Big business mit Hitler vorschau

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BIG BUSINESS MIT HITLER Jacques R. Pauwels Brüssel (Edition Aden) 2013


BIG BUSINESS MIT HITLER Jacques R. Pauwels Brüssel (Edition Aden) 2013 Übersetzung: Ursula Kleinert-Gentz Copyright deutsche Ausgabe© 2015 – Verlag: Jim Humble Verlag

Das Neue Licht / Jim Humble Verlag www.dasneuelicht.com www.jimhumbleverlag.com Erste Auflage: April 2015 ISBN: 9789088791215 Print-Ausgabe ISBN: 9789088791222 Ebook-Ausgabe

Cover: Paul Verrept/Isis Sousa .

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INHALT Vorwort .............................................................................................................. 6 ERSTER TEIL Das deutsche/amerikanische Big Business und Hitler 1. Reich, Krieg, Revolution .............................................................................. 13 2. Industrie, Demokratie und Diktatur .............................................................. 21 3. Wirtschaftskrise und politische Krise ........................................................... 28 4. Adolf H. wird engagiert ................................................................................ 35 5. Die Liquidierung der Linken ........................................................................ 40 6. Die nationalsozialistische Diktatur: .............................................................. 45 7. Das Dritte Reich – ein Wohlfahrtsstaat? ...................................................... 60 8. Der Hitlerkrieg ............................................................................................. 69 9. Gemeinsam bis zum Ende! ........................................................................... 80 10. Unzufriedene Nutzniesser .......................................................................... 91 Intermezzo: und im Ausland? ...................................................................... 95 ZWEITER TEIL Das amerikanische Big Business und Hitler 1. Die Dollaroffensive in Deutschland ........................................................... 108 2. Amerikanische Fans und Partner von Hitler ............................................... 116 3. Lieber Hitler als „Rosenfeld“ ..................................................................... 130 4. Blitzkrieg „made in USA“ .......................................................................... 153 5. Nach Pearl Harbor: „business as usual“ ..................................................... 167 6. Krieg = Profit ............................................................................................. 176 7. Diensteifrige Banker und Geheimagenten .................................................. 184 8. Bomben, Zerstörung, Entschädigungen ...................................................... 190 9. Zwischen Morgenthau und Moskau ........................................................... 198 10. Nazivergangenheit, US-Zukunft ............................................................... 204 schluss: faschismus und krieg nach 1945 ....................................................... 213 Nachwort: Geschichte - nur „Mumpitz“? ....................................................... 217 Anmerkungen ................................................................................................. 225 Bibliographie .................................................................................................. 247

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Wer nicht über den Kapitalismus reden will, muss auch zum Faschismus schweigen. Max Horkheimer (1895 – 1973), deutscher Philosoph und Soziologe, im Jahr 1939

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VORWORT

„Business“ ist ein doppeldeutiger Begriff. Einerseits verweist er auf eine Tätigkeit, nämlich „Geschäfte machen“, und Big Business bedeutet also, in großem Stil Geschäfte machen, sich um wichtige Geschäfte kümmern, um Tätigkeiten, die beachtliche Gewinne einbringen. Andererseits wird der Begriff „business“ auch dann benutzt, wenn von der Gesamtheit der Personen die Rede ist, welche Geschäfte machen. In diesem Sinn bezeichnet man als Big Business diejenigen, welche mit wichtigen Geschäften zu tun haben, und das in großem Stil, also Personen an der Spitze großer Banken und Unternehmen, wo sie dicke Gewinne einfahren – mit anderen Worten, Großindustrielle und Banker. Man kann sie auch „Kapitalisten“ nennen, besitzen und verwalten sie doch das „Kapital“; man könnte sogar Big Business mit „das große Kapital“ übersetzen, oder ganz einfach mit „das Kapital“. À propos: Der Begriff „Kapital“ bezeichnet nicht allein das Geld im Allgemeinen und insbesondere das „dicke Geld“, sondern ebenfalls – und das vor allem – die „Produktionsmittel“, also die Unternehmen, die erforderliche Technologie, den Grundbesitz etc.: die Faktoren, welche in Verbindung mit den Rohstoffen und der von den Arbeitern und anderen „Arbeitnehmern“ geleisteten Arbeit Reichtum produzieren1. Die Produktion von Reichtum ist also ein Vorgang, bei dem das Kapital mit der Arbeit und den Rohstoffen zusammengebracht wird. Wir sollten hier noch anmerken, dass dieser Produktionsprozess keine individuelle Angelegenheit ist, sondern ein kollektiver oder sozialer Prozess; der so geschaffene Reichtum als solcher ist demnach ein soziales Produkt, ein „Sozialprodukt“. Allerdings fällt in einem kapitalistischen System der Löwenanteil dieses Sozialprodukts den Kapitaleigentümern zu, nämlich in Form der Gewinne. Diejenigen, die ihre Arbeitskraft zur Verfügung gestellt haben, erhalten einen relativ geringen Anteil in Form von Lohn oder Gehalt. In der „westlichen Welt“ von heute gehören Großindustrielle und Banker im Allgemeinen der Oberklasse der Gesellschaft an, der besitzenden Klasse. In Europa war diese Oberklasse früher die Domäne des Adels, der Aristokratie, deren Reichtum und Macht auf ihrem Eigentum an Ländereien beruhte. Heute

