josef, bist du nicht der Neugierige? Der Exilant ist doch neugierig. Daraus folgt mutig. (Oder nicht? Vielleicht ist es auch nur die Angst, die den Mut aus lauter Verzweiflung gebiert, den tierischen instinktiven aggressiven Drauflos­ mut, der nichts kennt als nach vorne, hinaus, hinaus.) Hinunter! So einer wie du, Josef! Der bleibt doch nicht angewurzelt kurz vor dem Ziele stehen! Und siehe da: Die erste Fliese vor der Kellertür: sie ist erreicht. Nur noch die Hand ausstrecken, Klinke fassen, Tür aufziehen. Gut machst du das. Das alte TRUMM gibt wider Erwarten keinen Laut, kein Widerwort, als Josef ihm die Angeln spreizt und auf die erste Stufe tritt.

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Sein Schatten steht schon gegenüber an der Wand, macht den nächsten Schritt. Tipp Tapp. Schlipp Schlapp. Schon gehen sie zusammen, gänse­haut­bezogen, die steinerne Treppe hinab. Warum treibst du dich hier rum, Josef, mitten in der Nacht? Warum steigst du in den Keller? Warum warum. Warum hat man auf den harten Felsengrund ein Haus getürmt, in den müh­ selig zu behauenden Stein zwei Löcher geschlagen und einen Gang, der sie verbindet? Oder sind es drei Räume? Gibt es diesen dritten überhaupt, den man sucht wie einen verborgen Schatz? Schließlich, mon monsieur, glaubt die Provinz = die alte Jungfer – sagt der Balzac – doch immer an Schätze, die von den Vorfahren irgendwo könnten versteckt worden sein. Oder ist es pure Ein­ bildung, weil es auf dem Land sonst nichts gibt, um das man sich kümmern kann? Weil es nichts gibt, was passiert, worüber man spricht. Nur die alten angeblichen(en) Geschichten, die werden von Mund zu Mund bespeichelt ge­ reicht, gut einbalsamiert zu Mythen stilisiert. Als Gespenst in die Vergangen­ heit gepresst und abgeschoben. Unglaublich. Je weiter Josef in den Keller hinuntersteigt, desto stärker muss er den Rücken krümmen, die Knie winkeln, den Kopf einziehen, um unter dem Türbogen hindurch ins erste Loch zu treten – ein kleiner, schmaler, krumm ausgehauener Raum. Das hat denen gelangt, sagt die Mutter dazu und meint die Menschen von früher, wo alles noch anders, wo die Leute nicht so groß gleich dick in Länge und Breite im Gesamtvolumen. Die Leben keinen großen Raum gebraucht haben mit herrschaftlichen Ein- und Durchgängen. Dort vorne: hörst du es? Das Gehör weitet sich doch, wenn die Sicht einge­ schränkt, ist es nicht so? Da schlägt es immer lauter, hustet Wellen voller Schall und Rauch und Staub brausend uns entgegen, je näher wir – na gut – , je näher Josef dem Ort des Geschehens kommt. Mit Wucht haut es da auf – ja was? – den Erdboden ein? Ist da nicht noch ein Licht? 9 © Copyright KUUUK Verlag mit 3 U


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Das hat – natürlich – früher viel heller gestrahlt. Da fiel noch Licht ins. Da war noch zu sehen, was. Damals. Vor unserer Zeit. Als noch niemand niemals ans Schreiben Aufzeichnen Festhalten dachte. Nur ans Leben. Und Überleben. Josef dreht den Kopf zur Decke, da oben scheint es so zu sein. Doch auch die zweite Lampe im ersten Raum ist kaum mehr zu sehen, so schwarz haben die Leichen ihr das Gehäuse verbrannt. Da fällt dir ein, da hat es sogar einmal eine dritte Lampe gegeben, ein glühendes Licht im Gang, aber die ist längst (von wem?) zerhauen und nie ersetzt worden – wozu?, sagt der Vater, verbraucht eh nur unnötig Strom. Die vierte Lampe fehlt ganz: weil dort hinten im zweiten Raum, dem letzten schiefkant herausgeschlagenen Loch ein kleines Gitter zur Straße hin Lichteinfall MAGIERT: Nordseite. Schon will Josef durch den Gang – da stolpert er über den Sack Kartoffeln, der natürlich hier liegt, wo sonst, kann sich gerade noch einhaken festhalten anklammern am Griff der Heizungstür – ach ja – hier ist ja der dritte Raum. Der Heizungskeller. Fast hätten wir ihn vergessen. Doch keine Einbildung gewesen. (Wo ist der vierte Raum?) Aber da wollen wir nicht hinein, nicht abschweifen, wir wollen weiter. Langsam und vorsichtig schleicht Josef voran. Zwischen Geheimnis und Entdeckung steht jetzt nur noch eins: Die Verbindungstür – drei Holzlatten zusammengenagelt und quer verstärkt –, die wackelt und knarzt in ihren Scharnieren: Was ist denn hier los! Ist lange schon nichts mehr geschehen. So schön ruhig wars. Muss denn das sein? Josef schielt ihr durch die Latten, die Straßenlaterne wirft von weitem schwach orangen Nebel in das hintere Kellerloch. Es scheint da jemand zu Werke zu sein – Opa? Der Opa hält ein. Wirft den Kopf herum, die Tür ist zu, Josefs blitzendes Weiß um stählernes Pupillenschwarz, das sich durch die Ritzen schlitzt, entgeht im Dunkeln dem alten, getrübten Blick. Gott sei Dank.

