Isabelle vorschau

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Isabelle Mona Bodenmann

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Isabelle Mona Bodenmann

Copyright © 2014 – Verlag: Das neue Licht Verlag

Das Neue Licht / Jim Humble Verlag Graafseweg 199, 6531 ZR, Nijmegen www.dasneuelicht.com www.jimhumbleverlag.com Erste Auflage: Januar 2014 ISBN: 9789088790782 Print-Ausgabe ISBN: 9789088790799 Ebook-Ausgabe Cover: Isis Sousa Layout: Leo Koehof Autor: Mona Bodenmann

Die Vervielfältigung und/oder (digitale) Speicherung von Teilen dieser Ausgabe bzw. deren Veröffentlichung durch Druck, Mikrofilm, Bildaufnahmen oder auf sonstige Weise, sei es chemisch, elektronisch oder mechanisch, bedarf immer der vorherigen, schriftlichen und ausdrücklichen Zustimmung des Verlegers.


Inhalt Wales, im September........................................................................................... 5 Tenby................................................................................................................... 5 Bosherston ......................................................................................................... 12 St Govan‘s Chapel ............................................................................................. 13 Bosherston Mere ............................................................................................... 16 Bosherston Lily Ponds ...................................................................................... 18 Angle ................................................................................................................. 19 Dale ................................................................................................................... 20 Marloes Sands ................................................................................................... 29 Musselwick Sands ............................................................................................. 33 Marloes .............................................................................................................. 35 The Eyes of the Sea ........................................................................................... 38 Little Haven ....................................................................................................... 43 Broad Haven (Aber Llydan) .............................................................................. 45 Druidstone Haven Beach ................................................................................... 46 Nolton Haven .................................................................................................... 50 Landsker Line .................................................................................................... 55 Solva (Solfach) .................................................................................................. 58 Porth Clais (Porth Glais) ................................................................................... 67 Ramsey Island (Yns Dewi)................................................................................ 71 St Davids (Tyddewi) ......................................................................................... 76 Whitesands Bay (Traeth Mawr) ........................................................................ 82 Carn Llidi .......................................................................................................... 84 St David’s (Tyddewi) ........................................................................................ 87 Carn Penberry .................................................................................................. 114 Porthgain ......................................................................................................... 118 Pwll Deri ......................................................................................................... 123 Fishguard (Abergwaun)................................................................................... 134 Fishguard (Abergwaun) – Lower Fishguard – ................................................ 144 Goodwick (Wdig) ............................................................................................ 144 Dinas Island ..................................................................................................... 149 Cwm-yr-Eglwys .............................................................................................. 154 Newport (Trefdraeth) ...................................................................................... 159 Carreg Coetan Arthur – Church of St Brynach – Pentre Ifan .......................... 177 St Dogmaels .................................................................................................... 185 London ............................................................................................................ 193



Wales, im September 1

Tenby In Tenby wird Isabelle von den Schreien der Silbermöwen begrüßt. Du bist nur frei, wenn du alles zurückgelassen hast. Verlasse jeden und lasse dich verlassen. Nur dann wirst du ohne Angst sein. Isabelle kann sich beim besten Willen nicht erinnern, wo sie diese Worte gelesen hat. Sie wurde verlassen. Es geschah unerwartet und erwies sich als Schrecken ohne Ende. Dreißig Jahre Ehe, dreißig Jahre Leben zerfielen an einem einzigen Tag. Es schaudert sie, wenn sie an den Tag zurückdenkt, an dem ihr Mann sich von ihr trennte. Das Wetter, sie kann sich noch genau an das Wetter erinnern. Ein strahlender Herbsttag, der Himmel wolkenlos blau. Obwohl sich nach der Trennung von ihrem Mann eine Menge Groll in Isabelle aufstaute, konnte sie ihre schmerzhaften Gefühle nicht ausdrücken, stattdessen verstummte die Freude in ihr und damit auch der Wunsch, weiterleben zu wollen. Sie zog sich immer mehr vom Leben zurück. Es war ihr Hausarzt, der sie vor die entscheidende Frage stellte, ob sie leben oder sterben wolle? Sie beschloss, alles hinter sich zu lassen, was sie an ihn erinnerte und liebte, aber zugleich erstickte. Und plötzlich findet sie sich in Wales wieder, in einem Land, das ihr fremd ist. Es ist seit vielen Jahren ihr erster Urlaub, den sie allein verbringt. Sie plant, die Küste von Süden nach Norden entlangzuwandern. Nein, keine Pilgerreise. Mit Gott hat sie nichts am Hut. Vielmehr ist es ein letzter Funken Hoffnung, der sie hierher geführt hat. Alles vergessen, neu anfangen. Aber wie?

2 Der Tag beginnt mit Regen. Isabelle fand am Nordstrand, in dem kleinen Fischerort Tenby, eine hübsche Pension mit Blick auf den Hafen, hinter dem sich eine pastellfarbene Häuserreihe malerisch gruppiert. Obwohl sich das Städtchen von einem zwar kühlen, aber dennoch mediterranen Hauch umgeben an die Cartmarthen Bay

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schmiegt, gelingt es Isabelle nicht, sich – wie einst der walisische Maler Augustus John – ins Schwärmen zu verlieren. Augustus John, der wie eine Verkörperung des Zeus wirkte, war ein Sohn der Stadt Tenby und er beschrieb seine Heimatliebe in einem Zitat: You may

