Das Haus des Raben Sascha Schmitz
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Das Haus des Raben Sascha Schmitz
Copyright © 2013 – Verlag: Das neue Licht Verlag Das Neue Licht / Jim Humble Verlag Graafseweg 199, 6531 ZR, Nijmegen www.dasneuelicht.com www.jimhumbleverlag.com Erste Auflage: November 2013 ISBN: 9789088790768 Print-Ausgabe ISBN: 9789088790775 Ebook-Ausgabe Cover: Isis Sousa Layout: Leo Koehof Autor: Sascha Schmitz
Die Vervielfältigung und/oder (digitale) Speicherung von Teilen dieser Ausgabe bzw. deren Veröffentlichung durch Druck, Mikrofilm, Bildaufnahmen oder auf sonstige Weise, sei es chemisch, elektronisch oder mechanisch, bedarf immer der vorherigen, schriftlichen und ausdrücklichen Zustimmung des Verlegers.
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Einleitung Unsere Geschichte spielt in den Nordlanden. Heute bezeichnen wir diese Region häufig zusammenfassend als Skandinavien, obwohl dieses Fleckchen Erde aus mehreren Ländern besteht. Zur Zeit, in der unsere Handlung spielt, lebten die Menschen in Gehöften und Siedlungen, manchmal nah beieinander – manchmal viele Tagesreisen voneinander entfernt in diesem rauen zerklüfteten und unendlich schönen Land. Die Einwohner waren stolze und mutige Menschen von gesunder und kräftiger Statur, die den oft derben Wetterbedingungen hier fröhlich ins Gesicht lachten. Sofern es die Beschaffenheit des Bodens zuließ, betätigten sich viele von ihnen als Bauern, andere wiederum versorgten ihre Familien als Jäger, Fischer oder auch Händler, falls sie das Glück hatten, nützliche und notwendige Waren zum Verkauf oder Tausch anbieten zu können. Jedes dieser, nennen wir sie Dörfer, hatte seinen eigenen Anführer, meistens König genannt, dem Wohlergehen und Sicherheit seiner Untergebenen und Gefolgsleute am Herzen lagen. Doch die Zeiten waren nicht immer von Glück und Wohlstand geprägt. Misserfolge konnten die Existenz eines ganzen Dorfes vernichten. So waren sie nicht selten gezwungen, Krieg mit ihren Nachbarn zu führen, um Land, Macht oder eines viel banaleren Grundes wegen: Nahrung. Eines Tages machte sich einer der ihren auf, das Land zu erobern und das Volk zu unterwerfen, um fortan alles und jeden zu beherrschen. Obgleich von minderer Herkunft, sollte er schon bald Meister über das Schicksal sämtlicher Kreaturen unter dem Firmament sein. Zumindest für den Augenblick eines Wimpernschlages im Angesicht der Zeit.
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Die Geschichte Es war eine sternenklare Nacht. Das Mädchen lag, wie so oft in diesen lauen Sommernächten, etwas abseits des Dorfes rücklings im Gras und versuchte, mit der unerschöpflichen Ausdauer eines zehnjährigen Kindes diese funkelnden Punkte am Himmel zu zählen. Früher, als sie noch ganz klein gewesen war, hatten sie ihre zwei älteren Brüder ohne Wissen der Eltern hierher mitgenommen und mit ihr zusammen diesen herrlichen Anblick genossen. Nun, da die Brüder bereits halbe Männer waren, und sich mehr für Kämpfe und das andere Geschlecht interessierten, kam sie alleine her. Irgendwie spürte sie, dass es heute für lange Zeit das letzte Mal sein würde. Im Schutz der Dunkelheit kamen die Männer leise durch den Wald am anderen Ende des Dorfes heran geschlichen. Ihre Körper waren in Fell und Leder gehüllt, ihre Gesichter mit Dreck oder einer anderweitigen Kriegsbemalung bedeckt, sodass sie nicht leicht zu entdecken waren. In den Händen hielten sie Äxte, Schwerter, Pfeile und Bogen. Furchterregende Mordwerkzeuge, die keinen Zweifel daran ließen, wozu sie geschaffen waren und gleich verwendet werden sollten: Zu töten! Das Dorf schlief friedlich. Ab und zu hörte man das Winseln eines Hundes oder das Schnauben eines Pferdes. Am Rande des Dorfes gab es in regelmäßigen Abständen Wachfeuer mit dazu gehörigen Posten, In der Mitte stand ein Wachturm mit einer über einen fünf Fuß großen und an zwei starken Seilen aufgehängten Metallplatte als Gong - um die Bewohner frühzeitig vor Überfällen warnen zu können. Früher war das nicht nötig gewesen, doch mittlerweile waren derartige Sicherheitsmaßnahmen nötig. Es waren düstere und brutale Zeiten angebrochen. Immer öfter hatten reisende Händler von Überfällen auf andere Dörfer erzählt, die regelrecht überrannt und deren Bewohner vor die Wahl gestellt wurden, sich zu unterwerfen oder zu sterben. Anfangs lagen diese Dörfer noch weit entfernt, doch nach und nach kamen die Überfälle immer näher. Es war nur noch eine Frage der Zeit, wann sie selbst an der Reihe wären. Also ließ der Vater des Mädchens, seines Zeichens König des Dorfes, Wachen aufstellen, um vor einem überraschenden Überfall geschützt zu sein. Bereits eine Handvoll kleinerer Übergriffe hatte man so schon abwehren können. Doch diese Nacht sollte anders verlaufen. Nachdem sie einen kleineren Übergriff am Abend abwehren konnten und im Anschluss ausgelassen gefeiert hatten, lagen die meisten Männer und 4