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auszuziehen, auf eigenen Beinen zu stehen. Mit dem ersten Umzug beginnt deine Reise, Josef, plane sie gut, bereite dich vor, da draußen warten ganz andere Dinge auf dich – du hast ja noch gar keine Ahnung. Der letzte Bruch wartet auf dich: der Wegzug aus dem eigenen in ein fremdes dialektales Gebiet. Gib gut Acht! Als Josef aufsteht, fällt sein Blick auf einen dunklen Fleck auf dem Boden. Er bückt sich und erschrickt. Marias Halstuch. Rot. Selbstgebatikt. Marias Halstuch. Hübsches Muster. Einfallsreich. Dunkelrot. Marias – schnell steckt er es ein, fährt herum, ob ihn jemand beobachtet – aber da ist keiner, sie sind ja alle in der Kirche, höchstens – ach was. Auch der Jäger ist ein frommer Mann. In diesem Moment, gerade ganz zufällig oder absichtlich, erschallt ein Schuss, geschossen aus der Büchse, der geladenen. Josef fährt herum, einmal um sich und ein zweites Mal um die Bank, fällt auch noch darüber und tut sich, was zu erwarten war, ein WEHDING zu Leide, stöhnt schmerzerfüllt drei Brüste Aua. Aus dem Wald heraus kommt der Jager Wurst, der doch kein so frommer Mann, wie es scheint. Sepp? Johann? Der Wurst hält in der Linken seine große feste Büchse, deren offenes Ende verräterisch faucht, in der Rechten etwas Unsichtbares, weil er sie hinter seinem Rücken verborgen hält, während sein Dackel knurrend daran hinauf- und hinabspringt und bellt. Der Jager schießt voran. Was machst du denn hier? Bist du nicht in der Kirche? Da richtet er (der Hund) die blutverschmierte Schnauze direkt in seine (Josefs) Richtung und rennt dahingehend zu. Der Jager entsetzt. Bella! Abrupt im Laufe bleibt der Hund windfeengleich auf drei Pfoten stehen, winkelt das vierte Pfötchen anmutig an, streckt die Nase nach vorne, stellt den Schwanz in die Höhe, wartet, wartet, schön, so, schön, 51 © Copyright KUUUK Verlag mit 3 U


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ja, wartet, schaut, horcht. Bella! Her da! Dreht sich um und läuft zurück, springt wieder dingdering hoch und knurrt, hechelt. Aufgeregt, aufgeregt ist das Hündchen, ganz stark: Ich kann mich gar nicht beruhigen! Jager Wurst leckt sich die dicken wulstigen Lippen, wischt sich mit dem Ärmel übers Gesicht, schiebt den Gamsbarthut, den nachgemachten, billigen, der keiner ist, zurück, glotzt Josef fragend an. Josef überlegt sich eine Ausrede, die passt. Ich habe verschlafen. Geht nicht. Muttern hätte ihn geweckt. War zu spät dran. Geht nicht. Muttern hätte vorgesorgt. Er braucht etwas ohne Zeit. Meinen Fuß verstaucht. Kein Grund für das dem heiligen Sakramente Fernbleiben – und dann: Wie ist er hierher gekommen? Seit gestern hier. Schon wieder Zeit, außerdem zu gefährlich, weil Angabe darüber, wo er ges­ tern wann gewesen wäre. Keine Lust. Hahaha. Josef zuckt mit den Achseln und wartet. Perlen in Bächen fließen Wurst von der Pelle. Aha. Die Weidmannshand hinter dem Rücken zuckt. Für Wildkaninchen, Marderhunde, Waschbären, Sumpfhühner, Füchse, Überläufer und Frischlinge (Schwarzwild) gibt es keine Schonzeit, nur Jagd­ zeit. Alles andere hätte er um diese Zeit nicht schießen gedurft = wäre verbo­ ten. Was also versteckt er? Josef kontert. Und du? Der Wurst ist schon ganz rot und prall und raucht wie seine Waffe. Schau, dass du hier verschwindest, sonst sag ichs deinem Vater. Josef abrupt ab- und gebrochen in seiner Sicherheit. Was? 52 © Copyright KUUUK Verlag mit 3 U


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Perlen vor die Säue. Der Wurst hoch auf. Dass du gestern Abend hier warst. Josef reißt die Augen auf. Groß größer am größten. Mega maximal. Giga. Oh.

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II. Frühlingsanfang. Flucht. 1 Auf Umwegen schleicht Josef zurück ins Dorf, sich Gedanken machend. Warum soll er sich verstecken? Warum den Kopf einziehen? Ist doch gar kein Grund. Ob es nicht doch besser wäre, wenn. Wenn was? Du in die Kirche gingst? Dafür ist es schon zu spät. Jetzt gehts nur noch darum, hier heil rauszukommen. Noch sieht ihn niemand, sind alle in der Kirche, halten die Feierlichkeiten an, singen sie im Chor. Die gläubigen Gläubiger, die glauben klauben Klabautermänner. Flüstern tun sie, das ja. Neben der Predigt leise durch die Bänke schleichen die Wörter, die gehauchten gewisperten. Sst. Sst. Die Schirmerin, die Moserin, der Huber mit seinem Bruder, nur die Mutter und der Vater, die sind still, die schweigen. Stumm. Wer da alles sitzt: Letzte Reihe = siebte Bank, rechte Seite: wartet geduldig wie meist: der leere Platz auf den Wirt, der nicht kommt. Neben ihm der Franz mit seinem Vater, jeder seine Hände betrachtend, die einen grobe und unförmige Betonklötze, die andern schwielige und runzlige Zementbrocken. Alt und neu. Siebte Bank, linke Seite: die Wirtin andächtig schläfrig. Die Mutter vom Franz sich die Handgelenke des Rheumas wegen reibend und zwischendurch immer wieder mal ein Kreuzzeichen auf die Stirn den Mund die Brust sich aufstreichelnd aufstreichend. Sechste Bank, rechte Seite: der Onkel Helmut mit geschlossenen Lidern und kurz vorm Schnarchen, da muss der Schwiegersohn Peter daneben ihm immer wieder mal unbemerkt in die Seite stoßen, aber trotzdem: Der Pfarrer (Gott) sieht alles. Sechste Bank, linke Seite: die Weiblingerin nachdenklich mit gebogenen nachgezogenen Brauen, die sich windsbrautgleich wellen wie die ihrer Tochter, deren Platz heute leer geblieben ist. Auch das wird 55 © Copyright KUUUK Verlag mit 3 U


