Powision Issue #18 "Differenzen"

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Ausgabe 18 | 2 Euro



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iebe Leser*in,

mit dieser Powision hältst du den Abschluss einer fast einjährigen Arbeitsphase in Händen. Von den ersten Themenideen bis zum letzten Schliff im Layout war dieser Prozess geprägt von Differenzen: In der ersten Themenfindung blieben wir erfolglos, da sich Meinungen nicht vereinen ließen. Dann sorgten die Erwartungen, eine ganz besondere Ausgabe zum 10jährigen Jubiläum zu gestalten, für Anspannung, auch in ehemaligen Redaktionsmitgliedern. Beim Lesen der Artikel fühlten wiederum einzelne Personen Widerstände, die andere Redaktionsmitglieder teils überhaupt nicht nachvollziehen konnten. Und immer wieder gab es Diskrepanzen zwischen redaktionellen Träumen und realem Zeitbudget. Stärker als bei anderen Ausgaben haben wir uns als Redaktion außerdem während der Erarbeitung dieser Ausgabe die Frage nach unseren eigenen politischen Standpunkten gestellt. Wer darf Anders-sein für wen reklamieren? Sind Unterscheidungen immer hierarchisch? Welche Positionen beziehen wir als Einzelpersonen in verschiedenen Debatten? Immer wieder wurde darüber diskutiert, was daraus für unser Heft folgt. Denn als Redaktion beeinflussen wir auf ganz verschiedene Weise eine Ausgabe. Indem wir z.B. gezielt Personen als Autor*innen ansprechen, oder wenn wir durch unsere Korrekturen bestimmte Aussagen von Artikeln betonen. Aber auch mit der Reihenfolge der Beiträge oder durch dieses einleitende Editorial. Dabei gibt es Differenzen, die im Prozess dieser Ausgabe offen diskutiert wurden. Zum Beispiel, ob es Menschen oder Meinungen gibt, denen wir mit Powision dezidiert keine Plattform geben wollen. Andere Abwägungen werden verdeckter getätigt: während des Formulierens von E-Mails und Kommentaren, oder in Denkprozessen, die diesem Editorial zu Grunde liegen. In den Abschnitten dieser Ausgabe haben wir versucht, diese Fragestellungen aufzunehmen und anhand von vier verschiedenen Herangehensweisen Standpunkte um das Thema Differenz greifbarer zu machen. Unter dem Stichwort VERSTEHEN? skizzieren die Autor*innen größere theoretische Debatten. Während Petra Klug sich anhand einer Gegenüberstellung von Haideh Moghissi und Judith Butler an Hauptpunkte aktueller Debatten in (queer-)­ feministischer Forschung annähert, plädiert Eden Yohannes Yoseph für die Betrachtung afrikanischer Feminismen. Anschließend beschreibt Claudia Gottwald Behinderung als Form verkörperter Differenz und Hyacinthe Ondoa bezieht in die Debatte um Auslandsgermanistik Stellung.

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Spezifischere, punktuelle Betrachtungen finden­ sich im zweiten Teil, BETRACHTEN:. Während Julia ­Dittmann weiß-weibliche Schaulust dekonstruiert, stellt Heide G ­ laesmer Ergebnisse empirischer Forschungen zu ­Besatzungskindern des Zweiten Weltkriegs vor. Aus dem Feld der Internationalen Beziehungen blickt Sybille Reinke de Buitrago auf die Konstruktion des Irans als Anderen, während sich Susan Arndt Gestohlenen ZuKünften der Schwarzen Bürgerrechtsbewegung zuwendet. Die zweite Hälfte dieser Ausgabe beleuchtet Standpunkte ­­ zur Differenz. So argumentieren in EINBEZIEHEN* Autor*innen für die Nutzbarmachung von Differenzen. Während Shanna Carlson für ihren Artikel theoretische Ausführungen Lacans als Ausgangspunkt heranzieht und Katharina Gensch anhand der Begrifflichkeit ‚intersex‘ argumentiert, bedient sich Anja Rommel ihrer eigenen Erfahrungen. Astrid Messerschmidt positioniert sich in Debatten der Erziehungswissenschaft, während Laila Lucas Differenz in Mediation miteinbeziehen möchte. Im letzten Abschnitt des Heftes wird das Auflösen von Differenz an verschiedenen disziplinären Beispielen thematisiert. Sarah Emily Duff leitet AUFLÖSEN. mit Gedanken zu Racial Difference in Südafrika ein. Im Bereich der Medizin diskutiert Miriam Klemm, warum es derzeitig keine Pille für den Mann zu erwerben gibt. Zwischen ­Mexiko und den USA beschreibt Theresa Elze tagtägliche Grenzerfahrungen, während Gerrith Retterath und Alessandro Tietz beim Spielen von „Papers, Please“ in die virtuellen Rollen von Grenzbeamten schlüpfen. Abschließend nähert sich RamÓn Grosfoguel dem Komplex des Rassismus philosophisch an. Wie auch bei anderen Ausgaben war der Titel des Heftes ein Angebot an Autor*innen, in ihrem Fachgebiet Gedanken zu formulieren. So bietet unsere Jubiläums­ ausgabe achtzehn Denkanstöße, wie – auf welch verschie­ dene Weise! – mit Differenzen umgegangen wird. Ambi­ valenzen, Widersprüche und Differenzen werden uns weiterhin tagtäglich begegnen: In unserer politischen Arbeit, an der Universität oder im Privatleben. Statt das Thema mit dem Druck des Heftes abzuschließen, möchten wir zur wissenschaftlichen Annäherung an das Thema einladen. Wenn die Artikel dieses Heftes hier zu einem zweiten Über-­ Denken von ‚Differenz‘ führen, haben wir das Gefühl, ­eine würdige Jubliäumsausgabe geschaffen zu haben. Viel Freude beim Lesen, Diskutieren und Positionieren wünscht, die Redaktion

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inhalt editorial ----------------------------------------------------------------------- 3

Verstehen? Der neue Streit um Differenz?--------------------------------------------- 8 Petra Klug

Decolonising Gender in Africa------------------------------------------ 14 Eden Yohannes Yoseph

Behinderung: Differenz aus Perspektive der Disability Studies  - ----------------------------------------------------- 17 claudia gottwald

Auslands­germanistik als Herme­n eutik ­ des Eigenen und des Anderen?-------------------------------------------- 20 Hyacinthe Ondoa

Betrachten: Die De­k on­struktion weiSS-weiblicher Schaulust2������������������ 24 julia dittmann

Stigmatisierungs- und Diskriminierungserfahrungen der Besatzungs­kinder des Zweiten Weltkrieges in Deutschland---- 28 heide glaesmer

Difference and Threat: Iran Still a Threatening ‘Other’ in U.S. Security Policy Discourse---------------------------------------- 32 Sybille Reinke de Buitrago

Gestohlene ZuKünfte, Widerstand und die Schwarze Bürgerrechtsbewegung--------------------------------------------------- 36 Susan Arndt

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Einbeziehen* Difference without Limit ------------------------------------------------- 44 Shanna T. Carlson

“If I Am So Special, Why Can't I Talk about It?” – Language's Role in Intersex Identity Formation----------------- 47 Katharina Gensch

Nur Reibung erzeugt Wärme – Eine Intervention. - - ----------------- 50 Anja Rommel

Selbstkritische Differenzthematisierungen im Kontext geschlechter­r eflektierender Bildung---------------- 54 Astrid Messerschmidt

Zum Umgang mit Differenz in der Mediation ------------------------ 57 laila lucas

Auflösen. Children, Childhood and the Making of Racial Difference in South Africa-------------------------------------- 62 Sarah Emily Duff

Keine Pille für den Mann – Vergeschlechtlichung in der Entwicklung von Kontrazeptiva------------------------------- 65 Miriam Klemm

Adler oder Hühnchen? Differenzierungen an der Grenze Tijuanas--------------------------- 69 Theresa Elze

Spielend spiegeln am Beispiel von „Papers, Please“ – Der Umgang mit dem Fremden in einer ethnografischen Simulation--------------------------------- 74 Gerrit Retterath & Alessandro Tietz

What is racism? Zone of Being and Zone of Non-Being in the Work of Frantz Fanon and Boaventura De Sousa Santos-------- 78 RamÓn Grosfoguel translation Jordan Rodriguez

autor*inneninfos - - --------------------------------------------------------- 82 powision im abo ------------------------------------------------------------- 84 aufruf -------------------------------------------------------------------------- 85 impressum --------------------------------------------------------------------- 86

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Der neue Streit um Differenz?

Text Petra Klug

(Queer-)Feministische Perspektiven auf Islam und Geschlechterordnung1

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ird der Islam Gegenstand öffentlicher Debatten, so steht in den letzten Jahren neben dem Terrorismus vor allem die Situation von Frauen und Homosexuellen im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Doch innerhalb der internationalen (queer-)feministischen Diskussion unterscheiden sich die Standpunkte zur Frage der Geschlechterordnung im Islam radikal. Auf der einen Seite sehen AutorInnen die Gefahr, durch Kritik an bestimmten Praxen oder Einstell­ ungen Rassismus gegenüber MuslimInnen zu befördern. Auf der anderen Seite wird westlichen FeministInnen vorgeworfen, gerade mit dieser Haltung Menschenrechtsverletzungen an Frauen und Homosexuellen, die im Namen von Religion und Kultur begangen werden, zu ignorieren, zu dulden oder gar zu rechtfertigen, dabei für verschiedene Kulturen unterschiedliche Maßstäbe anzusetzen und so in Konsequenz selbst rassistisch zu argumentieren. Diese Positionen basieren implizit oder explizit in je unterschiedlicher Weise auf Vorstellungen, die gemeinhin mit den Begriffen Moderne resp. Postmoderne assoziiert werden und die den epistemologischen Hintergrund der Auseinandersetzung bilden. Einer der Höhepunkte der Diskussion um Islam, Homophobie, Sexismus und Rassismus in Deutschland war wohl die Kritik Judith Butlers am Berliner Christopher Street Day (CSD) 2010. Butler nähert sich dem Themenkomplex über eine Kritik am liberalen, modernistischen Rahmen, der die Forderungen von Queers und Muslimen erst gegensätzlich erscheinen ließe. Haideh Moghissi hingegen kritisierte schon 1999 diesen Trend des postmodernen Relativismus als einen fiktiven Radikalismus, der kulturelle Differenzen feiere und sich durch seine Ablehnung von Modernität für die reaktionärsten Ideen des islamischen Fundamentalismus anbiete. Im Folgenden werden die Argumentationen dieser beiden Autorinnen analysiert und in einer Art „Streit um Differenz“ (vgl. Benhabib 1993) in konstruktiver, aber kritischer Weise gegeneinander diskutiert.

Positionen

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In einer längere Fassung ist dieser Artikel in der Femina politica 22 (2013), 2, pp. 114-123 erschienen.

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Judith Butlers Kritik in der Rede anlässlich ihrer Zurückweisung des Zivilcouragepreises des CSD am 19.06.2010 richtete sich vor allem gegen die Instrumentalisierung und Instrumentalisierbarkeit emanzipatorischer Forderungen für rassistische Argumentationen. Sie warf dem CSD eine „Komplizenschaft mit Rassismus einschließlich antimuslimischen Rassismus“ vor. Homosexuelle und Queers würden benutzt, um durch forcierte Islamophobie „kulturelle Kriege gegen MigrantInnen (…) und militärische Kriege gegen Irak und Afghanistan“ zu führen. Viele europäische Regierungen würden behaupten, dass die Freiheit von Homosexuellen beschützt werden müsse und dass dafür

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der neue „Haß“ auf MigrantInnen nötig sei (Butler 2010a). Schon in ihrem Buch „Raster des Krieges“ argumentiert sie, dass Sexualpolitik und feministische Politik im Dienste des Krieges stehen könnten:

Forderungen nach neuen oder radikalen sexuell­ en Freiheiten werden nur zu oft gerade von jenem, gewöhnlich von der Staatsmacht selbst eingenom­ menen Standpunkt aus angeeignet, von dem aus versucht wird, Europa und die Moderne als die privi­legierte Sphäre zu reklamieren, in der sexueller Radikalismus seinen Platz finden kann und findet. Oft, wenn auch nicht immer, wird darüber hinaus verlangt, dass diese privilegierte Sphäre radikaler Freiheit gegen die vermeintliche Orthodoxie neu­ er Einwanderergruppen geschützt werden müsse (Butler 2010b, 100). Dem liege die „Geschichte einer progressiven Modernität“ zugrunde, die ihrerseits Gegenstand der Reflexion werden müsse. Butler konzipiert die Frage also als ein Problem von Zeit und Fortschritt: Fortschritt definiere sich in Abgrenzung zu einer vermeintlichen Vormoderne, die dazu aber erst konstruiert werden müsse. Europa und die Moderne würden als Ort für „radikale“ sexuelle Freiheiten präsentiert und die eigentlich subversiven Forderungen nach Freiheit für Frauen und Homosexuelle von der Staatsmacht für den Kampf gegen den Islam und Einwanderung instrumentalisiert (Butler 2010b, 100f.). Die Normen, die ihr als Voraussetzung dieser spezifischen Modernität gelten, also insbesondere die Säkularität, stellten einen dogmatischen Rahmen dar, innerhalb dessen „die persönliche Ausdrucksfreiheit generell von der Unterdrückung beweglicher und strittiger Begriffe der kulturellen Differenz“ abhänge (Butler 2010b, 105). Das führe zur Spaltung zwischen progressiver Sexualpolitik auf der einen Seite und dem Kampf gegen Rassismus und religiöse Diskriminierung auf der anderen, die innerhalb des liberalis­tischen Rahmens gegensätzlich erscheinen müssten. Ihr gehe es also nicht „darum, sexuelle Freiheiten gegen religiöse einzutauschen“, sondern darum, den Rahmen, der diese Gegenüberstellung erst bedinge, nämlich die „restriktive Idee der persönlichen Freiheit in Verbindung mit einem restriktiven Fortschrittsbegriff “, infrage zu stellen. Ziel ist dabei die Zusammenführung der Kämpfe gegen Homophobie und gegen „kulturelle und religiöse Rassismen“ durch eine Konzentration auf Staatsgewalt und Zwangsmechanismen. So könne man zu einem „alternativen politischen Rahmen“ gelangen, den sie dann allerdings nicht weiter ausführt (Butler 2010b, 106f.). Der Ansatz von Haideh Moghissi klingt wie eine punktgenaue Antwort auf Butler, in der viele Aspekte ihrer Position antizipiert und kritisiert werden – und das, obwohl ihre Kritik am Postmodernismus und seiner Rolle für den

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islamischen Fundamentalismus in „Feminism and Islamic Fundamentalism“ zehn Jahre vor Butlers Buch erschienen ist. Moghissis Hauptkritikpunkt ist eben jene im postmodernen Rahmen implizierte Ablehnung der Moderne, die die Postmoderne mit dem Fundamentalismus gemein habe (Moghissi 1999, 52). Postmoderne Ansätze lenkten den Blick auf kulturelle Annahmen hinter der universalen Vernunft, sie proklamierten unterschiedliche Geschwindigkeiten und Richtungen der Entwicklung von verschiedenen Kulturen, eine plurale Moral und plurales Wissen. Für die Debatte um den Islam berge das aber große Risiken: Denn Modernität – die sie von Modernisierung, als ökonomischer Komponente, unterscheidet und die auch politische und kulturelle Aspekte wie soziale Gerechtigkeit, Demokratie, Säkularismus, staatliche Verantwortung und Rechtsstaatlichkeit umfasse – habe in islamischen Gesellschaften noch gar nicht begonnen (Moghissi 1999, 53f.). Sie zurückzuweisen, ohne dabei eine humanere und egalitärere Alternative anzubieten, hieße den Fundamentalismus zur einzigen Hoffnung für die islamische Welt zu machen (Moghissi 1999, 56). Westliche AkademikerInnen würden teilweise alle Aspekte der von ihnen untersuchten Gesellschaften verteidigen – auch wenn sie für die eigene Gesellschaft nicht akzeptabel wären, und auch wenn das hieße, diejenigen Intellektuellen der untersuchten Gesellschaften zu ignorieren oder zu kritisieren, die sich mit diesen Zuständen nicht abfinden wollen (Moghissi 1999, 49f.).

Blessed by democratic social, political and cultural­ institutions, Western intellectuals may be able to take a sharp look at rationality, humanism, universalism and modernity. Protected as they are, they will not come to harm if they entertain fantasies about communal bonding, the exotic, the small and local, or romanti­ cize premodern practices and institutions, harbou­ ring hopes in them for authentic cultural practices which would respond to human spiritual needs­ (Moghissi 1999, 58). Moghissi hingegen weist auf die Macht- und Gewaltförmigkeit der Implementierung und Perpetuierung von Kultur hin. Kulturen seien in sich differenziert und von Machtverhältnissen durchzogen. Sie würden durch viel Leid und Schmerz aufrechterhalten (Moghissi 1999, 59). Die Rede von unterschiedlichen Geschwindigkeiten, in denen sich Gesellschaften entwickelten, ignoriere, dass die schnelle Entwicklung des Westens auf Kosten der kolonialisierten Teile der Welt vonstatten ging. Die Aufteilung in Länder, für die individuelle Freiheiten und Rechte gelten sollen, und solche, für die sie nicht gelten müssten, suggeriere, dass in letzteren Armut, Repression und Gewalt gleichsam endemisch und natürlich seien und dass dies als ihr eigener Entwicklungsweg zu respektieren sei. Zudem

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erwecke diese Sichtweise den Anschein, Leiden und Armut selbst seien verhandelbar und kulturell definiert. Diese Form von Toleranz ist für Moghissi unvereinbar mit den Menschenrechten: Sie spiele den Machthabenden und FundamentalistInnen in die Hände, die ebenfalls behaupteten, dass Menschenrechte kulturell gebunden und westlich seien, und internationale Maßstäbe für Menschenrechte als imperialistisch zurückwiesen, um ihre Unterdrückung zu legitimieren. Obwohl im Westen entstanden, dürfe Modernität nicht weiter nur bestimmten Kulturen und reichen Staaten vorbehalten bleiben (Moghissi 1999, 61ff.). Die hier dargestellten Positionen werden vor dem Hintergrund fundamental entgegengesetzter Vorstellungen von Gesellschaft und deren Kritik formuliert. Im Folgenden sollen diese anhand einiger zentraler Schlüsselaspekte herausgearbeitet werden.

Rassismus und Ethnozentrismus Mit dem Kolonialismus hat sich ein globales Macht­ge­ fälle herausgebildet, in dem der Westen eine dominante, andere Staaten ausbeutende Rolle eingenommen hat und das sich in der Situation von MigrantInnen aus kolonial­ isierten Staaten im Westen reproduziert. Zentrale Struktur dieses Machtverhältnisses – sowohl der staatlichen Einund Ausschlussmechanismen, als auch deren Entsprechung in der Bevölkerung – ist der Rassismus, also die Annahme, dass Menschen sich in Abhängigkeit von ihrer Herkunft in grundlegender Weise unterscheiden. Die westliche Idee ­der universalen Vernunft wurde teilweise dazu genutzt, den Kolonialisierten zu unterstellen, sie seien unterentwickelt und bedürften der Hilfe aus dem Westen, als die dann ­wiederum die koloniale Unterdrückung gerechtfertigt wurde und wird. Vor diesem Hintergrund kritisiert Butler, dass Kritik an Homophobie und Sexismus in ethnischen und religiösen Minderheiten diese Probleme mit EinwanderInnen assoziiere und sie hingegen in Bezug auf die Mehrheitsbevölkerung leugne, was sie als rassistisch bzw. homonationalistisch bezeichnet. Der Ausweg ist für sie, sich an jenen zu orientieren, die innerhalb der migrantischen Minderheiten sowohl gegen Homophobie als auch gegen Rassismus kämpfen würden. Nur so sei es möglich, nicht der Instrumentalisierung queerer und feministischer Forderungen für Rassismus und Krieg zuzuarbeiten. Zudem legt sie EuropäerInnen nahe, sich stattdessen mit der Homophobie im Christentum zu beschäftigen (Butler 2010c).

Moghissi verortet Rassismus hingegen gerade nicht in der Proklamation einer vermeintlich westlichen Emanzipation, sondern dort, wo diese den vermeintlich Anderen aufgrund ihrer Herkunft vorenthalten wird. Sie kritisiert beispielsweise, dass in Frankreich aus Respekt vor den Bräuchen der kulturellen Minderheiten auch die Genitalverstümmelung verteidigt worden sei. Verstümmelung als relativ und kulturabhängig zu begreifen und so zu unterstellen, für afrikanische Frauen sei sie akzeptabel, sei eine rassistische Argumentation: Im Namen der Toleranz würde impliziert, dass Schmerz und Verletzung für EuropäerInnen und Nicht-EuropäerInnen unterschiedlich seien und dass es nur eine monolithische afrikanische Kultur gebe (Moghissi 1999, 60). Während Butler also vor allem auf globale Machtverhältnisse bzw. Machtverhältnisse zwischen Mehrheit und Minderheiten innerhalb einer Gesellschaft fokussiert und ihre Sprecherrolle sowie teilweise die anderer KritikerInnen entlang dieser Unterscheidung situiert, fokussiert Moghissi stärker auf die Machtverhältnisse innerhalb von Kulturen und macht stark, dass sich Menschen, unabhängig von ihrer Herkunft, zu Kultur, sei es zur vermeintlich „eigenen“ oder zur „anderen“, konform oder nonkonform, kritisch oder affirmativ verhalten können und dass die unkritische Identifizierung von Kultur und Individuum rassistische Implikationen bergen kann.

