Das Adoptionsgeschäft Den Eltern entrissen, als Waisen verkauft
Dorrit Saietz
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Das Adoptionsgeschäft Dorrit Saietz
Deutsche Ausgabe © 2018 – Verlag: Jim Humble Verlag Das Neue Licht / Jim Humble Verlag Postbus 1120, 6040 KC Roermond, Niederlanden www.dasneuelicht.com www.jimhumbleverlag.com Erste Ausgabe: juni 2018 ISBN: 9789088791765
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INHALT
Einleitung .................................................................................................................. 7 Der anfang ................................................................................................................ 8 1. Das Fundament wankt..................................................................................... 20 Die, die besonders willkommen sind .................................................................... 20 Die Geschichte der dänischen Adoptionen ........................................................... 21 Ein umfassendes System ...................................................................................... 21 Das Bild hat sich geändert .................................................................................... 24 2. Kaum zu entbehren .......................................................................................... 26 3. Man kauft doch keine Kinder......................................................................... 33 „Kinder-Geldwäsche“........................................................................................... 34 Zwei verschiedene Vereinbarungen ..................................................................... 38 Weniger Kinder aus der Haager Konvention Länder ........................................... 40 Zu viele oder zu wenige? ...................................................................................... 41 4. Die Reise nach Äthiopien ................................................................................ 44 5. Millionen ohne Eltern ...................................................................................... 59 Falsche und verwirrende Zahlen........................................................................... 60 Was ist denn ein Kinderheim? .............................................................................. 62 Woher kommen die Kinder?................................................................................. 63 Kinderheime sind teuer......................................................................................... 66 Adoptionen bedeuten Geld für die Kinderheime .................................................. 67 Es gibt nicht genug Waisen .................................................................................. 68 6. Genet Kedirs Geschichte ................................................................................. 71 7. Goldrausch in Äthiopien ................................................................................. 85 Die erste Warnung ................................................................................................ 86 Kinder mit Eltern .................................................................................................. 88 Die ersten Kinder werden gefunden ..................................................................... 89 Der Zusammenbruch ............................................................................................ 91 Eine schnelle Rettungsaktion................................................................................ 92 Die Eltern bedauern .............................................................................................. 94 Jetzt geht es dir gut ............................................................................................... 96
So viele Warnungen ............................................................................................. 98 Die Sterbeurkunde der Mutter ist falsch ............................................................... 99 8. Wieder Zuhause in Dänemark ...................................................................... 101 9. Aus dem Wunschkind wird ein Sorgenkind ............................................... 113 Die Therapeuten stehen bereit ............................................................................ 115 Anns Geschichte ................................................................................................. 117 Die Ursache liegt in der Vergangenheit.............................................................. 117 Maikens Geschichte............................................................................................ 119 Adoptiert und untergebracht ............................................................................... 119 Kinder mit Fehlern und Mängeln ....................................................................... 121 Peters Geschichte................................................................................................ 122 Zur Liebe gezwungen ......................................................................................... 123 10. Ganz Dänemark weint mit Masho ............................................................ 132 11. Die besten Eltern der Welt .......................................................................... 145 Eine Genehmigung zu bekommen, ist zu einfach............................................... 146 Wählerische dänische Eltern .............................................................................. 148 Die ursprünglichen Eltern werden nicht dazu gezählt ........................................ 150 12. Akte Indien .................................................................................................... 152 Die Skandale treffen Dänemark ......................................................................... 153 Ein Vater, der vier Kinder verloren hat .............................................................. 155 Vier Monate Adoptionsstopp.............................................................................. 157 Die Akte wird wieder geöffnet ........................................................................... 158 Ein Heim hat Kinder heimlich beerdigt .............................................................. 160 Die Geschichte von Ajo stimmt nicht ................................................................. 150 13. Die Schlacht um europas Kinder ............................................................... 164 Der Lobbyismus nimmt zu ................................................................................. 166 Stopp der Adoptionen ins Ausland ..................................................................... 168 Der rumänische Modell ...................................................................................... 170 Aktivisten gegen Adoption ................................................................................. 172 Guerillakämpfer der Adoption............................................................................ 173 14. Kinder in der Schwebe ................................................................................. 175
15. Adoptionen im Wilden Westen .................................................................. 190 Kinder als Wanderpokale ................................................................................... 191 Sohn nach Russland zurückgeschickt ................................................................. 192 Gottes Plan für Waisen ....................................................................................... 194 Eine starke Lobby ............................................................................................... 195 Scharfe Konkurrenz ............................................................................................ 197 16. Aus Korea in die Welt .................................................................................. 199 Auf dem Papier elternlos .................................................................................... 200 Das falsche Land ................................................................................................ 201 Ein zerrissenes Leben ......................................................................................... 203 Die Verzweiflung eines Vaters ........................................................................... 204 Ein Durcheinander der Papiere ........................................................................... 205 17. Ein Adoptionsmilieu im Widerstreit mit sich selbst................................ 207 Die „richtigen“ Gefühle ...................................................................................... 208 Die ‚richtige’ Familie ......................................................................................... 210 Wütende Adoptiveltern ...................................................................................... 211 Rebellische Stimmen .......................................................................................... 212 Kinder von den Armen zu den Reichen .............................................................. 214 18. Von Kolumbien über Nepal nach Nigeria ................................................ 217 Die Wut kocht hoch ............................................................................................ 219 Von den Skandalen betroffen ............................................................................. 221 ‚Ein hohes fachliches Niveau’ ............................................................................ 223 Ein Stopp für Auslandsadoptionen ..................................................................... 224 Guatemala ........................................................................................................... 225 Vietnam .............................................................................................................. 229 Nepal .................................................................................................................. 230 Nigeria ................................................................................................................ 231 19. Der grosse Zusammenbruch ....................................................................... 233 Ein Loch in der Kasse......................................................................................... 234 Agenturen in der Todesspirale ............................................................................ 237 20. Unsichtbare Mütter ...................................................................................... 242 Äthiopische Mütter erzählen .............................................................................. 242 Das Schlimmste ist die Ungewissheit ................................................................. 245 Schwangere unter Druck .................................................................................... 246 Berits Geschichte ................................................................................................ 247
Aniellas Geschichte ............................................................................................ 249 Nach Jahrzehnten wieder vereint ........................................................................ 250 Psychische Nachwehen ...................................................................................... 252 21. Rechtliche Verwicklungen ........................................................................... 255 22. Offenheit oder nicht ...................................................................................... 267 Die drei Parteien ................................................................................................ 269 Treffe die Familie deines Kindes........................................................................ 270 Die Angst der Eltern ........................................................................................... 272 Erfahrungen mit Offenheit.................................................................................. 274 Der Preis der Offenheit ....................................................................................... 276 23. Die große Reform ......................................................................................... 279 Jubel und Frustration .......................................................................................... 280 Reform mit Lücken............................................................................................. 281 Die Adoptionen waren nicht illegal .................................................................... 283 Weniger Kinder aus Äthiopien ........................................................................... 284 Im freien Fall ...................................................................................................... 287 24. Die neuen Schlachtfelder ............................................................................. 290 Über die Autorin ................................................................................................. 295 Anhang 1: Wörterverzeichnis ............................................................................... 296 Anhang 2: Zeitlinie ............................................................................................... 298 Anhang 3: Tabellen............................................................................................... 300
EINLEITUNG
In diesem Buch geht es um Adoption. In den Jahren von 2012 bis 2014 gab es eine Reihe von Krisen und Skandalen, die das dänische Adoptionswesen beinahe lahmgelegt hätten. Ich habe darüber in der Tageszeitung Politiken geschrieben. Während dieser Arbeit bemerkte ich, dass es eine eigene Welt der Adoptionen gibt, in der die Dinge nicht immer das sind, als was sie erscheinen. Ich habe auch das Mädchen Amy und ihre Mutter Genet kennen gelernt und ihre Geschichte über mehrere Jahre hinweg verfolgt. Es war eine journalistische und persönliche Reise in eine Landschaft, von der ich keine Ahnung hatte. „Die Schlachtfelder der Adoptionen“, auf denen Lügen, Cover-ups, Korruption, Geldgier, zerbrochene Familien und Zerstörte leben aufgebaut sind. Die Kehrseite eines Systems, das durch politisches Entgegenkommen und Millionen von Steuergeldern am Leben erhalten wird. Dieses Buch musste geschrieben werden, weil Amy, trotz des großen politischen Aufsehens, in einem Vakuum lebt. Gefangen durch ihre Adoption und die dänischen Behörden, die ihr grundsätzliches Menschenrecht, ihre Identität als „Tigist aus Äthiopien“, nicht anerkennen. Und sie ist nicht die Einzige.