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bemerkt und analysiert. Fünfte Bank, rechte Seite: Der Wurst ist unauffindbar und wird rechtmäßig vertreten von seinem dicken Sohn, der links vor und zurück die Bänke auf und ab mustert, blinzelnd und griendend, wo doch jeder weiß, dass man nach hinten nicht schaut, da vorne spielt doch der Pfarrer. Fünfte Bank, linke Seite: Frau Jager Wurst mit neuem Hut in der Art der englischen Königin, der allen hinter ihr Sitzenden die Sicht nimmt und jetzt und später und für alle Zeit durch die Mangel gedreht wird. (Den setzt die so schnell nicht wieder auf, das sag ich dir.) Vierte Bank, rechte Seite: Der junge Huber nervös mit den Stiefeln trommelnd, auf dass der Pfarrer bald zum Herzerheben komme, was seinen Bruder neben ihm kampfbereit zucken lässt. Der alte Huber ganz außen, immer eine Arschbacke weit von der Bank herunter Gefahr laufend, auf den Fußboden zu sacken, schlummernd. Vierte Bank, linke Seite: Die junge Frau Huber, ganz trächtig voll und feist, obwohl zum Gebärtermin noch ein paar Monate hin, flatulenzt. Die alte Huberin neben ihr betet noch mal den Rosenkranz mit dem schmerzensreichen Geheimnis, jedes, wie es sich gehört, abschließend mit: „O mein Jesus, verzeih uns unsere Sünden! Bewahre uns vor dem Feuer der Hölle! Führe alle Seelen in den Himmel, besonders jene, die deiner Barmherzigkeit am meisten bedürfen.“ (Warum beim letzten Satz kein Ausrufezeichen mehr kommt: Weiß ich auch nicht. Vielleicht tuts das auch, vielleicht ist aber die letzte auch nicht so wich­ tig, wie die davor hergegangenen, in diesem Sinne: eigentlichen Bitten.) Dritte Bank, rechte Seite: Die Arme verschränkt sitzt der Alois neben dem Vater, der den stieren Blick auf das noch verschlossene Sakrament geheftet hat. Der Opa fehlt wieder. Dritte Bank, linke Seite: die Nase sich putzend die Mutter, die Locken in sich und sich selbst gelegentlich seitlich drehend, blinzelnd schmunzelnd schielend das Grete. Zweite Bank, rechte Seite: der Schirmer in sein Inneres, seine Rech56 © Copyright KUUUK Verlag mit 3 U


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nungen und seinen Haushalt durchgehend vertieft. Zweite Bank, linke Seite: die Schirmerin in ihr Inneres, ihre Rechnungen und ihren Haushalt durchgehend vertieft, zwischendurch abgelenkt vom schlechten Gewissen den Palmsonntag betreffend, weshalb sie vor dem Rosenkranz Rosenkrank schon zwei Kerzen angezündet und den doppelten Betrag des sonst Üblichen ins Kirchen­ kerzenopferkästchen eingezahlt hat, naturgemäß GWEACH MACHEND in einzelnen kleinsten Münzen, sodass es so aufdringlich laut und lang klingelte und SCHEBERTE, dass die alte Huberin in ihrem Stuhle aufgegrunzt hat. Neben ihr, der Schirmerin natürlich, was denn sonst, die Tochter Resi, blinzelnd und Zähne zeigend ebenfalls und um die Wette. Erste Bank, ganz vorne vor dem Altar, rechte Seite: eigentlich Mesner Moser, jetzt jedoch in seiner Zweit- oder Drittfunktion als Ministrant auf den Stufen vor dem Allerhöchsten kniend, Weihrauch schwenkend und gleich bereit, Glöckchen zu läuten. Erste Bank, linke Seite: die Moserin, die Ellbogen auf der hölzernen Bank oben, die Knie auf der hölzernen Bank unten, beides hart und unerbittlich aufgestemmt, die Hände vorbildhaft gefaltet, die Augen geschlossen (natürlich), betend, oberfromm. Bald gehen sie vor der Kirche umher und plaudern, bald stehen sie beisammen und RATSCHEN, bald wird der Hut der Frau Wurst besprochen und die Abwesenheiten werden diskutiert. Bald fragt man sich, wo der Josef war. Noch weiß niemand, was passieren wird, doch ahnen, ja, ahnen tut man es schon seit langem, dass da was im Busch ist – und im Grunde war der Josef schon immer so komisch, man munkelt längst, mit dem stimmt was nicht. Vor allem der Huber, der hat so was, ein Gefühl sozusagen, im Bauch und in den Eingeweiden, da rumort es kräftig heftig wie bei seiner Frau und spuckt große Töne, wenns drauf ankommt. Das Verhalten der Mitbürger wird vom Dorfoberhaupt überwacht und sank­ tioniert, so herrscht das Dorf, und zwar nicht nur partiell, sondern absolut 57 © Copyright KUUUK Verlag mit 3 U


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(während die Masse der Städter hingegen dafür sorgt, dass der Stadt die Kon­ trolle über die Einzelteile verloren geht, sodass nur eine rigorose Ignoranz den sozialen Fehlstellen und Lücken gegenüber eine Art Stabilitätsstruktur erzeugt, die – und das haben Stadt und Land gemein – letztlich nur durch eine absolute Gewalt- und Abwehrbereitschaft den Auffallenden gegenüber auf­ rechtzuerhalten ist).

Der Huber, der es gerade noch rechtzeitig in die Kirche geschafft hat, kurz nach der Eröffnung, schubst seinen Bruder an und zeigt auf die Kommunion, die gerade anbricht, die Herzen haben wir beim Herrn, da wollen wir doch schon mal vorausgehen, den Segen warten wir nicht ab, das Wirtshaus – Seitenblick auf die leere Bankstelle vom Wirt – ist schon offen. Dem Huber sein Bruder nickt schwerfällig und geht mit, erst nach vorne, wie sein Bruder und der Rest der Gesellschaft sich bereitmachend, den Leib zu empfangen, dann rückwärts an der Bank mit den eigens von der Huberbäuerin mitgebrachten warmen polsterigen Kissen herrenlos liegenlassend vorbei (wie ganz zufällig aus Versehen zu weit gegangen), dem hinteren Ausgang zu. Im Vorbeigehen geben sie dem Peter noch mit Kinnschwenkungen zu verstehen, dass er beim frühzeitigen Verlassen erwünscht, weil noch was zu besprechen sei. Der Peter runzelt die Stirne, aber fügt sich, so Gott respektive Johannes 11,26 will. „Wer an mich glaubt, der wird leben, auch wenn er stirbt. Und wer da lebt und glaubt an mich, der wird nimmermehr sterben.“ Die drei verlassen – wenn auch nicht gerade so leise wie möglich, so doch gemäßigten Geräuscherhebens – das Gotteshaus und positionieren sich für einen Augenblick oben auf der Treppe am Rande des Kirchplatzes. Zu ihrer Rechten schweigt sich das Wirtshaus im mächtigen, morgendlichen Kirchenschatten aus, die Rollladen sind noch geschlossen. Das hat man gar nicht gerne. Da geht man schon früher raus, und dann so was. Schläft der Wirt noch, oder was. Man ist doch selber 58 © Copyright KUUUK Verlag mit 3 U