Kultur und Individuum Nach der Delegitimierung des Begriffs „Rasse“ durch die Geschichte des Kolonialismus und Nationalsozialismus trat häufig die Betonung kultureller Unterschiede an dessen Stelle. Dabei blieb die Grundannahme des Rassismus im Wesentlichen erhalten, nämlich Menschen bestimmter Herkunft bestimmte Eigenschaften zuzuschreiben – zuerst biologische, nun kulturelle, und zwar unabhängig von deren situativer Bewertung. Die Frage, wie in den einzelnen Konzeptionen Kultur2 und Individuum zueinander im Verhältnis gedacht werden, birgt darüber hinaus aber auch normative Implikationen für den Stellenwert der individuellen Freiheit gegenüber der Kultur – entweder der eigenen oder einer anderen, wobei dies schon deshalb kaum zu trennen ist, weil Menschen auch von den normativen Implikationen anderer Kulturen beeinflusst werden können. Die Fixierung auf individuelle Freiheit ist einer der Hauptkritikpunkte Butlers, da sie diese den kulturellen Rechten der religiösen Minderheiten gegenübergestellt sieht. Damit gewährt sie letztlich Kulturen und Religionen – denen der Minderheiten, denn für die Mehrheit fordert sie das nicht ein – eine Art Eigenrecht, welches vom Individuum unabhängig ist und im Zweifelsfalle auch gegen

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Der Begriff der Kultur umfasst im hier angesprochenen Sinn den der Religion. Während Kultur auch den nicht-religiösen Bereich einschließt, bezeichnen hier beide ein Set von Vorstellungen, Normen und Praxen, die überindividuell als bindend betrachtet werden.

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das Individuum eingeklagt werden könnte. Dabei fokussiert sie auf die individuellen Rechte von Menschen im Westen, die gegen die „religiöse(n) Rechte“ der Muslime als Minderheit oder Feindbild ins Feld geführt würden (Butler 2010b, 106). Individuelle Rechte von Menschen in islamischen Ländern oder Communities, etwa auf sexuelle Selbstbestimmung, thematisiert sie in diesem Zusammenhang bemerkenswerterweise nicht. Diese Leerstelle in ihrer theoretischen Argumentation wird in ihrer praktischen Intervention aber teilweise gefüllt, indem sie sich z.B. bei ihrer Ablehnung des Zivilcourage-Preises explizit auf migrantische Gay-, Lesben- und Queer-Gruppen bezieht (vgl. Butler 2010a), so dass sie zumindest diejenigen, die sich öffentlich artikulieren (können), also durchaus zur Kenntnis nimmt.

zum als rassistisch kritisierten Universalismus entstanden – selbst in die Kritik geraten, rassistische Implikationen in sich zu bergen.

Moghissi hingegen betrachtet Kultur explizit als System, das von Machtbeziehungen durchzogen sei und trotz des individuellen Leides, das es mit sich bringe, aufrecht­ erhalten würde. Demnach geht es ihr darum, das Recht des Individuums gegen seine Kultur zu verteidigen und nicht umgekehrt. Bei der Unterstützung von Minderheiten­kulturen sollten wir deshalb genau hinsehen, wessen Kultur wir ­unterstützen, wer sich die Autorität für kulturelle Repräsentation anmaßt und warum (Moghissi 1999, 59).

Moghissis Ansatz zeichnet sich hingegen vor allem durch eine scharfe Kritik des Kulturrelativismus aus, der mit seiner Ablehnung der Moderne und der Relativierung der Menschenrechte viel mit dem islamischen Fundamentalismus und den autoritären Regimen in islamischen Staaten gemein habe und letztlich von diesen genutzt werde, um sich gegen Kritik an Unterdrückung zu immunisieren (Moghissi 1999, 62f.). Statt der Abschirmung gegen Kritik fordert sie für islamische Staaten Selbstkritik und Rationalismus – die in der Geschichte der islamischen Welt zwar ebenfalls aufgekommen, beispielsweise im Iran aber nach kurzer Zeit vom Klerus unterdrückt worden seien (Moghissi 1999, 56ff.).

Hier offenbaren sich also durchaus zwei sehr unterschiedliche Sichtweisen: Butler sieht Kultur als das Recht, Traditionen kollektiv fortzuführen, ohne dabei äußeren – hier als westlich gedachten – Normen stattgeben zu müssen. Moghissi hingegen betrachtet Kultur als ein System von Normen, das auch gegen inneren Widerstand und ungeachtet des Leids von Individuen und unterdrückten Gruppen durchgesetzt wird. Während die eine Seite also kollektive Rechte nach außen stark macht, kritisiert die andere Seite die normierenden Ansprüche des Kollektivs nach innen und fordert eine Emanzipation von solchen Partikularrechten mithilfe universaler Rechte. Diese unterschiedlichen Sichten auf die Frage nach dem Selbstbestimmungsrecht dessen, was jeweils als Kultur gedacht wird, kulminieren in der Debatte zwischen Kulturrelativismus und Universalismus.

Kulturrelativismus und Universalismus Die Diskussion um Relativismus und Universalismus von Werten und Normen lässt sich bis in die Antike zurückverfolgen. Kulturrelativismus im engeren Sinne ist eine im frühen 20. Jahrhundert entstandene Strömung, die Kulturen aus ihrem eigenen Bezugssystem heraus interpretiert und universale Maßstäbe zur Bewertung von Kulturen als ethnozentrisch ablehnt. Politisch wird er vor allem im Multikulturalismus und im Ethnopluralismus relevant. Dabei ist der Kulturrelativismus – obwohl als Gegenpol

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Butler fordert zwar durchaus die „Universalisierung des Grundrechts auf Erfüllung menschlicher Grundbedürfnisse wie Nahrung, Zuflucht und sonstiger wichtiger Lebensbedingungen“. Die für sie zentralen Fragen nach sexueller Freiheit und Feminismus sind ihr jedoch explizit „innenpolitische Anliegen“ (Butler 2010b, 33f.), die sie über das Vehikel der Anerkennung unterschiedlicher Zeitvorstellungen in verschiedenen Räumen und der damit einhergehenden unterschiedlichen Grade von sexueller Freiheit an die sie umgebenden Kulturen bindet und damit von einer Universalisierung ausklammert.

Während Butler die Sexualpolitik von der Universalisierung ausklammert und damit implizit das Ansetzen von Maßstäben an sich ablehnt, nimmt Moghissi nicht unkritisch, aber doch affirmativ Bezug auf die zu universalisierende westliche Vorstellung von Menschenrechten und legt an verschiedene Kulturen dieselben ethischen Maßstäbe an.

Konklusionen In Anbetracht der Tragweite des Problems ist es verwunderlich, dass die Debatte sowohl in der feministischen, als auch in der antirassistischen Bewegung bisher noch recht verhalten geführt wird. Denn offenbar treffen einige der gegenseitigen Kritikpunkte durchaus zu. Zudem geht es nicht nur darum, ganz gravierende Verletzungen an Menschenrechten im Allgemeinen und an den Rechten von Frauen und Homosexuellen im Besonderen zur Kenntnis zu nehmen, sondern mit Blick auf die Implikationen für die Praxis steht auch die Legitimität international solidarischer feministischer Intervention überhaupt zur Debatte. Während Moghissi moderne Werte in einem als prämodern betrachteten Kontext implementieren will und damit normativ setzt, hinterfragt Butler die Herkunft dieser Werte und macht sie damit als kontingent deutlich, löst

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aber die Frage nicht auf, wie dann politische Intervention legitim sein kann und solidarisches Handeln ermöglicht wird. Butlers Anliegen ist ein ständiges Hinterfragen des normativen Rahmens, der der Politik und dem Denken zugrunde liegt und die entsprechenden Normen hervorbringt. Daraus folgt, dass es innerhalb dieser Theorie keinen legitimen normativen Rahmen geben kann. Daraus folgt jedoch auch, dass es keine Politik geben kann, die für sich beanspruchen könnte, die richtige zu sein. Das spiegelt sich darin, dass ihre konkreten Vorschläge, eben nicht ein bestimmtes Ziel verfolgen, sondern vor allem prozesshaft und bewegungsorientiert sind. Der Ansatz Moghissis lässt ein anderes Verhältnis zur Praxis zu: Ihrer Kritik liegt ein normatives Fundament zugrunde, nämlich das der Emanzipation von vormodernen und patriarchalen Zuständen hin zu einer modernen, gleichberechtigten Gesellschaft, die sie im Westen zumindest teilweise verwirklicht sieht. In diesem Artikel ist leider kein Raum, die einzelnen Positionen ausführlich zu kritisieren, aber es bleibt zu hoffen, dass ein Anstoß zur weiteren Diskussion gelungen ist. Die Frage der 1990er Jahre, ob die postmodernen Ansätze geeignet sind, Unterdrückungsverhältnisse in emanzipativer Richtung zu verändern, oder ob sie gerade dazu beitragen, den Status Quo zu reproduzieren, bleibt weiter offen. Deutlich geworden sein sollte jedoch, dass im neuen Streit um Differenz die Anerkennung kultureller Differenzierung nicht bei der unkritischen Anerkennung anderer Kulturen als solcher stehen bleiben darf, sondern dass feministische und antirassistische Intervention nur heißen kann, andere Kulturen ebenso als Zwangsmechanismen in Betracht zu ziehen wie die eigene. Statt aus einer privilegierten westlichen Perspektive kulturell bedingte Unterschiede im Maß der Unterdrückung zu relativieren oder durch die Delegitimierung des Wunsches nach fortschreitender universaler Emanzipation zu affirmieren, gilt es, die Form der Intervention an den individuellen Bedürfnissen von Menschen in den unterschiedlichen kulturellen Formationen auszurichten und diese dazu zunächst einmal zur Kenntnis zu nehmen.

literatur _ Ates, Seyran, 2008: Der Multikulti-Irrtum. Wie wir in Deutschland besser zusammen leben können. Berlin, insbes. 55-63 und 187-190. _ Benhabib, Seyla (Hg.), 1993: Der Streit um Differenz. Feminismus und Postmoderne in der Gegenwart. Frankfurt/M. _ Butler, Judith, 2010a: Abschrift der Rede auf dem Christopher Street Day Berlin, 19.06.2010http://theoriealspraxis.blogsport. de/2010/06/20/abschrift-der-preis-annahme-verweigerungsrede-von-judith-butler-beim-csd-in-berlin/(18.08.2013). _ Butler, Judith, 2010b: Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leid beklagen. Frankfurt/M., insbes. 32-34 und 99-107. _ Butler, Judith, 2010c: „In diesem Kampf gibt es keinen Platz für Rassismus“. Katharina Hamann: Judith Butler im Gespräch über Rassismus, Homophobie und Antisemitismus. In: Jungle World, Nr. 30, 29.07.2010. _ Braun, Christina von/Mathes, Bettina, 2007: Verschleierte Wirklichkeit. Die Frau, der Islam und der Westen. Bonn, insbes. 16-26 und 429-31. _ Moghissi, Haideh, 1999: Feminism and Islamic Fundamentalism. London, insbes. 49-63.

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Decolonising Gender in Africa

Text Eden Yohannes Yoseph

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uro-American social categories and insti­ tutions have been the dominant focus of much of modern History writing. One effect of this Eurocentrism is the monopolisation of knowledge: “Europe is represented as the source of knowledge and Europeans as knowers. [In ­addition] male gender privilege as an essential part of ­European ethos became enshrined in the culture of ­‘modernity’” (Arnfred, et al., 2004:1). For this reason, the study of gender in the historiography of Africa should be partially detached from Eurocentric knowledge and should go on to produce original sets of theories. Theories should then reflect the social, local and cultural context of the region. The issue of gender, femininity and masculinity alike should be treated critically, and placed in its cultural context. At the end of the 1960s, black

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feminists and gender activists felt excluded by Western feminist discourse, and therefore had to bring their own line of thought to the theory and movement. African feminists needed to develop a new set of theories that would help them understand their reality in order to confront their own multiple levels of oppression. Black women face different layers of oppression, and are even oppressed by popular Western feminist theories and movements. “Feminism from Africa is related to our history but such knowledge is not recognised due to the hegemony of Western thinking. Our concern might not be the concerns of western feminism but many of their debates concern us” (NETRIGHT, 2009: 15). In November 2006 in Accra, Kathy Cusack argued at Ghana’s first national feminist forum that there are diffe-

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rent bases of oppression that contribute to the bigger picture of women’s oppression all over the world. These bases of oppression are amongst other the role of women within the family as housewives and unpaid labour workers, the control over sexuality and economy, citizenship question and religious beliefs, which according to Cusack, are more common in Africa. Hence, even though the traditional family structure is more and more contested, even more so in urbanised areas than in the rural space, the prevalence of the traditional family structure with the traditional labour division and hetero-normativity as its core values is unquestionable. In the Western feminist perspective, the basis of gender related oppression is the nuclear family, an idea that fails to resonate to African context, where traditionally extended families are the norm. The concept of patriarchal masculinity taken out of its originally intended context can be problematic for the conceptualisation of theories of Africa. Interpretation of African situations based on such concepts mostly cause distortions of reality and in turn the documentation and conceptualisation of history. As Mohmood Mamdani (Arnfred et al., 2004 cited Mamdani) observes, Africa remains entrapped in ‘history by analogy’ whereby Africa is either exoticised or simply represented as part of European history:

In both extremes, Africa’s specificity is denied […] Colonial rule in Africa was fundamentally predicated up on the Western myth of Africa. The point of stress in the fable was that Africa was backward and sub-hu­ man (ibid:11). The example of the pre-colonial Ghanaian family can distinctly demonstrate that there is indeed a need for a comprehensive interpretation of African realities and a need to discard Western gender theories that are not applicable to the local reality. The definition of ‘marriage’ and ‘wife’ in traditional Ghanaian society is an example that proves the point discussed above.

An Okyeame1 is traditionally referred to as the ohene yere, the chief’s wife – it is generally applied to all Okyeame whether in appointive or hereditary positions, even in cases where a chief is female and her Okyeame is male, the akyeame is still a wife and the chief a husband. This understanding clearly con­ founds the western gendered understanding that the social role ‘wife’ is inherent in the female body. Finally, historian Edna Bay, writing on the kingdom of Dahomey, states: The king also married men. Promi­ nent artisans and talented leaders from newly con­ quered areas were integrated in to Dahomey through

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ties based on the idiom of marriage [...] Furthermo­ re, the idiom used for socially classifying marriage is not gender-based, as feminist interpretation of family ideology and organisation would suggest […] (Arnfred et al., 2004:7-8). There have been recent attempts in redefining concepts in gender studies and feminism in Africa by Africans. The newfound deconstruction of gender focuses on the contextualisation of the theories with the realities on the ground. However, source of information and perspective which are used remain to hinder the full realisation of the ap­proach; as Kisiang’ani flawlessly puts it (2004), Africans were trained to perceive things only from a Western European standpoint, Western ideals informed all intellectual discourse about African people, while concurrently criminalising and atomising the culture and values of Africa.

Re-examining the gender scholarship A prominent postcolonial and transnational feminist theorist, Mohanty (1988), refers to Western feminisms framing women as a homogenous entity. They have tended to gloss over the differences between Southern women (global south), but the experience of oppression is incredibly diverse, and ignorance of it is contingent on geography, history, and culture. As Oyewumi (2004) argues based on the example of the Yoruba family structure, family can be described as non-gendered because kinship roles and categories are not gender differentiated. The fundamental organisation principle within this family is seniority based on relative age and not gender.

Applying feminist concepts to express and analy­ se African realities is the central challenge of African gender studies. The operational male/female, man/ woman duality and its attendant male privileging in Western gender categories is particularly alien to many African cultures. Interpreting African realities based on these Western claims often produces dis­ tortions, obfuscations in language and a total lack of comprehension since the social categories and insti­ tutions are incommensurable. In fact, the two basic categories of women and gender demand rethinking (Arnfred et al, 2004:7).

Spokesperson for Akan chiefs in West Africa.

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Scholarship of masculinity in Africa Masculinity defined in Western culture, according to Stets and Burke (NA) in an essay in the Encyclopedia of Sociology, stereotypically, considered men to be aggressive, competitive and instrumentally oriented. However, unlike the Western concept,

‘wănd-năt’2 does not connote mainly maturity and the assumption of adult moral responsibilities. In Am­ haric, this notion is signified by the term for middle-­ aged man (mulu săw) the term wănd may refer to any age and has nothing to do with moral maturation. Nor does it connote male prowess in heterosexual affairs, for the Amhara attach no particular expression of ­heterosexual sentiment or the enjoyment of sexuality […] in fact, for an Amhara male to boast of his hetero­ sexual achievements would be considered shameful (Levine, 2005/06:166).

of gender is not given objective standing in such societies but exist in relations of hierarchy, dominated by loosely coherent and evolving hegemonic forms. In going forward, it is essential to adopt a definition of gender that sees it as culturally and socially shaped, and defines characteristics associated with being a man or a woman in a particular social, geographical, and ethno-cultural context. It is overdue that theories of gender should move from the ‘one fits all’ approach in Social Sciences scholarship. While we cannot ignore the role of Western feminism in advancement of the movement, the need to redefine and contextualise gender is urgent and essential; there is an immediate need to reclaim and redefine it. Contextualised theories and teachings of gender should start representing African women as subjects with agency as opposed to defining them as objects to be rescued. Rec­ ognition of multiple identities of feminism would strengthen ­the Feminist movement all over the world and would con­ tribute to achievement of the final goal of equality.

Levine (2005/06) tries to look at the definitions of mas­ culinity in the one of the Ethiopian societies in comparison to Japanese culture3 by shedding light on the Oromo4 (Gadaa system)5 and the Amhara6 society. While the Tigreans7 of Ethiopia emphasise physical hardiness and martial valour for its own sake, the traditional Amhara ideal of masculinity refers primarily to aggressive personality. The Amhara likes to boast ferocity, bravery in killing an enemy or a wild beast. Amhara culture provides genres of oral literature for such impassioned boasting, employed before and after military expeditions as well as for entertainment on festive occasions. However, the Oromo of Ethiopia tie the display of courage in support of the generation based collectivity or commonly known as the Gadaa system (Levine, 2005/06: 161). references

One of the marks of the warrior ethos in both Amhara and Japanese cultures was a disposition to value ascetic hardiness. This is manifest for example in the Ethiopian ideal of gwebeznet8, a symbol for masculine aggressiveness and hardiness. Encouraging boys to return insult or injury have traditionally instilled this virtue; rewarding temper tantrums and associating “proper” masculinity with the ability to walk barefoot, go for long periods without food, or eat hot peppers had traditionally been the ways to install the meaning of masculinity (Levine, 2005/06). The concept

2

_ Arnfred, S., Bakare-Yususf, B., Waswa Kisiang’ani E. et al. (2004) “African Gender Scholarship: Concepts, Methodologies and Paradigms”, in: Council for the Development of Social Science Research in Africa (gender series 1). _ Levine, D. (2005/06 ) “The Masculinity ethic and the spirit of Warriorhood in Ethiopian and Japanese Cultures”, in: International Journal of Ethiopian Studies 2 (1/2). p.161–177. _ Mohanty, C. T. (1988) “Under Western Eyes: Feminist Scholarship and Colonial Discourses”, in: Feminist Review 30. p.61-88. _ Network for Women’s Rights in Ghana (NETRIGHT) (2009) Rethinking Feminism. A report on Ghana’s First National Feminist forum. Accra: The Network of Women’s Rights in Ghana.

is an Amharic word for “to be a man” or loosely translated to masculinity.

3

Levine is one of the few researchers that compare societies of the Global North to South gives a better insight to understand gender from a global area perspective. 4

is an ethnic group inhabiting Ethiopia, northern Kenya, and parts of Somalia.

5

is the traditional social stratification system of Oromo males in Ethiopia and northern Kenya.

6

is an ethnic group inhabiting the northern and central highlands of Ethiopia, particularly the Amhara Region.

7

is an ethnic group inhabiting the southern and central parts of Eritrea and the northern highlands of Ethiopias Tigray Region.

8

an Amharic word for courage.

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Behinderung: Differenz aus Perspektive der Disability Studies Text Claudia Gottwald

Für jede Behinderung und Differenz, die hervorgebracht wird, gibt es eine kulturelle und unsichtbare Ordnung im Hintergrund. (Mc Dermott/ Varenne 1995)

U

m Differenz zu denken, ist Normalität die Voraussetzung. Deshalb geht es im Folgenden zunächst um die historische Entwicklung unseres heutigen Verständnisses von Normalität. Normalität kreiert Differenz und umgekehrt. Anschließen werden kurze Ausführungen zu den Disability Studies und ihrem kulturwissenschaft­ lichen Ansatz, Differenzdenken machtanalytisch und ­ –politisch zu überwinden. In unserer Kultur ist Behinderung eine Form verkörperter Differenz.