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besteht die gesellschaftliche Oberklasse vorwiegend aus Industriellen und Bankern, die gelegentlich auch über einen beachtlichen Grundbesitz verfügen, und aus einer relativ begrenzten Anzahl von Aristokraten. Letztere sind immer im Besitz großer Ländereien, heutzutage jedoch ebenfalls von umfangreichen Aktienpaketen großer Unternehmen; man kann sie also auch als Großindustrielle betrachten, als Kapitalisten. So verfügt etwa die britische Königsfamilie nicht nur - wie schon seit hunderten von Jahren - über einen riesigen Landbesitz, sondern ist auch einer der wichtigsten Aktionäre von Unternehmen wie Shell2. Von Zeit zu Zeit kommen Vertreter der internationalen Großindustrie und des alten europäischen Adels an „exklusiven“ Orten zusammen, beispielsweise im schweizerischen Davos oder im niederländischen Bilderberg, um dort gemeinsame Probleme zu besprechen. Man kann nicht sagen, dass dort „Verschwörungen“ organisiert werden, aber mit Sicherheit werden dort Pläne geschmiedet und vielversprechende junge Politikerinnen und Politiker „getestet“, die für hohe Ämter in Frage kommen könnten und bei denen man sicher sein muss, dass sie sich die Interessen der Elite zu eigen machen. So stellten sich 1991 bzw. 1993 Bill Clinton und Tony Blair in Davos vor, um das Plazet der Großen der Welt zu erhalten3. Diese Elite schwimmt im Geld, deshalb ist sie äußerst einflussreich und mächtig; wir haben es hier wirklich mit einer „Machtelite“ zu tun, doch greifen ihre Mitglieder normalerweise nicht direkt in die Politik ein. Sie bleiben lieber hinter den Kulissen und überlassen die politische Arbeit zuverlässigen Spitzenpolitikern aus zuverlässigen Parteien. Politikern wie Clinton und Blair etwa, beides Männer von relativ bescheidener Herkunft, die nicht sofort als Angehörige der Elite identifiziert werden. Diese Strategie ist einsichtig, haben wir es hier doch mit demokratischen Systemen zu tun, von denen schließlich erwartet wird, dass sie sich der Interessen des „Volkes“ annehmen. Man sollte die großen Geschäftsleute, die Großunternehmer, also die wirklichen Kapitalisten, nicht mit kleinen Geschäftsleuten in einen Topf werfen, mit selbständigen Gewerbetreibenden und Leitern kleiner Unternehmen. Die „kleinen“ Geschäftsleute gehören nicht zur Oberklasse, sondern zur Mittelklasse oder, präziser ausgedrückt, zu dem Teil der Gesellschaft, der in der Soziologie als „untere Mittelklasse“ bezeichnet wird. Den Begriff „obere Mittelklasse“ verwenden Soziologen und Historiker für jene Industriellen, Banker und Vermögenden, denen es im Verlauf des 19. Jahrhunderts gelang, an die Spitze der gesellschaftlichen Hierarchie vorzustoßen, die vorher nur dem Adel vorbehal-

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ten war; vielfach konnten sie den Adel auch von dort verdrängen. Wenn wir von den wirklichen Großunternehmern der Oberklasse sprechen, so bezeichnen wir sie auch als „Großbürgertum“, die kleinen Geschäftsleute dagegen als „Kleinbürgertum“. Betrachten wir die soziale Pyramide, so steht unter dem Kleinbürgertum die Masse der „Arbeitnehmer“, der abhängig Beschäftigten: die Menschen, welche mit ihrer Arbeit am Produktionsprozess beteiligt sind und die deshalb einen Lohn oder ein Gehalt bekommen. Früher waren das vor allem Arbeiter, Fabrikarbeiter, aber nachdem der Begriff „Arbeiterklasse“ durch einen semantischen Zaubertrick in der Versenkung verschwunden ist, sind heute abhängig Beschäftigten ein Teil der Mittelklasse. Es ist das A und O des Big Business, größtmögliche Gewinne zu erzielen, die Profite zu „maximieren“. Um diesem Ideal nahe zu kommen, sind Großunternehmer vielleicht nicht zu allem bereit, aber doch fast. Man muss bereit sein, die Konkurrenz zu eliminieren, seinen Arbeitern und Angestellten längere Arbeitszeiten zuzumuten oder sie zu entlassen, Löhne und Gehälter drastisch zu kürzen, Preise hochzutreiben, etc. Solche Maßnahmen sind nicht zu vermeiden, will man der Konkurrenz keinen Vorsprung lassen. So läuft es in der Welt des Big Business, oder anders ausgedrückt: im sozioökonomischen System, welches wir Kapitalismus nennen. Und die intellektuellen Gurus dieses Systems tun alles, um uns zu überzeugen, dass der Kapitalismus das einzig mögliche sozioökonomische System ist und es absolut keine Alternative dazu gibt. Die Geschichte des Kapitalismus zeigt uns, dass die Großunternehmer das politische System der Demokratie schätzen, solange man dort üppige Gewinne erzielen kann. Sind sie aber der Meinung, mit einem „starken Mann“ an der Spitze des Staates – mit anderen Worten, in einer Diktatur - ließen sich höhere Gewinne erzielen, dann zeigen sie sich bereit, bei der Etablierung einer starken Regierungsmacht mitzuwirken. Im Allgemeinem können sie dabei auf die Unterstützung der Großgrundbesitzer zählen, welche mit ihnen zusammen die Spitze der Pyramide bilden. Sehen die Großunternehmer sich gezwungen, einen Teil der Soziallasten zu übernehmen und ihren Arbeitskräften relativ hohe Löhne und Gehälter zu zahlen, können aber dennoch hohe Gewinne erzielen, so werden sie dazu bereit sein – vor allem dann, wenn sie andernfalls mit Protestbewegungen oder sogar einer Revolution rechnen müssten. Drohen die Soziallasten und die Lohn- und Gehaltskosten aber die Unternehmensrentabilität zu schmälern, so werden Unternehmenseigner und Manager bereit sein, Löhne und Gehälter zu drücken und die Sozialleistungen anzugreifen. Beide