travel the world over but you will find nothing more beautiful; it is so restful, so colourful and so unspoilt. Als der Regen endlich nachlässt, begibt sich Isabelle hinunter zum Strand. Sie setzt sich auf eine Mauer und vertieft sich in ihren Wanderführer. Aus einem Impuls heraus beschließt sie, die Wanderung erst weiter im Westen zu beginnen. Damit vermeidet sie den Umweg um das Militärgelände von Castlemartin, das die Britische Armee als Schießübungsplatz benutzt und deshalb einen Großteil dieses Küstenabschnitts für die Öffentlichkeit gesperrt hat. Auch erspart sie sich so den beißenden Geruch rauchender Fabrikschlote, den trostlosen Anblick von Türmen, Landungsbrücken und Pipeline-Konstruktionen, die wie riesige Krebsgeschwüre in die Trichtermündung des Daugleddau-Flusses wuchern. Dennoch gibt es ein paar Dinge, die Isabelle sich an der Südküste ansehen will. Sie plant, am nächsten Morgen mit dem Bus nach Bosherston zu fahren und sich dort in eine Bed & Breakfast-Unterkunft einzuquartieren. Ihr Ziel liegt zwar im Bereich des Castlemartin-Militärgeländes, in der sogenannten Range East, aber das Fremdenverkehrsbüro hat ihr zugesichert, dass am Tag ihres Besuches dort nicht geschossen wird. Als sich die grauen Wolken wieder am Himmel ballen und der Regen einsetzt, flüchtet sie sich in die St Mary’s Church, setzt sich auf eine Kirchenbank und betrachtet die mit Holzverzierungen beschlagene Gewölbedecke. Ihr Blick fällt auf faszinierende Gesichter, mythische Tiere und sogar auf eine Meerjungfrau, die Kamm und Spiegel in den Händen hält. Doch schon bald beginnt Isabelle zu frösteln, und so verlässt sie die Kirche. Draußen stellt sie verwundert fest, dass es inzwischen aufgehört hat zu regnen. Ganz schön launisch, das walisische Wetter, denkt sie, als sie zurück zum Strand schlendert. Sie lässt ihren Blick über das bleifarbene Wasser gleiten. Wo ist dieses in allen Reiseführern viel gepriesene Leuchten über dem Meer? Da ist kein einziger Sonnenstrahl, der die tiefliegende dunkle Wolkendecke aufzureißen verspricht. Es erstaunt sie, dass die walisische Küste ihres Lichts wegen viele Maler anzieht, denn alles, was sie bis jetzt von dieser Landschaft gesehen hat, ist Regen und bleierne Schwärze.

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Sie macht sich auf zu einem kleinen Spaziergang, und sogleich fällt die Einsamkeit über sie her wie ein wütendes Tier. Ohne die gewohnten Mittel der Zerstreuung wie Handy und Laptop hat sie diesem Gefühl der Verlassenheit nichts entgegenzusetzen. Nein, als Oase der Ruhe kann sie sich Tenby beim besten Willen nicht vorstellen. Ihre salzigen Lippen wecken schmerzlich-süße Erinnerungen an Sardinien. Sie denkt an die warmen, duftenden Nächte auf der mit Bougainvilleas überwachsenen Terrasse, wo sie mit ihrem Mann bei einer Flasche Rotwein schweigend die Sonne beobachtete, die allmählich im Meer verglühte. Wie glücklich war sie damals gewesen. Doch plötzlich wird ihr klar, dass die letzte Reise schon zehn Jahre zurück liegt. Was war in diesen letzten paar Jahren geschehen? Wann begann ihre Beziehung auseinanderzubrechen? Wie eine lästige Fliege versucht sie die Vergangenheit zu verscheuchen. Menschen in T-Shirts, Shorts und Gummistiefeln kommen ihr entgegen: Die Briten sind offensichtlich ein abgehärtetes Volk. Vom Strand aus betrachtet, sieht die Altstadt von Tenby hübsch aus. Dennoch kann Isabelle sich dieses Städtchen nicht als einst gut besuchtes Seebad vorstellen. Anfang des 19. Jahrhunderts liefen die Männer noch nackt ins Meer, wenn sie ein Bad nehmen wollten. Die Vorstellung entlockt ihr ein Lächeln. Doch offenbar wurde dem männlichen Geschlecht ein paar Jahrzehnte später dringend empfohlen, zum Schwimmen Unterwäsche zu tragen und mindestens zweihundert Meter in einem Boot hinaus zu rudern, weil gemischtes Baden als unschicklich galt. Außerdem durften sich die Männer an einem klar definierten Strandabschnitt vor zehn Uhr morgens nicht blicken lassen, weil er den weiblichen Wesen vorbehalten war. Für die Frauen gab es wiederum eine sogenannte Bade-Maschine, eine Kabine auf Rädern, in denen sie ihre voluminösen Badeanzüge anziehen und nach dem Bad wieder ausziehen konnten. Isabelle würde sich für nichts in der Welt in diese lehmfarbenen Fluten stürzen. Allein beim Gedanken läuft ihr ein Schauer den Rücken hinunter. Als es kurz darauf wieder zu regnen beginnt, hat sie die Nase voll. Sie flüchtet sich in die kleine Pension und dort ins Bett, weil es auch im Zimmer unangenehm kühl ist. Ihre Stimmung erreicht den Tiefpunkt, als es ihr selbst im Bett nicht richtig warm wird. Vielleicht war es doch ein Fehler, als Reiseziel diesen wetterlaunischen Flecken Erde, der in Reiseführern und auf Postkarten so idyllisch wirkt, auszuwählen.

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Erst bei Einbruch der Dämmerung kann sich Isabelle dazu überwinden, ihre Herberge noch einmal zu verlassen. Sie begibt sich ins nächstbeste Pub und gesellt sich zu den Menschen an der Bar, deren Geschwätz sich in ihren Ohren unangenehm laut anhört. Mit einem kurzen Blick streift sie die Speisekarte und bestellt sich ein Curry und ein Bier. Dann setzt sie sich an einen Tisch in der Nähe des offenen Kamins, um ihren fröstelnden Körper aufzuwärmen. Im Lokal herrscht eine ausgelassene Stimmung. Niemand nimmt Kenntnis von ihr. Dennoch kommt es ihr so vor, als herrsche im Raum eine klare Struktur vor, und es ist sofort ersichtlich, wer fremd und wer einheimisch ist. In kleinen Gruppen wird gelacht, diskutiert und jeder gibt reihum eine Runde aus. Als sie fertig gegessen hat, begibt sie sich erneut an den Tresen, hievt sich auf den einzigen freien Barhocker und bestellt ein zweites Glas Bier. Das kupferfarbene Getränk schmeckt beim ersten Zug fremd. Zu Hause trinkt sie lieber jeden Abend eine halbe Flasche Wein, manchmal auch mehr. Doch im Gegensatz zu früher ist es kein lustvolles Genießen mehr, sondern ein Narkotikum, das ihre Seelenqual lindern soll. Konzentriert beobachtet sie, wie der Barkeeper mit geübtem Griff das Bier vom Schankhahn in die Gläser abzapft. „Schaut an, wer da kommt!“, ruft jemand hinter ihr ausgelassen. Neugierig dreht sie sich um und sieht, wie die Leute einem alten Mann Platz machen und ihm die Hände entgegenstrecken. Er nimmt sich für die Begrüßung viel Zeit. Danach gesellt er sich zu ihr an die Bar und wird sofort vom Barkeeper bedient. Fasziniert beobachtet Isabelle, wie der Alte langsam Schluck für Schluck trinkt und bei jedem Tropfen die Augen genüsslich zusammenkneift. Er bemerkt ihren Blick und streckt ihr die Hand entgegen. „Croeso, noswaith dda – guten Abend und willkommen. Mein Name ist Geraint.“ „Isabelle“, stellt sie sich vor. Sie mustert den alten Mann unauffällig, als er sich einem anderen PubBesucher zuwendet. Er ist von großem, kräftigem Wuchs. Mit seinem schlohweißen, langen Haar und dem ebenso weißen Bart ist er eine beeindruckende Erscheinung. Dazu bilden die buschigen, dunklen Augenbrauen einen auffälligen Kontrast. Sie findet, dass seine Stimme überhaupt nicht zu seinem Alter passt, denn sie hat einen tiefen, vollen Klang. Doch am meisten erstaunen sie seine klaren braunen Augen, die ein warmer Schimmer umgibt. Mit