Differerenz und Behinderung Behinderte1 Körper sind ohne normale Körper nicht denkbar. Sie weichen von unseren Vorstellungen eines gewöhnlichen, intakten Körpers ab. Deshalb ist aus Perspektive der Disability Studies auch weniger die Herstellung von Behinderung, sondern vielmehr die Herstellung von Normalität relevant (vgl. Davis 1995, 24).

Normalität ist nichts, was es in Gesellschaften schon immer gab, sondern ein relativ junges Konzept, das alte Vorstellungen vom Ideal ergänzte bzw. ablöste. Ideale waren prinzipiell unerreichbar, weil in „einer Kultur mit einer idealen Vorstellung vom Körper alle Menschen unterhalb des Ideals liegen“ (Davis 1995, 25). Deshalb wurde der ideale Körper (z.B. der der antiken Venus oder der Aphrodite) auch nicht mit dem eigenen verglichen. Andere, im heutigen Sinne behinderte Körper, wurden noch im 17. und frühen 18. Jahrhundert teleologisch gedeutet: Sie galten z.B. als Zeichen für Gottlosigkeit oder Ausdruck der Sünde. Erst im Laufe des 18. Jahrhunderts setzte die „Entmythologisierung der Monster“ (Moscoso 1995, 57) ein. Vor allem im Mittelalter standen sie außerhalb der gesellschaftlichen Ordnung (vgl. Gottwald 2009). Diejenigen, die „zuvor im natürlichen, moralischen und sozialen Sinne zu einem undefinierbaren Geschlecht gehört hatten“ (Moscoso 1995, 56), wurden schließlich im Laufe des 18. Jahrhunderts „in die natürliche Ordnung der Lebewesen eingegliedert“

1

Behinderung wird in diesem Zusammenhang als beschreibender Begriff verwendet. Dabei wird Behinderung als historisches, soziales und kulturelles Konstrukt verstanden.

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(ebd.). Das Monströse wurde naturalisiert. Das, was bisher als ungewöhnlich und selten betrachtet wurde, wird nun als abnorm bzw. deviant gesehen: Das Ungewöhnliche wurde durch das Abnorme ersetzt. Exakte Beobachtungen und Forschungen wurden gefordert, Monstrositäten2 naturwissenschaftlich betrachtet und analysiert. Im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts schritten Klassifikationen voran und Monstrositäten erschienen erstmals als „Klasse von Objekten“ (ebd. 69). Die Teratologie, als Lehre von den Monstrositäten, suchte im Abweichenden nach Gesetzmäßigkeiten und Strukturen und brachte sie in Zusammenhang mit Normalität: „Die monströse Struktur […] schien nun Informationen über die Entwicklung der normalen Strukturen zu enthalten“ (ebd. 72). Dichotome, hierarchische, einordnende Unterscheidungen zwischen Normalem und Anormalem entstanden. Ursachen des Monströsen wurden zunehmend im Körper gesucht – moralische Deutungen nahmen ab. Differenz wurde pathologisiert. Dies ist bis heute so weit voran geschritten, dass Dederich konstatiert: „Die Unterscheidung zwischen dem Normalen und Pathologischen hat sich […] zu einer Leitdifferenz der Wissenschaften vom Leben entwickelt“ (Dederich 2007, 132). Aber was ist Normalität? Für alle Gesellschaften ist Normativität (Jürgen Link (2008) zufolge) grundlegend, nicht aber Normalität. Normalität hat ihren Beginn in der systematischen Datenerfassung und Sammlung bevölkerungsstatistischer Daten moderner Gesellschaften (vgl. Link 2008, 63). Während Normen dem Handeln präexistent sind, ist Normalität erst nach dem Handeln zu ermitteln: Sie kann erst im Nachhinein, etwa durch Messungen, Durchschnitte, Standardabweichungen etc., bestimmt werden. Problematisch wird Normalität dann, wenn vom Gewohnten/Durchschnittlichen auf das Gewünschte/ Gesollte geschlossen wird. Etwas wird also normativ, weil viele es tun/haben/wollen. Link spricht in diesem Zusammenhang von postskriptiven Normen. Wir leben in Selbstnormalisierungsgesellschaften, was gleichzeitig mit der Angst vor irreversibler Denormalisierung verbunden ist (vgl. ebd.). Auch die Ablehnung und Ausgrenzung anderer, z.B. behinderter, Menschen, hat ihren Ursprung in dieser Angst, selbst außerhalb der Grenzen der Normalität zu stehen. Mit dem Verschwinden des klassischen Ideals und dem Vermessen und Vergleichen von Menschen entwickelt sich zudem eine neue Vorstellung vom Ideal als etwas Wünschenswertem und Erreichbarem. Dieses statistische Ideal enthält die Aufforderung, ideal zu werden. Lennard Davis verweist in seinen Ausführungen auf das historisch enge Verhältnis von Statistik und Eugenik: Alle frühen Statistiker waren ihm zufolge Eugeniker, wie z.B. Francis Galton (Davis 1995, 30). Dies ist seines Erachtens kein Zufall, sondern liegt daran, dass das Messen von Menschen mit der Hoffnung auf Verbesserung und damit dem

Verschwinden von negativen statistischen Abweichungen einhergeht. „Statistik ist an Eugenik gebunden, weil ihre zentrale Erkenntnis ist, dass eine Bevölkerung normiert werden kann“ (Davis 1995, 30). Damit ist auch ein defizitärer Blick auf Abweichung bzw. Behinderung verbunden: Abweichendes soll entweder angepasst, normal gemacht, oder ausgelöscht werden. Normalität ist geradezu abhängig von Differenz und damit auch von der Konstruktion von Behinderung: Wenn alle normal sind, ist niemand mehr normal. Beide Konzepte – Normalität und Abweichung – bedingen sich gegenseitig. Eine Körperbehinderung ist in diesem Sinne ein Ausdruck kultureller Vorstellungen davon, wie Körper zu sein haben. Und umgekehrt gilt: „Das Konzept Behinderung [prägt] die Körper derer, die ‚normal‘ sind“ (Davis 1995, 2). Behinderung und Normalität sind damit nicht getrennt voneinander denkbar. Differenz, als negative Abweichung vom statistischen Ideal, wird als Behinderung bezeichnet. Sie wird in fast allen Kulturen als ein Problem gesehen, das einer Lösung bedarf. Es gibt verschiedene kulturelle Übereinkünfte darüber, wie das Problem zu lösen sei: Institutionalisierung, körperliche Korrekturen/Anpassungen, Genozid, Euthanasie, Abbau von Barrieren, aber auch Inklusion sind hier Beispiele für unterschiedliche Strategien der Bewältigung. Je nach Lösung wäre von einem individuellen, medizinischen, karitativen, sozialen, kulturellen oder menschenrechtlichen Modell von Behinderung zu sprechen.

Behinderung als verkörperte Differenz: Die Disability Studies Als Disability Studies werden unterschiedliche wissenschaftliche Ansätze zusammengefasst, die gemeinsam haben, dass sie Behinderung als historisch, sozial und kulturell relativ verstehen und begründen. Eng verbunden sind die – mittlerweile weltweit vertretenen – Disability Studies mit der Behindertenbewegung: Sie verfolgen von Anfang an die Verknüpfung von Wissenschaft und Politik, also Analyse und „Selbstermächtigung“ (Empowerment). Während die englischen Disability Studies eher marxistisch-materialistisch orientiert sind und behinderte Menschen als durch den Ausschluss aus Produktionsbedingungen und infolge dessen teilhabebeschränkt sehen (und das soziale Modell von Behinderung entwickelt haben), ist die amerikanische Tradition eher differenztheoretisch und kulturwissenschaftlich begründet (vgl. Dannenbeck 2007, 104) und bezieht sich auf ein kulturelles Modell von Behinderung (vgl. Waldschmidt 2005).

2

Monster werden metaphysisch und moralisch gedeutet und interpretiert, während der Begriff der Monstrosität (= Missbildung) ein neuzeitlicher wissenschaftlicher Begriff ist (vgl. Dederich 2007, 89).

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Vor allem die kulturwissenschaftlich orientierten Ansätze der Disability Studies beschäftigen sich mit behinderten Körpern als verkörperte Differenz (vgl. Dederich 2007, 82). Diese als eine Dimension der conditio humana zu erforschen, ist zumindest in Deutschland noch unterrepräsentiert: Hierzulande gerät Behinderung vor allem dann in den Blick der Wissenschaft, wenn es um die Verhütung, Beseitigung, Vermeidung oder Linderung von Schädi­ gungen und Beeinträchtigungen geht, also um Prävention, Kuration, Therapie und Rehabilitation. Das kulturelle Modell fragt hingegen nach Bildern, Symbolen und Terminologien und analysiert, wie diese Behinderung (re-) produzieren. Dabei wird „Behinderung als ‚erkenntnisleitendes Moment‘ für die Analyse der Mehrheitsgesellschaft“ (Waldschmidt 2005, 16) genutzt. Oder wie Renggli sagt: „Im kulturellen Modell […] wird nach den Rollen gefragt, die Behinderung in der Gestaltung unserer Leben und damit unserer Kultur spielt“ (Renggli 2013, 253). Die Auseinandersetzung mit der kulturellen Konstruktion des Körpers ist in diesem Zusammenhang zentral. „Körper erscheinen dabei unweigerlich als vergeschlechtlicht, sozial klassifiziert, ethisch und kulturell entworfen sowie Normalitäts- und Ästhetikdiskursen ausgesetzt. Unterschiedliche und voneinander unterschiedene Körper werden im Alltag laufend hervorgebracht und verändert, was sich dann in gesellschaftlichen Macht- und Dominanzverhältnissen niederschlägt“ (Dannenbeck 2007, 107). In Bezug auf Behinderung ist die Frage, wie der verletzte, geschädigte, abweichende Körper in diesen Diskursen hergestellt wird und mit welchen Machtbeziehungen das verknüpft ist. Damit ist das Anliegen der Disability Studies letztlich ein politisches: Es geht darum, im Diskurs um den (behinderten) Körper Deutungsmacht zu erlangen. Wenn der Körper kein zu betrachtendes und beschreibendes Objekt ist, Differenz also nicht etwas Natürliches, Gegebenes ist, sondern im Fokus von Macht steht, möchten die Disability Studies die Stimmen derjenigen, die als different markiert und entmachtet werden, hörbar machen und sie ermächtigen. Gleichzeitig ist dies damit verbunden, Differenz kulturell neu bzw. anders zu denken: Ziel ist es, Heterogenität anzuerkennen und keine Unterscheidungen zwischen Menschen in Hinblick auf ihre Wertigkeit zu machen. Im sozialutopischen Sinne soll die Kategorie Behinderung überwunden werden. Dichotomes Denken wird anti­ essentialistisch abgelehnt (vgl. Dannenbeck 2007, 116).

Behinderung ist nur ein Beispiel verkörperter Differenz. Deshalb verfügen die Disability Studies über vielfältige Bezüge zu den Debatten über „race, class, gender“ und fügen dem Sexismus und Rassismus noch den Begriff des „Ableism“3 hinzu. Zunehmend spielt auch die Untersuchung von Intersektionalität in den Analysen der Disability Studies eine Rolle (vgl. Raab, 2012). Aktuelle Impulse und politische Implikationen erhält die Debatte durch die 2009 auch von Deutschland ratifizierte UN-Behindertenrechtskonvention, in der Anerkennung, Teilhabe und unbedingte Inklusion aller Menschen gefordert sind. Das zentrale Anliegen der Disability Studies ist es, sich von dichotomen Denkweisen zu lösen und zu einer Gesellschaft der Anerkennung von Vielfalt zu gelangen, in der Behinderung nicht als Problem gesehen wird. Letztlich würde dies den Begriff „Behinderung“ auflösen. Vor dem Hintergrund aktueller, teilweise konträrer Entwicklungen,4 ist dies jedoch vorerst eine Sozialutopie.

Literatur _ Davis, Lennard: Enforcing normalcy. Disability, Deafness and the Body. London/New York. _ Dederich, Markus (2007): Körper, Kultur und Behinderung. Eine Einführung in die Disability Studies. Bielefeld. _ Dannenbeck, Clemens (2007): „Paradigmenwechsel Disability Studies? Für eine kulturwissenschaftliche Wende im Blick auf die Soziale Arbeit mit Menschen mit besonderen Bedürfnissen“, In: Waldschmidt, Anne/Schneider, Werner (Hg.): Disability Studies, Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung. Erkundungen in einem neuen Forschungsfeld. Bielefeld, S. 103-126. _ Gottwald, Claudia: Lachen über das Andere. Eine historische Analyse komischer Repräsentationen von Behinderung. Bielefeld. _ Link, Jürgen(1997/2008): Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird. Göttingen. _ Mc Dermott, Ray/Varenne, Hervé (1995): „Culture as Disability“. URL: http://serendip.brynmawr.edu/sci_cult/culturedisability.html [Stand: 19.01.2016). _ Moscoso, Javier (1995): „Vollkommene Monstren und unheilvolle Gestalten. Zur Naturalisierung der Monstrosität im 18. Jahrhundert“. In: Hagner, Michael (Hg.): Der falsche Körper: Beiträge zu einer Geschichte der Monstrositäten. Göttingen, S. 58-72 _ Raab, Heike (2012): Intersektionalität und Behinderung – Perspektiven der Disability Studies. URL: www.portal-intersektionalität.de [Stand: 19.01.2016] _ Renggli, Cornelia (2013): „Behinderung ausstellen. Un-/Möglichkeiten der Re-/Präsentation“. In: Ochsner, Beate/Grebe, Anna (Hg.): Andere Bilder. Zur Produktion von Behinderung in der visuellen Kultur. Bielefeld, 249-260 _ Waldschmidt, Anne. (2005). „Disability Studies: Individuelles, sozia­ les und / oder kulturelles Modell von Behinderung?“ In: Psychologie & Gesellschaftskritik, Gießen, Themenschwerpunkt „Disability Studies“, 29. Jg., H. 1, S. 9-31.

3

Damit wird eine Haltung bezeichnet, die „able-bodiness“ privilegiert und Behinderung diskriminiert bzw. als Versagen und Defizit betrachtet. Ins Deutsche übertragen könnte man von einer „Befähigungskultur“ sprechen.

4 Beispielsweise die Selektion nach Pränataldiangnostik/Präimplantationsdiagnostik, aber auch schulpolitische Entwicklungen in Bezug auf die Umsetzung von Inklusion in Deutschland, die nach wie vor an der „Zwei-Gruppen-Theorie“ (behinderte/nicht behinderte Kinder) festhalten.

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Auslands­ germanistik als Herme­ neutik ­ des Eigenen und des Anderen? Text Hyacinthe Ondoa

Warum legt man so großen Wert darauf, dem Kunstwerk – und der Erkenntnis, die es erheischt – diesen ‚Ausnahmestatus’ zuzuweisen, wenn nicht mit dem Ziel, die […] Versuche derer vorab zu diskreditieren, die diese Produkte menschlichen Handelns der normalen Behandlung der normalen Wissenschaft unterziehen wollen, und um die (geistige) Transzendenz derjenigen geltend zu machen, die die Transzendenz dieser Produkte ‚wiederzuerkennen’ und ‚anzu­erkennen’ verstehen? (Bourdieu, 2001: 11)

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D

ie Einsicht, dass literarische Phänomene mit politisch-sozialen und symbolischen Machtkämpfen zusammenhängen, gehört zu den Grunderkenntnissen des cultural materialism (Nünning 2008). Literarische Texte sind nach diesem Verständnis historische Produkte, die nicht nur politisch und sozial situierbar sind, sondern auch am Konstruktionsprozess der Wirklichkeit beteiligt sind. Literarische Texte im Allgemeinen, und fremde literarische Texte im Besonderen, können und sollten daher entsprechend politisch interpretiert und als Teil einer kulturellen Sinnleistung gedeutet werden. Zu befürchten, dass durch eine solche Lesart ihre Komplexität bzw. Literarität reduziert würde, gehört zu den jahrhundertelangen Mystifikationen literarischer Objektivationen: Nichts Anderes als diese Tatsache hat Bourdieu im Einführungszitat im Blick. Eine theoretische Erweiterung der literaturwissenschaftlichen Disziplinen zugunsten „neuer kulturhistorischen und politischen Perspektiven” (Nünning 2008) stellt in dieser Hinsicht eine Legitimationschance für die als interkulturell definierte Auslandsgermanistik.

kollektiven Sinnkonstruktion und Repräsentation sind, dann nicht im Sinne eines affirmativen Diskurses oder einer Beglaubigung herrschender politischer Ideologien, moralischer Werte oder ästhetischer Kategorien; sondern sie stehen oft in einem spannungsvollen Verhältnis zu den herrschenden Sinnkonzepten. So gesehen greift die oft formulierte Skepsis bzw. Kritik, inwieweit ein Schriftsteller wie Kafka oder Brecht, einen Beitrag zu nationalen kollektiven Repräsentationen leiste, zu kurz. Denn die Form der Teilhabe, die hier gemeint ist, dieser Beitrag literarischer Texte zu kollektiven Repräsentationen, soll nicht (nur) als Unterstützung missverstanden werden, sondern die literarischen Texte stellen den Raum dar, in dem die kollektiven Repräsentationen parodiert, kritisiert, travestiert oder in Abrede gestellt, und neue, alternative Sinnkonzepte simuliert werden können, und zwar mit den spezifischen Mitteln der Literatur (Bachtin 1989). Dieses komplexe Spiel könnte zu einem der zentralen Themen interkultureller Germanistik werden. Zu fragen wäre z.B. wie sich Thomas Manns Doktor Faustus zu den „Schlüsselszenarien” (Turk 1997) der deutschen Kulturgeschichte verhält.

Eine diskursanalytisch orientierte Auslandsgermanistik könnte in diesem Zusammenhang sich dem Repräsentationsphänomen in deutschen Texten widmen. Die zentrale Frage wäre hier zu sehen, inwiefern und in welcher Form diese Texte an der politischen Imagination Deutschlands teilhaben. Wenn davon ausgegangen wird, dass literarische Texte intra- und interkulturelle Beobachtungsinstrumente sind, dann kann die Auslandsgermanistik deutsche Texte unter dem Aspekt der Selbst- und der Fremdrepräsentation analysieren.

Auslandsgermanistik könnte sich auch zum Ziel setzen, zeitgenössische und frühere deutsche Texte im Hinblick auf ihre Repräsentation des Anderen zu lesen. Der Andere, der Kolonisierte, ist keine vorgegebene Realität, die vor jedem Diskurs existieren würde und die man mit den ­Mitteln der Sprache nur aufzufangen bräuchte. Gefragt würde, wie konstruier(t)en diese Texte den kulturell Anderen? Mit welchen politischen, anthropologischen, ethisch-moralischen Diskursen hängen solche Repräsentationen zusammen? Dass setzt jedoch voraus, dass man ­unter Kultur und Literatur keine „antiseptische Sphäre“ (Said, 1994: 17) versteht, die abgeschottet gegen alle Berührung mit der Welt oder nur mit Vergnügen zu verbinden wäre. In Zusammenhang mit dem Kolonialismus und der europäischen imperialistischen Herrschaft des neunzehnten Jahrhunderts hat Said gezeigt, dass europäische Romane und andere Bücher mit dem imperialistischen Prozess zu verbinden sind, „dessen manifester und unverhohlener Bestandteil sie waren“ (Said, 1994: 17). Zu fragen wäre in diesem Zusammenhang, wie deutsche literarische Texte bzw. die sogenannte deutsche Kolonialliteratur (Tagebücher, Reisebeschreibungen, Reiseberichte, Romane) den kulturell Anderen bzw. den Kolonisierten konstruieren. Nach welchem Modus hängt z.B. Kleists Die Verlobung in St. Domingo mit dem kolonialen Diskurs des 19. Jahr­ hunderts zusammen?

Es wäre danach zu fragen, wie literarische Texte am Konstruktionsprozess der deutschen Nation teilnehmen. Literarische Texte würden in dieser Hinsicht eine ethnographische Funktion bekommen, indem sie Einblick in die deutsche(n) Selbstrepräsentation(en) gewähren. Wenn hier behauptet wird, dass literarische Texte Bestandteil einer

Wenn angenommen wird, dass literarische Texte, so wie Filme und andere Medien, Träger von Selbst- und Fremddarstellung und Kodierung sind, dann kann die Auslandsgermanistik als Versuch, von einem externen Standpunkt aus, deutsche Texte zu interpretieren, zu einer wirklichen Hermeneutik des Anderen und des Eigenen werden.