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auch schon auf, obwohls gestern wieder so lang, selbst der Alois hats geschafft, und bei dem hätte man es nun wirklich verstanden, wenn der nicht hochgekommen wäre. Der Huber überlegt, die Arme verschränkend, die Beine breit von sich stellend, was hier zu tun sei. Mit seinem Adlerauge greift er den Horizont ab. Das Gefälle im Südosten kommt seinem Überblick entgegen. Dort starren auf dem Hof vom Franz graue Betonglieder schwarze Löcher in die Luft. Ansonsten ist sie rein. In seinem Rücken liegt der uneinsehbare Nordosten, von einem Hügelchen verstellt, von wo man im Winter gern hinab in den Graben rodelt, der das schlanke Schotterärmchen, das zur Hauptstraße führt, säumt. Weil man da nie nicht was sieht, ist das für den alten Huber genau jener Punkt, von dem er sich jeden Abend vor dem Zubettgehn den Kopf kratzend und diesen schüttelnd ganz sicher ist: Von da komme der RUSS. Jawohl. Allerdings kam von da niemals der Russ. Ganz im Gegenteil kam vom Nordwesten her der Amerikaner, von der Anhöhe aus lang überblickt und früh gewarnt, weshalb damals der alte Huber und der alte Schirmer (der alte Benzinger war irgendwo stationiert) schnell gen Süd­ osten zogen. Das kennt man ja. Was man auch kennt und jetzt vom Huberbruder bemerkt wird, wie wieder was von dorther ins Dorf schleicht, da nämlich zuckelt ruckelt vom Waldesrand her holter die polter der Josef den Kiesweg entlang. Da stößt der kleine Huber seinen großen Bruder mit dem Ellbogen in die Seite, dass der die Sachlage dort im Norden mal beäuge, worauf dieser nickt. Währenddessen hält der Peter die Kirchenmauer fest im Blick, das dauert ihm hier eindeutig zu lange, was die beiden Brüder jetzt wohl schon wieder haben, das nervt ihn gewaltig, dass die ihn wo rein­ ziehen, wo er nicht hingehört, seines Erachtens, und auch keinen Bock hat auf diese Suffköpfe, die immer noch vom wohl gestrigen langen Abend stinken und modern. Der Peter, der aus dem Nachbardorf Herübergezogene, Zugewanderte, 59 © Copyright KUUUK Verlag mit 3 U


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Eingeheiratete, gehört zur zweiten von Kindheit an generierten Randgruppe im dialektalen Gebiet: zu den indialektalen Außenseitern. Seine Mutter, mo­ dern und jung, erzog das Kind hochsprachlich, wo alle nur Dialekt kannten. Peter bot den Mitschülern den perfekten Angriffspunkt, er stand außerhalb des Systems. Während Josef nichts verstand, konnte Peter sich nicht verständ­ lich machen. Trotzdem ist der Peter – indialektale Randexistenz hin oder her – ein Da­ heimbleibender geworden und hat nun zeitlebens mit seinem Nichtdazuge­ hören zu kämpfen (was seinerseits auch fruchtbar sein kann für ihn selbst als auch für die Gemeinschaft, was man nicht außer Acht lassen sollte). Würde Peter das Dorf eines Tages verlassen, könnte er sich doch niemals als Exilant begreifen, denn ihm fehlt der Begriff. Der Peter will sich schon umdrehen und heimgehen, weil er denkt, da kommt eh nichts mehr, die haben sich bloß mal wieder einen Spaß erlaubt, das kennt man ja, die verarschen einen ja gern mal. Da fängt der Huber doch noch an, sein Maul aufzutun, doch statt den Hintergrund der Gewitterwolken, die aus seinem Augenwinkel andeutend herausblitzen, Preis zu geben, baut er das Donnerwetter noch ein wenig auf und fragt nach der Maria. Das will er jetzt wissen vom Peter, wo die Maria sei, worauf der Peter meint, der gehe es nicht gut, worauf der Huber wiederum nickt und sein Bruder auch. Der Peter sieht von einen zum andern und wieder zurück. Doch anstatt auf den Boden zu stampfen, die Hand zu erheben, auf den Tisch zu hauen (symbolisch), das heißt: sich nichts gefallen zu lassen, schon gar keinen solch einen SCHMARRN – was geht die das an? – also ein Gegen zu setzen, wo ständig Gefahr gelaufen wird, mitgerissen zu werden, tut der Peter DERGLEICHEN. Der Peter nickt. Warum auch immer, aber das wird er schon herauskriegen, wird er das. Und hat auch gleich die Gelegenheit dazu, denn der Huber, den Mundwinkel, den einen rechten, hart und scharf in die Ecke verziehend, sodass die Luft, die er ansaugt, durch seine großen Zahnlücken pfeift, schickt den Peter erst mal heim, er solle doch mal nach seinem Weibe (das

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einen gehabt, aber mittlerweile sei er auf dem Müll gelandet, der sei am Ende ganz zerleddert gewesen, aber nun brauche er keinen mehr. Schon steigt man aus und läuft im Kreis. Josef führt kaum (d. i. so gut wie kein) Bargeld mehr bei sich, man müsse zur Bank, er zieht ein großes Heft aus dem verborgenen Inneren, sein schönes altes dickes Sparbuch. Ja, aber Hans im Glück trifft der Schlag, was soll denn das? Keine Bankkarte oder wie? Ja, heute sei doch Sonntag, man habe doch keine Zeit, bis morgen, man müsse ja, aber heute, da werde doch, ja, aber wo komme er denn her? Steck das bloß schnell wieder ein, die Straßen sind dunkel! Jetzt hier einmal abgebogen, welche Richtung war das jetzt, links rechts zurück hinter vor, dreimal gestolpert: Schienen Bordstein Pflaster – ist das Kopfstein? Laber Rabarber. Wo was wie – ist man jetzt schon da? Schnell zieht Josef seine letzten zwei Scheine aus der Tasche, die ihm sogleich unter der Nase fortgezogen eingesteckt festgesessen werden. Na, wenigstens was, dann eben morgen, verdammt nochmal, na, IS JA JUT NENE SOSO, der Junge, Mann Mann, ob er ein Handy habe und so weiter und so weiter, ja dann, na dann, jaja, so geht es hinauf, ein Stockwerk nach dem anderen, die Decken hängen hier hoch.