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seinen ausgetragenen, an manchen Stellen geflickten Kleidern und dem alten Rucksack wirkt er auf sie allerdings wie ein Landstreicher. „Schmeckt dir unser Bier?“, wendet der Alte sich erneut an sie. Sie bejaht seine Frage. Er nickt bedächtig und blickt sie forschend an. „Ich habe dich hier noch nie gesehen. Bist du aus der Gegend?“ „Nein, ich bin hier in Urlaub.“ Wieder ruhen seine Augen auf ihr. Es sind weder Neugier noch Absicht, die in seinem Blick liegen. Er sieht sie einfach nur freundlich an, und dabei strahlt sein Antlitz eine große Ruhe aus. Verlegen wendet sie sich ab. „Es braucht gewöhnlich eine Weile, bis man sich an unser Bier gewöhnt hat“, erklärt er. „Es gibt eine Faustregel, die lautet: Je größer die Hebel, umso wahrscheinlicher fließt handgepumptes Real Ale. Meist ist das Bier ungefiltert und wird sorgfältig gelagert, bis es die richte Reife hat.“ Er macht eine längere Pause, dann fährt er fort: „Ja, die Waliser lieben das Bier, und es gibt zwei Dinge, die sie besonders gut können.“ „Zum einen sicher Bier trinken“, unterbricht Isabelle spontan seinen Redeschwall. Ein Schmunzeln geht über die Züge des Alten. „Stimmt … und weißt du auch, warum sie so gerne Bier trinken?“ „Keine Ahnung, ich schätze aus Gewohnheit?“, schlägt sie schulterzuckend vor. „Ja, aber nicht nur. Das Bier gehört zur walisischen Lebensart. Und einigen Menschen gewährt es auch tiefere Einblicke in ihre Psyche.“ Sie weiß nicht, was sie darauf erwidern soll, deshalb schweigt sie. Er spült den Rest seines Glases hinunter und sofort reicht der Barkeeper ihm unaufgefordert ein weiteres Bier, wofür der Alte sich bedankt und auf den Bierdeckel deutet. Sie liest Brains SA smooth. „Weißt du, wofür das SA steht?“ „Keine Ahnung“, antwortet sie, ohne lange darüber nachzudenken. „Skull attack“, erklärt er und lacht. „Es ist immer gut, wenn man weiß, worauf man sich einlässt“, erwidert sie schlagfertig. „Oh ja, da hast du recht. Aber es ist besser, das Leben nicht allzu ernst zu nehmen. Für viele Waliser ist der Besuch eines Pubs ein wichtiges Ritual. Für manche ist es sogar lebensnotwendig zu wissen, wie weit es bis zum nächsten Public House ist.“

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„Hast du vorher nicht zwei Dinge angesprochen?“, hakt Isabelle nach. „Stimmt. Du bist sehr aufmerksam. Nun, die Waliser sind ausgezeichnete Geschichtenerzähler. Also, im Grunde genommen ist es so, dass die Geschichten sich ihnen aufdrängen und sie deshalb gar nicht anders können, als sich mitzuteilen.“ „Das sind mir vielleicht Aussichten“, erwidert sie nun schmunzelnd. Er zwinkert ihr zu. „Es wird dich von deinen Sorgen ablenken, und wenn du erst einmal richtig hier angekommen bist, wirst du verwundert feststellen, dass jeder Moment perfekt ist und du dich in keiner Weise zu sorgen brauchst.“ „Schön wär’s“, gibt sie in skeptischem Tonfall zurück. Er setzt zu einem weiteren Schluck an. „Viele Geschichten sind natürlich erfunden. Schau dir die Männer dort drüben an. Sie reden mit dem ganzen Körper. Tja, die Waliser sind ein emotionales Völkchen, das es liebt, um den heißen Brei herumzureden.“ Er streicht sich gemächlich über den Bart, dann fährt er fort: „Die Geschichten wurden von jeher mündlich überliefert. Dichter und Sänger fanden in diesem Land immer Gehör, auch wenn sie sehr arm waren.“ Isabelle merkt, wie ihre Aufmerksamkeit nachlässt, denn die Unterhaltung auf Englisch wirkt ermüdend auf sie. Hinzu kommt, dass es ihr in ihrer momentanen Verfassung schwer fällt, sich auf einen anderen Menschen einzulassen. Aber der Alte scheint es nicht zu bemerken. „Die Waliser sind für ihren Wortwitz und ihre Verwirrspiele bekannt“, fährt er munter fort. „Manchmal entsteht durch Verwirrung aber auch Klarheit. Und Klarheit ist Schönheit.“ Die Männer um sie herum nicken ihm zu, und es kommt Isabelle vor, als lauschten sie andächtig seiner Stimme. „Kein Wunder, dass im 19. Jahrhundert die bevorzugten Berufe Prediger und Lehrer waren. Denn außer für Bergmänner und Bauern gab es hier kein Auskommen.“ „Was für einer Arbeit bist du nachgegangen?“, bringt sie sich wieder ins Gespräch ein. „Für kurze Zeit war ich Lehrer, allerdings kein besonders guter, aber ich mochte den Gesangsunterricht sehr.“ Als müsse er einen Beweis erbringen, beginnt er zu singen. Seine dunkle Stimme hat einen schönen Schmelz. Und sogleich stimmen die anderen Männer in sein Lied ein.