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lieben den Frieden, aber wenn der Krieg höhere Gewinne verspricht, so werden sie nicht zögern und sich hineinstürzen, umso mehr angesichts einer Tatsache, die Sartre in die folgenden Worte fasste: „Wenn die Reichen sich bekriegen, dann sind es die Armen, die sterben müssen.“ Bis hier ist unser Vorwort relativ abstrakt, doch geht es in dem vorliegenden Buch schließlich genau darum, diese Theorie zu veranschaulichen. Wir haben die Einstellung bedeutender Geschäftsleute, Industrieller und Banker aus Deutschland und den USA zu Hitler und zum Nationalsozialismus sowie zum Faschismus ganz allgemein untersucht, wobei der Nationalsozialismus die deutsche Ausprägung des Faschismus darstellte. Die Kapitalisten beider Länder haben nur zu gern Geschäfte mit Hitler gemacht, und aus dieser Zusammenarbeit zogen beide Seiten, sowohl Industrielle und Banker als auch Nazis, den erhofften Nutzen: üppige Gewinne die einen, Zugang zu den Hebeln der Macht die anderen. Das Tandem deutsche Großindustrie und deutsche Hochfinanz, die Spitzen von Industrie und Finanz des Landes oder zumindest ein ansehnlicher Teil dieser deutschen Elite hat Hitler bei seinem langsamen Aufstieg unterstützt und ihm geholfen, an die Macht zu kommen, und das nicht nur finanziell. In diesem Sinn ging das deutsche Big Business tatsächlich „mit“ Hitler. Und das deutsche Big Business (bzw. das „Kapital“) hat später die Früchte geerntet, nämlich riesige Gewinne dank Hitlers regressiver Sozialpolitik, dank seines groß angelegten Aufrüstungsprogramms und seiner Eroberungsfeldzüge, dank der Ausplünderung der besetzten Länder durch die Nazis und sogar dank ihrer Verbrechen, die Enteignung und systematische Ausrottung der europäischen Juden nicht ausgenommen. Wir werden in diesem Buch unter anderem sehen, wie das von Bayer, Hoechst und der BASF gebildete Konzern IG Farben den Aufstieg Hitlers unterstützte, eng in sein Aufrüstungsprogramm eingebunden war und im Krieg Unsummen verdiente, indem er in allen Produktionsstätten Sklavenarbeiter einsetzte, vor allem in seinem riesigen Werk in der Nähe des Vernichtungslagers Auschwitz. Auch das US-amerikanische Großkapital hat Hitler schon seit seinen Anfängen unterstützt, allerdings wissen wir nicht mit Sicherheit, wie weit diese Unterstützung ging. Amerikanische Großunternehmen konnten mit einer breit angelegten Produktpalette von Rüstungsgütern für das NS-Regime enorme Gewin-