6 Hans setzt Josef in seiner Wohnung ab, er muss auch gleich wieder weiter: Da, dein Zimmer, da vorne Küche Bad, da klingelt auch schon ein Telefon wild wirr hier irgendwo, wo ist es nur, Hans sucht auf dem Boden, raschelnd, zischend, fluchend, findet einen Hörer und tutet hinein, jaja, neinnein. Josef steht immer noch vor der Eingangstür, desorientiert unschlüssig im Treppenlicht Schatten werfend, blinzelt in den dunklen Flur. Auf dem Boden verstreut blitzen Plastiktüten und Aluschalen, dazwischen Hans’ Stimme, die aufgeregt überschnappt, den Hörer knallt, 121 © Copyright KUUUK Verlag mit 3 U


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wieder aufhebt und Nummern wählt, ich bin ganz busy, noch viel zu tun, schnell noch jemanden angerufen, aufgeschrien über die Ungerechtigkeiten der Welt, Rabatte und Geld, über das Leben und seinen Profit, zwei drei Schimpfwörter in die Muschel gebrüllt, dann muss er auch schon wieder los. Sorry, Mann. Komm erst mal an! Ich bin gleich wieder da! Sagts und flitzt an Josef vorbei hinaus in die Welt, die wartende Stadt, ich komm schon, ich komm. Josef blickt dem Entlaufen(d)en unschlüssig nach, dann stolpert er über die erhöhte Türschwelle, hoppla, hinein in die Wohnung. Das Treppenlicht erlischt. Josef steht im Finstern. Na gut. Dann machst du eben dein Ding. Wir machen unseres. Wir machen unsere Sache, die wir hier vorhaben. Ja, was ist das gleich noch mal? Erst mal die Tür schließen, erst mal Licht zünden, erst mal durchatmen. Neben dem Türrahmen auf und ab tastet Josef nach möglicher Erleuchtung, doch nur lose Plastikdosen, leere Löcher, gefährliche Drähte spüren die vorsichtigen Finger. Aha. Hier also erst mal kein Licht. Wohnungstür also wieder auf, rot leuchtet der Treppenlichtschalter: Nimm mich, ich bin für dich da, mit einem Fuß in der Tür, weil noch ohne Schlüssel, fingert Josef auf schwer zu drückendem Knopfe herum, geht doch, jetzt mal orientieren. Wo ist mein Zimmer? Da, die erste Tür links: So weit reicht das Treppenlicht noch, wenigstens was. Josef drückt die Klinke hinunter, auch hier eine Tastprobe, da tut sich was, da surrt und flackert es von der Decke, da fängt eine Neonlampe an, nacktes grelles Lichtsignal über kahle Wände zu schicken. Weiß flutet die Wirklichkeit über die Leere. Dahinter kommt nichts mehr. Auch die Bettstatt fehlt. Dafür hat Hans ihm eine Matte auf den Boden geworfen, ein alter wurmstichiger Gymnastikfetzen, wo er den wohl aufgetrieben hat? Hinten in der Ecke steht einsam ein Stuhl und blickt Josef fragend an. Er (der Stuhl) sieht nicht so aus, als ob er jemanden erwarte. Neben ihm zeigt ein Fenster verschwommene Bilder vom Haus gegenüber. 122 © Copyright KUUUK Verlag mit 3 U


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Josef setzt den Rucksack ab. Na dann. Projekt Ankommen. Es kann losgehen. Einmal gegähnt, weil Strecken zurücklegen meilenweit müde macht. Doch schon im Maulaufsperren schreckt Josef auf, laut schlägt klagt es aus dem Treppenhaus, jemand muss mit einem anderen schlimm schimpfen und mit schweren Stiefeln schnell die Stufen bespringend die Treppe hinab. Josef stürzt aus dem Zimmer, das Neonlicht überbrückt den halben Flur und sticht das Treppenlicht aus, schnell die Wohnungstür zugeworfen. Da schallt es auch gleich viel leiser. Dröhnt noch ein wenig nach. Dann säuselt es nur noch unverständlich durch die Ritzen. So. Jetzt mal konzentrieren. Die Stirne pocht. Die Wange glüht. Der Durst MEERT. Der Durst schnürt den Hals zu, der schneidet ab, würgt und brennt, der zehrt, der Durst, nicht wahr, Josef, es ist der Durst, der an dir zehrt. Wo ist die Küche? Josef starrt in die dunkle Ferne, da vorne müssen sie sein, die anderen Räume, Hans’ Zimmer, Küche, Bad, von hier aus nichts zu erkennen, dort hinten, wirst du gleich merken, da biegt der Gang ab, führt über das Ende hinaus um die Ecke, immer weiter, ins Finstere hinein. In den finstren Wald. So dunkel ist es doch draußen (noch) gar nicht. Oder? Warum ist es so finster hier? Sind wir schon wieder mit Blick gen Norden gefangen? Oder ragen die Bäu­ me hier so hoch, dass sie noch das Licht uns nehmen? Stehen die Häuser so nah, dass sie sich streiten um die wenigen Strahlen? Flattern die Vögel so tief, dass ihre Flügel die Sicht uns rauben? Sind das Tauben? Josef schleicht vorsichtig voran den Gang, streckt Hände links rechts die Wände ertastend aus, kalt und rau haspeln die Fingerspitzen die Mauern entlang, schuhspitzig gelenkdrehend erproben die Füße die vor ihnen liegende Umgebung, ob auch neben Papierabfall und leeren Plastikflaschen nichts Größeres im Wege, ein Karton hier, ein Haufen 123 © Copyright KUUUK Verlag mit 3 U