Die (auslands)germanistische Literaturwissenschaft, wenn sie nicht einfach die „Fachrituale” (Simo, 1999: 349) ihrer deutschen inländischen Schwester wiederholen und perpetuieren will, sollte mit Hilfe eines „anderen Blicks” (Kreutzer 1996) deutsche Texte anders lesen können und vor allem diese im allgemeinen kulturellen Zusammenhang zu erfassen versuchen. Das impliziert, dass man im Umgang mit (deutscher) Literatur verstärkt nach Schnittpunkten mit anderen Diskursformen (Foucault 1991) sucht, statt pietätsvoll nach Besonderheiten der jeweiligen Texte zu suchen. Das impliziert vor allem eine distanziertere Einstellung, die erst dann möglich wird, wenn man den Ernst des Spiels nicht teilt und von außen die deutschen kulturellen Prozesse beobachtet und zu analysieren versucht.

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Literatur

Weiterführende Literatur

_ Bachtin, M. M. (1989), Die Ästhetik des Wortes, herausgegeben und eingeleitet von Rainer Grübel, aus dem Russischen übersetzt von Rainer Grübel und Sabine Reese, Suhrkamp, Frankfurt am Main.

_ Attia, I. (2009), Die westliche Kultur und ihr Anderes. Zur Dekonstruktion von Orientalismus und antimuslimischem Rassismus, Transcript Verlag, Bielefeld.

_ Bourdieu, P. (2001), Die Regeln der Kunst: Genese und Struktur des literarischen Feldes, Suhrkamp, Frankfurt am Main.

_ Bachmann-Medick, D. (2004), „Einleitung“, in: D. Bachmann-Medick (Hrsg.), Kultur als Text: die anthropologische Wende in der Literatur­ wissenschaft, 2. aktualisierte Auflage, A. Francke Verlag, Tübingen / Basel, S. 7-66.

_ Foucault, M. (1991), Die Ordnung des Diskurses, aus dem Französischen von Walter Seiter, mit einem Essay von Ralf Konersmann, Fischer, Frankfurt am Main. _ Kreutzer, L. (1996), Andere Blicke. Habilitationsvorträge afrikanischer Germanisten an der Universität Hannover, mit einem Geleitwort von Eberhard Lämmert, Revonnah, Hannover. _ Nünning, A. (2008), Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie: Ansätze – Personen – Grundbegriffe, vierte, aktualitisierte und erweiterte Auflage, Metzler, Stuttgart / Weimar.

_ Bachmann-Medick, D. (1997), Übersetzung als Repräsentation fremder Kulturen, Erich Schmidt, Berlin. _ Bhabha, H. K. (2000), Die Verortung der Kultur, Stauffenburg, Tübingen. _ Bourdieu, P. (1998), Praktische Vernunft, Suhrkamp, Frankfurt am Main. _ Konersmann, R. (2001), Kulturkritik. Reflexionen in der veränderten Welt, Reclam, Leipzig.

_ Said, E. W. (1994), Kultur und Imperialismus. Einbildungskraft und Politik im Zeitalter der Macht, aus dem Amerikanischen von Hans-Horst Henschen, Fischer, Frankfurt am Main. _ Simo, D. (1999), „Interkulturelle Germanistik und Postkolonialität in Afrika“, in Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache, 25 , S. 349-363. _ Turk, H. (1997), „Schlüsselszenarien: Paradigmen im Reflex literarischen und interkulturellen Verstehens“, in: D. Bachmann-Medick (Hrsg.), Übersetzung als Repräsentation fremder Kulturen, Erich Schmidt, Berlin, S. 281-307.

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Foto: bistreaux / photocase.de

Die De­k on­ struktion weiSSweiblicher Schaulust

Text Julia Dittmann

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in von zwölf barbeinigen und aneinander geketteten, schwarz geschminkten und mit Federröckchen kostümierten Frauen auf die im Dschungel-Dekor verzierte Bühne geführter Gorilla verwandelt sich in das Bildnis einer blonden, weißen Frau.1 Aus dem Affenkostüm schlüpft – wie ein Schmetterling aus dem Kokon – die weiß-weibliche Protagonistin. Sie trägt ihrem ausschließlich weißen, vor allem männlichen Publikum den eigens für diese Shownummer komponierten Hot-Vodoo-Song vor, in dem sie vorgibt, durch den „afrikanischen Rhythmus“ hypnotisiert und „zur Sklavin“ gemacht worden zu sein. Der „heiße Vodoo“, der ein „Tanz der Sünde“ sei,

„schlimmer als Gin“ und „schwarz wie Schlamm“, habe ihr jegliche Unterscheidungsmöglichkeit zwischen „gut und schlecht“ geraubt. So sei sie bereit, einem „Höhlenmenschen“ in dessen „Höhle zu folgen“.2 Schweigende oder beeindruckt stotternde Schwarze Barkeeper bedienen während dieser Shownummer die weißen Zuschauenden, und ein loyal lächelnder Schwarzer Dirigent leitet mit fröhlich-beschwingten Bewegungen – in Frack und mit geglättetem Haar – die instrumentale Begleitung der vom weiß-weiblichen Gesang dominierten Bühnendarbietung.

1

Das Adjektiv weiß und das Nomen Weißsein schreibe ich kursiv, um die Konstruktion der Kategorie deutlich zu machen. Schwarz und Schwarzsein werden aus demselben Grund groß geschrieben – erweitert um die ermächtigende Wirkung des Großgeschriebenen.

2

Alle hier angeführten Zitate entstammen dem Hot-Vodoo-Song-Text bzw. den deutschen DVD-Untertiteln desselben.

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Die filmtheoretische Auseinandersetzung mit dieser 6-minütigen Filmsequenz3 aus dem 1932 uraufgeführten US-amerikanischen Spielfilm Blonde Venus von Josef von Sternberg lässt den Schluss zu, dass dieser Film mit seiner Hauptdarstellerin Marlene Dietrich zum einen eine besonders große Schaulust bei weißen Zuschauerinnen hervorruft, und dass zum anderen rassistische Weiblichkeitskonstruktionen, die koloniale Ikonen tradieren und reproduzieren, selbst in der Diskussion der hegemoniekritisch angelegten feministischen Filmtheorie der 1970er und 80er Jahre kaum wahrgenommen wurden.4 Die Verfasserin des zum „Ursprungstext“ der feministischen Filmtheorie avancierten Artikels Visual Pleasure and Narrative Cinema5 zog Sternbergs Werk 1975 heran, um Teile ihrer Theorie zu verifizieren.6 Die Lust am Schauen entstehe, so Laura Mulvey, zum einen aus der durch die Filmrezeption angeregten frühkindlichen Skopophilie und zum anderen aus der Spiegelung in den im Lacanschen Spiegelmoment (fehl-)erkannten Ich-Idealen. Da diese Schaulust in einer patriarchalen Gesellschaft aber in aktiv/männlich und passiv/weiblich eingeteilt werde, diene die Frau im kinematographischen Rezeptionsprozess lediglich als passives Material für den aktiven Blick des Mannes. Eine Schaulust könne die sich per se mit der kastriert-weiblichen Filmfigur identifizierende Filmrezipientin daher nicht erleben. Obwohl sich Mulvey nicht explizit auf die Hot-VodooSong-Shownummer bezog, ist diese eine der einschlägigen Filmsequenzen in Sternbergs Werk, anhand derer Mulveys Überlegungen verifiziert werden können. Vor allem ihre Beobachtung, dass das als Blickobjekt dienende fetischisierte Showgirl die Vereinigung der beiden männlichen Blicke von Protagonist und Filmrezipient ermögliche,7 wird in dieser Filmsequenz deutlich, in der eine weiß-männliche Filmfigur einen aktiven Blick an die auf der Bühne stehende weiß-weibliche Protagonistin heftet.

3

In den folgenden fünfzehn Jahren bezogen sich zahlreiche weitere feministische Filmtheoretiker_innen auf Sternbergs Werk, um die durch Mulveys Artikel implizit aufgeworfene Frage zu beantworten, warum Frauen überhaupt ins Kino gehen, wenn doch, wie Mulvey in ihrem Artikel behauptete, nur männliche Phallusträger in der Lage seien, kinematographische Schaulust zu empfinden. Die rassistischen Elemente der Hot-Vodoo-Song-Filmsequenz fanden in diesen Publikationen ebenso wenig Erwähnung wie in Mulveys Ursprungstext. Statt dessen schrieben Gertrud Koch und Julia Lesage von der „Faszination“8 und einer „gewissen Macht“,9 die in den Sternberg-Filmen von Stars wie Marlene Dietrich und Greta Garbo auf die weiblichen Rezipientinnen ausgehen. Was aber, wenn diese „Faszination“ und „Macht“ – anders als Koch und Lesage behaupten – nicht nur der wiedererzeugten frühkindlichen „Diffusion der Geschlechtswahrnehmung“,10 einem lesbischen Begehren11 oder der bisexuellen Triebkomponente der weiblichen Psyche12 entspringt, sondern wenn diese Faszination und Macht vor allem der Inszenierung einer hegemonialen weißen Weiblichkeit geschuldet ist, in der sich die weiße Zuschauerin spiegeln kann? Da sich Mulvey bei der Begründung ihrer These auf die Theorien der Freudschen und Lacanschen Psychoanalyse stützt, möchte ich, indem ich ihren Text mit einer dekonstruktiven Lesart der Psychoanalyse neu interpretiere,13 eine weitere, bisher noch nicht gegebene Antwort auf die implizit aufgeworfene Frage nach der weiblichen Schaulust geben. Diese gründet auf der Annahme, dass der Phallus, an dem Mulvey ihre Theorie hochranken lässt, nicht ausschließlich vom männlichen Genital geformt wird, sondern als symbolischer Phallus à la Lacan seine Existenz auch einer durch Rassekonstruktionen gebildeten Machtachse verdankt.

Die Sequenz umfasst die Filmminuten 00:22:07 – 00:28:05.

4

Sehr gute Zusammenfassungen der feministischen Filmtheorien sind zu finden in: Lippert, Renate: „‚Ist der Blick männlich?‘ Psychoanalyse und feministische Filmtheorie“, in: dies.: Vom Winde verweht. Film und Psychoanalyse, Stroemfeld/Nexus, Frankfurt a. M. 2002, S. 19-29; Klippel, Heike: „Feministische Filmtheorie“, in: Felix, Jürgen: Moderne Film Theorie, Bender Verlag, Mainz 2002, S. 168-185; Riecke, Christiane: Feministische Filmtheorie in der Bundesrepublik Deutschland, Peter Lang – Europäischer Verlag der Wissenschaften, Frankfurt am Main 1998. Ein kurzer Überblick bei: Lippert, Renate: „Was ist feministische Filmtheorie heute und brauchen wir sie immer noch? Eine Rezension der Zeitschrift SIGNS zu Film und Feminismus“, in: Frauen und Film 65, September 2006, S. 221-235. 5

Mulvey, Laura: „Visual Pleasure and Narrative Cinema“, in: Screen 16 (1975), S. 6-18.

6

Mulvey, Laura: „Visuelle Lust und Narratives Kino“, in: Albersmeier, Franz-Josef (Hrsg.): Texte zur Theorie des Films, Reclam, Stuttgart 2003, 5. Auflage, S. 389-408, S. 401 f.

7

ebd., S. 398.

8

Koch, Gertrud: „Warum Frauen ins Männerkino gehen“, in: Nabakowski, Gislind/Sander, Helke/Gorsen, Peter (Hg.): Frauen in der Kunst, edition suhrkamp, Frankfurt am Main 1980, S. 15-29, S. 18.

9

Lesage, Julia, zitiert in: Studlar, Gaylyn: „Schaulust und masochistische Ästhetik“, in: Frauen und Film 39, 1985, S. 15-39, S. 33.

10

Koch, S. 18.

11

Lesage, zitiert in: Studlar, S. 33.

12

Koch, S. 17 f.

13

vgl. dazu Tißberger, Martina: Dark Continents und das UnBehagen in der weißen Kultur. Rassismus, Gender und Psychoanalyse aus einer Critical-Whiteness-Perspektive, Unrast Verlag, Münster 2013, S. 311

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Diese These findet Fundamente in Auszügen des späteren feministischen Filmdiskurses, innerhalb dessen die Sequenz des Hot-Vodoo-Songs dank unzähliger zuvor erschienener Publikationen Schwarzer Theoretiker_innen wie W.E.B. Dubois, Frantz Fanon, Homi K. Bhaba, Stuart Hall, bell hooks und Manthia Diawara schließlich doch noch mit rassisierenden Repräsentationspraktiken in Verbindung gebracht wurde. So wies Mary Ann Doane 1990 darauf hin, dass die weiß-weibliche Protagonistin dieser Filmsequenz nur durch die Inszenierung eines zu ihrer Entstehung benötigten Schwarz konstruierten Kontrapunktes als weiß-weibliche Vordergrundfigur erscheine.14 Und 1997 schrieb E. Ann Kaplan von einem der Filmsequenz immanenten imperialistischen Blick der weißen Frau auf Schwarze Charaktere.15 Dieser imperialistische Blick generiert innerhalb meiner These die Schaulust der sich mit der weißen Hauptdarstellerin identifizierenden weiß-weiblichen Filmrezipientin. Denn die weiße Protagonistin Helen Jones symbolisiert nach dem Abstreifen des Gorilla-Kostüms nicht nur, wie Kaplan schrieb, den – eher Freudianisch konzipierten – Phallus für den weißen Mann, sondern auch den durch verschiedene Machtachsen geformten und in diesem Fall von Whiteness dominierten symbolischen Phallus nach Lacan oder, mit Kalpana Seshadri-Crooks gesprochen, den Master Signifier Whiteness16 für die sich in der Leinwand spiegelnde weiße Filmrezipientin. Die Spiegelung im Weißsein der weiß-weiblichen Filmfigur, die in Großaufnahmen und schillernd im Lichte der Erleuchtung aus der primitiven Affenexistenz als Ganzkörperphallus emporschießt,17 dessen Eichel sich in der blonden, die afrikanische Frisur der Schwarz-weiblichen Filmfiguren persiflierenden und gleichzeitig der weißen Frau einen Heiligenschein18 verleihenden Perücke wiederfindet, ermächtigt die weiß-weibliche Zuschauerin in ihrem subjektiven Empfinden und ermöglicht ihr eine lustvolle Rezeption des filmisch Erzählten. Auf das Bedienen dieser weiß-weiblichen Schaulust ­ arbeitet auch die hierarchisierende Binarität der Hot-­ Vodoo-Song-Sequenz hin, innerhalb derer sich die individualisierte und sprachbegabte weiße Frau vom

weißen Publikum bewundern lässt, während die primitiv kostümierten, vorgeblich afrikanischen Frauen vollkommen entindividualisiert in einem tiernahen, sprachlosen Zustand verharren und mit Federröckchen, Jagdschildern und Speeren der unbewältigten Natur des Dschungel-­ Dekors verhaftet bleiben. Durch die Kette, an die die Schwarz-weiblichen Filmfiguren gefesselt sind oder die sie halten, um den Gorilla auf die Bühne zu führen, werden sie nicht nur mit dem Wesen des Affen in enge Verbindung gebracht oder gar auf eine Stufe gestellt, sondern auch in die Position von Sklavinnen versetzt – in die Position von Menschen also, die realiter von Menschen europäischer Herkunft als Schwarz konstruiert wurden, um im Geiste der Aufklärung unter dem Deckmantel der Legalität gefangen genommen, verdinglicht, gedemütigt, ausgebeutet, gefoltert und getötet zu werden.19 Der Text des Hot-Vodoo-Songs dient dazu, diese von weiß konstruierten Menschen ausgeübte Gewalt an afrikanischen Menschen trotz des Anblicks von mit Sklaverei konnotierten Symbolen zu verschleiern und historische Wahrheiten zu verdrehen, indem er die ausgeübte Brutalität nicht den europäischen Kolonialist_innen, sondern Menschen afrikanischer Herkunft zuschreibt und behauptet, nicht die Schwarze, sondern die weiße Frau werde versklavt – und zwar durch den „afrikanischen Rhythmus“, der hier als Sinnbild für den als hypersexualisiert stereotypisierten Schwarzen Mann zu verstehen ist. Durch diese Verdrängung weißer Gewaltakte und durch die abwertende Inszenierung Schwarzer Menschen, die bis hin zur grundsätzlichen Infragestellung ihres Menschseins reicht, entsteht das glamouröse Bild weiß-weiblicher Superiorität.20 Affe, Afrika, Primitivität, Triebhaftigkeit, Schwarze Frau und Vodoo-Glaube bilden in dieser Filmsequenz das Andere, von dem sich die weiße Frau zu ihrer eigenen Entstehung absetzen muss. Zusätzlich dienen die in der Sequenz auftretenden Schwarz-männlichen Filmfiguren dazu, der rassistischen Shownummer ihre Richtigkeit zu bescheinigen. Denn auch Schwarze selbst, so soll suggeriert werden, bewerten die Shownummer positiv.

14

Doane, Mary Ann: Femmes Fatales. Feminism, Film Theory, Psychoanalysis, Routledge, New York 1991, S. 214 f.

15

Kaplan, E. Ann: Looking for the Other: Feminism, Film, and the Imperial Gaze, Routledge, London 1997, S. 72-74.

16

Seshadri-Crooks, Kalpana: Desiring Whiteness: A Lacanian analysis of race, Routledge, London 2000, S. 20: Für Seshadri-Crooks ist Weißsein der master signifier im Symbolsystem der „Rassendifferenz“.

17

Gemeint ist an dieser Stelle der von Mulvey als Symbol beschriebene reale Phallus nach Lacan.

18

Vgl. Dyer, Richard: „...und es werde Licht!“, in: Gutberlet, Marie-Hélène/Metzler, Hans-Peter (Hg.): Afrikanisches Kino, Horlemann, Bad Honnef 1997, S. 16-28. Der Filmwissenschaftler Richard Dyer weist in diesem Artikel auf die christliche Symbolik als ein mögliches Mittel für die hegemoniale Inszenierung von Weißsein hin.

19

Arndt, Susan: „Weißsein. Die verkannte Strukturkategorie Europas und Deutschlands“, in: Eggers, Maureen Maisha/Kilomba, Grada/ Piesche, Peggy/Arndt, Susan: Mythen, Masken, Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland, Unrast Verlag, Münster 2005, S. 24-28, S. 26; Broeck, Sabine: „Dekoloniale Entbindung. Walter Mignolos Kritik an der Matrix der Kolonialität“, in: Reuter, Julia/Karentzos, Alexandra (Hrsg.): Schlüsselwerke der Postcolonial Studies, Springer VS, Wiesbaden 2012, S. 165-175, S. 169 f.

20

Vgl. Doane, S. 214 f.

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Wenn die Hauptfaszination am bewegten Bild tatsächlich, wie Mulvey behauptet, in dem Lacanschen Spiegelmoment liegen sollte, der das eigene Ich als perfekt, als größer und vollendeter erscheinen lässt, als es realiter ist, könnte die weiße Filmrezipientin durchaus eine Schaulust aus dieser überhöhten Darstellung des weiblichen Weißseins ziehen. Denn der Film Blonde Venus feiert in der Figur Helens die von weißen Mythen und zugunsten weißer Machtinteressen konstruierte Überlegenheit einer okzidental erfundenen „weißen Rasse“. Der von Mulvey als Voraussetzung für Schaulust ausgewiesene Phallus kann demnach, wird er nach dem Lacanschen Konzept als symbolischer Phallus verstanden, als ein aus verschiedenen Machtachsen zusammengesetztes und von Weißsein dominiertes Machtsymbol auch von weiß-weiblichen Filmrezipierenden besessen werden. Mit einer solchen Lesart der Mulveyschen Theorie kann der Gefahr einer den okzidentalen Sehgewohnheiten und Gesellschaftsstrukturen immanenten Legastenie gegenüber rassisierenden Filmelementen effektiv entgegengewirkt und der weiß-weibliche Blick ent-täuscht werden.