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Frauen trunken vom Met in ihren Betten oder schliefen dort, wo sie gerade umgefallen waren. Niemand rechnete damit, noch am gleichen Tag ein zweites Mal überfallen zu werden. Genau das war der Plan, den sich Ragnar, der Anführer der heran nahenden Männer, erdacht hatte. Er war ein erfahrener und brutaler Krieger, der den König seines eigenen Dorfes durch einen seiner Gefolgsleute hatte ermorden lassen, um dessen Thron und Krone an sich zu reißen. Sein Hunger nach Macht war so groß, dass er Dorf um Dorf überfiel und unter seine Herrschaft zwang. Kaum hatte er eines unterjocht, trieb ihn eine unsichtbare Kraft zum nächsten voran. Sein Ziel war die Schaffung eines riesigen Reiches mit ihm selbst als Herrscher, und da er ebenso verschlagen wie skrupellos war, kam ihm jedwedes Mittel zur Durchführung seines Vorhabens gelegen. Nun stand er mit etwa hundert Kriegern am Waldrand dieses Dorfes, das bereits mehrere kleinere Angriffe seiner Männer abgewehrt hatte. Alles war so geschehen, wie er es geplant hatte. Die erfolglosen Angriffe, die Ragnar befohlen hatte, das daraus entstandene trügerische Gefühl der Sicherheit unter den Dorfbewohnern sowie das Kalkül menschlicher Schwächen wie Neid und Habgier, die sich stets als starke Verbündete erwiesen hatten. Und ein solcher Verbündeter stand jetzt direkt neben ihm. Ein Mann von großer und kräftiger Statur, ebenfalls Krieger, der jedoch anders als der Eroberer und dessen Männer in eine Kutte gekleidet war, deren Kapuze er weit über den Kopf gezogen hatte, um sein Gesicht zu verbergen. Ja, dieser Mann war in der Tat einer der mächtigsten Verbündeten, die Ragnar während seines bisherigen Eroberungszuges an seiner Seite gehabt hatte. Trotzdem würde er ihn ständig im Auge behalten, und keinesfalls den Fehler begehen, ihn zu unterschätzen. Erst einmal würde er seine Hilfe bei der möglichst kampflosen Eroberung dieses Dorfes in Anspruch nehmen. Danach würde man weitersehen. Obwohl Ragnar anfänglich vollkommen gleichgültig war, wie viele seiner Krieger während seines Eroberungskampfes starben, war ihm doch klar, dass er mit stetig wachsendem Reich auch eine große Anzahl treuer Männer zu dessen Regierung und Verteidigung brauchen würde. Darum musste er versuchen, unnötige Verluste zu vermeiden und setzte stattdessen auf Angst und Abschreckung. Bei besonders hartnäckigem Widerstand eines Dorfes ließ er es nach der Einnahme komplett niederbrennen und bis auf eine Frau alle Personen töten. Diese Überlebende schickte er mit der Aufgabe in das nächstgelegene Dorf, von den Geschehnissen zu berichten, und somit Angst und Schrecken zu verbreiten. 5
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Hier sollte es aber anders laufen, dafür hatte sein Verbündeter schon gesorgt. Als er vor Wochen bei ihm aufgetaucht war, um Ragnar einen Plan zu unterbreiten, hatte dieser sofort an eine Falle gedacht, und wollte den Fremden auf der Stelle hinrichten lassen. Nachdem er sich jedoch dessen Plan aufmerksam angehört und eingehend bedacht hatte, wollte er ihn sich zunutze machen. Immerhin war er sehr genau durchdacht und versprach schnellen Erfolg. So stand Ragnar nun hier mit seinen Männern und sah zu, wie der Kapuzenmann aus dem Schutz der Bäume heraus trat und in Richtung eines der Wachfeuer ging. Der Posten sah in eine andere Richtung und der Kapuzenmann konnte sich unbemerkt immer weiter nähern. Als er auf wenige Faden an den Wachposten herangekommen war, steckte er die rechte Hand unter seine Kutte, ergriff das Heft seines Schwertes und holte es hervor. In diesem Moment wurde er von dem Posten bemerkt. Nach kurzem Zögern erkannte dieser das Schwert, nickte, nahm eine Fackel und entfachte sie im Feuer, um ein vorher vereinbartes Zeichen zu geben. Als er die Fackel langsam in Richtung der anderen Wachfeuer über seinem Kopf hin und her schwenkte, bis es diese in gleicher Art und Weise erwiderten, trat der Trupp der Angreifer aus dem Wald und schwärmte schnell und leise über die Wiese zum Dorf hin aus. Von den sich bewegenden Feuern in ihrer Sternenzählung abgelenkt, sah das Mädchen viele schwarze Punkte vom Wald aus zum Dorf hin laufen. Mein Vater hat weder Krieger ausgeschickt, noch erwarten wir welche, dachte sie bei sich. Das muss ein neuer Überfall sein! Sie sprang auf, ihr Herz begann wie verrückt zu schlagen und Gedanken rasten wild durch ihren Kopf.
Was nun? Schon oft hatte sie gelauscht, wie sich die Erwachsenen abends an den Lagerfeuern alte Kriegsgeschichten erzählt hatten. Sie stellte sich vor, selbst eine heldenhafte Kriegerin zu sein und ihre Familie und ihr Dorf gegen Feinde zu verteidigen. Aber die Realität sah ganz anders aus. Sie konnte nur zusehen, wie die Männer von Haus zu Haus schlichen und kaum auf Gegenwehr stießen, als plötzlich ihre Mutter aus dem Haus ins spärliche Licht des großen Lagerfeuers in der Dorfmitte trat. Auf der Suche nach ihrer Tochter erblickte sie die sich nähernden Krieger und gab sofort Alarm. In der Sekunde nach ihrem Warnschrei streckte sie der Wachposten auf den Turm mit einem Pfeil nieder, und sie sackte schwer verwundet zusammen.