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DER ANFANG
Mit steifen Blicken schauen sie in die Kamera, die äthiopische Frau und ihre drei Töchter. Es ist kein Lächeln zu sehen. Dieses Bild ist das Bild einer Familie, die Abschied nimmt. Sie stehen im Vorgarten des dänischen Adoptionsbüros DanAdopt, vor deren Büro und Kinderheim in der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba, und es ist das letzte Mal, dass sie zusammen sind. Genet ist 29 Jahre alt, eine sehr dünne und schlanke Frau, mit den charakteristischen hohen Wangen und feinen Zügen, die man oft in Äthiopien findet. Ihre drei Töchter sind Bethlehim, Tigist und die kleine Bizuayehu. In wenigen Tagen fahren die zwei jüngsten Kinder nach Dänemark um in einer dänischen Familie aufzuwachsen. Sie werden neue Eltern haben. Der Hintergrund ist ernst. Genet ist mit HIV infiziert, schon lange krank und kraftlos. Sie ist alleine mit den Dreien, sie ist arm und sich sicher, dass sie bald sterben wird. Die älteste Tochter, Bethlehim, bleibt bei ihrer sterbenden Mutter. Sie ist 13 Jahre alt und der Mann vom Kinderheim wollte sie nicht: „Kein Ausländer nimmt ein so großes Kind“, sagte er. Die zwei Jüngsten aber haben Glück. Das Kleinkind Bizuayehu ist zu klein, um verstehen zu können, was passiert. Tigist aber freut sich, mitten in der Trauer, auf ein schönes Leben im Dänemark. Alles ist neu und spannend, auch die beiden blonden Menschen, die ihre neue Mama und ihr neuer Papa sein werden. „Der dicke Mann“ aus dem Kinderheim hat gesagt, dass sie zu Hause anrufen, und auch zu Besuch kommen kann, falls sie ihre Mutter vermisst. Sie denkt, dass es so sein wird wie damals, als sie bei der Tante ihrer Mutter wohnte. Als sie damals traurig wurde, rief sie ihre Mutter an und ihre Mutter holte sie wieder zurück. Das zehnjährige Mädchen hat noch nicht verstanden, dass es dieses Mal ganz anders ist. Es ist nicht beabsichtigt, dass sie ihre Mutter, ihre Schwester, ihren Großvater, ihre Onkel, Tanten, Vettern oder Kusinen in den nächsten Jahren - oder jemals - wiedersehen soll.
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Wenige Wochen später landet ein Flugzeug auf dem Flughafen von Kastrup. Es ist ein Augusttag im Jahr 2009. An Bord befinden sich ein frohes, frisch gebackenes 8
Elternpaar und zwei Mädchen aus Äthiopien. Sie sind Geschwister im Alter von zwei und - den Papieren nach - sechs Jahren, ihre Adoptiveltern sind nach Jahren der Wartezeit jetzt endlich Papa und Mama geworden. Freunde, Nachbarn und Verwandte sind eingetroffen, um sie zu begrüßen und den Neustart, der kleinen Familie zu feiern. Mit dabei sind auch die Schwester und der Schwager des Adoptivvaters und ihre drei Kinder. Die jüngste Tochter ist ungefähr im gleichen Alter wie ihre neue Kusine aus Äthiopien. Alle sind gespannt und erwartungsvoll. Und dann kommen sie: „Die Kleine war so süß. Und Amy - wir dachten, dass wir müde und schüchterne Kinder treffen würden“, erzählt Amys Adoptivonkel, der bei dem Empfang dabei war. „Dann kommt sie uns lächelnd entgegen, gibt uns die Hand und sagt auf Englisch: Guten Tag. Sie ist fröhlich und voller Energie. Sie fasst unsere jüngste Tochter an der Hand, und nimmt sie mit, um ihr ihren Rucksack zu zeigen. Darin hatte sie Bilder ihrer Familie in Äthiopien. Wir dachten: „Mensch, das ist ja unglaublich, das Mädchen.“ Und dass es ein unwahrscheinliches Glück ist, dass die beiden Mädchen so lieb und gut angepasst sind.“ Die Adoptiveltern haben einen hohen Bildungsstand und gute Jobs. Sie haben ein schönes Haus in einem guten Wohnviertel in Næstved und sind seit zwölf Jahren verheiratet. Eben nur, ohne Kinder zu kriegen. Sie mussten die üblichen Genehmigungen haben, um adoptieren zu können, waren auf der Warteliste und haben jetzt die zwei schönen Prinzessinnen aus Äthiopien bekommen. Als kleines Detail, ihre Genehmigung war darauf ausgestellt ein Kind oder Geschwister im Alter von null bis fünf Jahren zu adoptieren. Als ihnen aber nach einer relativ kurzen Wartezeit zwei Geschwister im Alter von zwei und sechs Jahren angeboten werden, wurde ohne größeren Aufwand die Genehmigung erweitert auf ein Kind von sechs Jahren. Als dann später die Papiere ankamen, stand darin aber, dass die Große sechs bis acht Jahre alt sei. „Als wir die Bilder von ihr das erste Mal sahen, konnte ich schon sehen, dass sie ein großes Mädchen war“, erzählt der Adoptivvater viel später. „Und ich dachte, dass uns eine schwere Aufgabe bevorsteht. Aber als wir sie im Kinderheim treffen, kommt sie angerannt, nennt uns Mama und Papa und ist so lieb und süß. Da haben wir halt beschlossen: Es wird schon gehen.“ Jeder kann sehen, dass Amy keine sechs oder acht Jahre alt ist. Sie ist schon mehrere Jahre zur Schule gegangen und kann sogar ein bisschen Englisch. Als sie bei sich Zuhause ankommen, wird Amy sofort im Krankenhaus von Spezialisten untersucht. Diese schätzen, dass sie zwischen neun und elf Jahre alt ist. Darum einigen sie sich 9
auf neun, um ihr eine bessere Chance in der Schule zu geben, in der sie ja ganz vom vorne mit einer ganz neuen Sprache anfängt. Kein Mensch fragt Amy wie alt sie ist. Sie hätte erzählen können, dass sie bald zehn wird. Es sei denn, sie folgte immer noch den Anweisungen des Kinderheims, in dem sie gelernt hat, dass sie sich jünger lügen muss. Dies kam per Zufall heraus, als Freunde, die ebenfalls aus Äthiopien adoptiert haben, zu Besuch waren. „Es gibt ganz einfach eine Tabelle aus der man ersehen kann, um wie viel jünger die Kinder sich lügen sollen. Größere Kinder müssen sich zwei bis drei Jahre jünger lügen, die kleineren nur ein Jahr. Das weiß doch jeder“, erzählen sie. Es ist also ein großes Mädchen, fast ein Teenager, mit einem eigenen Willen und eigenen Meinungen, das bei den neuen und unerfahrenen Eltern einzieht. Von außen sieht alles schön und gut aus. Amy lernt schnell Dänisch und nach wenigen Monaten kommt sie aus der Empfangsklasse in die Grundschule in Næstved, in eine ganz normale 3. Klasse. Da die Tante und der Onkel in Kopenhagen wohnen, ist der Kontakt zur Familie in Næstved nicht so häufig. Sie sehen sich aber bei den üblichen Familientreffen. Und der gute Eindruck von Amy bleibt. „Sie ist unglaublich süß, angepasst, schlau, sozial und intelligent, ohne jegliche Probleme. Wir haben nur Gutes über sie zu sagen“, erzählen sie. Die beiden Kusinen spielen miteinander, wenn sie sich treffen und an einem Wochenende fährt Amy sogar mit in deren Sommerhaus. „Wir sind spazieren gegangen und verlebten eine gemütliche Zeit zusammen. Genauso, als wäre eine Freundin unserer Tochter mit dabei gewesen.“ Deshalb ist es ein Schock als der Adoptivvater eines Tages anruft und erzählt, dass Amy von der Kommune abgeholt worden sei und in einer Pflegefamilie untergebracht wurde. Sie sind mit Amy ganz einfach überfordert.