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„Mae hen wlad fy nhadau yn annwyl i mi, Gwlad beirdd a chantorion, enwogion o fri; Ei gwrol ryfelwyr, gwladgarwyr tra mâd, Tros ryddid gollasant eu gwaed … Das ist unsere Nationalhymne. Wir singen sie auf Cymreig, also walisisch. Die Hymne würdigt das Land unserer Väter. Das Land der Barden, Sänger und tapferen Kämpfer, die für die Freiheit ihr Blut vergossen haben. Aber auch das Land der Berge, der Schluchten und der Täler und natürlich die Treue zu Wales und seiner Sprache.“ „Und was hast du danach gemacht?“, will Isabelle wissen. „Eine Zeit lang war ich Hymnensänger und Dichter. Und natürlich auch Barde auf der Kanzel“, fügt der alte Mann hinzu. „Das Predigen hat mir Spaß gemacht, weil ich die Menschen zum Lachen bringen konnte. Das war das Schönste an diesem Beruf. Du musst wissen, dass die meisten unserer Priester protestantische Talare tragen, doch in ihren Adern fließt das Blut keltischer Druiden.“ „Und welcher Beruf hat dir am besten gefallen?“ „Schwer zu sagen. Ich habe immer die Arbeit getan, die mir gerade am meisten Spaß machte.“ „Und was machst du heute?“, wagt sie zu fragen. „Ich gehe gerne auf Wanderschaft. Mal bin ich da, mal bin ich dort, aber ich bin immer zu Hause. Weißt du, es ist wunderbar, in sich zu ruhen und zu wissen, wer man ist.“ „Ich wünschte, ich könnte dasselbe von mir sagen. Aber ehrlich gesagt habe ich nicht die geringste Ahnung, wer ich bin.“ „Verstehe. Finde heraus, wer du bist, und dann hat die Verzweiflung ein Ende.“ Der Alte hat gut reden, denkt sie. Er lebt auf Kosten des Staates und muss sich um nichts kümmern. Er schaut ihr tief in die Augen und schmunzelt. „Das Offensichtliche entspricht selten der Wahrheit.“ Sie fühlt sich ertappt und errötet tief. „Weißt du, das Leben gibt mir alles, was ich brauche. Ich kenne weder Hunger noch Kälte. Auch die Einsamkeit ist mir fremd. Und im Gegensatz zu dir quälen mich keine Gedanken.“ Sie kneift die Lippen zusammen, verzichtet jedoch auf eine Bemerkung. Stattdessen starrt sie auf ihr Glas, als enthülle es jeden Augenblick die Wahrheit.

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Unbeirrt fährt der alte Mann fort: „William Blake, ein englischer Dichter, drückte es so aus:

Um die Welt in einem Sandkorn zu sehen und den Himmel in einer wilden Blume, halte die Unendlichkeit auf deiner flachen Hand und die Stunde rückt in die Ewigkeit. Man könnte auch sagen, dass die Unendlichkeit, also das, was keinen Anfang und kein Ende hat, zwischen den Gedanken liegt.“ Sie kann ihm nicht ganz folgen, bemüht sich aber nicht um Klärung. „Das walisische Volk ist verliebt in seine Sprache, verliebt in seine Literatur und in seine Landschaft. Ach ja, fast hätte ich es vergessen – und natürlich verliebt in Rugby! Wie du sind sie auf der Suche nach ein bisschen Glück. Sie stürzen sich ins Leben, weil sie von ihm dieses Glück erhoffen. Dazu müssen sie sich selbst und alle anderen zurechtbiegen. Und wenn es in ihrem Leben nicht rund läuft, suchen sie einen Feind, dem sie die Schuld zuweisen können. Und für die Waliser verkörpert England diesen Feind.“ Sie wartet, doch es folgt keine weitere Erklärung. Also nutzt sie die Gelegenheit und begibt sich auf die Toilette. Als sie zurückkehrt, ist der Alte verschwunden. Einfach so, ohne sich von ihr zu verabschieden. Ärger steigt in ihr auf.

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Bosherston Für die Besteigung des höchsten Berges in Wales gilt als Faustregel: Set off

in the wet, arrive in the dry. Diese Regel gilt für das ganze Land, doch das begreift Isabelle erst viel später. Es ist erst ihr dritter Tag in Wales, und schon hat sie den grauen Himmel satt. Am Nachmittag kommt sie in Bosherston, ein Stück weiter westlich gelegen, an und quartiert sich in einer Herberge ein, um von dort zur nahegelegenen Südküste zu wandern. Als sie die Klippen erreicht, die fünfzig Meter tief in die aufgewühlte Brandung abfallen, steigt sie vorsichtig die in den Fels geschlagenen Stufen zur St Govan‘s Chapel hinab. Der Reiseführer gibt zur Auskunft, dass es unmöglich sei, die Treppenstufen zu zählen. Doch ihr ist ohnehin nicht nach Zählen zumute. Die Wolken hängen bedrohlich tief, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie sich von Neuem in das ewige Grau der Küste entleeren.

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Nur wenige Meter von ihr entfernt schäumt das Meer und züngelt gierig nach dem Land. Die weiße Gischt spritzt in die Luft empor, und das stetige Gekreische der Meeresvögel malt die Eindrücke zu einer unheimlich wirkenden Szene aus. Ein diffuses Angstgefühl beschleicht Isabelle. Trotzdem will sie sich die Kapelle ansehen. Die winzige mittelalterliche Chapel ist aus demselben grauen Kalkstein gebaut wie die Felsen ringsum. Sie klammert sich in einer Nische an die zerklüftete Klippenwand, sodass die schäumenden Wellen sie gerade nicht mehr erreichen. Die Kapelle besteht aus einer einzigen kleinen Zelle mit einem in den Fels gehauenen Altar. Was für ein ungastlicher Ort für religiöse Frömmigkeit, denkt Isabelle kopfschüttelnd. Sie lässt den Blick über das wogende Meer schweifen, und es kommt ihr fast so vor, als fauche es sie an, als strecke ein wilder Tiger die Krallen nach ihr aus. In Griechenland und in Italien verspürte sie stets Geborgenheit an den Küsten des Meeres. Doch hier, im Süden von Wales, empfindet sie nur Furcht.