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Obwohl der Schrei nur kurz war, hatte er doch ausgereicht, um das restliche Dorf zu warnen. Die Krieger traten mit ihren Waffen aus den Häusern und wurden fast im selben Augenblick zum Kampf gestellt. Einige der Frauen und Kinder konnten von den Häusern weg über die Felder fliehen … in Richtung der jungen Zuschauerin. Die Dorfbewohner waren bereits ein Stück von ihren Hütten entfernt, als die Angreifer die Flucht bemerkten und sich daran machten, sie wieder einzufangen. Der König und seine zwei Söhne - ihr Vater und ihre Brüder - traten aus dem Haupthaus und töteten viele der angreifenden Feinde, bis sie schließlich von einer Übermacht umzingelt wurden. Die drei machten sich gerade bereit, in einem letzten Kampf zu sterben und in Walhall einzuziehen, als die Angreifer einen schmalen Korridor bildeten, durch den zwei Männer gingen, von denen einer einen seltsamen Kapuzenmantel trug. Da ihr beide den Rücken zudrehten, und viel zu weit entfernt waren, konnte das Mädchen nicht erkennen, um wen es sich bei diesen Männern handelte. Als die beiden Männer vor ihrem Vater standen, wurde sie jäh von lautem Keuchen und schnellen Schritten in ihrer Beobachtung abgelenkt. Von links bewegte sich eine der älteren Frauen aus dem Dorf geradewegs auf sie zu. Sie war nur noch wenige Fuß entfernt, als die Alte sie bemerkte, abrupt stehen blieb und ihr mit tränenden Augen zuflüsterte: »Lauf weg, Kind. Bring dich in Sicherheit.« Widerwillig gehorchte sie. Nachdem sie sich in den nahe gelegenen Wald geflüchtet hatte und sich im Unterholz verstecken wollte, hörte sie die Stimmen der Verfolger hinter sich. Scheinbar hatten sie sie bemerkt und wollten auch sie einfangen. Die Männer kamen ihr immer näher, und so nahm sie all ihren Mut zusammen und zwängte sich kniend durch ein dichtes Gestrüpp von Beerensträuchern, deren Dornen sich durch die Kleidung in ihr Fleisch bohrten. Sie wusste, dass jeder Laut sie verraten und den Verfolgern ausliefern würde. Also unterdrückte sie den Schmerz und kroch immer tiefer in die Sträucher. Dann hörte sie, wie ihre Verfolger von einem anderen Mann zurückgerufen wurden und verschwanden. Das ist meine Chance, dachte sie sich. Sie war am anderen Ende des Gestrüpps angekommen, keiner war mehr hinter ihr her und sie konnte erst einmal Luft holen. Sie versuchte, auf Geräusche aus der näheren Umgebung oder dem Dorf zu lauschen, doch nach und nach wurde es immer leiser, bis schließlich nichts mehr zu hören war. 7
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Was soll ich jetzt machen? Zum Dorf zurückgehen, mich weiterhin verstecken oder zum Nachbardorf laufen? Sie konnte sich nicht entscheiden, also blieb sie hinter den Sträuchern sitzen und überlegte. Nachdem einige Minuten vergangen waren, hörte sie vom Dorf her leises Johlen, doch sie konnte sich keinen Reim darauf machen. Es verging eine längere Zeit; inzwischen war es früh am Morgen und schon hell, als sie Schritte wahrnahm, die sich ihr leise und langsam näherten. Das Mädchen kroch noch tiefer in das Gestrüpp und wartete, als ein Mann an ihr vorbei schlich, stolperte und hinfiel. Da er einen Pfeil in der linken Schulter und mehrere Schnittwunden am Körper hatte, konnte es nur jemand aus ihrem Dorf sein. Es kann nur ein Freund sein! Kriechend kam sie aus dem Gestrüpp und ging auf den am Boden liegenden Mann zu. Als sie ihn erreicht hatte, hob dieser den Kopf, um sie anzusehen. Sie erkannte ihn, es war der Bruder ihres Vaters, es war ihr Onkel Hjörward. * Ragnar schritt langsam durch die säulenverzierte Halle des Versammlungshauses auf den Thron seines besiegten Gegners zu und nahm dort seinen Platz als neuer König ein. Er freute sich über den relativ einfachen Sieg. Seine Freude hätte aber noch größer sein können, wenn ihm nicht dieser Fehler unterlaufen wäre. Und dabei hatte er sich doch so fest vorgenommen, genau diesen zu vermeiden. Zum ersten Mal dachte er darüber nach, ob und welche Konsequenzen daraus entstehen könnten. Während seine Krieger den schon gewohnten Erfolg ausgiebig feierten, legte sich eine kleine dunkle Wolke auf Ragnars Gedanken, ließ den Glanz seines Sieges verblassen. Eine böse Vorahnung keimte in ihm. * Anna freute sich sehr, ihren Onkel zu sehen, denn er würde wissen, was zu tun war. Als er seine Nichte erblickte, weiteten sich seine Augen einen Moment vor Überraschung, dann lächelte er sie an. Ihm war nicht klar, wie viel sie von den Geschehnissen der letzten Nacht wusste, doch er war verletzt und konnte ihre Hilfe und Gesellschaft somit gut brauchen. Nachdem er ein schmerzverzerrtes: »Wir müssen hier weg«, hervorgebracht hatte, erhob er
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sich langsam, nahm sie bei der Hand und schlug eine Richtung ein, die beide weit vom Dorf weg führen sollte. Sie waren schon mehrere Stunden so marschiert, in denen sie immer häufiger Pausen einlegen mussten, als Hjörward inne hielt, um auf die Geräusche der Umgebung zu lauschen. Er wurde das Gefühl nicht los, dass sie beobachtet und verfolgt wurden. Doch wer kann das sein? Es muss ein Fremder sein, feindliche Krieger hätten uns sofort gestellt und gefangen genommen. Während sie vorsichtig weiter gingen, überlegte Hjörward, wie er den Verfolger in eine Falle locken könnte. * Es war schon ein merkwürdiger Anblick. Normalerweise verirrte sich nur selten jemand in diesen abgelegenen Teil des Waldes, ihres Waldes. Aber nun stolperte ein verwundeter Krieger mit einem kleinen Mädchen über ihren Weg. Sie war Wylef, die alte Hexe des Waldes. Eine Kräuterfrau, die seit Jahrzehnten ganz allein tief im Wald lebte und nur Besuch bekam, wenn jemand aus einem Dorf etwas von ihr wollte. Man erzählte sich, sie sei mit bösen Mächten im Bunde und nicht ganz richtig im Kopf, und jeder sollte sich deshalb vor ihr fürchten. Eigentlich war ihr das recht, denn so konnte sie ungestört ihrem Tagwerk nachgehen. Nur hin und wieder kam jemand ängstlich fragend nach einem Heiltrank oder einem Rat zu ihr, verschwand danach aber noch schneller als er gekommen war, was ihr jedes Mal ein kleines Schmunzeln entlockte. Diese