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Gut verborgen hinter den Mauern der Villa in Næstved haben Chaos und Konflikte in den letzen eineinhalb Jahren die Familie langsam ausgelaugt. Die Adoptiveltern sind Amy nicht gewachsen. Unstimmigkeiten wegen Kleinigkeiten wie Bettgehzeiten, welche Jacke man bei kaltem Wetter trägt, eskalieren zu Schlägereien. Die Familie hat zwei Berater, Aufnahme-Psychologen, aber das reicht nicht aus und die Kommune reagiert nicht auf die Notrufe um mehr Hilfe. 10
Nach Aussage der Adoptiveltern haben sie gekämpft und sehr hart gearbeitet, ab und zu hätten sie aber nicht mehr alle fünf Sinne beisammen gehabt und Amy geschlagen oder versucht sie festzuhalten, wenn sie weglaufen wollte. Sie sind darüber selbst sehr unglücklich, sie seien doch keine gewalttätige Familie. Zuletzt seien sie ganz ausgebrannt gewesen und hätten den Kontakt zu den eigenen Gefühlen verloren, sagen sie. Amys Geschichte hört sich aber ganz anders an. Sie erzählt, dass ihre Adoptiveltern sehr streng in allem waren, Kleidung, Freundinnen, Bettzeiten und Schularbeiten. Geschimpfe wegen allem und nichts wird zu Schlägen, das passiert oft. Jedes Mal versprechen sie, dass es nie wieder geschehen wird. Einmal geht es sogar so weit, dass Amy danach mit der Ambulanz ins Krankenhaus gebracht werden muss. Ein anderes Mal verdreht der Vater ihr die Arme auf dem Rücken, während die Mutter ihr die Hand vor den Mund hält, damit die Nachbarschaft sie nicht schreien hört. Sie darf darüber nicht sprechen, weil sie sonst ohne ihre kleine Schwester zurück ins Kinderheim nach Äthiopien kommt, warnen sie die Adoptiveltern. Sie fühlt sich oft alleine und fühlt sich von ihren Adoptiveltern nicht geliebt. Nach Amys Meinung ist es in Dänemark nicht besser als im Kinderheim. Dies alles passiert innerhalb der vier Wände des schönen Hauses im Villenviertel von Næstved. Es gibt keinen physischen Beweis und auch keine objektive Wahrheit, was genau dort alles passiert ist. Aber etwas ist schief gelaufen und die Akten bestätigen, dass der Adoptivvater mehrmals zugegeben hat, Amy geschlagen zu haben. Bei den Akten liegt auch eine Aufzeichnung von einem der beiden Adoptionspsychologen, die der Familie zeigen sollten, wie eine Familie funktioniert. Die Notiz wurde nur fünf Monate nach Amys Ankunft in Dänemark geschrieben. Schon damals gab der Adoptivvater zu, Amy geschlagen zu haben. Auch, dass er sie öfter festhalte, damit sie zum Beispiel ihre Hausarbeiten zu mache. Der Psychologe macht sich erhebliche Sorgen um Amys psychischen Zustand und ihre Entwicklung. Hinzu kommt, dass er meint sie sei am Rande eines nervlichen Zusammenbruchs. Er bittet die Kommune unverzüglich einzuschreiten, da die jetzige Situation für beide Kinder äußerst belastend sei. Die Nachricht des Psychologen bewirkt keine Reaktion der Kommune, aber die Eltern beenden die Zusammenarbeit und finden einen anderen Psychologen. Zu Hause in der Villa geht der Kampf weiter. Die Adoptiveltern finden, dass die Gespräche mit dem neuen Psychologen helfen und dass es periodenweise mit Amy besser geht. „Sie geht zur Schule, sie hat gute Freundinnen und wir haben viele gute 11
Tage. Aber wir haben auch Tage, an denen alles schief läuft und alles in gewaltigem Geschrei endet. Wir arbeiten die ganze Zeit damit: „Was ist denn hier gerade passiert? Wie können wir das in Zukunft vermeiden?“, sagen sie. Die Familie ist noch sehr instabil und braucht mehr und umfassendere Hilfe, meint der Psychologe, und die Eltern sind seiner Meinung. Im Juni 2010, zehn Monate nachdem Amy nach Dänemark gekommen ist, beantragen sie offiziell bei der Kommune Næstved Familienberatung. Die Hilfe wird bewilligt, aber die Wartezeit beträgt mehrere Monate. Und in dieser Zeit wachsen die Konflikte weiter an.
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Nach eineinhalb Jahren in Dänemark hält Amy es nicht mehr aus und sie erzählt in der Schule, dass sie zu Hause geschlagen wird. Und in einem Anruf bittet sie bei der „Kinderlinie“ um Hilfe. Die Schule alarmiert die Sozialarbeiterin der Kommune, die Amy sofort zu sich ins Büro holt. Dort erzählt sie, dass ihre Eltern sie nicht mögen, dass sie sie schlagen und sie als Fremde bezeichnen. Noch am selben Tag wird ein Treffen mit den Adoptiveltern arrangiert. Sie sagen beide, dass Amy ein Mädchen sei, das vieles missversteht, vieles falsch interpretiert und immer wieder eine Menge in Gang setzt. Die Adoptivmutter sagt, dass sie Amy nicht schlagen, aber, dass es ab und zu passieren kann, dass sie sie ein bisschen schubsen, was Amy vielleicht anders verstanden habe. Und sie sagt weiter, dass dies natürlich nur in ganz extremen Situationen passiert, in denen Amy gehen will oder schreit, dass sie sie nicht als Eltern haben will und Ähnliches. Die Sitzung endet damit, dass die Eltern sagen, dass sie Amy gerne haben wollen und dass sie daran arbeiten werden eine bessere Verbindung zu ihr zu bekommen. Aber dass sie unbedingt die von der Kommune bewilligte Hilfe brauchen, auf die sie ja immer noch warten. Die Sozialarbeiterin beschließt zusammen mit ihrem Chef, dass sie die Eltern nicht wegen Gewalt gegen Amy bei der örtlichen Polizei melden werden, da die Situation noch zu unübersichtlich ist. Die Adoptiveltern sind aber angewiesen, dass jegliches Schubsen, Klatschen, Schlagen und mehr, untersagt ist, und sie im Wiederholungsfall bei der Polizei angezeigt werden. Dann fährt die Familie nach Hause, mit einem Versprechen der Sachbearbeiterin, dass sie alles in ihrer Macht stehende tun wird, um die versprochene Familienberatung, die erst in einem Monat geplant war, vorzuziehen. Aber kaum eine Woche 12
später klingelt bei der Sachbearbeiterin wieder das Telefon. Es ist der Adoptivvater, der erzählt, dass sie Amy nicht länger behalten können. „Ich höre Amy im Hintergrund schreien und es gibt deutlich wahrnehmbar Aufregung und Geschrei. Der Adoptivvater sagt mehrmals, dass es nicht mehr gehe und sie Amy nicht haben wollen. Und das trotz der Tatsache, dass Amy daneben steht und jedes Wort hören kann“, schreibt sie in die Akten. Amy hat sich im Badezimmer eingeschlossen und weigert sich heraus zu kommen. Die Sachbearbeiterin startet das Auto und fährt mit ihrem Vorgesetzten zu der Adresse, wo es ihnen schließlich gelingt, Amy zu überreden, heraus zu kommen. Die Eltern sind sich darüber einig, dass sie Amy nicht länger behalten wollen, weil sie es ganz einfach nicht schaffen und sie sprechen darüber, dass es wesentlich besser wäre, wenn Amy von einer anderen Familie adoptiert würde. Die Sachbearbeiterin nimmt Amy mit zurück zu sich ins Büro wo Amy erneut davon erzählt, dass sie geschlagen wurde, dass sie sich einsam fühlt und öfter alleine ist. Sie erzählt auch, dass die Adoptivmutter nach dem ersten Treffen mit der Sachbearbeiterin Amy gegenüber völlig ausgeflippt ist und dass es danach keinen Frieden mehr gegeben hat. „Amy fühlt und denkt, dass sie bei den Adoptiveltern nicht erwünscht ist, was die Adoptivmutter auch des Öfteren geäußert hat. Amy versteht nicht, wieso ihre biologische Mutter sie weggegeben hat. Ihr wurde versprochen, dass sie eine neue Familie in Dänemark bekommt und dass alles viel besser wird, aber es sei nur viel schlimmer geworden.