Literatur _ Arndt, Susan: „Weißsein. Die verkannte Strukturkategorie Europas und Deutschlands“, in: Eggers, Maureen Maisha/Kilomba, Grada/ Piesche, Peggy/Arndt, Susan: Mythen, Masken, Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland, Unrast Verlag, Münster 2005, S. 24-28 _ Broeck, Sabine: „Dekoloniale Entbindung. Walter Mignolos Kritik an der Matrix der Kolonialität“, in: Reuter, Julia/Karentzos, Alexandra (Hrsg.): Schlüsselwerke der Postcolonial Studies, Springer VS, Wiesbaden 2012, S. 165-175 _ Doane, Mary Ann: Femmes Fatales. Feminism, Film Theory, Psychoanalysis, Routledge, New York 1991 _ Dyer, Richard: „...und es werde Licht!“, in: Gutberlet, Marie-Hélène/Metzler, Hans-Peter (Hg.): Afrikanisches Kino, Horlemann, Bad Honnef 1997, S. 16-28 _ Kaplan, E. Ann: Looking for the Other: Feminism, Film, and the Imperial Gaze, Routledge, London 1997 _ Klippel, Heike: „Feministische Filmtheorie“, in: Felix, Jürgen: Moderne Film Theorie, Bender Verlag, Mainz 2002, S. 168-185 _ Koch, Gertrud: „Warum Frauen ins Männerkino gehen“, in: Nabakowski, Gislind/Sander, Helke/Gorsen, Peter (Hg.): Frauen in der Kunst, edition suhrkamp, Frankfurt am Main 1980, S. 15-29 _ Lippert, Renate: „‚Ist der Blick männlich?‘ Psychoanalyse und feministische Filmtheorie“, in: dies.: Vom Winde verweht. Film und Psychoanalyse, Stroemfeld/Nexus, Frankfurt a. M. 2002, S. 19-29 _ Lippert, Renate: „Was ist feministische Filmtheorie heute und brauchen wir sie immer noch? Eine Rezension der Zeitschrift SIGNS zu Film und Feminismus“, in: Frauen und Film 65, September 2006, S. 221-235 _ Mulvey, Laura: „Visual Pleasure and Narrative Cinema“, in: Screen 16 (1975), S. 6-18 _ Mulvey, Laura: „Visuelle Lust und Narratives Kino“, in: Albersmeier, Franz-Josef (Hrsg.): Texte zur Theorie des Films, Reclam, Stuttgart 2003, 5. Auflage, S. 389-408 _ Riecke, Christiane: Feministische Filmtheorie in der Bundesrepublik Deutschland, Peter Lang – Europäischer Verlag der Wissenschaften, Frankfurt am Main 1998 _ Seshadri-Crooks, Kalpana: Desiring Whiteness: A Lacanian analysis of race, Routledge, London 2000 _ Studlar, Gaylyn: „Schaulust und masochistische Ästhetik“, in: Frauen und Film 39, 1985, S. 15-39 _ Tißberger, Martina: Dark Continents und das UnBehagen in der weißen Kultur. Rassismus, Gender und Psychoanalyse aus einer Critical-Whiteness-Perspektive, Unrast Verlag, Münster 2013

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Stigmatisierungsund Diskriminierungserfahrungen der Besatzungs­ kinder des Zweiten Weltkrieges in Deutschland

Text Heide Glaesmer

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A

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ls „Children Born of War (CBOW)“ werden Kinder bezeichnet, die von ausländischen/feindlichen Soldaten mit einheimischen Frauen gezeugt werden (Mochmann & Lee, 2010). Zu dieser Gruppe zählen sowohl Kinder, die aus Vergewaltigungen („Children Born of Rape“) als auch solche, die aus mehr oder weniger freiwilligen Beziehungen entstanden sind. Die wenigen bislang verfügbaren internationalen Studien dazu haben sich eher einseitig auf Kinder von Vergewaltigungsopfern beschränkt. In den letzten Jahren wurde jedoch mehr und mehr auch die Problematik der Kinder, deren Eltern freiwillige, freundschaftliche oder Liebesbeziehungen hatten, in der kulturwissenschaftlichen und zeitgeschichtlichen Forschung adressiert (Lee, 2011).

Deutschland: Psychosoziale Konsequenzen, Stigmatisierung und Identitätsentwicklung“ wurden die Erfahrungen der deutschen Besatzungskinder erstmals aus psychosozialer Perspektive empirisch erforscht (Kaiser et al., 2015). Entsprechend eines Rahmenmodells zu relevanten psychosozialen Aspekten der Besatzungskinder (Glaesmer et al., 2012) wurden Identitätsbilder, Erfahrungen von Stigmatisierung und Diskriminierung und Kindheitserfahrungen erfragt sowie ein Zusammenhang zum heutigen psychischen Befinden hergestellt. Die Methodik der Studie ist bei Kaiser et al. (2015) detailliert beschrieben. Zentrale Ergebnisse zu den Stigmatisierungs- und Diskriminierungserfahrungen werden im Folgenden berichtet.

Ausgehend von Goffmann (1963) wurde Stigma als ein Attribut definiert, das eine soziale Identität vermittelt, die Auch in Deutschland kam es am Ende des Zweiten in bestimmten sozialen Kontexten als minderwertig gilt Weltkrieges und im ersten Jahrzehnt danach zu zahlreichen (Crocker, Major, Steele, 1998). Dabei wird in der aktuellen intimen Kontakten zwischen alliierten Besatzungssoldaten Stigmaforschung hervorgehoben, dass ein Stigma nicht in und deutschen Frauen. Die Gründe dafür waren vielfältig: der Person, sondern im sozialen Kontext begründet liegt Für einige Frauen sicherten die Beziehungen vor allem den (Link & Phelan, 2001; Major & O'Brien, 2005). Es steht heute Lebensunterhalt in der „Rationen-Gesellschaft“ (Gries, vor allem aus zeitgeschichtlicher Perspektive außer Frage, 1991). Bei anderen entwickelten sich aus dem beständigen dass mehr oder weniger offene oder verdeckte individuelle Aufenthalt der Besatzungstruppen und den vermehrten Diskriminierungen zu den prägenden Erfahrungen der BeInteraktionen im Alltagssatzungskinder gehörten. So leben Liebesbeziehungen. trugen sie meist ein doppelKurz vor und am Kriegsende tes Schicksal als uneheliche „Der Vater meines besten überwogen jedoch Formen Kinder und als Kinder des ­Sandkasten-Freundes kam aus (oft systematischer) sexueller Feindes (Satjukow, 2009). der Gefangenschaft zurück, und Gewalt (Sander & Johr, 1992). Dies äußerte sich in häufig der Junge durfte von dem Tag an Aus diesen unterschiedlichen benutzten Schimpfworten intimen Kontakten entstanwie „Russenbalg“, „Ami­ nicht mehr mit mir spielen.“ den zahlreiche sogenannte bankert“ und „Franzosen„Besatzungskinder“. Die brut“ sowie in offen erlebter genaue Zahl von Kindern Gewalt und Ausgrenzung. aus Vergewaltigungen aber auch von Besatzungskinder aus Darüber hinaus kam es auch zu struktureller Diskriminiemehr oder weniger freiwilligen Beziehungen wird wohl rung der Besatzungskinder. Zu Beginn der Besatzungszeit unbekannt bleiben, weil die Mütter die Vergewaltigung oder übernahmen die Besatzungsmächte keine Verantwortung für ihre Beziehungen zu Besatzungssoldaten oft verheimlichten die von ihren Soldaten gezeugten Kindern (Lee, 2009; Mochbzw. in offiziellen Dokumenten „Vater unbekannt“ angaben mann, Lee, Stelzl-Marx, 2009; Satjukow, 2011; Stelzl-Marx, (Stelzl-Marx, 2009). Insgesamt wird heute in (konservativen) 2009). Den Müttern wurde das Recht auf VaterschaftsanerSchätzungen von mindestens 200.000 lebenden Besatzungskennung verwehrt und den Kindern damit das Recht auf die kindern in Deutschland ausgegangen (Satjukow, 2009). Die jeweilige Staatszugehörigkeit genommen; zudem erhielten exakte Einordnung der Beziehung der biologischen Eltern ist die Mütter keine finanzielle Unterstützung von den Vätern oft schwierig, da im Bereich der sogenannten „Liebesverhältoder den Besatzungsmächten. Die daraus resultierende nisse“ von einer breiten Grauzone mehr oder weniger offener Notlage der Mütter machte die strukturelle Diskriminierung Abhängigkeitsbeziehungen ausgegangen werden muss. Oft auch direkt für die Kinder spürbar. Zum Teil mussten die existieren hier auch verschiedene Beziehungsmuster nebenMütter aus ihrer Not heraus die Kinder in Heime oder zu oder nacheinander (Lee, 2012). Verwandten geben. Einige Mütter wurden zur Freigabe ihrer Kinder zur Adoption gezwungen (Lee, 2009; Satjukow, 2011). In den letzten Jahren haben verschiedene FachdiszipliAndere verheimlichten die Herkunft ihrer Kinder aus Angst nen angefangen, sich mit dem gesellschaftlichen Umgang vor Stigmatisierung und Diskriminierung. Ein Teil der Besatund den individuellen Bedingungen des Aufwachsens der zungskinder wuchs im Unwissen um die eigene Herkunft auf Besatzungskinder auseinanderzusetzen. Mit dem Projekt (Glaesmer et al., 2012; Stelzl-Marx, 2009). „Besatzungskinder – die Kinder des Zweiten Weltkrieges in

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Im Rahmen des Projektes „Besatzungskinder – die Kinder des Zweiten Weltkrieges in Deutschland: Psychosoziale Konsequenzen, Stigmatisierung und Identitätsentwicklung“ wurden 146 deutsche Besatzungskinder unter anderem zu ihren Erfahrungen mit Stigmatisierung und Diskriminierung befragt. Mehr als die Hälfte berichten, selbst Erfahrungen mit Vorurteilen gemacht zu haben. Dabei spielen verschiedene Aspekte eine Rolle, zum Beispiel „der Fakt, dass sich Mutter mit einem Besatzungssoldaten eingelassen hat“, die Herkunft des Vaters, ererbte äußere Merkmale, die sie als Besatzungskinder kennzeichneten (z.B. dunklere Hautfarbe), aber auch der Fakt, unehelich geboren zu sein sowie die sozialen Verhältnisse, in denen man aufwuchs. Die Erfahrungen wurden sowohl in der eigenen Familie und im direkten sozialen Umfeld als auch in öffentlichen Einrichtungen/Institutionen gemacht. Etwa die Hälfte wurde in ihrem sozialen Umfeld (überwiegend in der Nachbarschaft, Dorfgemeinschaft, Bekanntenkreis) mit Vorurteilen konfrontiert, am häufigsten in Form von Beschimpfungen, Beleidigungen und Ablehnung.

„Dass meine Mutter als Tommynutte betitelt wurde und ich Monkey genannt wurde.“ „Der Vater meines besten Sandkasten-Freundes kam aus der Gefangenschaft zurück, und der Junge durfte von dem Tag an nicht mehr mit mir spielen.“ Auch in öffentlichen Institutionen und Einrichtungen haben Besatzungskinder häufig Erfahrungen mit Vorurteilen gemacht, am häufigsten im pädagogischen Bereich, darunter z.B. die Verweigerung oder Erschwerung der Aufnahme in einen Kindergarten oder in eine Schule sowie diskriminierendes Verhalten von Lehrkräften.

„Eine Lehrerin (Klosterschule) hatte mich ständig „im Fokus“ und hat mich vor der Klasse geschlagen. Es war totenstill im Klassenraum – alle waren ­geschockt ...“ Ähnliche Erfahrungen der Ablehnung und Diskriminierung wurden von den Besatzungskindern auch in anderen staatlichen Institutionen (z.B. Militär, Behörden), in kirchlichen Einrichtungen sowie im Arbeitsleben gemacht, z.B.:

„Als die Entscheidung anstand, ich sollte Minis­ trant werden. Dies lehnte der damalige Pfarrer ab, Begründung: Einen ‚Rothaarigen‘ kann er nicht am Altar brauchen. Genauer gesagt, einen ‚Russen‘!“ Wichtig ist zudem, dass Ablehnung und Ausgrenzung auch im familiären Kontext stattfand, etwa Ablehnung und Ausgrenzung der eigenen Person und auch der Mutter durch andere Familienmitglieder sowie Beschimpfungen und Prügel. Oftmals gingen die innerfamiliäre Ablehnung

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und Bestrafung, die die befragten Besatzungskinder erfuhren, von ihren Stiefvätern aus. Als Ursachen für die Vorurteile und Diskriminierungen benannten die Befragten „Auswirkungen der Kränkung durch den verlorenen Krieg“, „Rassismus und Nachwirkungen der nationalsozialistischen Ideologie“ aber auch ihren unehe­lichen Status. Die Antworten auf die Frage, was in der Kindheit der Besatzungskinder hätte helfen können um Vorurteile abzubauen, lassen sich grob in fünf Kategorien zusammenfassen: „Gesellschaftliches Umdenken“ umfasst Antworten hinsichtlich der Veränderung gesellschaftlicher Wertvorstellungen und Vorurteile, durch z.B. Aufklärung in Schule und sozialem Umfeld. Die „Thematisierung von Schuld und Versöhnung“ persönliche Kontakte; persönliche Begegnungen, Offenheit, Freiheit von der staatlich verordneten Ideologie des Erbfeindes/Antikommunismus etc. Ein Umdenken der Besatzungskinderfunktion als Wegweiser in die Zukunft und keine Leugnung des Themas in der Politik. „Staatliche Unterstützung und Anerkennung“ beinhaltet Antworten, die Unterstützung durch die Besatzungsmächte bzw. den deutschen Staat, Maßnahmen der politischen Anerkennung der Besatzungskinder sowie ihre Gleichstellung mit ehelichen Kindern und anderen unehelichen Kinder thematisieren. Die Kategorie „Offener Umgang“ umfasst Antworten in denen Offenheit, Ehrlichkeit sowie Aufklärung der Kinder über ihre Herkunft anstatt Tabuisierung des Besatzungskindseins als hilfreich gegen Vorurteile angesehen werden. In der Kategorie „Rückhalt in der Familie“ werden Antworten zusammengefasst, die familiäre Unterstützung und einen der Behandlung anderer Kinder entsprechenden Umgang mit den Besatzungskindern in ihren Familien als hilfreich nennen. Zwölf Personen gaben an, dass „nichts, zur damaligen Zeit“ gegen die Vorurteile bezüglich der Besatzungskinder hätte getan werden können. Mit dem Projekt wurden erstmals die Erfahrungen der deutschen Besatzungskinder empirisch aus psychosozialer Perspektive untersucht. Die hier vorgestellten Ergebnisse beschreiben die Stigmaerfahrungen dieser Gruppe. Auch wenn zeitgeschichtliche Untersuchungen und Einzelfallberichte bereits darauf hingewiesen haben, dass die Besatzungskinder häufig Stigmatisierung und Diskriminierung ausgesetzt waren, liegen damit erstmals quantitative Daten zu Art und Umfang der Stigmaerfahrungen aus der Perspektive Betroffener vor. Als Ursachen wurden sehr klar gesellschaftliche Phänomene wie das Nachwirken der nationalsozialistischen Ideologie, die Kränkung durch den verlorenen Krieg, aber auch die Unsicherheit im Umgang mit ‚Fremden‘ und negative Einstellungen gegenüber unehelichen Kindern bzw. deren Müttern verantwortlich

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gemacht. Es ist beruhigend zu sehen, dass die Befragten die Ursachen mit diesen Zuschreibungen nicht in ihrer Person suchen, sondern in den äußeren Bedingungen. Es wäre allerdings interessant zu erfahren, ob sie diese Erkenntnis erst später für sich gewonnen haben und ergänzend dazu, was sie als Kinder darüber dachten bzw. inwieweit sie als Kinder das Stigma internalisierten. Hier werden die Grenzen der Befragung deutlich. Wichtig ist aber auch, dass der Abbau der Vorurteile aus der Wahrnehmung der Befragten nicht durch sie selbst geschehen konnte, sondern nur durch einen veränderten gesellschaftlichen und familiären Umgang mit der Thematik ermöglicht worden sei. Die Befunde geben einen Einblick in das Erleben von Stigmatisierung sogenannter Besatzungskinder und machen deutlich, wie häufig, schwerwiegend und vielfältig diese Erfahrungen waren. Mit den hier vorgestellten Ergebnissen ist ein erster und wichtiger Schritt zur empirischen Beschreibung dieser getan. Trotz der engen Grenzen einer Fragebogenerhebung, die keine Nachfragen ermöglicht und nur einen kleinen Ausschnitt der persönlichen Erlebnisse sichtbar machen kann, zeigte sich in den Antworten ein erhebliches Maß an subjektivem Leid, aber auch an Reflexion.

Literatur _ Crocker, J., B. Major, B. & C. Steele (1998), “Social stigma”, in: Gilbert, D. T, S. T. Fiske & G. Lindzey (ed.), The Handbook of Social Psychology, McGraw-Hill, Boston, pp. 504-553. _ Glaesmer, H., M. Kaiser, H.J. Freyberger, E. Brähler & P. Kuwert (2012), „Die Kinder des Krieges in Deutschland – Ein Rahmenmodell für die psychosoziale Forschung“, in: Trauma & Gewalt, No. 6, pp. 318-328. _ Gries, R. (1991), Die Rationen-Gesellschaft. Versorgungskampf und Vergleichsmentalität. Leipzig, München und Köln nach dem Kriege, Verlag Westfaelisches Dampfboot, Münster. _ Kaiser, M., P. Kuwert& H. Glaesmer (2015), „Aufwachsen als „Besatzungskind des Zweiten Weltkrieges“ in Deutschland – Hintergründe und Vorgehen einer Befragung deutscher „Besatzungskinder““, in: Zeitschrift für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, 61, pp. 191-205. _ Lee, S. (2009), „Kinder amerikanischer Soldaten in Europa: ein Vergleich der Situation britischer und deutscher Kinder“, in: Historical Social Research, No. 34, pp. 321-351. _ Lee, S. (2011), “A Forgotten Legacy of the Second World War: GI children in post-war Britain and Germany”, in: Contemporary European History, No. 20, pp. 157-181. _ Lee, S. (2012), „Kinder des Krieges. Vergessene Sekundäropfer einer veränderten Kriegslandschaft im 20. Jahrhundert?“, in: Trauma & Gewalt, No. 2/2012, pp. 94-107. _ Link, B. G. & J. C. Phelan (2001), “Conceptualizing stigma”, in: Annual Review of Sociology, No. 27, pp. 363-385. _ Major, B. & L. T. O'Brien (2005), “The social psychology of stigma”, in: Annual Review of Psychology, No. 56, pp. 393-421. _ Mochmann, I. C., S. Lee & B. Stelzl-Marx (2009), “The children of occupations born during the Second World War and beyond – an overview”, in: Historical Social Research, No. 34, pp. 263-282. _ Mochmann, I. C. & S. Lee (2010), "The Human Rights of children born of war: case analyses of past and present conflicts", in: Historical Social Research, No. 35/3, pp. 268-298. _ Sander, H. & B. Johr (1992), BeFreier und Befreite. Krieg, Vergewaltigungen, Kinder, Kunstmann, München. _ Satjukow, S. (2009), „‚Bankerte!‘ Verschwiegene Kinder des Krieges“, in: Kriegskinder. Die späten Folgen des Zweiten Weltkrieges in Deutschland und in Russland, Deutsches Historisches Institut, Moskau. _ Satjukow, S. (2011), „ ‚Besatzungskinder‘: Nachkommen deutscher Frauen und alliierter Soldaten seit 1945“, in: Geschichte und Gesellschaft, Nr. 37, pp. 559-591. _ Stelzl-Marx, B. (2009), „Die unsichtbare Generation: Kinder ­sowjetischer Besatzungssoldaten in Österreich und Deutschland“, in: Historical Social Research, No. 34, pp. 352-372.

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Difference and Threat: Iran Still a Threatening ‘Other’ in U.S. Security Policy Discourse

Text Sybille Reinke de Buitrago*

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Introduction When is difference perceived as threat? At which point does the construction of difference between self and other by a state actor become problematic, and why? While self-other difference in peaceful/non-tensious interstate relations can usually be tolerated, situations of increased alert and suspicion, coupled with past negative experiences with the other, easily turn difference into a threat. This contribution focuses on self-other constructions, threat perceptions and threat narratives articulated in U.S. security policy discourse toward Iran in order to show how a discourse of threat impacts perception and relations. U.S. discourse on Iran presents an interesting case due to the current changes in U.S.-Iranian relations, the strategic importance of Iran, as argued by Wright,1 and the continuing U.S. influence and interests in the region. Threat perceptions and threat narratives both reflect the quality of interstate relations and shape behaviour toward the other. Perception patterns are shared within a group and relatively stable, even in the face of counter-evidence.2 ­ Often, it takes dramatic events to adjust perceptions.3 A number of factors facilitate the development of threat perceptions, among them prejudices, developments that can be perceived as threatening, or a particular political discourse towards the ‘other’.4 A common enemy can also serve political goals of social control, value dominance and resource mobilization.5 Linked with perception processes is the aspect of identity, as with identity we can form an understanding of ourselves, our world and important ‘others’ around us. Identities are also found at the state level. National identity refers to a political community with institutions, rights and obligations in a defined and historic territory, shared myths and memories, and with shared views regarding legitimate state behaviour.6 Due to a bias

towards the self, our images of ourselves and others impact foreign policy and relations in a way that favours the self.7 Identity construction and maintenance furthermore requires difference between self and other, which translates into a search for dangerous others and in many cases also processes of othering.8 Articulating another state as threat to the self creates difference in interstate relations and impacts policy.9 Next, I exemplify self-other constructions by illustrating how Iran is constructed in U.S. security policy discourse in light of the U.S. self. As pointed out above, this case is of interest due to the current changes in U.S.-Iranian relations and shifts in U.S. discourse, as well as the strategic importance of Iran and the continuing U.S. standing in the region.