beiden Eindringlinge sehen jedoch nicht nach Besuchern, sondern viel mehr nach Ärger aus. Sie entschloss sich, noch ein bisschen in Deckung zu bleiben und zu beobachten, was die Störenfriede im Schilde führten. * Die Zeit war gekommen, die Dorfbewohner vor die Wahl zu stellen, Leben oder Tod. Wie bei den meisten seiner bisherigen Eroberungen wollte Ragnar auch hier Untertanen, die seine Felder bestellten, ihm Tribut zahlten und notfalls auch für ihn kämpften. Er schritt aus dem Versammlungshaus hinaus auf den Dorfplatz, wo seine Krieger bereits alle Überlebenden zusammengetrieben und umzingelt hatten. Diesmal gab es wenig Tote, was nicht zuletzt ein Verdienst seines Verbündeten gewesen war. Mein Verbündeter, schon wieder 9
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kreisten seine Gedanken um ihn. Ich muss ihn finden. Meine Zukunft als Herrscher über das Dorf hängt davon ab, diesen Mann zu beseitigen. Doch das konnte noch ein wenig warten. Zuerst musste das Dorf unterworfen werden, danach konnte er sich auf die Suche machen. Weit dürfte er nicht gekommen sein, schließlich war er verletzt und allein. Der König ging bedächtig auf die am Boden sitzenden Besiegten zu, und blieb wenige Fuß vor ihnen stehen. Vier Männer seiner Leibwache standen, jeweils zwei auf einer Seite, etwa eine Schwertlänge hinter ihm, bereit, jeden Angreifer sofort zu töten. »Ich bin Ragnar«, sagte er, »König über viele Dörfer und nun auch über eures. Unterwerft euch mir und ihr werdet leben. Ansonsten sterbt.« Der Klang seiner dunklen Stimme und die ruhige Aussprache verliehen seinen Worten den gewollt harten und unerbittlichen Ausdruck. Mehrere Minuten vergingen, als schließlich einer der ältesten Bewohner seine Stimme erhob, und Ragnar nach einer Garantie fragte. Einer Garantie, das Dorf zu verschonen, wenn man sich ihm unterwerfen würde. »Ich gebe euch mein Wort als euer König«, erwiderte er zornigen Blickes. Der alte Mann willigte schweren Herzens ein. Auch wenn dies bedeuten würde, dass sie von nun an Sklaven eines brutalen und machtgierigen Herrschers sein würden, wäre dieses Übel doch das kleinere. Der König würde mit der Mehrzahl seiner Krieger bald zur Eroberung des nächsten Dorfes weiterziehen, und dann könnte man in Ruhe zu Kräften kommen und das weitere Vorgehen beratschlagen. Jetzt galt es erst einmal, klug zu handeln und nicht sinnlos zu sterben. * Anna war inzwischen mit ihrem Onkel an einem kleinen Bach angekommen. Hjörward setzte sich auf einen nahe gelegenen umgestürzten Baumstamm, während das Mädchen ein Stück ihres Kleides abriss und zum Bach ging. Dort tauchte sie den Stofffetzen in das kalte Wasser und bewegte sich gerade auf ihren Onkel zu, als sie im Gebüsch hinter ihm eine Gestalt entdeckte. Ihr Schrei ließ Hjörward herumfahren. Mit gezogenem Schwert auf das Gebüsch zugehend, forderte er die Gestalt auf, sich zu erkennen zu geben. »Ich bin niemand, nur eine alte Frau aus dem Wald«, erwiderte Wylef und trat aus dem Gebüsch hervor. Sie war in erd- und waldfarbene Gewänder gekleidet, in ihren Haaren befanden sich eingeflochtene Zweige und Moose, und ihr Gürtel war mit seltsamen Tierknochen und kleinen Stoffsäckchen 10
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verziert. Ihr Gesicht war mit Runzeln durchzogen, doch ihre Augen funkelten noch wie die eines jungen Mädchens. Nachdem Hjörward sie erkannt und sein Schwert weggesteckt hatte, kam die Alte näher und bot an, seine Wunden zu versorgen. Während sie sich der Schnittverletzungen annahm, hörte Wylef interessiert Annas Schilderungen der vergangenen Nacht zu. Auch Hjörward lauschte aufmerksam, konnte er doch auf diese Weise herausfinden, wie viel Anna tatsächlich wusste. Als sie bei der Stelle ankam, wo sich die beiden begegnet waren, wurde ihm klar, dass ihn die Kleine nicht gesehen und nichts über seine Rolle während der Geschehnisse der vergangenen Nacht mitbekommen hatte. Die alte Kräuterfrau war von den Erzählungen so entsetzt, dass sie Anna und ihrem Onkel anbot, vorerst mit zu ihrem Lager zu kommen. Hjörward wies sie darauf hin, dass es für sie sehr gefährlich werden könne: „Wir sind beide Angehörige der königlichen Familie. Die Angreifer suchen sicherlich nach uns.“ Doch das bestärkte Wylef nur in dem Willen, ihnen zu helfen. So machten sie sich zu dritt auf den Weg ins Lager der alten Heilerin. Obwohl der Weg dorthin beschwerlich war, und es in Strömen zu regnen begonnen hatte, kamen sie doch gut voran. Endlich angekommen, wies die Alte Hjörward an, sich auf einen quaderförmigen Felsen zu setzen, damit sie den Pfeil aus seiner Schulter entfernen konnte. »Hätte ich das bereits am Bach erledigt, wäre die Wunde großer Wahrscheinlichkeit nach während des anstrengenden Weges ins Lager wieder aufgebrochen und hätte starken Blutverlust, vielleicht sogar deinen Tod nach sich ziehen können«, sagte sie. Wylef schürte das Lagerfeuer, und legte ein Messer mit der Spitze hinein, um später die Wunde damit ausbrennen zu können. Während sich die Klinge langsam erhitzte, nahm sie ein zweites Messer, und schnitt damit die Kleidung um die Verletzung herum auf. Anna saß neben ihr, achtete mit großen Augen genau auf jede ihrer Bewegungen. Vielleicht kann ich dieses Wissen irgendwann brauchen, dachte sie sich. Als Hjörward seinen entblößten Oberkörper aufrichtete, war es soweit. Die Heilerin stand hinter ihm, ergriff den Schaft des Pfeils so nah wie möglich am Körper, und zog ihn mit einem kräftigen Ruck heraus. Ein dumpfes Grummeln, ähnlich dem Knurren eines Bären, entwich Hjörwards Mund. Nachdem Wylef die Verletzung mit klarem Wasser ausgewaschen und von Verschmutzungen gereinigt hatte, musste die Wunde nun verschlossen werden, um die Blutung zu stoppen. Dazu nahm die alte Frau das Messer aus dem Feuer, prüfte, ob die Klingenspitze heiß genug war, und presste sie auf 11