“ Danach braucht die Kommune Næstved nur eineinhalb Stunden um für Amy eine Unterbringung außerhalb ihres eigentlichen Zuhauses bei den Adoptiveltern zu finden. Die Sache ist dringend. Und in solchen Fällen hat die Kommune die Möglichkeit eine sogenannte Akutpflegefamilie anzurufen, die kurzfristig ein Kind aufnehmen kann. Bei Hanne und Ole Keller, erfahrenen Pflegeeltern, die in der ländlichen Umgebungen außerhalb von Næstved wohnen und die noch Platz für ein Pflegekind haben, klingelt das Telefon. Der Anruf kommt von der Kommune. Sie haben ein Mädchen, das in der Schule sitzt. Es will nicht wieder zu ihren Adoptiveltern zurück und die wollen es auch nicht haben. Hanne und Ole haben schon zwei große Kinder in Pflege und auch zwei eigene Söhne im Alter von 16 und 25 Jahren. Ole ist Tischler, Schreiner und Ingenieur und hat seine eigene Firma auf dem Hof. Hanne, die ausgebildete Krankenschwester und Kinderpflegerin, ist Vollzeitpflegemutter. Eineinhalb Stunden später sitzt Amy in Hannes Stube, nur mit ihrer Schultasche und den Kleidern, die sie anhat. Ihre Adoption ist gescheitert, sie ist untergebracht und sie hat keine Ahnung, was mit ihr passieren wird. 13
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Die ersten paar Monate bei der Pflegefamilie werden damit verbracht, das kleine äthiopische Mädchen zur Ruhe zu bringen und ihr das Gefühl von Geborgenheit zu vermitteln. Amy ist erschüttert, unglücklich und davon überzeugt, dass irgendetwas mit ihr nicht stimmt. Sie hat ein starkes Kontaktbedürfnis und nach kurzer Zeit klammert sie sich sozusagen an ihre neue Familie. Die Adoptiveltern haben jeglichen Kontakt abgebrochen. Es ist die Sachbearbeiterin, die Amys Sachen in sieben schwarzen Säcken bringt. Die Adoptiveltern hatten die Sachen für sie in der Einfahrt abgestellt. Ihre Tante und ihr Onkel in Kopenhagen möchten ihr gerne helfen und versuchen anzurufen, daraufhin rasten die Adoptiveltern aus. Sie und die Sachbearbeiterin sind sich darin einig, dass es die Probleme nur vermehrt, also bleiben die Tante und der Onkel weg. Amy macht sich Sorgen um ihre Zukunft, darüber, was passieren wird. Die Pflegemama Hanne verbringt viele lange Abende damit, sie zu trösten und sie im Arm zu halten bis sie einschläft. In der Schule und in ihrem Freizeitclub hat sie Wein- und Panikanfälle. Sie ist gelähmt vor Angst, dass sie zurück ins Kinderheim in Äthiopien kommen könnte. Aber sie fühlt sich sicher bei der Pflegefamilie und sehr schnell entscheidet sie, dass dort ihr einziges Zuhause ist.
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Amys Adoptiveltern sind sich dessen bewusst, dass sie sie im Stich gelassen haben. Sie sind unglücklich und meinen es sei hart. Sie fühlen sich schuldig und unfähig als Eltern, notiert sich die Sachbearbeiterin. Aber sie fühlen auch eine gewisse Erleichterung, weil sie beide wissen, dass es die beste Lösung für alle ist, wenn Amy nicht bei ihnen wohnt. Sie sind sich darüber im Klaren, dass sie Amy nicht wieder zurückhaben wollen. Sie sind sich so sicher, dass sie bei der Staatsverwaltung einen Termin beantragen, um zu klären, inwieweit Amy zur Adoption an eine neue Familie weitervermittelt werden kann. Davon rät man aber ab, weil das Mädchen schon zu groß für eine neue Adoption sei. In den folgenden Monaten stellen sich bei den Adoptiveltern Zweifel ein. An einem Tag im Juli, vier Monate nachdem Amy bei der Pflegefamilie untergebracht wurde, bekommt die Sachbearbeiterin eine E-Mail: „Wir sind gerade nach drei Wochen Ferien zurück - die Ferien haben wir dazu genutzt, um in uns hinein zu 14
horchen. Wir vermissen Amy doch sehr, und wir möchten gerne, dass sie zu uns zurückkommt“, schreiben sie. Wenn sie aber glauben, dass Amy sich freuen und sich in ihre Arme werfen wird, dann liegen sie falsch. Sie hat ihre eigene Meinung und sie versucht nicht, sie zu verheimlichen: „Ich mache das nicht. Sie glauben, dass man ein Stück Spielzeug ist, das man erst kaufen und dann verkaufen kann, und das man dann doch wieder zurück haben will“, sagt sie. In den folgenden Monaten eskaliert der Konflikt zu einem chaotischen Machtkampf zwischen Adoptiveltern, Kommune, Kind und Pflegeeltern. Die Kommune braucht Monate für die Sachbearbeitung und die psychologischen Gutachten und verschiebt die Entscheidung immer wieder. Die Adoptiveltern machen Druck, dass sie Zeit mit Amy verbringen wollen und sie schnell zurück nach Hause bekommen. Wenn die Pflegeeltern versuchen Amy vor dem Druck zu schützen, klagen die Adoptiveltern, dass sie sie für sich behalten wollen. „Man kann doch nicht einfach anderen Menschen die Kinder wegnehmen“, sagen sie in einem großen Interview in der Tageszeitung Politiken. Für Amy bedeutet das viele Monate der Ungewissheit, unendliche Sitzungen bei der Kommune und überwachte Besuche der Adoptiveltern. Sie kriegt noch mehr Magenbeschwerden, Angst- und Stress-Symptome. Es wird nahezu unmöglich für sie, sich in der Schule zu konzentrieren, obwohl sie wirklich gerne lernen will und sich um ihre Noten kümmert. In November 2011 entscheidet die Kinder- und Jugendbehörde der Kommune Næstved, dass Amy nicht in die Adoptivfamilie zurückkehren soll. Darüber ist Amy erleichtert, aber die Kommune ist nicht bereit, ihrem großen Wunsch zu entsprechen, sie bei der Pflegefamilie zu belassen. Leitende Mitarbeiter in der Kinder- und Jugendbehörde sind der Auffassung, dass ihre psychischen Beschwerden so groß sind, dass sie Behandlung braucht. Amy ist verzweifelt, hat Angst und ist generell verstört. Sie hat eine Vertrauensperson von der Organisation Børns Vilkår, die zusammen mit den Pflegeeltern und anderen erwachsenen Freunden aus Amys Umfeld versucht, sich bei der Kommune Gehör zu verschaffen. Sie verfügen über erfahrene Psychologen und Experten für Adoptivkinder. Brief um Brief wird an die Kommune geschrieben, an den Beschwerdeausschuss, sie wenden sich sogar an die damalige Sozialministerin Karen Hækkerup. All das bewirkt nichts. Barnets Reform, ein Gesetz, das 2010 beschlossen wird, sollte eigentlich das Kindesrecht auf Selbstbestimmung fördern, damit Kinder selbst Einfluss auf ihr Leben 15