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ne einfahren; die Fertigung erfolgte in den deutschen Niederlassungen amerikanischer Firmen. Außerdem erhielt das nationalsozialistische Deutschland riesige Mengen Treibstoff, Kautschuk und weitere Rohstoffe; ohne diese amerikanischen Lieferungen hätte Hitler seinen „Blitzkrieg“ niemals führen können. Während des Krieges, sogar nach Pearl Harbor, tätigte das Big Business der USA weiter umfangreiche Geschäfte mit Nazi-Deutschland. Auch amerikanisches Kapital bediente sich der Zwangsarbeiter, selbst Deportierte aus besetzten Ländern und sogar Häftlinge aus Konzentrationslagern leisteten Zwangsarbeit für amerikanische Firmen. Wir werden auch den Fall von Ford unter die Lupe nehmen, dem Familienunternehmen von Henry Ford, der ein ebenso rabiater Antisemit war wie Hitler selbst. Ford prosperierte durch Lieferung einer vielfältigen Palette an Kriegsmaterial an Nazideutschland; dabei handelte es sich beispielsweise um Lkws, die Ford zum Teil auch aus den USA exportierte, vor allem aber in der deutschen Niederlassung in Köln, den Ford-Werken, produzieren ließ. Die Gewinne der deutschen Ford-Niederlassung traten mit dem Einsatz von Sklavenarbeitern einen Höhenflug an, auch noch nach Pearl Harbor. In Deutschland und den USA machten die Finanz- und Unternehmenseliten gute Geschäfte mit dem Hitler-Regime. Gleichzeitig machten sie auch untereinander gute Geschäfte und konnten hier ebenfalls üppige Gewinne einfahren. Natürlich wollten sie diese guten Geschäftsbeziehungen auch nach dem Krieg fortsetzen, nach dem Sturz des nationalsozialistischen Regimes, mit dem sie bis zu seinem letzten Aufbäumen zusammengearbeitet hatten. Um das zu ermöglichen, mussten jedoch die Nazi-Sünden der deutschen Großindustriellen und Banker unter den Tisch gekehrt werden. Und so geschah es dann auch, denn diejenigen, die in der US-Regierung und in den amerikanischen Besatzungsbehörden in Deutschland das Sagen hatten, waren Vertreter amerikanischer Großunternehmen. Indem sie die Sünden der Vergangenheit verziehen und dafür sorgten, dass die Zusammenarbeit der deutschen Kapitalisten mit den Nationalsozialisten keine Erwähnung mehr fand, kehrten die amerikanischen Kapitalisten auch ihre eigene Zusammenarbeit mit den Nazis unter den Teppich. Außerdem erzielte das amerikanische „Kapital“ hohe Gewinne durch den Krieg, den Großbritannien, die Sowjetunion und am Ende auch die Vereinigten Staaten gegen Nazi-Deutschland führten. Nie vorher hatte das amerikanische

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Big Business so viel Geld verdient wie während des Krieges, von 1939 bis 1945, als es „auf allen Hochzeiten tanzte“ und alle kriegführenden Länder belieferte, Deutschland ebenso wie die Alliierten – und das vielfach zu Wucherpreisen. Hitlers Nationalsozialismus und der Faschismus ganz allgemein waren sehr ertragreich für die amerikanischen Kapitalisten gewesen, aus diesem Grunde setzten sie nach 1945 die Unterstützung mehr oder weniger offen faschistischer Diktaturen fort: Sie unterstützten das spanische Franco-Regime, Suharto in Indonesien und Pinochet in Chile. Doch letztendlich war der Krieg noch vielversprechender für das amerikanische „Kapital“ - es spielte keine Rolle, welcher Krieg oder gegen wen: Der Krieg erwies sich als ein wahres Füllhorn, das über amerikanischen Großunternehmen, Industriellen und Bankern fabelhafte Gewinne ausschüttete. Deshalb führten die USA nach 1945 weitere Kriege, deshalb führen sie auch heute noch Krieg, sogar unter einem Präsidenten, der sich rühmen kann, den Friedensnobelpreis erhalten zu haben. Lassen Sie uns also jetzt untersuchen, wie das deutsche, amerikanische und internationale Big Business Hitler bei seinem durchaus nicht unaufhaltsamen Aufstieg zur Macht unterstützt hat und auf welche Weise es vom Anfang bis zum Ende von seinem Regime profitierte. Jacques Pauwels

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ERSTER TEIL ______________ DAS DEUTSCHE/AMERIKANISCHE BIG BUSINESS UND HITLER

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1. REICH, KRIEG, REVOLUTION

Deutschland ist ein zivilisiertes Land im Herzen Europas, in der Mitte eines Kontinents, der als Wiege und Herz des Abendlandes gilt - jener westlichen Welt, die sich selbst gern als Speerspitze der Zivilisation begreift. Deutschland hat uns Bach und Beethoven gegeben, Philosophen wie Kant und Hegel, Wissenschaftler und Denker wie Einstein, Goethe und andere weltbekannte Dichter und Schriftsteller; außerdem große Maler, Architekten, Ingenieure, Filmregisseure etc. Doch diese „bleiche Mutter“, um mit Bertold Brecht zu sprechen, hat auch Hitler und sein Naziregime hervorgebracht, einen der größten Verbrecher und eines der mörderischsten politischen Systeme der Menschheitsgeschichte. Wie ist das zu erklären? Waren Hitler und der Nationalsozialismus eine Anomalie, eine große, bedauerliche Ausnahme in der westlichen Welt, wo man „normalerweise“ die Menschenrechte respektiert, demokratische politische Systeme verteidigt und schon aus Prinzip Kriege meidet wie die Pest? Offensichtlich nicht. Denken wir, um bei Deutschland zu bleiben, an das autoritäre Herrschaftssystem Bismarcks und an militaristische Tendenzen, wie sie etwa im preußisch-deutschen Krieg von 1870/71 und im Ersten Weltkrieg zum Ausdruck kamen – den die Franzosen den „Großen Krieg“, la „Grande Guerre“ nennen. In den zwanziger und Dreißigerjahren und sogar noch nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden in Italien, Spanien und zahlreichen weiteren westlichen Ländern diktatorische Regimes, die „faschistisch“ oder zumindest „krypto-faschistisch“ waren. Und gab es während des Zweiten Weltkriegs nicht in allen von den Deutschen besetzten Ländern Kollaborateure, die keine Berührungsängste gegenüber Hitler und seinem Regime hatten? Was die Menschenrechte angeht, so stellte Hitlerdeutschland ebenfalls keine Ausnahme dar. In ihren Kolonialreichen hatten Briten, Belgier, Niederländer, Spanier, Portugiesen, Franzosen und Deutsche die „minderwertigen“ Einheimischen, seien sie nun schwarz, braun, rot oder gelb, als Untermenschen behandelt (hier sei die nazistische Terminologie gestattet) und sie häufig ganz oder zum Teil ausgerottet – und das lange bevor Juden und Roma durch Hitler das gleiche Schicksal erlitten4. Die Deutschen hatten keinen Hitler gebraucht, um zwischen 1904 und 1907 in ihrer afrikanischen Kolonie Deutsch-Südwest, dem