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Kleidung dort, ein Abgrund da. Hier rechts eine Erhebung, Verflachung, ein Loch – eine Tür? Die lehnt nur leicht an, die kann man antippen, mal einen Blick werfen, einen Spalt auftun und schauen, was sich dahinter verbirgt. Da schreit die Tür laut auf und Josef hüpft zurück, es blendet ihn. Jetzt könnte man natürlich viel erzählen über das Chaos, das Hans erschaffen hat, ohne Besitz, über die einzelnen Wäschestücke, Becher, Pappteller, Zeitungen, Krimskrams und Zeug, das verstreut auf dem Boden die Matratze verdeckt, aber wollen wir das? Keine Möbel, keine Gerätschaften, kein Nippes: Nichts, woran das Auge gerne haften bleiben möchte, befindet sich hier. Ansonsten ist das Zimmer, wie sagt man, nun ja, es ist halt dunkelrot, von oben bis unten und überall, bis auf ein schwarzes Loch in der Wand, das könnte das Fenster sein, mit schwerem Samt oder drei Lagen billigen Baumwollstoffes behangen, an dessen Rande es leicht hervorschimmert. Rot wie Blut ist das Zimmer gestrichen. Altes, trockenes Blut. Dass man das darf. So was. Der Hans, der muss ja ganz schön eine Macke haben, das hält Josef gar nicht lange aus, hinzucken hinzuckungen hinzukucken. Das ist ein Wahnsinn. Schnell schließt Josef wieder die quietschende Tür und hangelt sich den Flur entlang weiter, nach der Biegung links der nächste Winkel, der nächste Schlauch: aha das Klo. Elektrisches Licht gibt es auch hier keins, wozu auch; die steinzeitliche Vorrichtung ist schließlich direkt unter einer hohen Nische angebracht, an deren Ende ein Fenster zu erahnen ist, das soll wohl genug Licht bringen, und wie man das öffnet, steht in den Sternen, weil die lange Stange, mit der es einst aufgehakt werden konnte, längst in der Ecke vor sich hinrostet, angelehnt an den unerreichbar hoch hängenden Spülkasten mit Ziehvorrichtung, die wohl irgendwann mal auf halber Höhe abgerissen worden sein muss, warum, weiß keiner. 124 © Copyright KUUUK Verlag mit 3 U


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Und dass wir das alles trotz allem erkennen können, grenzt doch an ein Wunder, denn die Gesamtheit liegt verborgen hinter einem mächtigen Waschbecken, an dem vorbeizukommen Josef erst mal vorsichtig ausprobiert, weil er zwar dringend muss, aber hier auch nicht eingezwängt festgesteckt abgehangen werden mag. Aber es funktioniert, er kann die Schüssel erreichen, wir lassen ihn mal hier allein, wir müssen ja nicht alles kontrollieren, es dauert nicht lang, dann folgt uns Josef wieder, er befreit sich aus dem Verlies von ganz alleine.

Zwei Schritte weiter, einmal um das Klo herum stapft Josef, da kommt auch schon die Küche. An der Schwelle bleibt man stehen und verschafft sich einen Überblick, die Augen zwickt man dabei zu, die Brauen hebt, die Stirne runzelt man, den Unterkiefer und die Hände lässt man leblos hängen: So schaut man blöd. Die Wände flimmern orange und gelb und grün durcheinander, lassen den faden Himmel da draußen erblassen, der dunkelt nur langsam ab, ein einsamer Scheinwerfer fliegt durch die Wolken, die farbenfroh von einer Sonne künden, die wohl fernab hinter einem unbekannten Horizont das Weite sucht. Ganz nah drückt sich Josef ans Fenster heran, blickt durch die trüben Scheiben in den Hinterhof hinunter, vom vierten Stock aus geht es weit hinab, der Innenhof ist übersät mit riesigen Abfalltonnen und Müllsäcken, grau in Braun und Braungrün, so die Aussicht. Rosig wünscht sich Josef seine Zukunft, aber noch sieht er nur weit und tief hinab in den Abgrund, eng begrenzt ist der Hof, nur ein paar Meter weiter türmt sich der nächste gefräßige Schacht seinen Schlund mit Vorder-, Seiten-, Seiten-, Hinterhaus. Einzelne Lichter leuchten für sich und gegeneinander, strahlen um die Wette, sich erahnend, abmessend, abschirmend. Es schnürt sich wieder zu, der Hals, der trockene Rachen, hüstelnd reibt sich Josef die Gurgel. 125 © Copyright KUUUK Verlag mit 3 U


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Der Durst, Josef, das ist der Durst, der. Josef dreht sich um, legt eine Hand flach auf die Stirn, die ganz heiß, eine Küche, dass es das gibt, eine Küche, wo es nichts gibt, außer einem weißen Plastikklappstuhl, offen, einem zugeklappten aus Holz an der Wand lehnend, grün gestrichen, einer Spüle und einem Hahn, aus dem Wasser tropft. Wo ist der Herd? Josef kratzt sich am Kopf. Wo ist denn der Tisch? Wenn er das mal gewusst hätte. Aus dem mit Tassen und Tellern, meist Plastik und Papier überquellenden Becken zieht er umsichtig einen Becher hervor und hält ihn unter die Tropfen, die rostig erst in alle Richtungen Funken sprühen, schließlich der Schwerkraft gemäß gen Boden fallen, als kreischend Josef den Hahn aufdreht. Heute ist der Tag des Wassers, wusstest du das? Ach, du dachtest, er sei mor­ gen? Aber nein, weißt du denn nicht: Die städtischen Wasserwerke haben den Tag des Wassers kurzerhand von morgen auf diesen heutigen Tage vorverlegt. Einfach so. Können sie ja auch. Ein Blick in die trübe Brühe genügt und Josef kippt aus und füllt neu und kippt und kippt, bis endlich Flüssigkeit genug, die auch augenscheinlich Durst macht und zu stillen verspricht. Wenn du Zeit hättest, würdest du den Becher besser zum Beelitzhof tragen und vorher testen lassen, ob es noch trinkbar ist. Das ist doch mal was: Das Wasser, das sie vorher in die Leitung pumpen, nachher zurücktragen dürfen und fragen, ob es sauber ist. Das ist doch was, Josef, oder? Das ist Bürgerbetei­ ligung Demokratie Partizipation. Oder haben wir da was falsch verstanden? Kann uns auch egal sein, bald wird das Wasser, das existentiell grundlegen­ de Grundwasser, das drei-Tage-ohne=Austrocknungstod-Wasser nämlich privatisiert zu 49,9 Prozent (nur). Naturgemäß erschüttert ein Skandal die Presse, aber das interessiert uns jetzt nicht. Wir sind da, alles andere muss warten.