nehmen können. Es sollte auch die Kontinuität in der Unterbringung von Kindern fördern und bewirken, dass Kinder nicht zwischen verschiedenen Unterbringungen herum geschubst werden. Das alles kümmert die Kommune Næstved aber nicht, und wenn Amy nicht freiwillig in eine neue Institution mitkommt, muss man sie eben zwingen. Das erste Mal als sie sie abholen wollen, kehren sie in der Einfahrt wieder um, weil die gesamte Lokalpresse draußen wartet. Das zweite Mal ist sie nicht zu Hause und das dritte Mal rennt Amy weg. Das ganze Medienpalaver wird der Kommune zu viel und es scheint für eine Weile, als würde sie ihre Meinung ändern. Es folgen einige Tage mit Versprechungen auf ein Gespräch unter Einbeziehung von Experten des Sozialausschusses, in dem es eine Art Akut-Einheit gibt, mit dem Namen „VISO“ (Wissens- und Spezialberatungsausschuss), die den Kommunen in ganz schwierigen Fällen beisteht. Aber die Kommune hält ihre Versprechen nicht ein. Am 6. März 2012 um 15 Uhr kommen sechs erwachsene Menschen zur Adresse der Pflegeeltern und zerren Amy mit Gewalt in das wartende Auto, während die Vertrauensperson von Børns Vilkår und die Pflegeeltern nur machtlos zussehen können. Das Einzige, was ihnen zu tun übrig bleibt, ist es, mit einer Kamera alles zu filmen, in der Hoffnung, dass dies die Mitarbeiter der Kommune dazu bringen wird, nicht so gewalttätig mit Amy umzugehen. Die Kamera zeigt aber keine Wirkung. Børns Vilkår beschreibt in der darauf folgenden Anzeige bei der Polizei gegen die Kommune Næstved, wie es abgelaufen ist: ”Er (der männliche Pädagoge) zerrt Amy auf den Boden, dann bekommt er Hilfe von seiner weiblichen Kollegin, die Amys Beine ergreift. Der Vorgang ist unwahrscheinlich gewalttätig. Amy kämpft sichtlich mit aller Kraft dagegen an. Sie klammert sich an die Couch, an die Stühle und an die Vertrauenspersonen, die ihr nicht helfen können. Das ruft aber nur noch stärkere Gewalt hervor. Amy ist panisch, schmerzerfüllt und unglaublich unglücklich. Es ist deutlich sichtbar, dass die Tätlichkeiten Amy gegenüber brutal sind und ihr durch die gewaltsam Festhaltenden körperliche Verletzungen zugefügt werden. Auf dem Video, das von Hanne Kellers ältesten Sohn aufgenommen wurde, ist zu hören, wie Amy mehrere Minuten lang laut schreit. Laut Børns Vilkår ist das Vorgehen unwahrscheinlich grob, aber leider kein Einzelfall. Es gibt viele Beispiele dafür, dass Kommunen die Regeln verletzen und die Kinder bei schwierigen Sozialfällen nicht fragen oder einbeziehen. 16
Es kommt aber noch schlimmer. Vom Hof der Pflegeeltern wird Amy von fremden Menschen in ein Sommerhaus gefahren. Dort wird sie mit ein paar Pädagogen isoliert, damit sie sich beruhigen kann. Von dort kommt sie in die Institution ARKEN in Holbæk, wo die Isolation fortgesetzt wird. Sie nehmen ihr das Handy weg, verbieten den Beistand von Børns Vilkår und jeden Kontakt zur Pflegefamilie. „Würde es sich um eine erwachsene Person handeln, so müsste diese entweder geisteskrank, kriminell oder eine Gefahr für sich selbst und andere sein, um so weitgehende Zwänge anzuwenden“, sagt der Jurist der dänischen Sektion von Amnesty International über die Behandlung, der die kaum Zwölfjährige ausgesetzt wurde.
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Amy wohnt schon mehrere Monate in Arken, als das Telefon in der Redaktion von Politiken klingelt. Die Stimme am anderen Ende gehört einer der leitenden Adoptionspsychologinnen, die zentral das System der Adoptionen von DanAdopt in Dänemark überwachen und unterstützen. Sie ist frustriert und verzweifelt über Amys Akte. Sie hat mehrmals versucht die Behörden anzusprechen, aber ohne Erfolg. Jetzt bittet sie mich dringend darum, dass ich mir den Link zu einem Video ansehe, weil das, was auf den Bildern zu sehen ist, ganz einfach nicht wahr sein kann; ist es aber… So kommt es, dass ich Tigist das erste Mal sehe. Tigist, deren Name jetzt Amy ist: ein kleines Mädchen das kämpft und schreit, während zwei große Erwachsene sie mit Gewalt aus einem Haus zerren und sie auf den Rücksitz eines Autos werfen. Über Kinder und Sozialfälle zu berichten ist ein Alptraum für Journalisten, weil die Behörden immer wieder auf ihre Schweigepflicht verweisen können. Oft hört man nur die halbe Wahrheit und das Risiko etwas falsch zu berichten ist groß. Ich brauche deshalb Wochen, um die Berge von Dokumenten und Interviews dieses komplizierten Falles durchzusehen: Familie, Schulkameraden, Nachbarn, Adoptiveltern, Kommune und eine Reihe von Fachleuten, die Einsicht in den Fall haben Während der Arbeit wird Amy zwölf. Jetzt hat sie das Recht ihre eigene Akte einzusehen. Sie erlaubt mir die Einsicht und jetzt kann ich alles lesen. Nach vielen Problemen verabreden wir schließlich, uns heimlich in einem kleinen Park hinter dem Bahnhof in der kleinen Stadt zu treffen. Um sie verlassen zu können, belügt Amy die Institution und gibt vor Süßigkeiten kaufen zu wollen. Stattdes17
sen trifft sie sich aber mit mir und einem Fotografen. Amy erzählt ausführlich alles, was sie durchgemacht hat, seit sie nach Dänemark gekommen ist und was schließlich damit endete, dass sie jetzt in einem Heim lebt. Ihr geht es nicht gut. Sie mag die Betreuer nicht und sie vermisst die Pflegefamilie. Es ist deutlich, dass sie sich unter Druck fühlt und sehr traurig ist. Wir haben nicht viel Zeit, weil die Betreuer sie schon bald wieder zurückerwarten. Amy will versuchen ihre lange Abwesenheit damit zu erklären, dass ihr Fahrrad die Kette verloren hat. Wir verabschieden uns und sehen ihr Fahrrad die Hauptstraße entlang in der warmen Sommersonne verschwinden. Ein dünnes, trauriges und einsames Mädchen in Dänemark. Kurz darauf kann Politiken über ein paar Wochen hinweg die dramatische Geschichte von Amy erzählen. Die Videobilder des gewaltsamen Umzugs schlagen in den Medien wie Granaten ein. Es hagelt Kritik auf die Kommune Næstved, die kurz danach die Meinung ändert und sich endlich Beratung bei der Akut Einheit VISO holt. Es dauert nur wenige Wochen bis deren Empfehlungen fertig sind: Amy soll zu ihrer Pflegefamilie nach Hause. Die Kommune gibt nach, holt das erstaunte Mädchen ab und fährt es, mit dem Versprechen, dass es jetzt dort bleiben kann, direkt zum Hof. Amy ist überwältigt vor Glück und auch für die Journalistin ist es ein Glückstag, wenn ein paar Artikel so schnell einen Fall auflösen können, der sich so lange hingezogen hat. Aber etwas nagte noch an mir. Traurige Kinderschicksale gibt es genug, aber das Besondere an Amy ist, dass sie adoptiert wurde. Ich kenne viele, die ein Kind adoptiert haben, aber habe noch nie von einer Adoptivfamilie gehört, die ihr Kind dann doch nicht haben wollte. Oder auch nicht von Adoptivkindern, die eine Mutter haben, nach der sie sich sehnen.