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St Govan‘s Chapel Isabelle erschrickt zutiefst, als sie den alten Mann erblickt. Sie hat ihn nicht kommen sehen. Es ist, als habe das Meer ihn ausgespuckt. Kleidung, Rucksack und Schuhe, alles ist nass und schlammverspritzt, doch er lässt sich nichts anmerken. Er lüftet seine Fliegermütze und begrüßt sie. Die braune Kappe, deren Leder fleckig glänzt, hat schon bessere Tage gesehen. Sogleich bemerkt er ihren abschätzenden Blick. „Glaube mir, diese Kopfbedeckung ist ideal bei Regen, Kälte und Wind. Und sie schützt meinen Scheitel auch gegen die Sonneneinstrahlung. Sie ist fast so alt wie meine Weste. Oh ja, beides ist wasserdicht und hält mich warm.“ Sie mustert die speckige Weste mit den vielen Taschen, von der ein undefinierbarer Geruch ausgeht. „Es freut mich, dir bei dieser kleinen Kapelle zu begegnen.“ „Ich bin erstaunt, dich hier zu sehen“, gibt sie zurück. Wie am Abend zuvor strahlt sein Gesicht eine große Zufriedenheit aus. „Wie ich dir gestern sagte, bin auch ich auf Wanderschaft. Heute haben mich meine Füße hierhergetragen.“

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„Von Tenby bis hierher zu Fuß?“, fragt sie ungläubig. „So ist es. Ich bin im Morgengrauen aufgebrochen.“ „Aber es hat doch den ganzen Morgen geregnet?“ „Wir Waliser fügen uns dem Wetter. Man muss es einfach nehmen, wie es kommt. Dann ist das Wetter kein Problem.“ „Ich hasse den Regen“, gibt sie schlecht gelaunt zurück. „Aber warum? Hast du denn keinen Schirm?“ „Doch“, brummt sie. „Na, also. Ein Schirm ist wirklich eine gute Sache. Er schützt gegen Regen, wilde Stiere und Wegelagerer.“ Der Alte ist verrückt, denkt Isabelle. Ihr Blick fällt auf seinen Rucksack, der so aussieht, als habe er beide Weltkriege überdauert. An der Außenseite ist ein großer Schirm mit Holzgriff befestigt. „Für meinen kleinen Schirm ist es zu windig“, erwidert sie schließlich. „Aber warum benutzt du den deinen nicht? Wie ich sehe, bist du durchnässt?“ „Oh, den Schirm benutze ich nur, wenn es schüttet.“ Sie schaut ihn an, als habe sie tatsächlich einen Verrückten vor sich. „Auch sonst kann er manchmal ganz nützlich sein“, fährt der Alte vieldeutig fort. „Aber frierst du denn nicht in deinen nassen Kleidern?“ „Nur die äußere Schicht ist nass. Schon bald wird die Sonne scheinen und meine Kleider trocknen.“ Sie schüttelt ungläubig den Kopf, denn der Himmel ist wolkenverhangen. „Lass dich überraschen. Gefällt dir unsere Chapel?“ „Sie ist beeindruckend, aber sie flößt mir auch Angst ein.“ „Ja, es ist viel Angst in dir. Wovor fürchtest du dich?“ „Vor dem Leben“, gibt sie umgehend zur Antwort. „Und warum vermeidest du die Angst?“ Ärger steigt in ihr auf. „Ich vermeide sie nicht. Abgesehen davon ist es meine Angst, und ich kann damit tun oder lassen was ich will.“ Er schaut sie so lange prüfend an, bis sie den Blick senkt. Dann fragt er, ob sie etwas mehr über die Kapelle wissen wolle. Sie nickt, froh darüber, dass er das Thema wechselt. „St Govan war ein irischer Wanderprediger, der hier in Klausur ging. Um diesen Ort ranken sich viele Legenden.“ „Und was erzählen sie?“ Der Alte setzt sich auf einen Stein und winkt sie zu sich heran. „Als der Prediger eines Tages von Piraten bedrängt wurde, öffnete sich der Felsen,

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umschloss ihn und schützte ihn so vor den Angreifern. Aus Dankbarkeit erbaute er an Ort und Stelle eine Kapelle. Die Abdrücke seiner Rippen sind im Fels zu erkennen: Muss wohl ein bisschen eng gewesen sein. Anschließend hat er hier Gott gedient. Zu jener Zeit waren viele Wanderprediger unterwegs, und es entstanden an abgelegenen und schwer zugänglichen Orten Einsiedeleien wie diese hier. Hast du bemerkt, dass der einzige Weg zum Meer durch die Kapelle führt?“ „Ja, aber ich könnte hier keinen einzigen Tag ausharren.“ „Das ist verständlich. Dieser Ort ist nur etwas für Heilige und Verrückte.“ Er lacht und streicht sich dabei mehrmals über den Bart. „Früher glaubte man, dass die Kapelle und die versiegte Quelle darunter durch übernatürliche Kräfte geschützt sind. Noch im letzten Jahrhundert suchten die Menschen aus der Gegend die St-Govan’s-Quelle auf, weil sie glaubten, dass deren Wasser Augen- und Hautleiden heilen könne.“ „Und, hat es funktioniert?“ „Ach, weißt du, der Glaube versetzt Berge. So steht es auch in der Bibel.“ „Gläubige haben es im Leben sicher leichter“, gibt sie mit einem Seufzer zurück. „Ja, so ist es.“ Ihr ist kalt, und sie will diesen beklemmenden Ort so schnell wie möglich verlassen. Doch der Alte legt seinen Spazierstock beiseite, der mindestens so alt ist wie er selbst, und erzählt munter weiter. „Jahrhundertelang hing eine Glocke im Bogen über der Kapelle. Wenn jemand starb oder auf hoher See tödlich verunglückte, so ertönte die Glocke, und ihr Klang war weit über Bosherston hinaus zu hören. Dies wird in einem Gedicht beschrieben:

There is nothing to hope and nothing to fear When the wind sounds low on Bosherston Mere There is much fear and little to hope When unseen hands pull St Govan’s Rope; And the magic stones, as the wise know well, Promise sorrow and death, like St Govan’s bell. „Es kamen auch Menschen hierher, die in den Felsspalten rund um die Kapelle Erde ausgruben, um damit Haus und Hof zu bestreuen. Sie glaubten, damit das Böse von Haus und Hof abzuwenden.“ Er macht eine kurze Pause, dann fragt er sie, ob sie die Vögel höre. Sie beantwortet seine Frage mit einem Nicken.