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heutigen Namibia, die Völker der Herero und Nama fast vollständig auszulöschen; heute nennen wir das den ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts5. Hitler war also durchaus keine Anomalie, kein „bedauerlicher Unfall“, wie er viel zu oft in Büchern oder Dokumentarfilmen dargestellt wird. Hitler und der Nationalsozialismus fügen sich problemlos in den Ablauf der deutschen Geschichte ein. Das Gleiche gilt für die faschistischen Regimes von Mussolini, Franco oder Pinochet: sie sind keine Fremdkörper in den Annalen des kapitalistischen Systems, das in der westlichen Welt entstand und sich im Verlauf der letzten Jahrhunderte zu einem „globalen System“ entwickelte. Hitlers Nationalsozialismus und der Faschismus ganz allgemein sind eine Ausprägung des Kapitalismus – und dieser Kapitalismus könnte durchaus noch weitere Formen des Faschismus hervorbringen. Hitler hätte niemals die Macht erlangt, hätten die damaligen Eliten der deutschen Gesellschaft ihm ihre Unterstützung verweigert: die adeligen Großgrundbesitzer, die Generäle und hochrangigen Offiziere des Militärs (die meist aus den Familien der Großgrundbesitzer stammten und ebenfalls ein Von vor ihrem Namen hatten, also auch von Adel waren), die evangelischen und katholischen Prälaten, die hohen Beamten des Staates, Universitätsprofessoren und – last but not least – die wichtigen Banker und Großindustriellen des Landes. Sie waren die „Säulen “ des überkommenen deutschen Establishments, so der große Hamburger Historiker Fritz Fischer (1908 – 1999), und hatten schon vor dem Ersten Weltkrieg unter dem Banner der Monarchie in Deutschland den Ton angegeben; den Weltkrieg und die anschließende Revolution hatten sie überlebt, ohne allzu viele Federn lassen zu müssen6. In Italien hatten die gleichen sozialen Akteure schon Mussolini zur Macht verholfen. Wir werden im Folgenden sehen, wie sie dann in den Dreißigerjahren in Spanien Franco Unterstützung leisteten und faschistische Bewegungen in Frankreich, Belgien, einer Reihe weiterer europäischer Länder und sogar in den USA wenn nicht schufen, dann doch zumindest unterstützten. Wir werden uns in diesem Buch auf die Rolle der Großbanken und Großunternehmer konzentrieren, also auf die „Hochfinanz“ und die „Großindustrie“. Wir werden uns der Frage zuwenden, wie und warum diese Akteure entscheidend dazu beigetragen haben, Hitler an die Macht zu bringen, und wie es ihnen im nationalsozialistischen Dritten Reich und während des „Hitlerkrieges“ erging. Im Lauf des 19. Jahrhundert hatte Deutschland einen fulminanten industriellen Aufschwung erlebt und war deshalb am Vorabend des Ersten Weltkriegs einer