U.S. Security Policy Discourse ­t owards Iran U.S.-Iranian relations have varied in the past. Up until the Iranian Revolution in 1979 and the Iran hostage crisis, relations were mostly positive. From the 1980s on, the U.S. several times changed positions between cooperation and neglect. Under Clinton, Iran was levied with sanctions. After lesser tensions in the late 1990s, relations turned for the worse again with 9/11 and George W. Bush portraying Iran as the enemy. Bush demanded grand changes in the Iranian political system, but according to Haas,10 Bush himself contributed to weakening Iranian reformers by taking a tough policy position and including Iran in the so-called ‘axisof-evil’. It can be said then that under Bush, the difference between the U.S. and Iran was increased in discourse and policy. Only very recently, tension softened, dialogue was resumed and diplomatic relations were restored.

* This article is a shortened and updated version of Reinke de Buitrago, Sybille. 2015, “Self-Other Constructions, Difference and Threat: U.S. and Arab ‘Otherhing’of Iran”. In: Regional Insecurity after the Arab Uprisings, ed. Elizabeth Monier. Basingstoke, Hampshire: Palgrave Macmillan: p. 85-106. 1

Wright, Robin. 2010. “The Challenge of Iran”. In: The Iran Primer: Power, Politics, and U.S. Policy, ed. Robin Wright. USIP, Washington, D.C.: United States Institute of Peace Press: p. 1-7.

2

Stein Gross, Janice. 2006. “Psychological Explanations of International Conflicts”. In: Handbook of International Relations, ed. Walter Carlsnaes, Thomas Risse and Beth A. Simmons. London, Thousand Oaks, New Delhi: Sage: p. 292-308, here p. 293-294; Fisher, Glen. 1997. Mindsets: The Role of Culture and Perception in International Relations, 2nd edition. Yarmouth, ME: Intercultural Press Inc.: p. 23-25.

3

Eriksson, Johan and Erik Noreen. 2002. Setting the Agenda of Threats: An Explanatory Model. Uppsala Peace Research Papers 6, Uppsala University: p. 15, 21.

4 On the development of enemy images, see for still the most coherent study Spillmann Kurt R. and Kati Spillmann. 1989. Feindbilder: Entstehung, Funktion und Möglichkeiten ihres Abbaus. Zürcher Beiträge zur Sicherheitspolitik und Konfliktforschung 12, ETH Zurich. 5

Mersken, Debra. 2005. “Making Enemies in George W. Bush’s Post-9/11 Speeches”. Peace Review: A Journal of Social Justice 17: 373-381, here 373.

6

Rousseau, David L., Dan Miodownik and Deborah Lux Petrone. 2001. “Identity and Threat Perception: An Experimental Analysis”. Paper for APSA: 6; Smith, Anthony D. 1991. National Identity. London: Penguin Books: p. 9-17.

7

Holland, Jack. 2013. Selling the War on Terror: Foreign Policy Discourses after 9/11. London: Routledge: p. 10-11, 24.

8

Shapiro, Michael J. 1997. Violent Cartographies: Mapping Cultures of War. Minneapolis and London: University of Minnesota Press: p. 58-59; Laclau, Ernesto and Chantal Mouffe. 1985. Hegemony and Socialist Strategy. Towards a Radical Democratic Politics. London: Verso: p. 128; see also Neumann, Iver B. 1999. “The East” in European Identity Formation. Manchester: Manchester University Press. For a recent compilation of case studies regarding processes of othering, see Reinke de Buitrago, Sybille (ed.). 2012. Portraying the Other in International Relations: Cases of Othering, Their Dynamics and the Potential for Transformation. Newcastle upon Tyne: Cambridge Scholars Publishing.

9

Campbell, David. 1998. Writing Security. United States Foreign Policy and the Politics of Identity. Revised edition. Minneapolis, MN: University of Minnesota Press: p. 3, 170-171.

10

Haas, Mark L. 2012. The Clash of Ideologies: Middle Eastern Politics and American Security. Oxford and New York: Oxford University Press: p. 107-117.

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From the standpoint of U.S. policy, the possibility of Iran gaining nuclear weapons is a key issue of conflict and clearly counters U.S. national interests. An Iran in possession of nuclear weapons would challenge U.S. identity as a global leader and enforcer of global norms. A number of U.S. decision makers have even considered a military strike against Iranian nuclear facilities as appropriate means.11 Iran-sponsored terrorism presents another issue of conflict. U.S. government officials accuse the Iranian regime of supporting violent extremism, smuggling arms to terrorists, fostering Iraqi destabilization despite having pledged to foster stabilization, and of supporting the Assad regime in the Syrian civil war, which presents a further issue of conflict.12 U.S. decision makers hold Iran responsible for the difficult relations, as it is Iran that is said to endanger U.S. and allied interests in favour of its own political goals. Thus, Iran is accused of directing its “hostility towards Israel [...] to justify its efforts to offset U.S. conventional military power in the Gulf and gain a strategic edge over its Arab neighbours”.13 The U.S., on the other side, is portrayed as acting with the support of the international community to increase pressure on Iran responsibly and, by doing so, also pay heed to regional security. Iranian extremism is likened to al Qaeda and presented as threat to regional peace and security; U.S. actions are called responsible, measured and correct.14 Iran has furthermore often been accused of intransigence and insincerity regarding its nuclear program, efforts that require U.S. and international action to prevent great danger to the region and the world,15 which goes in line with constructions of Iran as a threatening and dangerous other.16 Iran is portrayed as extremist and outcast, as global aggressor and human rights abuser, and as internally divided. By placing Iran opposite to the democratic, responsible and internationally supported U.S., the perceived and created, self-other dichotomy is repro-

11

duced and maintained. A discourse of threat, especially when continuing over a long time, furthermore fosters mistrust in interstate relations, which in turn biases perception and contributes to maintaining the view of threat. In 2013, Iranian president Rouhani spoke of the possibility of dialogue and cooperation, including on the nuclear issue.17 This opened doors for a renewal of U.S.-Iranian relations. Obama recognized Iran’s good will for making actual and tangible commitments. Nonetheless, sanctions were to be maintained until Iran had proved its good intentions, as Iran is said to have broken past obligations. Obama expressed both the hope of Iran keeping word this time and threats if it does not,18 showing the enormous mistrust towards the Iranian leadership. But positive exchanges continued between U.S. and Iranian top political levels. New potential for cooperation is credited to Iranian internal reforms and positive re-balancing towards the U.S., as well as to both sides pursuing dialogue and agreement.19 Still, the U.S. military option having been kept on table even during negotiations20 illustrates the continuing mistrust and the significant and lasting impact of antagonism and difference in U.S. constructions of Iran. While there is now an agreement on the Iranian nuclear issue, there are further barriers to deal with. Among these are negative regional reactions to the agreement from Israel and Saudi Arabia, as well as hardliners in the U.S. Congress. But constructions of Iran as a threatening other have decreased. Obama recently portrayed the agreement with Iran as historic and as having created new potential for peace and stability, while continuing to have to convince Americans and hardliners in Congress of having achieved a good deal with Iran that makes the world safer.21 Self-other

Kroenig, Matthew. 2012. “Time to Attack Iran. Why a Strike Is the Least Bad Option”. Foreign Affairs 91 (1): 76-86.

12

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13 Cordesman, Anthony 2014. U.S. Strategy and Added Sanctions on Iran: The Role of the Adminstration and Congress in a “Good Cop, Bad Cop” Approach. Center for International and Strategic Studies, Washington, D.C. (January 16). 14

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15

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16

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17

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18

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19

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20

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21

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constructions are now less dichotomous; self-other difference has been reduced. But the highlighting in U.S. discourse of past Iranian word-breaking and of Iran needing to prove its good intentions points to still continuing threat perceptions, mistrust and processes of othering.

Implications of a Discourse of Threat With Iran still being constructed as threat to regional and international security, despite some recent softening in discourse, it can be argued that Iran is still securitized. Perceptions, narratives and interaction are permeated with a negative and threatening other versus the good self. The other’s actions are interpreted within existing negative perceptions; there is no neutral view of Iran and the Iranian leadership’s actions yet. The self ’s reactions then appear legitimate. Such continuing views of threat make improvements of relations very difficult. The perceived and constructed difference between self and other can thus present enormous barriers in interstate relations. Alternative constructions of self and other then often require greatly changed contexts and the thereby provided opportunities for change. As shown, U.S. discourse on Iran has somewhat changed, which in turn benefit U.S.-Iranian relations. But the continuing mistrust cannot be ignored and must be further reduced by continued positive steps. Existing mistrust colors and skews how the actions of the other are interpretetd. Mistrust, especially when so strong as in U.S.-Iranian relations, can during times of crisis all too easily enable a quick deterioration of relations and new moves of escalation. Positive relations between Iran and the U.S. should benefit regional stability as well. Thus, to sustain the positive changes, both sides also need a lasting political will, especially in times of possible crisis in relations.

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Gestohlene ZuKünfte, Widerstand und die Schwarze Bürgerrechtsbewegung Text Susan Arndt

The future is already here – it`s just not very evenly distributed. (Gibson, William*)

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1. ZuKünfte als Kritische Analysekategorie. Fakt, Fiktion, agency und Erinnerung Der Internet-Visionär William Gibson betont: „The future is already here, it’s just not very evenly distributed.”1 Damit hat er recht und unrecht zugleich. Zukunft wird ungerecht verteilt. Doch es gibt sie nicht, weil es sie erst geben wird, oder besser: weil sie geschehen kann. Oft tat sie es. Häufig aber nicht. Zukunft gibt es nicht. Sie wird gemacht werden. Zukunft gibt es nicht. Erst recht nicht als Fakt und im Singular. Zukunft gibt es nicht und als Fiktion ist sie ein Motor allen Handelns: als planetarische Ressource und commodity ist sie kodiert von agency und Macht. Zukunft gibt es nicht. Es gab sie; und deswegen ist die Vergangenheit und ihre Erinnerung ein Hauptakteur von Zukunft. Diese Komponenten tragen Zukunft als Praxiskategorie und es ist ZuKünfte als category of analysis, die dies aus akademisch theoretisierter Sicht beschreiben kann.2 Die Anthropologin Barbara Adam, die aus ihrer Grundlagenforschung zu Zeit als Konzept seit den späten 2000er Jahren heraus auch „Zukunft“ theoretisierte, liest Zukunft als fact, fate, fortune und fiction.3 Bei Zukunft als fate oder fortune läge jegliche agency allein bei der Zukunft selbst, so als würde sie feststehen und sich unweigerlich ereignen. Tatsächlich aber ist das Kommende die Folge menschlichen und ganz prinzipiell planetarischen Handelns. Deswegen gibt es Zukunft zwar als fact, aber nicht als naturgegebenen, sondern als historisch gemachten (im Sinne Roland Barthes)4 fact. Zukunft wird – ganz im Sinne Simone de Beauvoirs geebnet und gestaltet, begehrt und gefürchtet, gefühlt und gewusst.5 Weder selbstverständlich noch gewiss, ist Zukunft schon gar nicht voraussagbar. 6 Zukunft lebt in und als Fiktion, die vermittelt über Narrationen, Imaginationen und Visionen gesellschaftliche Prozesse generieren, verhandeln, bestärken oder ändern. Zukunft als Fiktion ist eine Projektionsfläche, in die Ängste, Kritiken, Hoffnungen projiziert werden. Diese sind Interventionen in Gegenwart und Vergangenheit sowie wegweisende Architekt*innen künftiger RaumZeiten und ihrer transtemporalen und transarealen Interaktionen. In diesen Visionen und Imagi-

nationen, Utopien und Dystopien wird Zukunft als Fiktion zum machtvollen Fakt. Zukunft ist nicht einfach RaumZeit, die kommen wird. Vielleicht ist Zukunft RaumZeit, die kommen kann. Zukunft ist aber auf jeden Fall eine RaumZeit, die gestaltet werden kann. So gesehen ist Zukunft keine Selbstverständlichkeit, sondern verzahnt mit agency und Macht im WiderStreit von Interessen und Möglichkeiten. Kontextualisiert von Macht und Ohnmacht, Privilegien und Entbehrungen, Ethik und Skrupellosigkeit wird Zukunft gebaut und zerstört, erstritten und erhalten, gelebt und vergessen, erzählt und beschwiegen. Manche Zukünfte bestärken, ja, bedingen einander, andere schließen einander aus, die eine beförderte eine andere und die andere verhindert eine weitere. Es gibt also Zukünfte, die nie geschehen sind oder werden. Und sie sind nie geschehen, weil andere Zukünfte dies brauchten und bewirkten. Folglich ist Zukunft immer diskursiv und strukturell positioniert, genauso, wie Imaginationen von Zukunft Handeln und Interaktionen entlang von Gender, Sexualität, Rasse, Religion, Gesundheit, Alter, Klasse, Nation positionieren. Aus diesem Grund kann Zukunft Macht, Privilegien und/oder Leben geben und/ oder nehmen. Jeder Kampf über Zukunft ist ein Kampf um (Erzählungen über) Zeit (vergangene und gegenwärtige) sowie Raum (geopolitische und gesellschaftliche Strukturen und Diskurse und betreffende Konzepte, Ideen und Epistemologien). Zukunft ist keineswegs eine Antithese der Vergangen­ heit. Was geschehen wird, war noch nicht. Aber was geschah, kann wieder geschehen. Jede Zukunft ist in ihrer Vergangenheit verwurzelt. Was geschehen wird, geschieht wegen dem, was war. Zukunft wird getragen von der Erinnerung der Jetztzeit. „Die Geschichte ist Gegenstand einer Konstruktion“, schreibt Walter Benjamin 1940, „deren Ort nicht die homogene und leere Zeit, sondern die von Jetztzeit erfüllte bildet [Jetztzeit].“7 Analog dazu ist Zukunft ein Konstrukt, das nicht in homogener und leerer Zeit geschehen wird, sondern die sich als Jetztzeit als Summe aller Zukünfte ereignet. Dabei ist Zukunft nicht einfach nur die Summe des Gemachten, sondern auch des Nicht-Gemachten; nicht nur des Gesagten, sondern auch des Nicht-Gesagten; nicht nur des Gehörten,

* Gibson, William. „The Science in Science Fiction”, on Talk of the Nation, NPR (30 November 1999, Timecode 11:55). 1

Ebd.

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Foto: Martin Koos / photocase.de

Die Idee, Zukunft als Kritische Analysekategorie zu lesen, geht auf Deborah Nyangulu zurück. Dieser Aufsatz geht auch aus Diskussionsprozessen mit Deborah Nyangulu und Peggy Piesche im Rahmen des gemeinsam verfassten Buches FutureS Matter. Rereading Future as a Critical Category of Analysis hervor, das 2016 bei transcript erscheinen soll.

3

Vgl.: Adam, Barbara. „Future Matters: Challenge for Social Theory and Social Inquiry”, in: Cultura e comunicazione 1: 47 -55; vgl. auch dazu: Adam, Barbara, Chris Groves. Future Matters: Action, Knowledge, Ethics. Leiden: Brill, 2007.

4

Vgl. Barthes, Roland. Mythologies. Paris: Seuil 1957.

5

Beauvoir, Simone De. Le Deuxième Sexe. Paris: Gallimard, 1962. In seiner etymologischen Verortung des Begriffes Zukunft beschreibt Heidegger ihn als Kompositum von „zu“ (als Präposition der Lokalbestimmung) und „kunft“ als substantivierendes Morphem, das sich von „kommen“ ableitet. Zukunft bezeichnet so also den Prozess des Zu-Kommens. Vgl.: Heidegger, Martin. Sein Und Zeit. Tübingen: M. Niemeyer, 1967.

6

„Voraussagen sind schwierig“, wie Physiker wie Comedians sinnieren, „vor allem, wenn sie die Zukunft betreffen.“ Niels Bohr, Piet Hein und Robert Storm Petersen zitiert in: Ellis, Arthur K. Teaching and Learning Elementary Social Studies. Boston: Allyn and Bacon, 1977: 431.

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sondern auch des Nicht-Gehörten; nicht nur des Möglichen, sondern auch des Nicht-Möglichen. ZuKünfte tragen vergangene, gegenwärtige und künftige ZuKünfte ebenso in sich wie jene, die sich nie ereignet haben oder ereignen werden, weswegen Zukunft letztlich nur im polyphonen Plural existiert: als Zukünfte. Die Komplexität der Prozesse, die in den oben ausgeführten Thesen benannt werden, bedarf eines „futurity turn”, der davon wegführt, Zukunft als selbstverständliche, fremdbestimmte, fixierte und prognostizierbare künftige RaumZeit zu lesen und hin zu einem Verständnis von Zukunft als Konsequenz von Fiktion und Narration, agency und Macht sowie Vergangenheit und Erinnerung: ZuKünfte. Der „futurity turn” konturiert ZuKünfte als politisch positioniertes Konzept und als Kritische Analysekategorie in seiner reflexiven Einbindung von Zukunft als Praxiskategorie.8 Diese erlaubt es, Narrationen über Zukunft zu identifizieren und analysieren, selbst dann, wenn gar nicht direkt das Wort „Zukunft” aufgerufen wird; und sie erlaubt es, ZuKünfte in gegebener Polyphonität und ausgebliebenen Optionen zu lesen. Die europäische Versklavung von Afrikaner*innen, Maafa, und ihr entgegengebrachte Widerstände, die Gegenstand der nachfolgenden Ausführungen sind, sind ein Schauplatz des Ringens um Ressourcen, Leben und Zukünfte.

2. Maafa, Widerstand und ZuKünfte in der (fiktionalen) Imagination Maafa war eine direkte Folge europäischer Intentionen, ökonomisch zu prosperieren und die Welt aus eben diesem Grund zu erkunden, zu erobern und zu besitzen. Maafa nährte die Industrielle Revolution in Europa und Nordamerika und konturierte so ZuKünfte, während sie lokal gewachsene ökonomische Strukturen in den Amerikas, Afrika und Asien zerstörte und ZuKünfte verhinderte und/oder verlangsamte. Gesellschaftliche wie individuelle ZuKünfte wurden verhindert und umgeschrieben. Es gehörte zur kolonialistischen Rhetorik, theoretisiert von aufklärerischen Schriften, etwa Hegels Vorlesungen zur Geschichte,9 dass diese Gesellschaften weder eine Geschichte noch eine Zukunft kennen würden. Dies auch, weil ihnen gesellschaftliche Dynamik und jedes Wissen um Freiheit fehle, wie Kant und Hegel postulierten – dabei komplexe Widerstandsprozesse auf dem Kontinent, während

7

der Überfahrt und den Plantagen verschweigend. Die Revolution in Haiti (1791-1804) führte diesen Widerstand mit neuer Konsequenz und Quantität, blieb aber von Hegel verkannt, der den Widerstand als Beleg für eine vermeintliche „Nichtachtung des Lebens“ von Schwarzen (nicht etwa durch die Kolonialmächte, sondern seitens Schwarzer Menschen) las. Dieser und jedweder Widerstand galt jedoch einem Streben nach Freiheit, Selbstbestimmung und Zukunft, sich nährend aus Erinnerungen an frühere Positionen in gesellschaftlichen Strukturen und dem Verlangen nach einer selbstbestimmten Zukunft, welche die Maafa verweigerte. Tatsächlich ist Maafa per definition nur einer weißen Zukunft gewidmet, die gleichsam antithetisch Zukunft für versklavte Schwarze in den Diasporas sowie deren Herkunftskontinent Afrika ausschloss. ZuKünfte wurden verweigert, indem Menschen zur Ware gemacht10 und ihrer Freiheit beraubt wurden. Dies schließt ein, dass Schwarze nicht zum Überleben bestimmt waren und eben dieser Zukunft widersprechend widerstanden. Dabei spielen Konzepte wie Vision, Widerstand und agency eine tragende Rolle. Die Abwesenheit von Freiheit geht nicht mit der Abwesenheit von agencies einher. Der Bayreuther Soziologe Dieter Neubert argumentiert, dass versklavte Menschen eine agency besitzen, weil es ihnen freistünde, sich ihren „Master“ auszuwählen.11 Zwar ist dieses Argument zynisch angesichts der Tatsache, dass versklavte Menschen eben diese und andere Optionen nicht hatten. Doch gibt es tatsächlich auch in der Abwesenheit von Freiheit agencies. Begrenzter als agencies in Freiheit performen agencies in Unfreiheit maßgeblich über Widerstand und Visionen; und was diese Widerstände erringen, sind sich aus der agency ergebende ZuKünfte. Millionen versklavter Menschen ließen ihr Leben, viele, weil sie Widerstand leisteten. Jene, die überlebten, lebten als Deportierte in aufgezwungenen Räumen und wurden ihrer familiären und sozialen Strukturen beraubt, ihrer Sprachen, Religionen, Wissensarchive. So wurde das Erinnerungsband zwischen Vergangenheit und Zukunft unterbrochen; Wissensarchive wurden entwurzelt und konnten bestenfalls modifiziert an die nächste Generation weitergegeben werden.

Benjamin, Walter. Über Den Begriff der Geschichte. Berlin: Suhrkamp, 2010.