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„Du solltest sie hören, wenn Brutzeit ist. In den felsigen Klippen nisten sehr viele Seevögeln. Lass uns gehen. Ich möchte dir dort oben noch etwas zeigen, bevor sich unsere Wege wieder trennen.“

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Bosherston Mere Isabelle folgt dem alten Mann die steilen Stufen hinauf. „Heute schweigen die Gewehre. Das ist gut“, erklärt der alte Mann zufrieden, als sie auf dem Klippenplateau ankommen. „Hier auf der Castlemartin Range wehen die roten Fahnen sehr oft. Komm, es ist nicht mehr weit.“ Er geht mit dem gleichmäßigen Schritt eines Mannes, der viel zu Fuß unterwegs ist und seine Kräfte gut einteilen kann. Sie versucht, sich seinem gemächlichen Gang anzupassen. Der Wind frischt zunehmend auf, und starke Böen schieben die Wolken vor sich her in Richtung Westen. Doch dann huscht wie aus dem Nichts ein Sonnenstrahl über ihr Gesicht. Sie sieht sich überrascht um. Dort, wo die Strahlen hinfallen, leuchten die Kalksteinfelsen in einem warmen Ockerton auf. In diesem Moment will sie nur noch eines: Alles vergessen und sich von diesem Licht vorwärtstreiben lassen. Der Alte bleibt stehen und deutet nach Westen. Ihr Blick folgt seinem Fingerzeig und erkennt auf der Landzunge eine riesige Wasserfontäne. „Das ist Bosherston Mere. Was du siehst, ist ein Blowhole“, erklärt er. „Wenn, wie heute, die Flut mit großen Wellen zusammenfällt, schießt eine Säule von Meerwasser aus dem Loch und sprüht über dem Kalksteinplateau bis zu zwanzig Meter in die Höhe. Der Lärm einer solchen Meerwasserexplosion kann bis in die nächstgelegene Ortschaft gehört werden.“ Sie betrachtet das Schauspiel eine Weile lang stumm. Dann will sie von ihrem Begleiter wissen, wie ein solches Abzugsloch entsteht. „Soviel ich weiß, handelt es sich um ein geologisches Phänomen“, erklärt der alte Mann. „Unten auf Meereshöhe gibt es wahrscheinlich eine tiefe Höhle, einen sogenannten Höhlenschacht, der über die Decke hinauf ins Freie reicht. Wenn eine Brandungswelle genau auf die Mündung der Höhle auftrifft, wird das Wasser durch deren Wände, wie in einem Trichter, zum Blowhole geführt, was bei geeigneter Geometrie der Höhle und den richtigen Wetterbedingungen zu solchen Wasserfontänen führt.“

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„Die Fontäne erinnert mich an einen Geysir. Ich möchte mir dieses Naturwunder aus der Nähe ansehen.“ „Das ist keine sehr gute Idee, denn die Klippen dort sind gefährlich, weil der Zahn der Zeit sie unterhöhlt hat. Es empfiehlt sich deshalb, auf dem Weg zu bleiben. Bei diesem Wetter sind auch die Böen sehr stark, sodass sie alles mitreißen, was sie zu fassen bekommen. Wir wollen uns doch nicht über die Klippen wehen lassen oder?“ Er zwinkert ihr zu. „Nein, lieber nicht“, lenkt sie erschrocken ein. „Mit dem Meer ist nicht zu spaßen, wenn Mond und Wetter es zum Kochen bringen. Aber im Gegensatz zu dir hält das Meer seine Wut nicht zurück.“ Sie schaut den alten Mann erstaunt an, verzichtet jedoch auf eine Bemerkung. „Heute bist du zur richtigen Zeit am richtigen Ort, denn alle Voraussetzungen für dieses Schauspiel sind gegeben.“ „Manchmal hat auch eine Närrin Glück“, gibt sie mürrisch zurück. Wieder ruht sein forschender Blick auf ihr, doch sie wendet sich ab. „Weißt du, es ist vollkommen okay, nicht okay zu sein.“ „Du bist also der Meinung, dass ich nicht okay bin?“ „Nein, du hast das Gefühl, dass du nicht okay bist. Da sind viele unterdrückte Gefühle in dir.“ „Na und?“, erwidert sie gereizt. „Es braucht Mut, sich in jedem Moment so zu akzeptieren, wie man ist.“ „Ich habe mich mit meinem beschissenen Leben abgefunden“, lügt sie. „Wenn ich den Schmerz nicht verdrängen würde, könnte ich den Alltag gar nicht bewältigen.“ „Nein, du hast Mühe, deinen Alltag zu bewältigen, weil du den Schmerz verdrängst.“ Ein Schimmer von Traurigkeit huscht über ihre Züge. „Weißt du, es geht nicht darum, etwas zu tun“, fährt er fort. „Es geht lediglich darum, nichts zu verdrängen. Wenn du dich dem Schmerz verweigerst, wirst du keinen Frieden finden. Und das möchtest du doch … deinen Frieden finden, oder?“ Widerwillig nickt Isabelle. „Die Schönheit des Lebens zeigt sich dir erst, wenn du dich dem Fluss des Lebens hingibst.“ „Aber was soll ich tun?“, fragt sie deprimiert.