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der mächtigsten Staaten des Planeten. Diese sozioökonomische Entwicklung führte zur Entstehung eines dynamischen kapitalistischen Systems mit einer Reihe bemerkenswerter Eigenheiten. So entstanden z.B. in den wichtigsten Industriezweigen riesige Unternehmen, die sogenannten „Trusts“ (Konzerne), welche sich entweder einen gnadenlosen Konkurrenzkampf lieferten oder Kartelle bildeten und Verträge unterzeichneten, in denen sie sich über den Zugang zu knappen Rohstoffen, die Aufteilung der Absatzmärkte und selbstverständlich auch über die Preise einigten. Die Männer an der Spitze dieser Großunternehmen, mit anderen Worten, die deutschen Großkapitalisten, hatten außerordentlich viel Einfluss auf die Regierung des autoritären Staatswesens, und dessen Schöpfer Otto von Bismarck machte sich konsequent ihre Interessen zu eigen; gleichzeitig verteidigte der Staat die Interessen der adeligen Großgrundbesitzer, jener preußischen Junker, zu denen auch Bismarck selbst zählte und deren primus inter pares der Kaiser war. Man könnte es so ausdrücken: In der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg – der guten alten Kaiserzeit, wie sie von manchen später genannt wurde – hatten der Adel die Großagrarier und das reiche Großbürgertum die Macht im Staat partnerschaftlich unter sich aufgeteilt. In dieser Partnerschaft beanspruchte der Adel für sich die politische Macht, wohingegen das Großbürgertum, vorrangig vertreten durch die Großunternehmer, die wirtschaftliche Macht innehatte. Ideologisch dominierte jedenfalls die „feudale“ Einstellung des Adels mit seinem Militarismus, dem Kult eines staatlichen Despotismus, der Achtung vor Hierarchie, sozialer Disziplin, christlicher Religion etc., wie es Nicos Poulantzas betont hat, der hinzufügte, „der „Liberalismus“, ein wichtiger Aspekt der bürgerlichen Ideologie (..............) des Kapitalismus im europäischen Zeitalter, hat in Deutschland nie Fuß fassen können“7. Die industrielle Revolution in Deutschland brachte auch eine große Masse Lohnarbeiter hervor, die sich mit wenigen Ausnahmen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands anschlossen, dem Vorläufer der heutigen SPD. Damals war allerdings die SPD noch eine sozialistische Partei im marxistischen Sinn des Wortes: Sie dachte nicht daran, sich im Rahmen des kapitalistischen Systems um bescheidene Reformen abzumühen, sondern verkündete in ihrem Programm nichts weniger als die Revolution, den Umsturz nicht nur des Kaiserreichs, sondern auch des sozioökonomischen Systems, also des Kapitalismus. Mit ihrem revolutionären sozialistischen Programm gelang es den Sozialdemokraten, so viele Wahlsiege zu erringen, dass sie schließlich zur größten Partei des Reichstags wurden, des deutschen Parlaments. Dessen Mitglieder

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wurden durch allgemeine Wahlen bestimmt. Ebenso wie die Großgrundbesitzer konnten sich also die Großindustriellen glücklich schätzen, dass – dem allgemeinen Wahlrecht zum Hohn – das unter Bismarck und seinen Nachfolgern herrschende antidemokratische System die SPD daran hinderte, ihre beeindruckenden Wahlerfolge in die ihnen entsprechende politische Macht umzusetzen. So war etwa die Regierung nicht gegenüber dem Parlament rechenschaftspflichtig, sondern gegenüber der Person des Kaisers. Trotzdem fürchteten der Adel und das Großbürgertum – nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa und in den Vereinigten Staaten – bis zum Kriegsausbruch 1914, dass die in ihren Augen ungeheuer stupiden und gefährlichen „Volksmassen“ an die Macht kommen könnten. Dies könnte, so meinte man, durch eine gewaltsame Revolution geschehen, wie in der Pariser Kommune von 1871 oder bei den Unruhen in Russland 1905, oder vielleicht schrittweise und langsam, aber offenbar unaufhaltsam durch einen Demokratisierungsprozess – war doch die Einführung des allgemeinen Wahlrechts durch Bismarck schon ein solcher Schritt gewesen. Auf intellektueller Ebene fand diese Furcht vor den „gefährlichen Klassen“, vor „denen da unten“ oder auch den „Massen“ ihren Ausdruck in elitären Schriften, etwa denen von Ortega y Gasset, Pareto oder Nietzsche. Auf Seiten der deutschen Industrie fand man es bedauerlich, dass Bismarck sozialdemokratischen Forderungen entgegen kam und die gesetzliche Krankenversicherung und Rentenversicherung einführte, wozu die Unternehmer einen finanziellen Beitrag leisten mussten – mit anderen Worten, er schuf in Deutschland den weltweit ersten „Wohlfahrtsstaat“. Vom Standpunkt der mehrheitlich sozialistischen, also – theoretisch – revolutionären Arbeiterklasse gesehen dienten die Wohltaten des bismarckschen Sozialsystems der Schaffung einer Art „Arbeiteraristokratie“ mit einem Interesse an der Aufrechterhaltung des bestehenden sozioökonomischen Systems, die folglich weniger revolutionär war. Die SPD blieb offiziell weiterhin eine revolutionäre Partei, doch ging die Parteiführung nach und nach in die Hände „evolutionärer“ bzw. „reformistischer“ Sozialisten über, die eher soziale Reformen im Rahmen des kapitalistischen Systems befürworteten als die Revolution. Der Aufschwung der deutschen Industrie brachte nicht nur große soziale und politische Probleme im Land mit sich, sondern führte auch zu internationalen Spannungen. Andere Industriemächte wie Großbritannien und Frankreich besaßen riesige Kolonialreiche und verfügten von daher über Rohstoffquellen und geschützte Absatzmärkte für ihre Fertigprodukte. Deutschland dagegen war erst mit der Reichsgründung 1871 geeint worden und deshalb erst so spät