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Eine Adoptionsforscherin der Universität Kopenhagen, die selbst ein Kind aus Afrika adoptiert hat, schreibt mir. Sie meint, dass Amys Akte ein Beispiel dafür ist, wie die beiden dänischen Adoptionsagenturen DanAdopt und AC Børnehjælp (AC Kinderhilfe) internationale Konventionen missbrauchen, um die Bedürfnisse von dänischen Eltern zu erfüllen. Die Agenturen suchen mit der Lupe nach neuen Abgeber-Ländern in Afrika mit der Begründung, dass jedes Kind das Recht auf eine Familie habe. „Ja, aber dieses Recht gibt keiner noch so schönfärberischen Agentur das Recht, diese Kinder ihren 18
Familien wegzunehmen und sie einer fremden Familie in einem anderen Land zu geben“, schreibt mir die Diplomwissenschaftlerin für Volksgesundheit Merete Laubjerg. Ihre Forschung zeigt, dass ein relativ hoher Anteil der Adoptivkinder von den Adoptiveltern außerhalb ihres eigenen Zuhauses untergebracht wird - Amy ist ganz und gar kein Einzelfall. Aber die Unterbringung ist nur die Endstation. Schon von Anfang an wurden die Rechte dieser Kinder mit Füßen getreten, meint sie, haben doch Amy und ihre kleine Schwester bereits eine Familie in Äthiopien - sie haben eine Mutter, eine große Schwester und Großeltern. Trotzdem haben der dänische Staat und die Adoptionsagentur - im diesem Falle DanAdopt - die Genehmigung Kinder nach Dänemark zu „importieren“. Das ist ein klarer Bruch der UN-Kinderrechtskonvention, sozusagen des Grundgesetzes der Kinder, schreibt Merethe Laubjerg. Die UN-Kinderrechtskonvention legt unter anderem fest, dass ein Kind ein Recht darauf hat seine Eltern zu kennen und, wenn möglich, bei seinen Eltern aufzuwachsen. Auch ein Adoptivvater schreibt uns und fordert uns auf, die Rolle von DanAdopt näher zu betrachten: Ihm und seiner Frau wurde im Laufe des Adoptionsprozesses ein „Geschwister-Paket“ mit einem niedlichen kleinen Baby und einem Mädchen von fünf Jahren, das auf dem Bild mindestens wie acht aussah, angeboten. „Und die Papiere waren voller widersprüchlicher Informationen. Wir waren uns zum Beispiel nicht sicher, ob es sich wirklich um Geschwister handelte“, schreibt er, und fügt hinzu, dass die ausländischen Webseiten es nicht sonderlich geheim halten, dass Adoption in Äthiopien ein Geschäft ist, bei dem Kind und Korruption Hand in Hand gehen. Eine Adoptivmutter erzählt, dass sie selbst im Zusammenhang mit ihren zwei Adoptionen aus Äthiopien „Ungeheuerliches“ erlebt hat und dass der Handel mit Kindern in dem afrikanischen Land ein gruseligerWirtschaftsfaktor ist. Vergeblich versuchte sie darauf aufmerksam zu machen, aber stattdessen hat man ihr, ganz im Gegenteil, den Mund verboten. Aus dem Grund denke ich: ”Vielleicht sollten wir uns die Adoptionen aus Äthiopien näher ansehen. Und vielleicht sollten wir die Geschichte von Amy ganz zu Ende schreiben.“ Und so beginnt meine Reise in eine neue und unbekannte Welt: auf die Schlachtfelder der Adoption.
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1. DAS FUNDAMENT WANKT
Viele Adoptierte haben es gut in Dänemark. Sie wachsen in liebevollen Familien auf und werden gut erzogen, erhalten eine Ausbildung, bekommen einen Job, eigene Familien und Kinder. Adoption ist Win-win, wenn ein elternloses Kind aus einem armen Land eine neue Familie bekommt und einem kinderlosen Paar oder einer Alleinstehenden der Traum erfüllt wird Eltern zu werden. Seit die ersten deutschen Mischlingskinder in den 50er-Jahren nach Dänemark kamen, mehr oder weniger illegal, haben wir zwischen 20.000 und 30.000 Kinder aus anderen Ländern via Adoption importiert. Zusammen mit den anderen nordischen Ländern hält Dänemark den Weltrekord in Adoptionen verglichen mit der Bevölkerungszahl. Über viele Jahrgänge hinweg ist fast eines von hundert Kindern aus dem Ausland adoptiert. Die Dänen kämpfen nämlich mit ihrer Fruchtbarkeit. Wir warten zu lange und deshalb wird es schwierig schwanger zu werden, und oft können sogar die sonst so tüchtigen Ärzte nicht zur Fertilität verhelfen. Aber dann gibt es ja immer noch die Möglichkeit einer Adoption. Und in der großen Welt gibt es ja reichlich arme Kinder, die wir zu uns nehmen können. Die unerwünschten Kinder der Armen. Die, die besonders willkommen sind Adoption ist ein einzigartiges Phänomen in einer Zeit, in der wir uns doch sonst so große Mühe machen, um Flüchtlinge, Armut und Migranten außerhalb unserer Grenzen zu halten. Kinder ohne Familie sind verletztlich und brauchen deshalb besonderen Schutz. Aber betrachtet man es von einem rein humanitären Blickwinkel aus, so könnte man das wohl auch über deren alleinstehende Mütter sagen. Oder wie ist es mit alten Menschen in den armen Ländern, die keine Familie haben, die für sie sorgt – wieso holen wir die nicht nach Dänemark, um ihnen einen sicheres Alter zu bieten? Stellen wir uns einmal vor, dass uns im Mittelmeer ein überfülltes Boot von verzweifelten Flüchtlingen begegnet – Männer, Frauen und Kinder. Wir sind auf einem großen dänischen Schiff und wir bieten ihnen an, dass wir den ganz kleinen und GESUNDEN Kinder helfen, sodass diese gerettet werden können. Wenn sie an Bord sind, sagen wir „tschüss“ und segeln weiter, während die restlichen Menschen im Meer ertrinken. Grob gesehen ist das genau dasselbe, was wir tun, wenn wir Kinder aus armen und kranken Familien adoptieren. 20
Wir lassen nicht nur die Kinder nach Dänemark hinein, sondern wir bauen auch noch ein gewaltiges System auf, um alles leichtgängig zu machen, damit sie besonders schnell ins Eldorado kommen, weil sie ein gefühlsmäßiges Bedürfnis bei uns stillen. Wir brauchen Kinder, die wir lieben können. Aber deren Mütter, Väter, große Geschwister, Onkel, Tanten und Großeltern können wir nicht gebrauchen. Aber mit unserem Wunsch, Kinder ohne Familie zu schützen, tut man nicht allen Kindern einen Gefallen. In den Jahren 2005 bis 2010 haben 1.043 Kinder unter zwölf Jahren die Absage erhalten, von einem oder zwei Elternteilen adoptiert zu werden. Danach sind die Regeln gelockert worden, aber Kinder, die älter als acht Jahre alt sind, können immer noch abgewiesen werden, falls ihre Zukunftsaussichten in Dänemark nicht gut genug sind oder wenn man meint, dass sie unintegrierbar sind. Als Dänemark 2014 die Richtlinien für die Familienwiedervereinigung von Flüchtlingen verschärft hat, war eine große Anzahl von Kindern unter zwölf Jahren betroffen. Sie müssen ein Jahr länger in einem Flüchtlingslager verbringen, bevor sie mit ihren biologischen Eltern in Dänemark wieder vereint werden können. Keine dieser Richtlinien gilt, wenn es um Adoptivkinder geht. ”Wieso sind einige Kinder willkommen und andere sind es nicht?“, fragt die, aus Korea adoptierte, Adoptionsforscherin Lene Myong. „Und wären Adoptivkinder genauso willkommen, wenn sie mit ihren Ursprungsfamilien kämen?“ Die Geschichte der dänischen Adoptionen Es gab Zeiten, in denen gab es auch in Dänemark einen Überschuss an Kindern. Kinder aus ungewollten Schwangerschaften von alleinstehenden Müttern, die „ins Unglück“ gekommen waren, wurden direkt nach der Geburt adoptiert. Auch arme Familien mit vielen Kindern, die bei der Vorstellung eines weiteren Kindes so verzweifelt waren, dass sie bereit waren, ihr Kind wegzugeben. Es gab so viele Kinder, dass man oftmals dafür bezahlen musste, damit jemand die gesunden Säuglinge adoptierte. Aber mit dem steigenden Wohlstand, der Ausbreitung von sozialen Hilfswerken und besseren Verhütungsmethoden verschwand die Adoption als Armutsproblem und es kam zu einem Mangel an dänischen Kindern. Heutzutage ist es beinahe unmöglich ein Adoptivkind aufzutreiben. 2014 wurden nur vierzehn in Dänemark geborene Kinder adoptiert.