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die Wunde. Hjörward zuckte leicht zusammen, als Rauch und der Geruch verbrannten Fleisches in ihre Nasen stieg. Igitt! Ein Geruch, den Anna nicht so leicht wieder vergessen würde. Die schlimmste Wunde war jetzt versorgt, und die Kräuterfrau zeigte ihr, wie sie die übrigen Schnittwunden mit Hilfe von Moosverbänden behandeln konnte. Nach einiger Zeit, die Anna endlos schien, waren alle Verletzungen versorgt und die Dämmerung bereits dem dunklen Mantel der Nacht gewichen. Anna und ihr Onkel legten sich zum Schlafen hin. Die alte Wylef sollte jedoch noch länger wach bleiben, um über die Geschehnisse und ihre beiden Besucher nachzudenken. Auch wenn ihre Hilfe und Heilkunst hier benötigt wurde, durfte sie doch nicht leichtsinnig werden. Ihre Intuition mahnte sie zur Wachsamkeit. Als Anna am folgenden Tag erwachte, schlief ihr Onkel noch. Sie stand auf, um sich nach der alten Frau umzusehen, doch die war nicht mehr im Lager. Neugierig wie sie war, beschloss Anna, die fremde Umgebung zu erkunden. Wylefs Lager war genau so, wie man es sich wahrscheinlich in Gedanken ausmalen würde, merkwürdig und geheimnisvoll. Sie befanden sich inmitten eines dunklen Waldes auf lag einer kleinen, etwa achtzig Schritte im Durchmesser messenden Lichtung, deren Boden sich nach Norden hin leicht erhob. Zwischen einer Ansammlung kleiner Felsen stand ein richtiger Brocken, gut sechs erwachsene Männer hoch und fast fünfzig Schritte breit, der auf seiner Rückseite weit in den Wald hinein reichte. Das Gestein schien schräg aus der Erde zu wachsen, denn es fiel nicht senkrecht ab, sondern formte einige Handbreit über Kopfhöhe eines aufrecht darunter stehenden Mannes eine Art Überhang, unter dem sich Wylef auf einer Fläche von circa acht mal zehn Schritten eingerichtet hatte. Überall standen Krüge mit merkwürdig riechenden Inhalten, lagen Kräuter oder hingen an langen Seilen vielerlei Tierfelle und merkwürdige Gegenstände, die Anna noch nie in ihrem Leben zu Gesicht bekommen hatte. In der Nähe der Feuerstelle war ein beachtlicher Vorrat an Feuerholz, und daneben stand dieser quaderförmige Stein, auf dem Hjörward gestern gesessen hatte, als ihm Wylef den Pfeil entfernt und seine Wunden versorgt hatte. Obwohl der Unterschlupf nach vorne hin offen war, boten Felsen, Bäume und dichtes Strauchwerk auf beiden Seiten des Überhanges Schutz vor Wind und Wetter. Ein komisches Zuhause, dachte Anna bei sich. Warum mag die Alte nicht in einer normalen Hütte wohnen, wie es alle anderen auch tun? Das Mädchen verließ das Lager und wandte sich in Richtung Norden, um den großen Felsen 12
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herum. Hier wollte sie nach einer Möglichkeit suchen, hinauf zu klettern, um einen besseren Blick über das Gelände zu haben. Der Felsen hatte aber scheinbar etwas dagegen, dass kleine Kinder auf ihm herumhüpften, denn er war hier überall recht steil, und bot Anna keine Chance auf eine erhöhte Aussicht. Mit einer Mischung aus Enttäuschung und Wut kehrte sie ihm den Rücken zu, als sie am Waldrand einen kleinen Hasen im Gras sitzen sah, der gleich darauf in den Wald hoppelte. Eigentlich hätte sie ihn verfolgt, wenn nicht in dem Moment die alte Wylef, mit zwei großen, und offensichtlich schweren Krügen in den Händen, links von ihr zwischen den Bäumen heraus gekommen wäre. Anna lief auf sie zu, um ihr mit der schweren Last zu helfen. Da sie aber noch viel zu klein war, gab ihr Wylef das Bündel Kräuter, das sie im Wald gesammelt hatte und bisher in einem kleinen Stoffsack verstaut um ihre Hüfte gebunden mit sich trug. Als die beiden ins Lager zurückkamen, sahen sie, dass Hjörward inzwischen aufgewacht war. Während sich Anna und die alte Kräuterhexe an die Zubereitung des Essens machten, drehten sich Hjörwards Gedanken mehr um Ragnar und die Frage, wie er sich an ihm rächen könnte. Er ging davon aus, hier im Lager so tief im Wald zumindest eine Zeitlang vor Entdeckung sicher zu sein, aber sobald er wieder richtig würde laufen können, sollten sie sich an einem anderen Ort niederlassen. Da sind doch diese Höhlen weit oben im Gebirge, errinerte er sich dunkel. Ein gutes Versteck. * Die drei beschäftigten sich mit der Nahrungsaufnahme, als Ragnar zur gleichen Zeit im neu eroberten Dorf Besuch bekam. Die Kunde seines Sieges war dem Winde gleich über das Land geeilt, und seine Frau Skuld kam auf seinen Befehl hin mit vier Drachenbooten samt Kriegern, um seine Söhne zu bringen. Obgleich er mit vielen Frauen das Lager geteilt und Kinder mit ihnen hatte, waren es doch nur die beiden Söhne Gunnar und Einar, die sein Herz erfreuten. Gunnar, der Erstgeborene, war zwölf Jahre alt und bereits jetzt ein kräftiger Bursche, viel größer und stärker als normale Kinder dieses Alters. Er hatte lange, blonde Haare und Augen so blau wie der Himmel eines strahlenden Sommertages. Sein Herz war so mutig wie das eines großen Kriegers und sein Wissensdurst der eines Forschers und Entdeckers. Ragnar war sich sicher, dass er einmal seinen Thron erben würde. Einar dagegen war Skulds 13
