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Demenz: Am Beginn des Vergessens
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Anderthalb Millionen Menschen leiden in Deutschland an einer Form der Demenz. Kann unsere Sprache die »Volkskrankheit« verraten, noch bevor sie ausbricht?
Text SEBASTIAN KRETZ Fotos SIBYLLE FENDT / OSTKREUZ
UNBEKANNTES TERRAIN
Als die Gärtners ihr Wohnmobil besteigen, liegt Elkes Diagnose zwei Jahre zurück: Demenz. Lothar hatte damals beschlossen, seine Frau so lange wie möglich im gemeinsamen Haus zu pflegen und an ihrer Seite zu bleiben. Jetzt will er eine letzte große Reise mit ihr wagen. Die Fotografin SIBYLLE FENDT begleitet die Gärtners durch halb Osteuropa bis nach Sankt Petersburg und zurück. Ihre Bilder versteht sie nicht als Reisedokumente, sondern als Symbole für eine Fahrt ins Unbekannte.
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Vergessen fängt mit D an. Glauben Sie nicht? Fragen Sie Dagmar Bittner. Sie ist Linguistin, sie muss es wissen, und sie hat etwas Erstaunliches herausgefunden. Zu den Details kommen wir später, aber es hat damit zu tun, dass manche die sagen, wo andere sie sagen und dass dieser Unterschied helfen könnte, Jahrzehnte später einer Alzheimer-Demenz entgegenzuwirken.
Aber der Reihe nach: Alzheimer ist eine der schlimmeren Krankheiten, mit denen ein Mensch im Lauf des Lebens rechnen muss. Sie ist nicht heilbar, und sie endet in völliger Hilflosigkeit: Zunächst werden die Patienten vergesslich. Erinnern sich nicht, was am Vortag geschah. Verlernen dann Lesen und Schreiben. Werden depressiv oder aggressiv. Schließlich können sie praktisch keine alltägliche Tätigkeit mehr allein verrichten. Anderthalb Millionen Menschen leiden in Deutschland an einer Form von Demenz — Alzheimer ist die häufigste. Was die Krankheit auslöst, ist nicht genau bekannt. In jedem zehnten bis zwanzigsten Fall gibt es Häufungen in der Familie; ein spezielles Gen wurde bisher aber nicht entdeckt. Doch es ist durchaus bekannt, was das Risiko erhöht, im Alter an Alzheimer zu erkranken: sich in einem engen sozialen Umfeld zu bewegen, also weder häufig Angehörige zu treffen noch viele Freundschaften zu pflegen. Oder kaum Hobbys nachzugehen. Der Nachteil dieses Wissens ist, dass es sich erst im Rückblick entfaltet. Das bedeutet, man weiß, dass in einer Gruppe Alzheimer-Patienten überproportional viele Menschen mit engem sozialem Umfeld sind. Man weiß aber nicht, wer aus einer Gruppe junger Menschen mit engem sozialem Umfeld die Krankheit später entwickeln wird. Und hier kommt die Linguistik ins Spiel. Dagmar Bittner, die am Berliner Leibniz-Zentrum Allgemeine Sprachwissenschaft den Erwerb und die Entwicklung von Sprache erforscht, kam auf die Idee, die Daten einer Langzeitstudie der Universität Heidelberg auf Anzeichen von Demenz auszuwerten. Dafür verwendete sie eine quantitative Textanalyse. Die Probanden waren bei der ersten Befragung Anfang 60, bei der bisher letzten Mitte 70. Bittner verglich den Sprachgebrauch einer Gruppe von Probanden, die im Verlauf der Studie an Alzheimer erkrankten, mit dem Sprachgebrauch einer Gruppe gesund Alternder. Dabei achtete sie auf ein winziges, scheinbar unbedeutendes Detail: den Gebrauch bestimmter Pronomen. Wer über eine andere Person spricht und weder deren Namen (»Anna«) noch ihre Funktion (»Mama«) oder ihren Beruf (»Forscherin«) nennt, hat die Wahl zwischen zwei Pronomen: sie oder die. Dasselbe gilt für er oder der. Die Pronomen drücken unter anderem unterschiedliche Haltungen des Sprechers aus: Der Satz »sie kommt näher« beschreibt sachlich, was geschieht. In »die kommt näher« schwingt etwas Abwehrendes, Distanziertes mit. Kinder, die sich die Sprache aneignen, verwenden häufig die oder der, um andere zu bezeichnen. Erst später lernen sie — oft ermahnt durch die Eltern — das als höflicher geltende sie oder er. »Solche Formen, die zusätzliche Konnotationen enthalten, zu lernen, bedeutet eine Zunahme von Komplexität«, sagt Bittner. Menschen, deren Sprachvermögen durch Demenz nachlasse, durchliefen diesen Prozess spiegelverkehrt: Die Komplexität im Ausdruck nehme ab. Genau das beobachtete Bittner, als sie die Daten aus Heidelberg auswertete, bei der Verwendung der Pronomen: Wenn Alzheimer-Patienten über Familienmitglieder sprachen — Personen, für die man eher keine abwehrend-distanzierte Sprache wählt —, verwendeten sie deutlich häufiger die und der als sie und er. Bei den Gesunden war es umgekehrt. Das Überraschende an Bittners Untersuchung: Der Unterschied zeigte sich nicht erst in den Daten der Mitte70-Jährigen, bei denen die Krankheit bereits ausgebrochen ist, — sondern schon bei der ersten Befragung zwölf Jahre früher. »Es ist durchaus möglich«, sagt Bittner, »dass diese Menschen ihr ganzes Leben lang so gesprochen haben.« Die Vermeidung von Komplexität im sprachlichen Ausdruck, ein enges soziales Umfeld und geringes Interesse an Hobbys könnten auf eine gemeinsame Ursache zurückgehen: ein schwaches Arbeitsgedächtnis. Das Arbeitsgedächtnis ist ein Begriff aus Psychologie und Neurowissenschaft und beschreibt die Fähigkeit, sich Informationen zu merken, parallel zu verarbeiten und zielgerichtet einzusetzen. Es ist zum Beispiel nötig, um einen Satz anzufangen und sinnvoll zu beenden. Wer über ein schwaches Arbeitsgedächtnis verfügt, so Bittners These, meide unbewusst Situationen, die es herausfordern. Das kann die Pflege sozialer Kontakte sein, ein anspruchsvolles Freizeitvergnügen oder eben eine komplexere Ausdrucksweise in der Sprache. »Ich nehme an«, sagt Bittner, »dass ein schwaches Arbeitsgedächtnis ein ernst zu nehmender Faktor ist, der das Risiko erhöht, an Alzheimer-Demenz zu erkranken.« Solche messbaren Muster in der Sprache, die Jahrzehnte vor Ausbruch der Demenz auftreten, könnten helfen, ein Frühwarnsystem einzurichten. Menschen mit erhöhtem Alzheimer-Risiko hätten so eine Chance, ihr Arbeitsgedächtnis rechtzeitig zu trainieren. Dass die Krankheit ausbricht, lässt sich wohl auch auf diese Weise nicht verhindern. Aber die Patienten könnten den Anfang des Vergessens hinauszögern.