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In den 50er-Jahren begannen dänische kinderlose Paare die ersten Mischlingskinder aus Deutschland zu holen, und, wie in dem Buch „Børneimporten“ beschrieben, geschah dies ohne jegliche Kontrolle durch die Behörden. Das hatte schlimme Folgen für einige der Kinder und am schlimmsten für die neun Kinder, die von dem Ehepaar Ole und Lise Brems adoptiert wurden. Sie haben drei der Kinder zu Tode gequält, während der Oberarzt Ole Brems Vorsitzender des ersten dänischen Adoptionsbüros war. Die privaten Adoptionsbüros haben die Adoption systematisiert und nach und nach folgten auch Kontrolle und Aufsichtsbehörde. Werdende Eltern wurden geprüft und die Adoption musste genehmigt werden. Die mögliche Anzahl der Kinder, die man adoptieren konnte, wurde begrenzt. Die privaten Büros mussten unter staatlicher Beobachtung arbeiten. Über mehrere Jahre hinweg gab es in Dänemark ganze drei Adoptionsbüros: „Glemte Børn“ (Vergessene Kinder) wurde zu DanAdopt, eine Absplitterung führte dabei zur Entstehung von AC Børnehjælp und außerdem gab es noch die dänische Abteilung von „Terre des Hommes“. Im Jahr 2000 musste Terre des Hommes die Zulassung aber zurückgeben, weil sie sehr wahrscheinlich mit betrügerischen ärztlichen Gutachten gearbeitet hatten – eine große Anzahl von rumänischen Kindern wurde für gesund erklärt, obwohl sie retardiert und geistig krank waren. Eine Woche später wurde bestätigt, dass zwei Drittel der Kinder aus Rumänien bei der Ankunft physische oder geistige Probleme hatten. Fünf bis fünfzehn Jahre später hatten zwei von fünf Kindern immer noch so große Probleme, dass sie entweder Spezialklassen besuchten oder in Spezialinstitutionen untergebracht waren, während eine kleinere Anzahl von ihnen außerhalb des Heims platziert wurde. Die Sache wirft einen Schatten auf Adoptionen aus Rumänien und die letzten rumänischen Adoptivkinder kamen im Jahr 2000 nach Dänemark, mehrere Jahre bevor Rumänien selbst einen Adoptionsstopp einführte. In der Folge sind DanAdopt und AC Børnehjælp die nächsten fünfzehn Jahre lang alleine am Markt. DanAdopt hat den Hauptsitz in Birkerød und AC Børnehjælp in Aarhus. Nach der großen Krise im Adoptionsbereich (von 2012 bis 2014) werden die beiden unter dem Namen „Danish International Adoption“ oder DIA, mit Hauptsitz in Birkerød nördlich von Kopenhagen, wiedervereinigt. Ein umfassendes System Adoption in Dänemark ist auf einmal Privatsache und ein öffentliches Anliegen. Die Adoptionsbüros sind private „Non-Profit-Organisationen“, deren gesamte Einnah22
men aus den Gebühren der Adoptiveltern stammen. Statt diese zurückerstatten, behalten sie einen Anteil von ungefähr 50.000 Dänischen Kronen pro Kind als Zuschuss zu ihren Ausgaben. Gleichzeitig unterhalten die dänischen Behörden ein großes und kompliziertes System um alles verwalten und regulieren zu können: „Die Staatsverwaltung“ (das frühere Staatsamt) und deren Adoptionsrat sind verantwortlich für die Prüfung der Paare, die eine Adoption beantragen und die Ausstellung der entsprechenden Genehmigung. „Adoptionsnævnet“ ist ein unabhängige Beschwerde- und Aufsichtsagentur, die vor allem die Klagen von Paaren deren Genehmigung abgelehnt wurde, behandelt. Die Agentur reist aber zu Kontrollzwecken auch ins Ausland. Es gibt ärztliche Experten, die den Allgemeinzustand der Kinder und die Gesundheitsangaben beaufsichtigen und überprüfen. Es gibt die obligatorischen Anfängerkurse für Adoptiveltern und psychologische Ratgeber, die die Eltern nach der Ankunft beraten. Die Aufsicht über die Adoptionsbüros sowohl im Ausland wie im Inland lag über Jahre hinweg beim Justizministerium, befindet sich jetzt aber beim Beschwerdeausschuss des Sozialministeriums. In Dänemark gibt es Vereine für alles. Der Verein für Adoption heißt „Adoption & Samfund“ (Adoption und Gesellschaft). Er wurde 1977 gegründet und war das erste Forum, in dem Adoptiveltern ihre Erfahrungen austauschen können. Seit der Zeit, in der private Enthusiasten mehr oder weniger illegal Mischlingskinder nach Dänemark gebracht haben, haben Adoptionen einen festen Rahmen bekommen, das Verfahren wurde überarbeitet und durch Gesetze und Reformen verfeinert. Ein umfassendes, solides, und, so wie es aussieht, durch und durch reguliertes System, in dem alle zusammenarbeiten mit dem Ziel Adoptionen von hoher Qualität durchzuführen, so dass geeignete Eltern Kinder erhalten, die nicht zu krank und nicht zu behindert und gerne so klein wie nur möglich sind. Kinderlose Dänen haben über Jahre in dem Bewusstsein gelebt, dass Adoption ein sicherer Weg ist, ein Kind zu bekommen, falls die Natur und die Ärzte ins Leere laufen. War die Adoption erst einmal genehmigt und hatte man genug Geld für die ganzen Gebühren, konnte man mit Sicherheit davon ausgehen, dass man ein Kind bekam. Bislang ging es immer darum, dass die Regeln zu streng seien. Wieso konnten so viele keine Genehmigung bekommen? Sollten nicht Alleinstehende und Homosexuelle auch adoptieren können?
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Eine andere Diskussion war der Preis: Wieso sollte eine Adoption mehr Geld kosten als eine künstliche Befruchtung? Wäre es nicht nur fair die beiden Wege gleichzustellen? Ein Kind ist doch ein Kind, egal wie es kommt. Adoption ist ein Teil der Wohlfahrt geworden, genauso wie vieles andere, das die Gesellschaft den Bürgern zur Verfügung stellt - eben eine Hilfe für Eltern ohne Kinder. Das Bild ändert sich Das dänische Adoptionssystem galt als wohlangesehen, solide, gut reguliert und ethisch verantwortungsvoll. Korruption und Kinderhandel, so etwas gab es vielleicht in anderen Ländern, die bereit waren den höchsten Preis für ein Kind zu bezahlen, aber doch nicht in Dänemark. Durch internationale Vereinbarungen und europäische Netzwerke ist gesichert, dass die dänischen Vermittler ebenso verantwortungsvoll, wie ethisch korrekt handeln. Nein, es sind all die anderen, die Kinder kaufen, glaubt man 2003, als Ole Bergman, Vorsitzender bei DanAdopt, schätzt, dass die USA zum Beispiel für Kinder aus Kolumbien zwischen fünfzig und zweihundert Prozent mehr bezahlen, als die dänischen Vermittler. So wie es aussieht, gibt es genügend Kinderheime und Vermittler in den armen Ländern, die für Bares immer ein frisch gewaschenes Kind finden können, das sofort zur Auslieferung bereit ist. Sind die dänischen Vermittler doch die Guten, die zusammen mit anderen Vermittlern im Norden und in Europa den ethisch richtigen Weg gefunden haben. Das Bild ändert sich aber 2012, als die dänischen Zeitungen über zwei äthiopische Kinder berichten. Zuerst ist es Amy, und scheinbar zufällig zeigt der dänische Fernsehsender TV2 den Dokumentarfilm: “Mercy, Mercy - der Preis der Adoption“, über das Mädchen Masho, das ebenfalls aus Äthiopien adoptiert wurde, nur um ein paar Jahre später von ihren Adoptiveltern abgelehnt und in einer Vollzeitinstitution untergebracht zu werden. Ein wahrer Sturm bricht über das Thema Adoption herein. Die Geschichten aus Äthiopien öffnen eine Büchse der Pandora, mit Berichten über Kinderhandel, den Missbrauch armer Mütter, wahnsinnige Gebühren, fehlerhafte Aufsicht und über ein riesiges ökonomisches und administratives Chaos. Die nette Geschichte über Adoptionen hat sich in eine Horrorgeschichte verwandelt. Wegen des Sturms in den Medien fühlen sich viele Adoptiveltern als Angeklagte. Viele spüren, dass die Leute denken, sie hätten ihre Kinder gekauft. Es ergeben sich aber auch neue Erkenntnisse. 24
Eine davon ist zum Beispiel die, dass Adoptivkinder sehr oft keine elternlosen Kinder sind, das Bild vom Kind in der Babyklappe ist nur manchmal wahr. Jedes Kind hat irgendwo eine Familie und viele Adoptivkinder haben mit ihren Müttern und Vätern gelebt, bevor sie nach Dänemark kamen. Einige werden als größere Kinder adoptiert und dann ist schon die Adoption an sich ein Trauma für das Kind. Ein anderes Problem ist, dass es, auch wenn es vielen Adoptivkindern gut geht, es eine große Minderheit gibt, denen es schlecht geht. Manche, so wie Amy und Macho, wurden im Stich gelassen oder sind Übergriffen ausgesetzt, und „man“ hat es nicht bemerkt, weil die Adoptiveltern nach außen hin normal und wohlhabend wirken. Andere wiederum wachsen einsam, fremd und ohne Identität auf oder fühlen sich dem Rassismus ausgesetzt. „Win-win“ wird plötzlich zur „Lose-lose-lose“, wenn eine biologische Familie in Afrika durch eine Adoption auseinander gerissen wird, die dann auch noch in Dänemark schief läuft. Man muss sich fragen: Geschieht dies, um den Kindern zu helfen, oder geht es nur darum, kinderlose Dänen zufrieden zu stellen? Das dänische Adoptionssystem ist kurz davor in wenigen Monaten in die Brüche zu gehen, in letzter Sekunde wird es aber von den Politikern durch eine große Reform und einen Zuschuss von ein paar Millionen gerettet. Adoptionen in Dänemark können fortgesetzt werden, jetzt aber mit noch mehr Kontrollen. Die Zukunft wird zeigen, ob das ausreicht. In diesem Buch geht es darum, was davor geschah und um einige der Geheimnisse, die in der sonst so vertrauenswürdigen dänischen Welt der Adoptionen verborgen sind. Es erzählt die Geschichten, über die zuvor kein Mensch reden wollte. Es ist unmöglich zu sagen, wie viele Adoptionen real auf die Schattenseite gehören, weil Offenheit und Transparenz Fremdwörter sind, wenn es um Adoption geht. Aber sie existieren, die unethischen, unglücklichen und illegalen Adoptionen. Und lässt man sie in Vergessenheit geraten, ist es nur eine Frage der Zeit, bevor das dänische Adoptionssystem wieder vor dem Aus steht.