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leiblicher Sohn und das genaue Gegenteil. Zwei Jahre jünger als Gunnar, klein, schmächtig und ängstlich. Seine dunklen Haare erinnerten eher an das Fell einer schwarzen Katze, seine Augen an die Eingänge finsterer Höhlen, in die kein Tageslicht drang. Die beiden waren unterschiedlich wie Tag und Nacht, sodass einem Betrachter der Eindruck entstehen musste, einer wäre die Verkörperung alles Guten, der andere hingegen die alles Schlechten. Trotzdem waren beide noch jung. Wer kann schon sagen, was die Zukunft bringt, dachte Ragmar? Jetzt war erst einmal der Moment gekommen, mit den zweien das Dorf zu erkunden und sich einen genauen Eindruck zu machen. In den kommenden Tagen würde der neue König die Aufgaben des Dorfes verteilen und die Höhe der Abgaben festlegen. Ragnar prüfte gerade den Zustand der umliegenden Felder, als eine Gruppe Krieger an ihn herantrat. Es war eine von ihm handverlesene Schar, die sich auf die Suche nach seinem ehemaligen Verbündeten machen, und ihn tot oder lebendig ins Dorf zurück bringen sollte. Dies war eine Aufgabe, die er unbedingt erledigt haben wollte. Ich muss Gewissheit haben, sonst finde ich keine Ruhe. Ragnar schickte sie auf die Suche und blickte ihnen einen Augenblick lang geistesabwesend hinterher, bevor er sich mit den Jungs auf den Rückweg ins Dorf machte. Der Abend nahte, und er wollte seinen Magen noch mit einer guten Portion Fleisch und noch mehr Met füllen. * Auch im Lager stand wieder die dunkle Zeit des Tages bevor. Vom Essen gestärkt, saßen die drei gemeinsam am Feuer und sahen den tanzenden Flammen zu, die vom Knistern des Holzes und aufsteigenden Funken begleitet wurden. Keiner sagte ein Wort, alle waren mit den unterschiedlichsten Gedanken beschäftigt. Anna sinnierte: Was ist wohl aus meinerFamilie ge-
worden? Sind sie verletzt oder sogar tot? Suchen sie in diesem Moment vielleicht nach mir? Sie fand keine Antwort auf diese Fragen. Vorerst würde sie im Ungewissen leben müssen. In ihrer Brust fühlte sie eine große Leere und es war ihr, als legte sich ihr eine unsichtbare Hand um den Hals und schnürte ihr die Kehle zu. Hjörward hatte ganz andere Gedankengänge: Wie habe ich mir nur einbil-
den können, dass Ragnar mir bei der Machtergreifung helfen würde – ohne, dass er diese für sich selbst beansprucht. Nach allem, was mir über Ragnar zu 14
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Ohren gekommen war, hätte ich mit dieser Hinterlist rechnen, mich sogar darauf einstellen müssen. Hjörward konnte sich nicht den Grund erklären, aber er hatte an Ragnar Ehrlichkeit geglaubt. Jetzt kam ihm dieser Gedanke wie ein schlechter Witz vor. Ehrlichkeit in einem Mann wie Ragnar, dessen einziges Trachten das nach Macht und Reichtum war, und der Hindernisse und Mitwisser skrupellos aus dem Weg räumte. Doch was geschehen war, konnte Hjörward nicht mehr rückgängig machen. Er musste sich vielmehr darauf konzentrieren, gesund zu werden und sich eines Tages für den Verrat zu rächen und das Königreich seines toten Bruders zurück zu erobern. Wenn nicht für sich, dann wenigstens für Anna. Die Gedanken der alten Kräuterhexe gingen in eine andere Richtung. Sie wusste von der Sicherung des Dorfes gegen Angreifer. Wie konnte das Dorf
so leicht und fast ohne Gegenwehr überrannt werden? Irgendetwas stimmt hier nicht. Viel beunruhigender war jedoch diese Vision vor einigen Nächten gewesen, in der sie einen Kapuzenmann und eine Menge Feuer und Blut gesehen hatte. Hat es mit dem Überfall auf das Dorf zu tun? Ist es ein Hinweis? Falls ja, worauf? Sie beschloss, sich am folgenden Tag in die Nähe des Dorfes zu begeben, um etwas Genaueres in Erfahrung zu bringen. Doch zuerst war es Zeit zu ruhen. Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass Anna und ihr Onkel bereits schliefen, legte auch sie sich hin und schloss die Augen. Viel-
leicht weiß ich morgen mehr, waren ihre letzten Gedanken. Es war noch sehr früh am Morgen, die Sonne war noch nicht aufgegangen, als sich Wylef auf den Weg ins Dorf machte. Trotz ihres Alters bewegte sie sich sehr flink und leise, und kurz bevor sie fast aus dem Lager raus war, warf sie noch einen kurzen Blick zurück, ob ihr Ausflug auch wirklich nicht entdeckt worden war. Anna und Hjörward schliefen jedoch noch fest. Gut so, dachte sie sich, drehte sich um und ging. Sie hatte einen langen und möglicherweise gefährlichen Weg vor sich, da war es besser, früh loszugehen. Sie war schon drei Stunden unterwegs, da fiel ihr plötzlich diese Ruhe auf.
Es ist vollkommen still, kein Vogel gibt einen Laut von sich, kein Tier ist zu sehen. Das konnte nur bedeuten, dass Fremde in der Nähe waren. Es mussten Männer sein, die nach Anna und ihrem Onkel suchten. Die waren sehr weit vorgedrungen, viel weiter als Wylef gedacht hatte, aber das war eine gute Gelegenheit für sie, vielleicht etwas aus ihren Gesprächen zu erfahren. Also versteckte sie sich hinter einer Ansammlung von Felsen und wartete. Nach einer Viertelstunde tauchten sechs Gestalten verstreut zwischen den Bäumen auf, die sich langsam aber stetig näherten. Sie bewegten sich leise 15
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und vorsichtig durch den Wald, um keine verräterischen Laute von sich zu geben und somit Gefahr zu laufen, entdeckt zu werden. Als sie fast auf gleicher Höhe mit Wylef waren, blieben die Männer stehen, und einer, scheinbar ihr Anführer, gab ein Zeichen, sich zu versammeln. Nachdem sich die anderen fünf um ihn geschart hatten, hockten sich alle hin und begannen leise miteinander zu reden. Die Alte hörte zwar den Klang ihrer Stimmen, konnte aber nur hin und wieder ein klares Wort verstehen, die Männer waren einfach zu vorsichtig. Im Augenblick darauf wurde das Gespräch lauter. Offensichtlich stritten sie sich darüber, ob man weiter suchen sollte. Scheinbar waren sie uneinig. Mittlerweile hatten sich alle erhoben und diskutierten teilweise hitzig über den Sinn einer weiteren Suche, sodass ihre unbemerkte Zuhörerin jedes Wort klar und deutlich verstehen konnte. »Wir haben weit genug gesucht, doch der anhaltende Regen hat inzwischen alle Spuren vernichtet. Außerdem könnte ein verletzter Krieger nicht so weit kommen«, sagten sie. »Möglicherweise ist er in eine andere Richtung geflohen oder sogar von Wölfen oder einem Bären angefallen, getötet oder verschleppt worden.« Der Anführer gebot ihnen zu schweigen, ging ein paar Schritte auf die Felsen zu, und dachte über die Worte der Männer und ihre Lage nach. Dann drehte er sich zu ihnen um, und befahl die Rückkehr.