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7 Josef tastet sich durch den dunklen Flur zurück. In dem kahlen, ungestrichenen, also seinem Zimmer wirft er den Anzug auf den Boden, legt sich auf die dünne Matte, zieht aus dem Rucksack einen dicken Pulli und die gute alte Cordhose: Das schon mal für morgen zurechtlegen, denn den Anzug muss man schonen, der ist nur für sonntags. Dafür holt Josef nun den Schlafanzug raus, an den hat er gedacht, da werden wir noch staunen, Josef, was du alles dabei, was du vergessen, was verloren, zurückgelassen haben wirst. Aus breitet Josef aus seines Rucksacks Inneren hervorgeholt (nur nicht zu tief hineingreifen!) die restlichen Reste des Mahles, Brot und Bier, jetzt noch eine Vesper zum Abend, zum Glück hat die Mutter das alles (wann?) geschmiert und gepackt, noch zittert die Kümmerung nach, die letzten Schlucke getan aus der Flasche, der letzte Krümel verspeist, dann ist sie leer, die Brotzeittüte, dann hat es sich aufgebraucht, das Carepaket. Josef schnieft. Kalt ist es. In den Pulli und unter die Wolldecke geschlüpft, die der gute Hans ihm da hingeworfen, und mal durchatmen. Das Wollzeug riecht alt gleich muffig. Feuchtigkeit sitzt fest im Stoff und krabbelt langsam über in durch Josef hindurch. Das Herz pocht laut und dumpf durch den Brustkorb und hebt und senkt die Decke unregelmäßig. Von oben unten nebenan, von überall her wispern die Laute und Fernseher der Mieter, tausendfach von Antennen und Kabeln und Satelliten verstärkt, an jedem Balkon eine Schüssel so groß wie das Fenster, das es verdeckt. Was mag es bringen, das Leben, was mag nur werden? Im Ersten läuft die 694. Folge der Lindenstraße. Josef dreht sich um und starrt auf die staubige Scheibe, durch die lebhaft die Stadtlichter hereinfunkeln, die Motoren der auf Kopfsteinpflaster vorbeiratternden Autos hindurchdröhnen, die Mauern vibrieren (das kennen wir, etwas Bekanntes, oh wie schön!). Willst du nicht noch ein bisschen raus? Es ist schließlich viel los hier. Berlin 127 © Copyright KUUUK Verlag mit 3 U


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schläft nicht, niemals nicht, keine Sperrstunde (was, das gibts noch?), kein Bus, der nicht fährt, den es nicht gibt, du kommst überall hin, wo du hin möchtest. Und wieder zurück. Schau doch mal raus, wie sie leuchtet, die Stadt, und sich feiert. Wir feiern uns am besten selbst, jeder sich und wir uns alle gegensei­ tig miteinander. Noch heute könntest du anfangen, Josef, dich zeigen in der Stadt. Aber wie, ja wie? Plötzlich ist man nicht mehr, wer man war oder glaub­ te zu sein, sondern fängt ganz neu an. Es ist nicht gelogen, wenn man lügt, was ich nicht weiß, macht mich nicht. Ich mache mir die Welt, wiedewiedewiesie mir gefällt. Josef hat die Chance, sich die neue Identität aus freien Stücken zu erfinden, er steigt auf, vom kleinen dummen Dorfjungen zum großen wiefen Geschäftsmann, den keiner kannte, der Held, den man verkannte, hier in der neuen Welt, da kann er es sein, da darf ers zeigen, darf der Vater Lehrer spie­ len, die Mutter Primaballerina (weiß doch keiner), da darf er sein und tun und handeln, da darf er wie was wo er mag, was er am liebsten täte (erst einmal).

Josef schließt die Augen und der Zug rast durch die Lider, die Bäume, die Felder, ganz Brandenburg rauscht durch ihn hindurch. Er wälzt sich nach rechts, zurück nach links, und auf den Rücken, da laufen die Menschen an ihm vorbei, treten ihn, seinen Rucksack, schubsen und laufen und reden laut und unerbärmlich. Er schiebt die Arme gekreuzt unter den Kopf und starrt an die Decke. Drüben, wo immer das sein mochte, streiten sich Nachbarn, ein Mann und eine Frau, wie es meist so ist, über die Erziehung, während das Kind plärrt, das bemerkt Josef und meint sogar, es ganz genau zu verstehen. Vielleicht bildet er es sich auch nur ein. Er hört eine ganze Menge, vor allem Schüsse. Aber das ist nur Tatort, Alp-Traum heißt der und spielt heute in Tüffistal und auf der Rüfinenalp, wo zur Vollmondnacht die kriminellen Energien steigen, denn es geht um viel Geld. Schüsse überall in allen Wohnungen, aus allen Rohren, auch vor zwei Tagen in Spandau, doch das war kein Film. Langsam legt sich das Blei und drückt den Leib, die Seele, das Gewissen zu Boden. Langsam steigen die Bilder auf, die farbenfroh lustig und frei. Das Herz schlägt aufgeregt, rhythmisiert und erleichtert. Josef ist 128 © Copyright KUUUK Verlag mit 3 U


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froh, endlich dort raus, endlich hier, wo alle sind, das Leben beginnt, modale Wahl: ich kann, ich darf, ich muss nicht mehr. Was er erst lernen muss: dass die Strukturen überall, und auch ähnlich. Dass der Mensch nicht aus. Dass das Leben. Schläfst du schon, Josef? Was machst du denn jetzt in Berlin? Was gedenkst du zu tun? Schläfst du schon wieder? Träumst du? Josef?