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2. KAUM ZU ENTBEHREN
Damals, als Amy noch Tigist hieß und mit ihrer Familie in der Stadt Asela im äthiopischen Hochland lebte, war sie ein eigensinniges Mädchen, sie wollte zu Hause sehr gerne bestimmen. Wollte sie zum Beispiel Spaghetti und bekam diese nicht, konnte sie sehr wütend werden. Wollte ihre Mutter mit einem Mann ausgehen, konnte es passieren, dass sie ihr folgte, weil sie ihre Mutter für sich haben wollte. Das alles erzählt sie mit einem Grinsen. Sie weiß viele Geschichten aus ihrer Kindheit und aus ihrer Heimat in Afrika; Familie, Nachbarn, Freundinnen und auch vier Jahre Schulbesuch haben viele Erinnerungen bei ihr hinterlassen. Da gab es die beste Freundin Kiyu. Die beiden Mädels waren sich so ähnlich, dass man sie für Zwillinge halten konnte und sie benahmen sich auch so. Wenn Kiyu bei Tigist zur Besuch war, fühlte sich ihre sonst so geliebte große Schwester überflüssig und wurde eifersüchtig. Tigist und Kiyu wollten dieselben Kleider tragen, zusammen schlafen und schlug sich die eine die Hand blutig, passierte der anderen dasselbe. Es konnte so schlimm sein, dass Mama Genet schimpfte und verlangte, dass sie mit dem Blödsinn aufhören sollten. Eine andere sehr wichtige Person im Tigists Kindheit war ihr Großvater. Er konnte so gut Geschichten erzählen, dass alle nur noch atemlos dasaßen und zuhörten. Und er konnte das ohne Ende. Wenn er zu Besuch war, kamen alle aus ihren Häusern und setzten sich um ihn herum, nur um ihn erzählen zu hören. Aber am allerwichtigsten war für sie ihre große Schwester Bethlehim, die drei Jahre älter ist und ein ganz anderes Temperament hat - war Tigist wild und extravertiert, so war Bethlehim sehr still, schüchtern und ernst. Aber sie war klug, sie war die klügste Person, die Tigist kannte und die beiden liebten sich sehr und waren unzertrennlich. Aber Bethlehim musste in Äthiopien bei ihrer kranken Mutter bleiben. Im August 2009 sitzt Tigist mit ihrer kleinen Schwester Bizuayehu das erste Mal in einem Hotelzimmer mit zwei fremden Weißen, die jetzt ihre Mutter und ihr Vater sein sollen. Sie können nicht miteinander reden, aber ein bisschen English hat Tigist schon gelernt und sie versteht es auch, als sie sagen:“And now your new name is Amy.“ „Da war es wohl, dass ich zum ersten Mal dachte, dass sich das irgendwie nicht richtig anfühlt“, sagt sie heute. „Ich erinnere mich, gefragt zu haben: Why?“, aber ich bekam keine Erklärung, und dann dachte ich: „Ich muss mich wohl daran gewöhnen.“ 26
Als sie in Dänemark ankommen, wartet Tigist lange darauf, dass sie nach Hause telefonieren und mit ihrer ernsthaft erkrankten Mutter und ihrer Schwester sprechen kann. Sie ist sehr besorgt und weiß nicht, ob ihre Mutter lebt oder tot ist. Haben sie zu Hause genug zu essen? Und was ist mit Bethlehim, wenn ihre Mutter nicht mehr da ist. Schließlich nimmt sie all ihren Mut zusammen und fragt. „Und das war der Moment, in dem sie mir erklärten, wie es sich wirklich verhält.“ Es besteht nicht beabsichtigt, dass sie ihre Mutter oder ihre Schwester jemals wiedersehen soll. Es ist auch nicht vorgesehen, dass sie anruft oder Briefe schreibt. Sie hat jetzt eine neue Mutter und einen neuen Vater. „Sie sagten, dass die Adoptivmutter meine Mutter sei, und dass es keinen Grund gäbe mit meiner Mutter aus Äthiopien zu sprechen“ erzählt sie. Sie durfte auch keine äthiopische Musik hören oder die äthiopisch sprechen, sagt sie. Wenn sie wütend wurde, kam es vor, dass sie ihre Adoptivmutter anschrie: „Du bist nicht meine Mutter, meine Mutter ist in Äthiopien.“ „Dann musste ich versprechen, dass ich so etwas niemals wieder sagen würde. Ich sollte auch getauft werden, und gleich danach sagten sie: „Siehst du, du bist unsere Tochter“, aber ich war elf Jahre alt, und blöde bin ich auch nicht. Ich vergaß doch meine Mutter nicht und ich werde sie auch niemals vergessen.“ sagt Amy. Die Adoptiveltern sind der Meinung, sie ist jetzt in Dänemark und muss erst einmal zur Ruhe kommen und eine Bindung zu ihnen aufbauen. Das geht aber natürlich nicht, wenn sie die ganze Zeit an ihre Familie in Äthiopien denkt. Auch Amys „Tante und Onkel“ in Kopenhagen haben den Eindruck: „Wir durften mit den beiden Kindern nicht über ihre Vergangenheit in Äthiopien reden. Die Absicht der Adoptiveltern war es, die Verbindung der beiden Kinder zu ihrer Vergangenheit zu kappen und sie zu Däninnen zu assimilieren“, erzählen die beiden und sie wundern sich, dass die Kinder dänische Namen tragen und ihre ursprünglichen Namen nicht einmal als zweiten Vornamen behalten durften. Fast jeden Tag sieht sich Amy das abgenutzte Fotoalbum an. Es ist ihre einzige Erinnerung an ihre Vergangenheit. Sie kuckt und kuckt auf die alten Bilder. Dann, eines Tag nehmen die Adoptiveltern ihr auch das weg und verstecken es. Juristisch sind mit der Adoption alle Beziehungen zu der Familie, die sie die ersten zehn Jahre ihre Lebens gekannt hat, beendet. Und ihre neuen Eltern wollen die volle Elternschaft für ihre zwei neuen Kinder übernehmen. Sie haben nicht den Wunsch eine Art Pflegeeltern zu sein, das ist ganz einfach nicht das, was sie von ihrer Adoption erwarten. *** 27