8

Für eine Konzeptualisierung von Kritischer Analysekategorie vgl. Brubaker, Rogers. „Categories of Analysis and categories of practice: a note on the study of Muslims in European countries of immigration”, in: Ethnic and Racial Studies 2012: 1-8. Den Gedanken, Zukunft als Kritische Analysekategorie zu lesen, verdanke ich Deborah Nyangulu und wird ausführlich entwickelt in: Susan Arndt, Deborah Nyangulu & Peggy Piesche. FutureS. Merits of a Critical Category of Analysis. Bielefeld: transcript, i.V. 9

Vgl. etwa Kant, Immanuel: „Reflexionen zur Anthropologie“, in: Immanuel, Kant. Gesammelte Schriften. Bd. XV. Berlin/Leipzig: Walter de Gruyter, 1923; Hegel, Georg Friedrich Wilhelm. Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Stuttgart: Universal Bibliothek, 1961.

10

Diese Rhetorik schreibt sich im euphemistischen Begriff „Transatlantischer Sklavenhandel“ fort, weswegen ich von europäischer Ver­ sklavung von Afrikaner*innen spreche oder auch Maafa, das sich aus dem Kiswahili herleitet und als „große Tragödie“ zu übersetzen wäre.

11

Vgl. Diskussionsbeitrag von Dieter Neubert im Rahmen einer Plenumsdiskussionen zu dem diesem Essay zugrundeliegenden Vortrag an der Bayreuth Academy of Advanced African Studies im Rahmen ihres vom BMBF geförderten Projektes „Future Africa. Visions in Transition“ im Sommersemester 2015.

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Doch jene „who were never meant to survive“12 taten es in einer Zukunft, welche die white supremcy zu verhindern suchte. Sie konnten es, weil sie nie aufgaben, Alternativen zu imaginieren. Möglichkeiten, die hätten geschehen können, wurden zu Visionen von Möglichkeiten, die noch immer geschehen könnten. Die Erinnerung an eigene Vergangenheiten nährte Hoffnung und Visionen eines besseren Lebens. Insofern Schwarze Präsenzen in Freiheit von der Maafa nicht intendiert waren, verkörpert die globale Präsenz afrikanischer Diasporas per se „Zukunft“. Dieses Wechselspiel zwischen agency, resistance, freedom und Zukunft möchte ich im Weiteren am Beispiel von Martin Luther King jr. und seiner „I have a dream“-Rede“ diskutieren und dabei Victor Lis Unterscheidung zwischen Freiheit von und Freiheit für das Wechselspiel von Freiheit von fremdbestimmter Zukunft und Freiheit für selbstbestimmte Zukunft anwenden.13

3. „ Be free“. Die Beharrlichkeit eines Traums against all odds 3.1. I have a dream (Martin Luther King jr.) Eine der wohl berühmtesten Zeugnisse zur Zukunft Schwarzer Visionen ist Martin Luther Kings „I have a dream“-­Rede aus dem Jahr 1963.14 Obgleich Zukunft als Wort gar nicht erwähnt wird, ist sie präsent als gegen­ wärtige Zukunft der Vergangenheit, als Vision und prophezei­ende Forderung. Zu Beginn seiner Rede erinnert King an die Emancipation Proclamation von 1863 und ihre Vision: „[A]ll men, yes, black men as well as white men, would be guaranteed the ‚unalienable Rights‘ of ‚Life, Liberty and the pursuit of Happiness‘.” Diese Vision verstanden versklavte Menschen als „joyous daybreak to end the long night of their captivity“. Doch diese Zukunft wurde von jener white supremacy verhindert, welche die vernichtende Ungerechtigkeit („withering injustice“) der Maafa fortsetzte und (diese) Zukunft als weißes (bis 1920 allein männliches) Privileg sicherte. „[O]ne hundred years later, the Black15 is still not free“, sagt King mit Blick auf diese Geschichte: Der nordamerikanische Bürgerkrieg 1861-1865 einte nicht nur die USA territorial, sondern zwang auch den militärisch besiegten Süden dazu, den 13. Zusatzartikel zur Verfassung, das

12

Verbot der Sklaverei, anzuerkennen. Das geschah 1865, drei Jahre später folgte der 14. Zusatzartikel, der den Schwarzen die vollen Bürgerrechte garantierte. Der 15. Zusatzartikel von 1870 sicherte das aktive und passive Wahlrecht. So wenig wie der Norden prinzipiell gegen Sklaverei oder gar Rassismus gewesen war – es handelte sich vor allem um ökonomische Erwägungen und politische Gründe im Kampf gegen den Süden –, so wenig konnten die drei erwähnten amendments die Realität kurzfristig ändern. Der Ende 1865 gegründete Ku Klux Klan war davon nur ein Ausdruck. Als sich die Truppen des Nordens bis 1877 aus dem Süden wieder zurückgezogen hatten, konnten die Rassist*innen ihre Apartheidpolitik erneut entfalten. In öffentlichen Verkehrsmitteln, Schulen, Gaststätten, Kinos und Theatern, in Krankenhäusern, Gefängnissen, Parks und vielen weiteren Institutionen führten die Südstaaten auf Landes- und kommunaler Ebene eine Vielzahl eigener Gesetze ein, die die rassistische Unterdrückung und Ausgrenzung von Schwarzen absicherte. Auch die Heirat zwischen Weißen und Schwarzen war in vielen Staaten verboten, intime Beziehungen ebenfalls, Schwarze durften keine weißen Frauen frisieren, in Privatautos mussten Weiße und Schwarze in verschiedenen Reihen sitzen, in Birmingham, Alabama, durften sie nicht zusammen Domino spielen, weiße Autofahrer*innen hatten mancherorts vor Schwarzen generell Vorfahrt, Schwarze Männer durften unter keinen Umständen weißen Frauen Feuer für die Zigarette anbieten. Die Liste ließe sich fortführen. Damit einher gingen sehr viele „Verhaltensregeln“: Schwarze durften Weiße z.B. keiner Lüge bezichtigen oder sie nicht spüren lassen, dass diese weniger intelligent oder wissend wären. Auch das Wahlrecht ist im Süden – wo die Mehrheit der Schwarzen lebte – de facto durch eine Reihe von Bestimmungen wieder zurückgenommen worden. Diese Gesetze werden allgemein Jim-Crow-Laws genannt. 1828 hatte ein weißer Komiker – Thomas D. Rice (1808-1860) – erstmals mit Blackfacing bei seiner Minstrel Show das Lied „Jim Crow“ unter dem Johlen der weißen Zuschauer*innen vorgetragen. In diesem Lied werden rassistische Stereotype vorgetragen und Schwarze Menschen diskriminiert, verhöhnt, veralbert. Das Lied wurde – in vielen Varianten – bei Weißen sehr populär. Das ist der Rahmen dafür, dass unter „Jim Crow“ alle ab 1878 in den USA erlassenen rassistischen Gesetze zusammengefasst wurden.

Lorde, Audre. „A Litany for Survival“, in: Audre Lorde. The Collected Poems of Audre Lorde. New York: Norton, 1997: 255.

13

Li, Victor. „Toward Decolonisation. Postcolonial Theory and Demotic Resistance“, in: Pamela McCallum; Wendy Faith (Hrsg.): Linked Histories. Postcolonial Studies in a Globalized World. Calgary: University of Calgqarey Press (2005): 209-230.

14

Martin, Luther King. “Martin Luther King`s I have a dream speech August 28 1963. http://www.let.rug.nl/usa/documents/1951-/martinluther-kings-i-have-a-dream-speech-august-28-1963.php”. 20. Februar 2016.

15

Im Streben, Rassismus nicht zu reproduzieren, ersetze ich das N-Wort als Black. Dies sehe ich als Übersetzung von Kings politischem Anliegen in politische Ergebnisse seines Strebens im Jahr 2016 an. Übersetzte Begriffe werden durch Kursivsetzung im Zitat markiert.

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Foto: designritter / photocase.de

Bis 1967 fielen mehrere Tausend Menschen Lynchmorden zum Opfer. Die grausame Ermordung des 14jährigen Emmett Till 1955 wurde ebenso zu einem Fanal für den massenhaften Widerstand von Millionen Schwarzen in den USA wie die Weigerungen von Claudette Colvin (geb. 1939) und Rosa Parks (1913-2005) im selben Jahr in Montgomery, Alabama, die Trennung nach Weiß und Schwarz in den Bussen weiterhin hinzunehmen. Die US-amerikanische Apartheid wurde nun nachhaltig zerbröckelt. Zwar hatte sich bereits ab Beginn des 20. Jahrhunderts eine Schwarze Bürgerrechtsbewegung begonnen zu formieren, aber sie konnte erst ab 1955 jene gesellschaftspolitische Durchschlagskraft entfalten, die letztlich 1964/67 zum Fall sämtlicher Jim-Crow-Gesetze führte. Auch das Wahlrecht wurde 1965 USA-weit wieder auf den Stand der Verfassung gebracht.16 In der Rhetorik eines freedom from (im Sinne Victor Lis) fordert King ein Ende der „manacles of segregation“ sowie der „chains of discrimination“. Während die metaphorische Einheit von chains und manacles die Kommodifizierung von Menschen als wares als kriminell verorten, liest King the riches of freedom als „rare wares“ einer gerechten und sicheren Zukunft. „America has given the Black people a bad check, a check which has come back marked ‚insufficient funds‘.“ Dieser ungedeckte Scheck ohne Gegenwert auf der Bank beklagt die Haltung der US-amerikanischen ökonomischen (und politischen) Institutionen bis zur Jim Crow Era, die Zukunft verteilt zu haben, ohne Schwarze zu bedenken. Reichtümer, Privilegien, Resourcen wurden verteilt, wobei die Schwarze Bevölkerung leer ausging. King aber verlangt eine Beteiligung der African Americans an Freiheit, Gerechtigkeit und Zukunft.

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[W]e refuse to believe that the bank of justice is bankrupt. We refuse to believe that there are insuf­ ficient funds in the great vaults of opportunity of this nation. And so, we`ve come to cash this check, a check that will give us upon demand the riches of freedom and the security of justice. Hier wächst die freedom from-Rhetorik in eine freedom for-Forderung: Es geht um die Einlösung vergangener Zukunftsversprechen von Demokratie, Gleichberechtigung und Solidarität in der „fierce urgency of Now“. Die chorusartige Wiederholung des „Now“ verleiht dem Traum nach einer neuen Zukunft Nachhaltigkeit.

Now is the time to make real the promises of de­ mocracy. Now is the time to rise from the dark and desolate valley of segregation to the sunlit path of racial justice. Now is the time to lift our nation from the quicksands of racial injustice to the solid rock of brotherhood. Now is the time to make justice a reality for all of God‘s children […] Kings freedom for verlangt nach dem uneingeschränkten Wahlrecht für Schwarze, dem Verschwinden von „For whites only“-Schildern, rassistischer Polizeigewalt und Gleichheit in der Bildung und Alltag ohne Diskriminierung und träumt sich in die Worte, die seine Rede beschließen: „Free at last! Free at last! Thank God Almighty, we are free at last“. Dieses Ziel bedarf Veränderungen, eines neuen Weges. „We cannot turn back”, sagt King. Doch statt Verzweiflung und Resignation („Let us not wallow in the valley of despair”), bedürfe es „hope” und „faith”. Dies sei ein Traum, der überlebte, ein Traum im Jetzt:

Vgl. Arndt, Susan. „Wer oder was war Jim Crow?“, in: dies. Die 101 wichtigsten Fragen. Rassismus. München: C.H. Beck, 2012: 70-71.

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I still have a dream. […] I have a dream that one day this nation will rise up and live out the true meaning of this creed [...] I have a dream today! This is our hope, and this is the faith that I go back to the South with. With this faith, we will be able to hew out of the mountain of despair a stone of hope.

Ferguson und racial profiling sind Ausdruck „of the un­ speakable horrors of police brutality“ deren Beendung King als Voraussetzung dafür ansieht, seinen Traum als erfüllt anzusehen.

In dem kleinen still verkündet sich eine agency, die sagt: wir wurden deportiert und sind dann hiergeblieben, we belong und der American dream gehört auch uns. Der Traum interveniert im Jetzt, um Zukunft zu gestalten. Trotz der Gewissheit, dass diese Zukunft kommen wird („knowing that we will be free one day“), liegt die agency nicht bei ihr. Auch nicht beim „almighty God“, dem King dankt. Die „difficulties of today and tomorrow“ können nicht allein durch hope und faith, sondern nur im Verantwortungsübernahme und Widerstand überwunden werden.

In intertextueller politischer Dialogizität zu King veröfffentlichte der afrikanisch amerikanische Rapper J. Cole wenige Tage nach der Tötung Michael Browns seinen Song „Be Free“ (2014) bei SoundCloud. Kings dream-Rhetorik steht eine An/Klage-Ästhetik gegenüber, in der Verzweiflung und Schmerz sich in Wut kleiden. Das lyrische Ich spricht als kollektives we, das nach Freiheit verlangt. Im Refrain von „Be free“ wiederholen sich die Verse um „be free“ in synonymer Analogie zu „break the chains off “. Metaphorisch scheinen die chains der Maafa ebenso aufgerufen wie die von King verurteilten „chains of discrimination“. Ich verleugne nicht mehr, sagt Coles lyrisches Ich, was sich hinter meinem Lächeln verbirgt, und es fragt: „Can you tell me why/ every time I step outside/ I see my people down.“17 Das Wissen, unterwegs sein zu sollen und dass es nichts gäbe, „that could numb my soul“, speist sich ein in ein: „I’m letting you know/ That it ain’t no gun they make that can kill my soul.“ Die Seele, die weder betäubt noch getötet werden könne, ist es, die den Widerstand leitet. Dabei hat Kings Vision, „physical violence“ durch „soul force“ zu besiegen, in diesem lyrischen Raum keinen Platz. Auch Kings Zuversicht, Solidarität weißer Verbündeter zu finden, fehlt Coles lyrischem Ich. Aus der Perspektive eines kollektiven Schwarzen „we“ klagt es ein weißes „you“ an, in einen repetitiven Muster fragend: „Are we all alone fighting on our own?“ Der weiße US-amerikanische Entertainer und Moderator David Letterman gibt eine markante Antwort in seiner Show am 10. Dezember 2014, zu der er Cole einlud.

This is no time to engage in the luxury of cooling off or to take the tranquilizing drug of gradualism [...] It would be fatal for the nation to overlook the urgency of the moment. This sweltering summer of the Blacks legitimate discontent will not pass until there is an in­ vigorating autumn of freedom and equality. Nineteen sixtythree is not an end, but a beginning [...] And there will be neither rest nor tranquility in America until the Black is granted his citizenship rights. The whirlwinds of revolt will continue to shake the foundations of our nation until the bright day of justice emerges. Zum einen wendet sich King zu diesem Zeitpunkt noch gegen die Rhetorik von „bitterness“, „hatred“ und „physical violence“, wie etwa von den Black Panthers repräsentiert, im Glauben, „physical violence“ sei durch „soul force“ besiegbar. Zum anderen glaubt er an die Notwendigkeit politischer Bündnisse mit Weißen (patriarchalisch konturiert meint er weiße Männer), weil Freiheit unteilbar sei:

[F]or many of our white brothers [...] have come to realize that their destiny is tied up with our destiny. And they have come to realize that their freedom is inextricably bound to our freedom. We cannot walk alone. Ende der 1960er Jahre wurde die Jim-Crow-Gesetzgebung überwunden und das allgemeine Wahlrecht eingeführt. „For Whites only“ Schilder verschwanden, die Ghettoisierung von Schwarzen wurde durchlässig. Doch Diskriminierung ist allgegenwärtig, in Schule, Lohnsektor und Optionen für die Zukunft. Eric Garner und Michael Brown, die 2014 von Polizisten erschossen wurden,

3.2. „Be free“ (J.Cole)

Anders als erwartet sang Cole nicht ein Lied aus dem gerade veröffentlichten 3. Studioalbum 2014 Forest Hills, sondern seinen SoundCloud-Song „Be free“. In der Sound-Cloud-Version mischt er vor dem letzten Refrain einen Polizeibericht ein, der vor allem die Erzählung des Freundes von Michael Brown wiedergibt, aus dem die Unverhältnismäßigkeit des Polizeieinsatzes spricht. Diese Passage ersetzt Cole bei Letterman durch einen Free-Rap: Ironisch dankt er Obama dafür, dass er seinen letzten Amtstag im Weißen Haus nutzt, um Schwarzen Reparationen zu zahlen. „A man can DREAM, can’t he“ ist eine unmissverständliche Replik auf Martin Luther King Jr.; und Cole setzt es antithetisch zu der sarkastischen Bestandsaufnahme des lyrischen Ich: „in terms of CHANGE I haven`t seen any [...] this world is fair /
They let a brother steer

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Ich zitiere hier aus der Version, die J. Cole in der David Letterman-Show performte und nicht die Version, in der er das Ni-Wort aus einer Schwarzen Widerstandsperspektive gebrauchte.

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the ship
/ And never told him that the ship was sinkin. / But I got other shit to think about, / like my bank account.“ Die nachfolgenden Verse beleuchten rassialisiert kodierte ­Armut und münden in den Worten: „And since all the ballers leaving college early / I turn on the TV and don`t see no brothers with degrees lately.“ Und die Bridge vor der Outro („All we wanna do is be free/ All we wanna do is take the chains off “) wirft wieder die Frage auf: „Are we all alone, fighting on our own […] Don’t just stand around, don’t just stand around.“ Und Lettermann? Sein Kommentar lautet: „Fantastic – Beautiful – We enjoyed it a great deal. Come back any time.“ – „Fantastic-Beautiful- Enjoy“? „Erfreulich“ ist Coles An/Klagelied sicher nicht. Überhört Letterman Coles Frage „Are we all alone?” oder beantwortet er sie, indem er sie beschweigt? „Come back“ ist ein Versprechen für die Zukunft, „any time“ macht es zeitlos. Doch in Lettermans „we“ ist Cole nicht gemeint. Luther Kings und Coles Träume bleiben unerfüllt und unerlässlich zugleich, um Ziele zu definieren, Wege zu markieren und dadurch Zukunft zu generieren. After all: wir werden, was wir waren oder nicht, und zwar weil wir sind, individuell und kollektiv an Zukunft interessiert.

Literatur _ Adam, Barbara & Chris Groves. Future Matters: Action, Knowledge, Ethics. Leiden: Brill, 2007. _ Adam, Barbara. „Future Matters: Challenge for Social Theory and Social Inquiry”, in: Cultura e comunicazione 1: 47 -55. _ Arndt, Susan, Deborah Nyangulu & Peggy Piesche. FutureS. Merits of a Critical Category of Analysis. Bielefeld: transcript, i.V. _ – . „Wer oder was war Jim Crow?“, in: dies. Die 101 wichtigsten Fragen. Rassismus. München: C.H. Beck, 2012: 70-71. _ Beauvoir, Simone De. Le Deuxième Sexe. Paris: Gallimard, 1962. _ Brubaker, Rogers. „Categories of Analysis and categories of practice: a note on the study of Muslims in European countries of immigration”, in: Ethnic and Racial Studies 2012: 1-8. _ Gibson, William. „The Science in Science Fiction”, in: Talk of the Nation, NPR (30 November 1999). _ Heidegger, Martin. Sein Und Zeit. Tübingen: M. Niemeyer, 1967. _ Kant, Immanuel: „Reflexionen zur Anthropologie”, in: Immanuel, Kant. Gesammelte Schriften. Bd. XV. Berlin/Leipzig: Walter de Gruyter, 1923; Hegel, Georg Friedrich Wilhelm. Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Stuttgart: Universal Bibliothek, 1961. _ Li, Victor. „Toward Decolonisation. Postcolonial Theory and Demotic Resistance“, in: Pamela McCallum; Wendy Faith (Hrsg.): Linked Histories. Postcolonial Studies in a Globalized World. Calgary: University of Calgqarey Press (2005): 209-230. _ Lorde, Audre. „A Litany for Survival“, in: Audre Lorde. The Collected Poems of Audre Lorde. New York: Norton, 1997: 255. _ Martin, Luther King. „Martin Luther King`s I have a dream speech“ August 28 1963. http://www.let.rug.nl/usa/documents/1951-/martin-luther-kings-i-have-a-dream-speech-august-28-1963.php 20. Februar 2016.

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Difference without Limit

Text Shanna T. Carlson

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n an article I wrote for a journal called differences some years ago, I arrived at a question: “What will a feminine/transgender subject do confronting a symbolic that she is ‘totally, that is, limitlessly inscribed within’ (Joan Copjec 227)” (2010, p. 66)?1 Here, under the header of “differences” once again, I would like to take up anew the question of the position of the feminine subject within the symbolic,2 to find ways in which this position might speak to a “difference” heterogeneous – in the mathematical sense of the term – to norm, binary, even collectivity. What is a feminine subject, and what does it mean to be in the symbolic with or without limit? In order to address the questions noted above, it is worth first reviewing what it means, for psychoanalysis, to be a sexed subject. Sexual difference, for psychoanalysis, is irreducible to the fields of biological sex, gender identity, or gender expression. It is not a manifestation of either nature

or nurture – neither human invention nor biological given – but a mode of being that results from humans’ status as subjects of language. It arises, thus, as a result of subjects’ confrontation with, or subjection to, language itself: the division that language produces in all subjects, in its failure to harmonize us with the world, is mirrored by the division implicit in sexual difference. Within this view, we are sexed beings because of the division of language and sexed differently by virtue of the different and differing positions we assume with respect to this division. In the formulas of sexuation, Lacan calls on the vocabulary of logic to plot out two positions we may assume with respect to this division. To paraphrase: the masculine position is “all” in the symbolic, thus “in” it with a limit (Lacan 1998, pp. 78-81); the feminine position is “not-all” in the symbolic, thus “in” it without limit (Lacan 1998, pp. 72-77).