Was habe ich da gehört? Ein Mitglied der königlichen Familie hat an seinem Bruder Verrat geübt und mit den Feinden zusammen gearbeitet? Und als man ihn beseitigen wollte, konnte er verletzt fliehen? Wylef fuhr der Schreck in sämtliche Glieder. Also hatte sie ihr Gefühl nicht getrogen, es war nicht mit rechten Dingen zugegangen. Der Bruder des Königs und der Mann, dessen Wunden sie versorgt hatte, war ein Verräter. Aber was ist mit der Klei-
nen? Über sie haben die Männer kein Wort verloren. Vielleicht wissen sie nichts von ihr, doch wie lange noch? Während Wylef regungslos hinter den Felsen verharrte und wartete, bis die Verfolger weit genug von ihr entfernt waren, besann sie sich auf ihre eigene Vergangenheit. Auch sie hatte einen dunklen Fleck in ihrem Leben und war auf eine besondere Art und Weise mit dem Königshaus verbunden, was aber schon so weit zurück lag, dass es vollkommen in Vergessenheit geraten war. Nur sehr wenige noch lebende Personen kannten die Wahrheit.
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* Als seine Männer ins Dorf zurückkehrten, wartete Ragnar bereits ungeduldig. Seine Laune verschlechterte sich zusehends, als man ihm erklärte, dass die Jagd nach dem entkommenen Verräter erfolglos verlaufen war. Am liebsten würde ich sie alle wegen Befehlsverweigerung hinrichten lassen, war sein erster Gedanke, aber das hätte nur unnötige Anspannung bei den anderen Kriegern hervorgerufen. Außerdem waren die Wetterbedingungen wirklich nicht sehr gut für eine Jagd gewesen. So beruhigte sich Ragnar, und schickte die sechs weg, um sich Verpflegung zu holen und auszuruhen. Er selbst schritt langsam durch das Dorf und überlegte, in welche Richtungen sich der Geflohene hätte wenden können. Viele Möglichkeiten gab es nicht. Das Dorf lag am Ende eines Fjordes, etwa einhundert Bootslängen hinter einer Biegung, sodass es nicht sofort gesehen werden konnte, sollte jemand in den Fjord hineinfahren. An zwei Seiten von hohen, schneebekrönten Bergen umgeben, waren die Felder am rundlichen Ende des Fjords rings um das Dorf gelegen. Hinter den Feldern begannen die Wälder, durch die man, nach mehrtägiger Reise, zu weiteren kleinen Dörfern oder Höfen kam. Dorthin konnte er es mit seinen Verletzungen nicht schaffen, auch die Berghänge sind zu anstrengend. Möglicherweise hatte er sich in einer nahe gelegenen Höhle versteckt oder war einfach in den Fjord gefallen und ertrunken. Ich muss Gewissheit haben! So beauftragte der König dreißig seiner Krieger, das Umland und die Ufer abzusuchen. * Hjörward war inzwischen etwas zu Kräften gekommen und stand am Ufer eines kleinen, sich östlich des Lagers am Rande der Lichtung durch den Wald schlängelnden Baches, wo er sich Gesicht und Hände wusch. Er hatte nach Anna Ausschau gehalten, doch scheinbar war sie auf Entdeckungstour. Wie der Vater, dachte er sich noch, als er hinter sich Schritte hörte und sich in die Richtung wandte, aus der sie kamen. Erleichtert stellte er fest, dass es sich nur um die alte Kräuterhexe handelte, die hier aus dem Wald heraus auf ihn zu trat. Etwas ist anders. Ein alter Kämpfer wie Hjörward spürte das sofort, konnte an jeder veränderten Geste oder Körperhaltung erkennen, wenn etwas nicht mehr stimmte. Und das war der Fall. Die alte Wylef hatte sich kurz nach Anna umgesehen, und war dann 17
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schnurstracks auf ihn zugekommen. Ihre steife Körperhaltung verriet ihm, dass sie alle Muskeln angespannt hatte und ihn wahrscheinlich angreifen würde. Sie muss es wissen, welchen anderen Grund kann es geben?
Da steht der Verräter, doch wo ist die Kleine? Ich muss sie in Sicherheit wissen, bevor ich ihn anklage, dachte die Alte. Sie schritt auf ihn zu und blieb knapp eine Manslänge vor ihm stehen. Auf ihre Frage, wo seine Nichte sei, erwiderte er, dass sie wohl früh aufgestanden sei und durch die Umgebung streunen würde. Jedenfalls hätte er sie heute noch nicht gesehen. Wylef war unsicher, ob dies auch der Wahrheit entsprach, konnte sich jedoch nicht mehr beherrschen und konfrontierte ihn mit den Aussagen, die sie vor wenigen Stunden von den Verfolgern aufgeschnappt hatte. Hjörward leugnete seine Mittäterschaft nicht, denn er war sich nun darüber im Klaren, dass die Alte Anna gegenüber niemals schweigen würde. Im Bewusstsein, sie nun beseitigen zu müssen, trat er mit einem schnellen Schritt auf Wylef zu, zog einen kleinen Dolch aus dem Gürtel und stieß ihn in ihr Herz. Damit sie keinen Laut von sich geben, und eventuell andere aufmerksam machen konnte, hielt er ihr die linke Hand auf den Mund und bewegte sich mit der sterbenden Frau langsam zu Boden. Als sie leblos da lag, zog er den Dolch aus ihrer Brust, wischte das Blut ab und steckte ihn wieder in seinen Gürtel. Keinen Moment zu früh, denn Anna stand plötzlich neben ihm, Augen und Mund weit aufgerissen. »Nein!«, schrie sie, »was ist mit ihr?« Als sie das Blut und den leblosen Körper sah, wusste Anna, dass Wylef tot war. Doch wie konnte das geschehen, was war passiert? Sie blickte ihren Onkel fragend an. Der unternahm jedoch keinen Versuch, ihr die Situation zu erklären. Wie konnte er auch sofort eine glaubwürdige Antwort liefern? Nachdem er seine Nichte in den Arm genommen hatte, um ihr Worte des Trostes zu spenden, kam ihm einige Momente später wie erhofft die rettende Idee. Ja genau, so werde ich es ma-