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IV. Frühlingserwachen. Tradition. 1 Wenn man die Augen aufschlägt und sich versetzt umgestellt abgelegt findet: muss man erst mal wieder zu sich kommen, die Lokalitäten abstecken, die Zeit einordnen, die Situation annehmen. Berlin. Friedrichshain. Wohnung Hans-Jean. Vierter Stock. Montagmorgen nach Frühlingsanfang. Oder noch mitten in der Nacht, wer weiß das schon so genau, wenn die Lichter der Stadt den Himmel ausleuchten und das gleißende Gewölbe hoch oben tief runter in die Zimmer zurückglüht. Hans liegt (wahrscheinlich) in seinem Zimmer. Ein zwei kräftige Schläge mit oder an den Türen waren da vorhin gewesen, die Josef problemlos weckten, ein trunkenes Torkeln (vermutlich) durch den Gang, von leichtem Fegen begleitet, das wohl vom Scheuern der Jacke an den Wänden links rechts herrührte, dann ein starker Plumps. Es war nicht schwer, einmal so wach, im Geiste den Zurückgekehrten auf seinem Wege ins Bett oder was er dafür hielt zu begleiten. Josef kann nun nicht mehr einschlafen. Wie hätte er schlafen können, jetzt, wo er doch endlich weg, jetzt, wo er doch in Berlin ist, jetzt wo er doch wach und munter und voller Tatendrang, wo alles anfängt, wo überhaupt. Es rumort in ihm, es gurgelt aus den Gedärmen herauf und hinab, kitzelt in den Beinen, das Blut stürmt durch die Adern in alle vier Extremitäten hinein, verdammt, eingeschlafen eingeschlafen, verdammt. Josef wirft den Leib herum, schüttelt die Glieder aus, es hilft nichts, das neue Leben, das ihn durchströmt, lässt ihn nicht mehr ruhen, es treibt ihn auf, hilft ihm hoch auf die Beine, die zittern noch ein wenig unter seinem Gewicht, die trauen sich noch nicht recht, aber so schnell gibt man nicht auf. Notgedrungen helfen sie dazu, folgen dem Willen über das Bad in die Küche. Ein Kaffee muss her, aber schnell. 131 © Copyright KUUUK Verlag mit 3 U


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Haufen hinein: Kleider, Holz, Zeitung. Ja, äh, ach so. Das hab ich gefunden. WAT? GFUNA. Die Mama Vermieterin: Ein Wunder der Natur: Sie scheint die Einzige weit und breit zu sein, die Josef versteht, und zwar ganz und gar. AHA! Die Dame beäugt die verschiedenen Haufen kritisch, ob sie nicht etwas von sich darunter entdecke. Doch kein Nippes in Sicht. Josef geht das Ganze entschieden zu weit. Und weil er schon zehn Tage da und schon bisschen was gelernt in der Stadt (nämlich, dass immer keiner Zeit hat), aber gleichzeitig nicht unhöflich sein will, versucht er, die Mama zu vertrösten und eine Lüge vorzuschieben – irgendwas Wichtiges ist immer –, aber er kommt nicht zu Wort. NU, IS JUT, will MIR NICH lange UFHALTEN. Setzen würde sie sich gerne, aber ist ja keine Möglichkeit dazu da. Auf die Matratze: Nein, das ist ihr zu intim. Da kommt sie ja gar nicht mehr hoch … NU, MEEN Sohn SACHT, SE können DE HAUSTÜA vorne reparieren, DET WÄR MIA recht, KÖNNWA uns OCH REVANKSCHIEREN, KEEN Problem. KOMMSE doch MA bei MIA vorbei, ICK HAB da OCH SON Problem mit DE TÜA. WENNSE Zeit haben? Natürlich hat Josef Zeit, also, jetzt gerade nicht, aber … WAT? NIAD AITZA. SPEIDA. WAT? Später. WAT? Das ist nicht akustisches, das ist psychologisches Nichtverstehen. Josef ahnt es, er hat keine Lust. Aber anscheinend geht es nicht anders. Sonst geht sie nicht, das sieht er schon. Nächste Woche! Montag? Ostern? Nein! 181 © Copyright KUUUK Verlag mit 3 U


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Jetzt kommen doch erst einmal all die heiligen weiligen Feiertage. Heute Gründonnerstag, morgen Karfreitag, Karsamstag, Ostersamstag, Ostersonntag, Ostermontag, das könnte immer so weitergehen, muss gar nicht aufhören, so schön ist das. Auf-er-steh-ung, Josef. Gründonnerstag Radio ausschalten. In die Andacht ge­ hen. Karfreitagsratschen. In die Andacht gehen. Osterlaib in der Ostermette seg­ nen (lassen). Gottesdienst und Osterfrühstück. Gottesdienst und Osterfrühstück. Dienstag! JA, NE! ICK FAH nächste Woche INN Urlaub, WISSENSE, MEEN Sohn hat MIA DA NE Reise JESCHENKT, muss ICK mit. DE Woche DRUFF, gleich Montag, schön in DI FRÜHE! Nein, da muss ich zum ABEITZAMMT! WAT? Arbeitsamt! AHA! Die Mama Vermieterin zieht die Brauen hoch, soso naja, aha, ringeling, tingeling, na gut, die Miete war ja schon im Voraus bezahlt. NU denn! Und schon schwingt ringt sie wieder hinaus, Josef hinterher, an der Eingangstür fällt ihr noch was ein – WARTN SE MA! Und schon huscht sie hinüber, sperrt die Tür zu ihrer Wohnung auf, ein leuchtend gelboranges Verlies tut sich da auf, und ringeling tingeling klimpert sie mit einem zweiten riesigen Schlüsselbund – wozu die alle wohl gehören? ICK HAB da WAT für Sie, KOMMENSE! Und brav folgt Josef der Mama Vermieterin durch den Innenhof, freundlich pflichtmäßig grüßt die kurdische Familie, Vater, Mutter, Kinder, der Reihe nach, als sie Treppe herunter an ihr vorbeikommen, die Mama winkt mit der Hand, da steigt sie auch schon hinab in den Keller. Wusste der Josef noch gar nicht, dass es das auch hier gibt und: Oh! So tief geht es da hinunter, so klein sind die Türen gebaut, so krumm ausgeschlagen die Höhlen, so schräg die Bretter gezimmert, so weit geht es da hinein, so schlecht leuchtet das schwarzgelbe Licht durch die Flure. 182 © Copyright KUUUK Verlag mit 3 U


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