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auf der internationalen Bühne erschienen, dass an ein Kolonialreich nicht mehr zu denken war; also musste Deutschland alle möglichen wichtigen Rohstoffe aus dem Ausland importieren, z.B. Erdöl, Kautschuk, Kupfer und sogar Eisenerz, und sie entsprechend teuer bezahlen. Die von der deutschen Industrie hergestellten Fertigprodukte waren aus diesem Grund teurer und ließen sich deshalb weniger leicht exportieren. Der Widerspruch zwischen einer schnell ansteigenden Produktivität und den begrenzten Absatzmärkten machte dringend eine Lösung erforderlich, und nach Ansicht zahlreicher deutscher Industrieller bestand diese Lösung darin, Krieg zu führen: einen Krieg, der Deutschland das verschaffen sollte, was die Industrie des Landes brauchte, nämlich billige Rohstoffquellen und Absatzmärkte in Form einer territorialen Erweiterung auch durch überseeische Kolonien, aber vor allem in Europa selbst. Diese Sichtweise mündete in eine aggressive Außenpolitik, darauf gerichtet, Deutschland und seiner Industrie, mit den Worten des Kaisers, „einen Platz an der Sonne“ zu garantieren. „Die Tatsache, dass Deutschland es für notwendig erachtete, Absatzmärkte für die Produkte seiner Industrie und Investitionsmöglichkeiten für sein Kapital zu finden, (...) ist ohne jeden Zweifel einer der Gründe für den Ersten Weltkrieg“, so der französische Historiker Charles Bettelheim, dessen ausgezeichnete Wirtschaftsgeschichte des Nazi-Deutschlands schon 1945 erschien, also unmittelbar nach dem Ende Zweiten Weltkrieges. Der „Große Krieg“ brach 1914 aus, und die deutschen Industriellen hegten große Erwartungen, wie Fritz Fischer 1960 in seinem vieldiskutierten Buch Griff nach der Weltmacht darlegte. Der Sieg – eine Niederlage war unvorstellbar! – versprach neue Absatzmärkte, die französische und andere ausländische Konkurrenz würde man aus dem Rennen werfen, Deutschland bekäme Kolonien und hätte damit Zugang zu wichtigen Rohstoffen, z.B. Kautschuk – und das zu einem günstigen Preis; außerdem könnte man über lächerlich billige Arbeitskräfte verfügen, Arbeiter wie die braun- oder gelbhäutigen Kulis, welche die Engländer in großer Anzahl aus Indien und China in alle Ecken ihres Kolonialreiches deportierten, um sie dort gnadenlos schuften zu lassen. Ein großer patriotischer Krieg, so hoffte man inbrünstig in den Salons der deutschen Großunternehmer, wäre außerdem eine Pferdekur gegen diese äußerst unangenehme sozialistische „Krankheit“, die das deutsche Volk befallen hatte; ein Krieg würde das Gespenst der Revolution ein für alle Mal aus Deutschland verbannen.

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Dass der Krieg ein „Gegengift gegen die Revolution“ sein könnte, dass also mit Hilfe eines großen Krieges auch die gefürchtete große Revolution im Keim erstickt werden könnte, davon waren vor 1914 zahlreicher Politiker, Industrielle und Intellektuelle aus Adel und Großbürgertum felsenfest überzeugt – und das nicht nur in Deutschland, sondern ebenfalls in Großbritannien, Italien, Russland, den Vereinigten Staaten und anderen Ländern9. Der Große Krieg brachte am Ende keinen Triumph, sondern eine schmähliche Niederlage. Mehr noch, er löste zumindest in Russland die so sehr gefürchtete Revolution aus; dort stellten die Bolschewiken in ganz großem Rahmen ein sozialistisches Projekt auf die Beine. Auch in Deutschland brach eine Revolution aus, die jedoch auf Befehl sozialdemokratischer Führer, unter anderen Friedrich Ebert, von der Armee im Blut erstickt wurde. So begrub die SPD in den Jahren 1918 und 1919 offiziell den revolutionären Sozialismus, von dem sie sich schon lange vor Kriegsausbruch nach und nach zugunsten eines „evolutionären“ Sozialismus verabschiedet hatte. Schon 1914 hatte die SPD – ebenso wie die meisten anderen sozialistischen Parteien in Europa – die Idee der internationalen „proletarischen“ Solidarität aufgegeben. Doch die Repression allein konnte den revolutionären Druck nicht abbauen. Um dem in Russland aufblühenden „Arbeiterparadies“ etwas entgegensetzen zu können – hatten sich doch dort die Proletarier beeindruckende soziale Leistungen erkämpft – musste ein demokratisches und „liberales“ politisches System errichtet werden, gegründet einerseits auf das allgemeine Wahlrecht – das schon Bismarck akzeptiert hatte – andererseits auf die Rechenschaftspflicht des Kabinetts gegenüber dem Reichstag und das Verhältniswahlrecht. Zusätzlich mussten noch über die bismarckschen Reformen hinausgehende soziale Fortschritte angekündigt werden, z.B. der Achtstundentag und die Arbeitslosenversicherung. Im „neuen“ Deutschland der Nachkriegszeit, der demokratischen und liberalen Weimarer Republik, spielten die bis dahin machtlosen Sozialisten jetzt also eine aktive Rolle – und nicht nur sie, sondern auch die ganz neuen Kommunisten der KPD, der Kommunistischen Partei Deutschlands, was in den Augen der konservativen Eliten noch viel schlimmer war. Im Gegensatz zu den Sozialdemokraten waren die Kommunisten den Idealen der Revolution und des sozialistischen Internationalismus treu geblieben und orientierten sich an den Ideen der Bolschewiken. Die (groß)bürgerlichen Parteien, Interessenvertretung der traditionellen deutschen Eliten, also die Deutsche Volkspartei (DVP), hervorgegangen aus der Nationalliberalen Partei, welche vor dem Krieg Bismarck