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„Wenn schmerzhafte Gefühle auftauchen, dann gib ihnen Raum, damit sie sich ausdrücken können.“ „Ist das alles?“ „Ja.“ „Und dann verschwindet der Schmerz?“ „Mit der Akzeptanz, dass er da sein darf, reduziert er sich von selbst. Was dir Schwierigkeiten bereitet, ist im Grunde genommen nicht der Schmerz, sondern das damit verbundene Leid. Und dieses Leid entsteht, wenn du gegen den Schmerz ankämpfst.“ In Isabelles Kopf herrscht Verwirrung, aber das braucht der alte Mann nicht zu wissen. Als könne er ihre Gedanken lesen, sagt er: „Es gibt Dinge, die der Verstand nicht versteht und die trotzdem intuitiv verstanden werden.“ Sie errötet. „Okay, danke. Könntest du mir bitte noch einmal deinen Namen nennen? Ich kann mich nicht mehr daran erinnern.“ „Ich werde Geraint genannt.“ Er buchstabiert den Namen für sie. „Dort vorne ist übrigens der Huntsman’s Leap. Vielleicht möchtest du dir diesen spektakulären Einschnitt in den Felsen ansehen, bevor du nach Bosherston zurückkehrst?“ Er reicht ihr die Hand. „Also, bis auf ein andermal.“ Isabelle beobachtet, wie der alte Mann sich, der Abendsonne zugewandt, mit ausgestreckten Beinen auf die Wiese setzt, deren hohe Grasgarben der Wind in Richtung Westen kämmt. In sich selbst gekehrt, zieht er sich von ihr und der Welt zurück.

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Bosherston Lily Ponds Im Morgengrauen, nach einem unruhigen Schlaf mit flüchtigen Träumen, verlässt Isabelle ihre Herberge. Sie wandert zu den Seerosenteichen, die auf dem Besitz des ehemaligen Gutshofes Stackpole im 19. Jahrhundert angelegt wurden, als die Landschaft im großen Stil gestaltet wurde. Zu jener Zeit überflutete man drei Täler, um der damaligen Mode entsprechend lange große Seen zu erschaffen. Gleichzeitig wurden Tausende von Bäumen gepflanzt. Der Himmel ist an diesem Morgen wolkenlos und die Luft klar. Gedankenverloren spaziert Isabelle durch das Labyrinth von Pfaden und malerischen Holzbrücken. Noch immer blühen einige Seerosen in den Teichen wie

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vereinzelte rosafarbene Tupfen. Und im Wasser spiegeln sich Schwäne, die lautlos dahingleiten. Sie sieht Bussarde am Himmel kreisen und Reiher sowie eine Menge anderer Vögel, die sie nicht identifizieren kann. Durch den stetig ansteigenden Meeresspiegel trennt inzwischen nur noch ein schmaler Damm diesen idyllischen Ort vom Strand. Hier ist es das Meer, welches das Land prägt, nicht der Mensch, geht es Isabelle durch den Kopf. Und in ihrer Vorstellung sieht sie dieses herrliche Stück Natur für immer in den Fluten versinken.

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Angle Nach dem Frühstück nimmt Isabelle den Bus nach Angle. Das Dorf liegt weit abseits der üblichen Touristenpfade, an der südlichen Landzunge des Meeresarms Milford Haven. Sie setzt ihren Rucksack auf und geht hinunter zum Strand. Die West Angle Bay bietet einen beeindruckenden Blick über die Mündung des Milford Haven auf St Ann’s Head. Menschen sind wie Strandgut, geht es ihr durch den Kopf, während sie das Meer betrachtet. Sie werden angeschwemmt und nach einer Weile werden sie vom Meer wieder zurückgefordert. Wie ihre Ehe ist irgendwann alles vorbei. Sie setzt sich mit einem Buch an den Strand und verliert sich in die Geschichte eines Mannes, der die größte aller Tiefen zu finden hofft und der, um ans Ziel seiner Wünsche zu gelangen, über Leichen geht. Genau wie sie ist der Protagonist der Geschichte auf der Suche nach seiner Identität. Eigentlich hatte sie vorgehabt, an diesem Tag nach Freshwater West zu wandern, dem besten Surferstrand in Wales. Aber als ihr bewusst wird, dass sie diese Wanderung nur machen will, weil ihr Exmann ein begeisterter Surfer war, gibt sie ihr Vorhaben auf. Sie erinnert sich, wie er mit fünfundvierzig plötzlich das Wellenreiten erlernen wollte und darauf bestand, jedes Jahr ein paar Wochen allein nach Biarritz zu fahren, einer Surfer-Hochburg im äußersten Südwesten Frankreichs. Sie hat seine Leidenschaft nie nachvollziehen und deshalb auch nicht mit ihm teilen können. Ja, von da an ging es mit ihrer Beziehung langsam, aber stetig bergab. Es war auch in Biarritz, wo er jene junge Frau kennenlernte, wegen der er sie schließlich verließ.

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Dale Am späten Nachmittag fährt sie weiter nach Dale. Das kleine Dorf liegt am Hals der zerklüfteten Halbinsel, welche die nördliche Landzunge des Meeresarms Milford Haven bildet. Nach langer Suche findet sie schließlich noch ein kleines Zimmer in einer Herberge. Nach dem Duschen begibt sie sich in die Griffin Inn, die einzige Kneipe im Ort, und bestellt ein Bier. Das Pub quillt vor Menschen über, die bis auf die Straße hinaus in kleinen Gruppen beisammenstehen. Mit einem Glas Ale in der Hand setzt sie sich draußen auf die von der Abendsonne beschienene Steinmauer und lässt ihren Blick über die geschützte Bucht schweifen, die für ihren Wassersport bekannt ist. Draußen auf dem Meer herrscht Ebbe. Ein milder Abend kündigt sich an. Fast wie im Süden, denkt sie. Hier wird sie ihre Wanderung beginnen. Isabelles erster Impuls ist Flucht, als sie Geraint von Weitem kommen sieht. Als er bei ihr auftaucht, blitzen seine Augen vergnügt auf. „Es freut mich, dass du deine Zeit bei uns genießt.“ Sie verkneift sich eine Bemerkung und begrüßt ihn höflich. Er stellt seinen Rucksack an die Mauer und bindet seine Fliegermütze daran fest. Aus der Westentasche zieht er ein großes Taschentuch, das zu ihrer Verwunderung sauber ist, und trocknet damit bedächtig Nacken und Stirn. Danach faltet er es fein säuberlich zusammen und verstaut es wieder in seiner Weste. „Darf ich dich zu einem Glas einladen?“, fragt sie ihn, weil sie das Gefühl hat, sich erkenntlich zeigen zu müssen. „Oh, sehr gerne.“ Als sie mit den Gläsern zurückkommt, ist er verschwunden. Sie schaut sich um und entdeckt ihn auf einer nahegelegenen Holzbank. „Stell dir vor, im 17. Jahrhundert gab es hier noch achtzehn Gasthäuser“, erklärt er ihr, als sie sich zu ihm setzt. „Kaum zu glauben“, gibt sie zurück. „Damals war Dale ein wichtiger Meereshandelshafen, vergleichbar mit Fishguard. Vor allem wurde Ale exportiert, das durch die Runwae-Familie gebraut wurde.“ „Ja, so ändern sich die Zeiten“, erwidert sie seufzend.