chen! * Die Männer kehrten von ihrer Suche nach dem Verräter ins Dorf zurück. Sie hatten das umliegende Gelände bis zum Ufer des Fjords zu Fuß sowie den Fjord selbst mit ihren Drachenbooten abgesucht. Dabei hatten sie nichts entdeckt, weder versteckte Höhlen, noch die Leiche, noch überhaupt irgendeine Spur des Verräters. Er schien einfach verschwunden zu sein. Manche der 18
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Krieger glaubten an Hexerei, andere hingegen dachten, der Körper sei von den Tiefen des Fjordes verschluckt worden. Obwohl die Männer unterschiedliche Erklärungen für die Unauffindbarkeit dieses Mannes hatten, waren sie sich doch alle darin einig, dass er tot sein müsse. Zwar gefiel Ragnar dieser Gedanke, aber ein kleiner Funke der Ungewissheit nagte und bohrte in ihm. Es hätte ihm mehr Gefallen bereitet, seinen ehemaligen Verbündeten leblos zu seinen Füßen liegen zu sehen. Ohne dieses Bild vor Augen hatte er keine Garantie, dass er nicht doch eines Tages wieder auftauchen würde, um Rache zu üben. Aber die Suche war erfolglos verlaufen, er konnte nun nichts weiter machen, als sich auf den nächsten Feldzug vorzubereiten. Vielleicht erfahre ich Neues, wenn erst einmal etwas Zeit ver-
gangen ist. So sammelte der König seine Krieger um sich, schickte ein paar Kundschafter voraus und machte sich auf den Weg, sein Reich zu vergrößern, während seine Frau und die Jungs mit ihrer Leibwache und einer Besatzungsmacht im Dorf zurückblieben. Gunnar war ein sehr wissbegieriger Junge, der alles und jeden hinterfragte. Über die wichtigen Dinge, das menschliches Leben und die Anbetung der Götter, das Fertigen von Gegenständen jeglicher Art, den Tauschhandel und die Jagd, bis hin zu scheinbar belanglosen Dingen wie beispielsweise die Entstehung des Nebels, schien er alles wie ein Schwamm aufzusaugen. Ragnars Frau Skuld, die er oft mit seinen Fragen löcherte, war davon gar nicht begeistert, schließlich war Gunnar nicht ihr leiblicher Sohn. Abgesehen davon wusste sie, dass Wissen auch Macht bedeutete. Und ein kluger und kräftiger Mann, obendrein noch Erstgeborener, stünde ihr und ihrem Sohn nur im Weg. Ihr eigen Fleisch und Blut war Einar, der zierliche und unscheinbare Junge, der schon als Zehnjähriger eine besondere Vorliebe dafür hatte, Fallen für kleinere Tiere zu bauen, um diese dann quälen und töten zu können. Skuld wusste genau, dass Einar niemals die Krone tragen würde, solange Gunnar noch am Leben war. Da sie in Punkto Machtgier und Rücksichtslosigkeit Ragnar in nichts nachstand, wollte sie dieses Problem aus der Welt schaffen, ebenso wie sie vor vielen Jahren beim Tod von Gunnars Mutter nachgeholfen hatte. Gunnars Mutter war eine bildhübsche, herzensgute Frau gewesen, die als Unterpfand für ein Friedensabkommen zwischen ihrem Vater und Ragnar gegeben, und in einer stürmischen Nacht von dem volltrunkenen Ragnar gegen ihren Willen genommen worden war. Als Frucht dieser Nacht wurde 19
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Gunnar geboren. Selbst nachdem Ragnar ihren Vater getötet hatte, weil dieser wegen der Behandlung seiner Tochter erzürnt war, hatte sie es nicht fertig gebracht, sich und das Baby zu töten. Hätte sie es doch damals selbst getan, dachte Skuld, dann müsste ich mich nicht um die Beseitigung dieser Proble-
me kümmern. Skuld hingegen war Magd in Ragnars Dorf und von Beginn an darauf erpicht gewesen, Königin an seiner Seite zu werden. Eines Tages war Ragnar mit seinen Kriegern auf Beutezug gewesen, als das Dorf von einem feindlichen Stamm überfallen wurde. Skuld sah hier ihre Chance und brachte die Rivalin noch während des Überfalls mit einem gezielten Dolchstoss in den Rücken um. Der kleine Gunnar jedoch hatte sich, mit der vertrauten Amme seiner Mutter, außerhalb des Dorfes, und damit außerhalb von Skulds Reichweite aufgehalten, und entkam somit dem gleichen Schicksal. Nach des Königs Rückkehr hatte die heimtückische Mörderin dafür gesorgt, ständig in seiner Nähe zu sein, nahm schließlich den von ihr so erstrebten Platz an Ragnars Seite ein, und gebar ihm schon kurze Zeit später einen Sohn, Einar. Und
der soll nach seinem Vater König werden, koste es was es will. * »Hör mir zu«, sagte Hjörward, »die Alte hatte sich ohne mein Wissen auf den Weg ins Dorf gemacht und war unterwegs von feindlichen Kriegern gefangen genommen worden. Die hatten Wylef verhört und dann verletzt liegen gelassen. Nachdem sie die Männer in die falsche Richtung geschickt und sich hierher schleppt hatte, starb sie in meinen Armen.« Anna sah ihn mit tränenden Augen an, verstand jedoch den Klang seiner Worte dumpf wie durch einen Schleier. Hjörward drängte sie, eilig ein paar Dinge einzupacken. „Wir müssen schnellstens verschwinden, damit wir dem Feind nicht in die Hände fallen“, befahl er. Obwohl er halbwegs sicher sein konnte, dass dies nicht passieren würde, musste er den Schein für Anna aufrechterhalten. Sie war nur ein kleines Mädchen, könnte aber auf unliebsame Gedanken kommen. Wenngleich er als starker und erfahrener Kämpfer jederzeit leicht mit ihr hätte fertig werden können, wollte Hjörward die Situation für den Augenblick bei dieser Lüge belassen. Er half Anna, einige Sachen einzupacken, verwischte grob ihre Spuren und verschwand mit seiner Nichte in Richtung der Höhlen im Gebirge, in denen er in seiner Jugend gespielt hatte. 20