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gestützt hatte, und die Deutschnationale Volkspartei (DNVP), waren beide erzkonservativ und konnten trotz ihres Parteinamens bei den Wahlen mit den Sozialisten und den außerordentlich erfolgreichen Kommunisten nicht mithalten; sie konnten nur einen sehr geringen Teil des „Volkes“ für ihre Sache gewinnen. Zu ihrem Glück fanden sie politische Partner in der sozialreformistischen SPD, in einer Reihe kleinbürgerlich-„liberaler“ Parteien und in der großen (konservativen) katholischen Zentrumspartei, der Vorläuferin der heutigen Christlich-Demokratischen Union (CDU). Außerdem hatten in der Weimarer Republik auch die Gewerkschaften ein Wörtchen mitzureden. Mit großem Widerwillen sahen sich die Unternehmer gezwungen, die Wünsche ihrer Arbeiter hinsichtlich der Entlohnung, der Arbeitszeiten etc. zu berücksichtigen, und ihnen wurden „Sozialabgaben“ auferlegt, die sie keinesfalls zahlen wollten10. Der deutsche Historiker Ludolf Herbst vergegenwärtigt uns die Einstellung der Industriellen zur Weimarer Republik:

„Die Sozialpolitik sei nicht genügend an der Leistungskraft der Wirtschaft orientiert, die Steuerpolitik im Begriff, die Sozialisierung auf kaltem Wege nachzuholen, die Löhne seien zu hoch und die Arbeitzeiten zu kurz. Man beklagte eine fortschreitende Entwicklung zum Fürsorgestaat oder meinte gar konstatieren zu müssen, man lebe in einem „Gewerkschaftsstaat“. (...)innere Distanz zur Demokratie von Industriellen und Managern (...), die im Herzen monarchistisch geblieben waren (...) in ihr kam auch die gefährliche Überzeugung zum Ausdruck, dass die politischen Rahmenbedingungen (in der Weimarer Republik) die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie beeinträchtigten.“11 Und dazu kam noch, dass Deutschland keine Kolonien gewonnen, ja sogar noch Gebiete und Märkte verloren hatte, und dass es nach den Bestimmungen des von Weimar unterschriebenen Versailler Vertrages auch noch Reparationszahlungen an Frankreich und Belgien leisten musste. Deutschland sah sich einem finanziellen Aderlass ausgesetzt, für den natürlich auch die Industrie zur Kasse gebeten wurde. Von daher kann es kaum verwundern, dass die deutschen Industriellen das liberaldemokratische System von Weimar verachteten und von einem autoritären und militaristischen Regime träumten, vorzugsweise unter Führung eines „starken Mannes“ mit der gleichen Sicht der Dinge wie sie. Ein Diktator dieses Zuschnitts hätte den deutschen Arbeitern die nötige eiserne Disziplin abver-

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langt und wäre bereit gewesen, im geeigneten Moment einen „Revanchekrieg“ anzuzetteln, einen Krieg, der die expansionistischen Träume der Großunternehmer wahr machen würde. Dieser Krieg, so ihre inbrünstige Hoffnung, würde zur totalen Vernichtung der Sowjetunion führen, des Inbegriffs der Revolution - des Staates, der für die kommenden Revolutionäre ihres eigenen Landes Inspirationsquelle und erstrebenswertes Vorbild war. Aber wo war ein solcher „starker Mann“ zu finden? Man meinte, sich auf die Armee verlassen zu können. Die Generäle, mehrheitlich von Adel, vertraten die Interessen der Großgrundbesitzer, welche Demokratie und Sozialismus genauso verabscheuten wie die Industriellen. Sie assoziierten beides mit billigen Brotpreisen, also mit billigem Weizen, den sie selbst produzierten, außerdem mit drohenden Agrarreformen zugunsten der Kleinbauern. Tatsächlich putschten schon 1920 zwei hochrangige Offiziere, Wolfgang Kapp und Walther von Lüttwitz, mit Unterstützung der meisten Militäreinheiten. Angesichts des Militäraufmarsches verließ die Regierung überstürzt Berlin. Der „Kapp-Putsch“ scheiterte jedoch am Ende, denn die Sozialisten der SPD und die Kommunisten der KPD reagierten mit einem Generalstreik, der das Land zum Stillstand brachte. Die Putschisten gingen ruhmlos ins Exil, und die Armee zog sich in die Kasernen zurück. Damit hatte sich gezeigt, dass die Errichtung einer Diktatur nicht so einfach war wie anfangs gedacht, dass man ganz im Gegenteil eher von einem höchst riskanten Unterfangen sprechen konnte, hätte doch die gemeinsame Intervention von SPD und KPD auch eine tatsächliche Revolution auslösen können12.

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