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„Kennst du die Bilder des Malers Graham Sutherland?“, wendet er sich erneut an sie. Sie verneint seine Frage. „Für den Londoner Künstler war die Gegend zwischen Dale und St Davids Head etwas ganz Besonderes, denn hier lernte er malen. Er kehrte im Laufe seines Erdenlebens immer wieder hierher zurück. Für ihn war das Licht dieser Küste einzigartig.“ Sie lässt ihren Blick über die Wiesen der Bucht schweifen, die im Abendlicht verheißungsvoll in einem hellen Grün aufleuchten, während das Dorf bereits in schwarze Schatten gehüllt ist. „Wir bezeichnen die walisische Küste als die Küste des Lichts“, fährt er fort. „Hier leuchtet das Licht nicht, hier explodiert es förmlich. Diese einzigartige Klarheit des Lichts verleiht den Dingen eine außergewöhnliche Präsenz. Das ist für Maler und Poeten inspirierend.“ „Das kann ich gut nachvollziehen. Morgen werde ich meine Wanderung beginnen und als Erstes die Dale-Halbinsel umrunden.“ „Das freut mich. Du wirst sehen, der Pembrokeshire Coast Path schmiegt sich, wo immer möglich, an die Küste. Er bietet eine Fülle von Landschaften, und obwohl ich den Path schon unzählige Male abgewandert bin, zeigen sich auch mir immer wieder neue Facetten. Weiter oben an der Westküste werden dir die roten Klippen auffallen. Sie sind sehr ansprechend, wenn sie im Licht der untergehenden Sonne in feurigen Tönen aufleuchten.“ „Bist du von Bosherston zu Fuß hierhergekommen?“, unterbricht sie ihn. „Ich habe in Milford Haven einen alten Freund getroffen. Er hat mich mit seinem Auto ein Stück mitgenommen, weil er sich mit mir unterhalten wollte.“ „Bist du das ganze Jahr unterwegs?“ „Nein, im Winter ziehe ich mich in mein Häuschen weiter oben im Norden zurück. Dein Englisch ist übrigens sehr gut. Darf ich fragen, woher du kommst?“ „Aus der Schweiz.“ „Hm, da war ich noch nie, aber es soll dort sehr viele hohe Berge geben.“ „Ja, was für euch das Meer ist, sind für uns die Berge.“ „Die Stille in den Bergen ist wunderbar. Hier am Meer ist viel Bewegung. Doch auch das Meer ist hilfreich, wenn man mit sich ins Reine kommen will, denn es ist ein guter Katalysator für verdrängte Gefühle.“ „Soviel ich weiß, gibt es in Wales keine Berge“, manövriert sie sich auf sicheren Boden zurück.

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„Oh, da täuschst du dich. Jahrhundertelang prophezeiten walisische Visionäre in Erzählungen, dass die Erlösung für das Volk von den Bergen kommt.“ Er nimmt gemächlich einen Schluck Bier, dann noch einen. „Weißt du, die Waliser haben das Gefühl, die Natur und ihre keltische Sprache seien das Einzige, was sie wirklich ihr eigen nennen können. Hier gibt es Moor- und Marschland, Weideland, Buchten und Sandstrände, doch der Fokus in Bildern, Reimen und Märchen liegt immer auf den Bergen.“ Sie verkneift sich ein Grinsen. „Ich habe aber gelesen, dass der höchste Berg nur tausend Meter hoch ist.“ „Was einen Berg ausmacht, ist nicht so sehr seine Höhe, sondern das, was die Menschen mit ihm verbinden.“ Er hält kurz inne und fährt dann fort: „Die Berge in diesem Land sind schroff und felsig. Bei schönem Wetter sind sie eine Quelle der Stille. Bei schlechtem Wetter und bei Nebel sind sie dagegen voller Tücken.“ „Wirklich?“ Sie schenkt ihm einen spöttischen Blick. „Oh ja, vor allem der Gipfel von Yr Wyddfa, den die Engländer Snowdon nennen – was so viel wie die Grabstätte bedeutet. Du solltest sehen, wie majestätisch sich dieser Berg dem Meer zuneigt und wie mächtig er sich präsentiert, wenn seine Krone in einen Dunstschleier gehüllt ist.“ „Ich muss gestehen, dass ich praktisch nichts über Wales weiß.“ „Das ist gut. So kannst du unvoreingenommen genießen, was sich dir zeigt. Dieses Land hat eine komplexe Geschichte. Möchtest du etwas mehr darüber wissen?“ „Ja, gerne.“ „Nun, lange bevor es die Nation England gab, galten die in Wales lebenden Kelten, die Cymry, als die ursprünglichen Briten. Sie lebten überall auf der Insel verstreut und frönten der Vielgötterei, wie übrigens auch in großen Teilen Europas. Einige ihrer heiligsten Stätten befanden sich im Westen von Britannien. Dann kamen die Römer und verfolgten die Druiden, die Priester der Kelten, weil sie ihnen feindlich gesinnt waren. Und als sich die Römer schließlich aus Britannien zurückzogen, vertrieben die Angelsachsen den größten Teil der Waliser aus England nach Wales. Tausend Jahre lang blieben die Waliser unter sich. England dagegen wurde angelsächsisch, und die keltische Sprache verschwand.“ „Und wer regierte damals in Wales?“ „Prinzen und Edelmänner, die uchelwyr genannt wurden. Sie hatten ihre eigenen Gesetze und pflegten ihre eigene Sprachkultur. Von Barden besungen und eingerahmt von Dichtkunst und Musik ging diese Epoche als goldenes

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