1 I arrived at this question after presenting a rereading of French psychoanalyst Jacques Lacan’s formulas of sexuation, given in his twentieth seminar. I was motivated to reread Lacan’s formulas in response to concerns voiced by Judith Butler and Joan Copjec regarding the possible incompatibility of the fields of Lacanian psychoanalysis and gender studies (Butler 2000, p. 75 and Copjec 1995, p. 209). I was motivated too by strains of transphobia in Lacanian psychoanalysis, strains that struck me as profoundly at odds with both the ethics of psychoanalysis and the letter of Lacan’s formulas themselves. Arguing that Lacan’s formulas of sexuation work against the collapse of sexual difference into gender, I suggested that there might be a way of considering transgender subjectivity as an expression of the logic of sexual difference (2010, p. 65). More specifically, I proposed that there might be a way of reading transgender subjectivity as an instance of what Lacan calls femininity (2010, p. 65). In this way, my reading of transgender subjectivity worked against the norm in psychoanalysis since Lacan, which has tended to associate transsexuality with psychosis in ways that have been more or less pathologizing, while trying to open a space for thinking femininity and transgender together. 2

By the symbolic, I refer to the order of language imposed without foundation on the human subject.

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Foto: bit.it / photocase.de

According to Robert Hughes and Kareen Ror Malone, Lacan’s turns to formalization are driven in part by his concern to theorize what he has observed in the clinic without “normative bias”: “Concern with unintentional ideological effects –normative bias – has always been critical to Lacanian thinking and motivates Lacan’s repeated efforts to formalize the specificity of the unconscious in its relation to the Other” (2002, p. 14). In this particular effort at formalization, sexual difference emerges as not a substance located at the level of physiological phenomena but a hypothesis “knowable” only in its effects. Such an account might make sexual difference seem rather abstract, but its effects – multiple, corporeal, painful and enabling – are anything but. What does it mean to be in the symbolic with a limit? Perhaps the most famous psychoanalytic name for this limit is the incest prohibition, a prohibition that, since Freud, has largely been interpreted within the rubric of what I would like to refer to as “Oedipal logics.” I understand the incest prohibition’s Oedipal logics as those that install a limit which both bars a deadly enjoyment and enables a smaller share of enjoyment. That the limit has an enabling function may be responsible for the fact that Oedipal logics have been so conducive to normative – and particularly heteronormative – uses.3 In other words, this word share would seem significant: for those subjects for whom the limit of the incest prohibition is operational (in Lacan’s vocabulary, masculine subjects), that limit is both external to and internal to the subject, and in its external iterations it has been given to acquiring the force of a norm. The symbolic, however, does not give the appearance of closing in upon itself for everyone. To be a feminine subject means, in Juliet Flower MacCannell’s words, having “some affinity with that vacancy in the symbolic order” (2000, p. 183) – its “’holes’ and ‘blind spots,’ the sites and locales it cannot or does not protect” (2000, p. 183). Less protected from the deadly enjoyment barred the masculine subject, it is as though the feminine subject is “she” who speaks the idea that “your norms will not protect you.” Following from the above sketches of the positions of feminine and masculine subjects in the symbolic, what might Lacanian psychoanalysis have to offer to the urgent political questions raised by this issue of Powision? On the one hand, Lacanian psychoanalysis is a discourse which,

in its ethical iterations, is, again, deeply uninterested in “normative bias” (Hughes and Ror Malone 2002, p. 12), finding in values, norms, ideals, and prohibitions precisely the kinds of punitive imaginary coordinates that repress the subject of the unconscious (Tracy McNulty 2014, p. 74).4 Psychoanalysis, as Tracy McNulty writes, creates a space for the subject, and an analysis can end when that subject “finds expression [for desire] in an act, or in the production of a new object that intervenes in the world so as to transform it” (2014, p. 121). In the second instance, it may be less a question of what psychoanalysis has to offer urgent political questions such as those raised by this issue, and more a question of what feminine subjects offer already: when “she” can, a feminine subject confronting a symbolic that “she” is limitlessly inscribed within will speak to a difference – “her” own – that makes nothing but hallucinatory sense with respect to the norms and anti-norms of “her” social context. Lacan’s privileged examples of such feminine speech and its effects are mystics like Hadewijch d’Anvers, Saint John of the Cross, and Saint Teresa of Ávila (1998, pp. 76-77), but examples abound, particularly in art. For my part, I think of the songs of Antony and the Johnsons, the dances of Vaslav Nijinsky, the poems of Alice Notley, the silhouettes of Kara Walker, the photographs of Francesca Woodman. Woodman’s photographs, for instance – black and white, ethereal, many marked by long exposure – feature women without faces, women with covered faces, women with double faces. They are often naked. There are women with half bodies and women looking into mirrors, women crawling into walls and women crawling out. There are women barely visible, blurred as they are by a slow shutter and some frantic bodily movement, or fragmented by peeling plaster, slices of wallpaper, tree roots and water – women disappearing. The figures in these photographs – many of which are self-portraits – are ravaged, ravished, and not-quite-present. What is present – by my read – is a sense of beauty in horror. Something is being made to be seen, and it is not quite human. Strange too are the settings for that seeing – dusty, empty rooms of another era, as from a building one has forgotten from one’s childhood, now dilapidated and abandoned. Works of art like these bring to the public sphere some evocative remainder of what a subject has brought back from his/her/hir visit to the unconscious; or, they are representations wrought of the unconscious’s visitation upon him/her/hir.

3

In this register, one may think of the debates in France leading up to the 1999 vote for the Pacte civil de solidarité (PaCS) – a contract uniting two individuals, of either the same or different genders, which extends a set of legal benefits comparable to those covered by marriage—debates wherein the Oedipal drama emerged as a significant fantasy for those striving to defend the heterosexual family.

4 Nonetheless, conservative iterations of psychoanalysis and the symbolic do exist. As Tracy McNulty writes, “There is no denying that some social analysis grounded in an account of the symbolic is also socially conservative, even reactionary, and invokes the supposed authority of ‘the symbolic order’ to pronounce judgment on nonnormative forms of kinship and social organization (notably gay marriages and nontraditional families) or to rationalize calls for ‘stability’ or order (in the case of political conflicts or popular mobilizations)” (2014, p. 8). McNulty writes that such deployments of the symbolic “overlook the tremendous resources [the symbolic] offers for envisioning new forms and practices” (2014, p. 8) and goes on to argue for what she calls an “experimental symbolic” (2014, p. 26).

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Indeed, all subjects speak to such an irreducible “difference” in analysis. Hughes and Ror Malone point out that the subject’s relation to the Other is written “in its particularity … ‘in the unconscious’” (2002, p. 12). Therefore, they counsel, we are well advised not to be satisfied with academic discourse alone, but to turn as well to the clinical practices that are founded on the unconscious. Perhaps only clinical practice can adequately dramatize the starkly different logic that governs the unconscious, where the signifier is marked by its lack of ‘sense’ and is rather held by its reference to jouissance. Here, the appearance of the unconscious in free association and its deduction from fantasy do not follow the same logic as any standards of intelligibility (2002, p. 12). Here, it would seem, is difference radicalized. Here what is at stake, “the true object of analysis” (McNulty 2014, p. 68), is, as McNulty writes, “a different reality altogether: the intersubjective relation of the subject to the locus of the Other” (2014, p. 68). It is this difference – the subject’s difference from him, her, or hirself, as a subject constituted in relation to an Other that is always, for Lacanian psychoanalysis, absent – that is of interest to Lacanian analysis and the reason why Lacan was so opposed to those forms of treatment that promoted the idea that an analysis should be aimed at adaptation to reality (McNulty 2014, ­pp. 65-66). To be in the symbolic with a limit can be the source of a serious obfuscation; it can be the alibi given to adhering to norms, ideals, values, and prohibitions which have nothing to do with a subject’s desire. To be in the symbolic without limit can entail a quest whose endlessness can be unbearable. Subjects of each position, however, can articulate something of that “difference” from reality that is in the background of a subject’s “most important choices, as well as his most serious illnesses, his most debilitating errors, and his most encouraging successes” (Apollon 2006, p. 36) – an articulation which, always strangely, brings something from that other scene to the social, where it can have new effects.

References _ Apollon W 2006, ‘The Untreatable’, UMBR(a): A Journal of the Unconscious: Incurable, trans Steven Miller, pp. 23-39. _ Butler, J 2000, Antigone’s Claim, Columbia University Press, New York. _ Carlson, S 2010, ‘Transgender Subjectivity and the Logic of Sexual Difference’, differences: A Journal of Feminist Cultural Studies, vol. 21, no. 2, pp. 46-72. _ Copjec, J 1995, Read My Desire: Lacan against the Historicists, Massachusetts Institute of Technology Press, Cambridge. _ Flower MacCannell, J 2000, The Hysteric’s Guide to the Future Female Subject, University of Minnesota Press, Minneapolis. _ Hughes, R & Ror Malone, K 2002, ‘Introduction: The Dialectic of Theory and Clinic’, in After Lacan: Clinical Practice and the Subject of the Unconscious, eds R Hughes & K Ror Malone, State University of New York Press, New York, pp. 1-34. _ Lacan, J 1998, On Feminine Sexuality, the Limits of Love and Know­ ledge, 1972-1973: Encore: The Seminar of Jacques Lacan Book XX, trans. B Fink, Norton, New York. _ McNulty, T 2014, Wrestling with the Angel: Experiments in Symbolic Life, Columbia University Press, New York.

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“If I Am So Special, Why Can’t I Talk about It? ” Foto: zettberlin / photocase.de

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Language’s Role in Intersex Identity Formation

Text Katharina Gensch

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he categorization of humans according to their sex functions as a structuring principle of society. Sex, as opposed to the general perception of gender as a social construct, is commonly perceived as a natural given. This ostensible naturalness of sex is a constitutive of its function as a structuring principle and consolidates the social acknowledgment of its properties, such as its strictly binary structure and its causal relation to a person’s anatomy. If society relies so heavily on the naturalness of sex as an ordering function, challenging this naturalness will have severe implications for society. Intersex persons call into question the binary, anatomy based character of sex by way of mere existence and thus pose a challenge to the naturalness of sex and it’s ordering principles. The heterosexual matrix is the normative scheme by which we categorize our own as well as others’ sexuality (cf. Butler, 2008, 2004). It requires that a person’s sex, gender, and desire stand in

1

heterosexual coherence to each other, demanding that a person’s gender reflects his/her sex and that s/he desires the respective other sex and gender. In order to provide a reliable base for the matrix’s structure, it is essential that the category of sex is stable. This stability is generated through the perception of sex as a natural given, opposed to the constructedness of gender (cf. Butler, 2008, p. 10). The implementation of gender as a category different from that of sex has reinforced the perception of sex as a natural given; if gender is constructed and has been established as a category different from that of sex, then it must logically follow that sex is not constructed. This has led to the “construction of ‘sex’ as the radically unconstructed” (cf. Butler, 2008, p. 10). Common perceptions based on the assumption that sex is strictly binary in its structure offers only the mutually exclusive categorizations of male and female.

(XXY, n.d.)

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Such categorization happens on the basis of a person’s anatomy. Intersex bodies challenge these basic assumptions. This destabilizes the heterosexual matrix in its entirety, by calling into question the naturalness of sex as well as its binary structure. The constructedness of the sexed body is shown by challenging these assumptions and by offering alternatives to them, represented in the mere existence of intersex bodies, thereby depriving the heterosexual matrix of its essential category’s stability.

by refusing the categorization this kind of coherence needs. Not even meeting these most basic requirements of conformity, their unintelligibility to society is fundamental in that “laws of culture and language find [‘him/ her’] to be an impossibility” (Butler, 2004, p. 30); this already implies that being regarded an impossibility (and thus being unintelligible to society) stands in direct and reciprocal relation to language and language’s inability to adequately reflect reality.

Intersex bodies escape categorization according to the heterosexual matrix, they do not allow conformity with the sex-gender-desire coherence; that “sex does not cause gender and gender cannot be understood to reflect or express sex” (Butler, 2008, p. 152) becomes apparent in them. More important than not following the coherence though, their indeterminate sex does not even allow for the initial categorization within the binary, anatomy-­ based structure of sex. The ambiguity of their physiological features, which do not allow to be categorized along the binary of male/female, counter the assumption that sex derives clearly and naturally from anatomical features.

In spite of this inability, we rely on language in order to speak about our surroundings: We need language as a form of objectification of the world, it enables us to transcend isolated experiences of our environment into a meaningful and wholesome entity – our world (Berger and Luckmann, 2004, p. 36). Language is needed to make sense of the world that surrounds us and can be seen as constituting rather than reflecting our world and ourselves. This leads to the question of what happens to those who cannot be adequately experienced through language, to those for whom no sufficient words, no commonly accepted means for linguistic intelligibility, exist.

Rather, this ambiguity makes the assignment to either sex an option. If the male or female sex is an option though, it cannot be a natural given which exists prior to signification, prior to its sign (cf. Butler, 1993, p. 30), but is revealed to be a social construct. If sex is socially constructed, performative acts are required to support the construct (cf. Butler, 2008, 2004). Intersex bodies, by not fitting the binary structure, present the possibility of bodies living outside of this structure and thus challenge this very structure by revealing its inadequacy, playing the possibility of their bodies against a structure which deems bodies like theirs impossible.

Intersex bodies pose a challenge when attempted to be captured linguistically: the heterosexual matrix is reflected in and constituted by language’s shortcomings in providing options for categorization outside of the binary structure of sex. This problematic especially articulates itself with regard to singular pronouns: neither “he” nor “she” captures the reality of intersex bodies. Any combination of two gendered pronouns, such as “s/he”, “his/ her” or “him/herself ” pose the problem that they subscribe to the binary structure of sex instead of enabling a category for those unable and/or unwilling to subscribe their bodies into this binary. Considering the frequency of pronouns’ occurrence in communicative action, their lack of representational variation can be considered to have significant consequences for those who cannot be described by them.

Revealing a category to be socially constructed must not lead to the conclusion that this category is socially noneffective. Rather, the categorization of humans ac­ cording to compatibility with the heterosexual matrix ­serves as an ordering principle, as one of many ways to order and understand our surroundings (cf. Butler, 2008). Its function as an ordering and normative principle entails effects on society and individuals, especially in the case of its defiance by individuals: although the existence of intersex bodies reveals the constructedness of sex, society’s perception of sex nevertheless has severe implications for their lives and identities. “The ‘coherence’ and ‘continuity’ of ‘the person’ are not logical or analytical features of personhood, but, rather, socially instituted and maintained norms of intelligibility”; it is only through the heterosexual matrix that persons become intelligible to others (Butler, 2008, p. 24). Intersex bodies go even further than refusing coherence:

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This paper’s title If I am so special, why can’t I talk about it?, a quote from the movie XXY, captures the linguistic dilemma intersex persons face: precisely because they are special in their deviance, no commonly accepted words exist to signify them. The mere possibility of linguistic representation would endanger the stability of the matrix, as the lack of linguistic representation consolidates intersex bodies’ theoretical impossibility; the matrix is reliant on “the inability of the regime to represent that which might pose a fundamental threat to its continu­ ity” (Butler, 1993, p. 53). Intersex bodies are perceived as impossible and unintelligible by two means: first through their nonconformity with the heterosexual matrix which serves as a way to “stabilize that field of bodies” (Butler, 2008, p. 149), and, secondly, through language’s inability

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to describe them. Not being intelligible to society has severe consequences for self-perception and identity formation: if acquiring an identity functions as a circular process of signifying and being signified (cf. Butler, 2008, p. 196), then the impossibility to be signified – as the logical consequence of language’s descriptive inadequacy – disrupts this circular process.

bodies’ nonconformity, instead of merely revealing a norm’s inadequacy, actually represents a chance: A chance of “an enabling disruption, the occasion for a radical rearticulation of the symbolic horizon in which bodies come to matter at all” (Butler, 1993, p. 23).

Not only the signification through others is prevented by this inadequacy, but so is the act of signifying oneself: “I can only say ‘I’ to the extent that I have first been addressed, and that address has mobilized my place in speech” (Butler, 1993, p. 226). If I cannot refer to myself, then the ”performative [that] functions to produce that which it declares” (Butler, 1993, p. 107) cannot take place, neither for oneself nor in relation to others. However, it can be assumed that, in compliance with the circular act of identity formation, any person will still try to signify themselves - for which they are reliant on language. Any such self-signification reinforces the unintelligibil­ ity (possibly more dramatically than the signification through others): “Discourse becomes oppressive when it requires that the speaking subject, in order to speak, participate in the very terms of that oppression – that is, take for granted the speaking subject’s own impossibility or unintelligibility”(Butler, 2008, p. 157). If language’s inadequacy disrupts the circular process of identity formation, can this circle ever be completed? Butler claims that, although language does indeed constitute identity by providing the very structures for this process, one is nevertheless not determined by these structures (Butler, 2008, p. xxvi). But how can one not be determined by these structures if, like in the case of intersex persons, language denies these structures themselves? The problem in this case is not that the structures have a restricting effect, but that linguistic representation, the most basic structuring principle for identity, is denied to a person. The denial of these structures has an infinitely more determining effect than the restrictive potential of their provision. It thus becomes debatable whether structures might not determine a person after all. Whatever one’s take on this, accepting the existence and thus the possibility of intersex bodies is a first condition for the possibility of signification: “If we call into question the fixity of the structuralist law that divides and bounds the ‘sexes’ by virtue of their differentiation within the heterosexual matrix, it will be from the exterior regions of that boundary […] and it will constitute the disruptive return of the excluded” (Butler, 1993, pp. 11–12). In this view, intersex bodies also offer potential for changing the norm in a way that will render them intelligible, change that is crucial for intersex persons in order to become intelligible to society and to themselves. Their

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references _ Berger, P.L., Luckmann, T., 2004. Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit: Eine Theorie der Wissenssoziologie, 19th ed. Fischer. _ Butler, J., 2008. Gender Trouble: Feminism and the Subversion of Identity. With an Introduction of the Author. Routledge, New York. _ Butler, J., 2004. Undoing Gender. Routledge, New York ; London. _ Butler, J.P., 1993. Bodies That Matter: On the Discursive Limits of Sex, New. ed. Routledge Chapman & Hall, New York. _ Degele, N., 2008. Gender / Queer Studies: Eine Einführung. UTB. _ XXY, n.d. . Indigo.

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Nur Reibung erzeugt Wärme – Eine Intervention. Text Anja Rommel

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ls Adoptivkind halb-asiatischer Abstammung, aufgewachsen in einem Kurort inmitten des Thüringer Waldes, habe ich mehr als nur Eindrücke über das Wirkungsgefüge des Labels der „Andersartigkeit“. Doch sei betont, dass diese Aussage bitte keineswegs als sentimentaler Hint zu einer Schicksalsgeschichte, bestückt mit Erfahrungen variierender Ismen, zu verstehen ist; auch wenn diese Erzählung selbstverständlich existiert. Diese interpretative Klarstellung liegt mir am Herzen, da meiner Beobachtung nach Informationen über die Adopti­ onsnarrative, die asiatische Herkunft meines biologischen Vaters und meine damit verbundene quasi-deutsche ­Erscheinung bei vielen Menschen tatsächlich Mitleidsreaktionen auslösen.2 Und während die „nicht richtige“ deutsche Herkunft eine Bandbreite von Resonanzen wie positiven Exotismus à la „Mischlinge sind die schönsten Menschen“ bis hin zu Scham, dass die Herkunftsfrage überhaupt aufkam, hervorruft, bleiben Reaktionen wie Neugier oder Interesse meist Raritäten. So tendiert die verbreitete Konnotation von Anders­ artigkeit, fortan diskutiert als Differenz, unermüdlich und vor allem merklich zur Reduktion auf das Negative, das Nicht-…, womit ihre Zwangsnachbarschaft mit der Nicht-Identität, der Abweichung, dem Gegensatz bis hin zum Fremden unausweichlich scheint. In Konfrontation mit meinem offenen Umgang mit dem Nicht-Kennen beider blutsverwandtschaftlichen Elternteile, werden die bereits oben vermissten Ausnahmefälle letztlich zu Unwahrscheinlichkeiten. Und was sich zuvor meist im Rahmen impliziter Positionierungen abspielte, formiert sich spätestens vor “I don't understand myself, dem Hintergrund meines let's drop the myth of bewussten Verzichtes auf eine dramaturgisch so gern understanding each other. aufgeladene „Suche nach 1 Accept the other as a foreigner!” den Wurzeln“ – trotz des kommunizierten Einklangs Slavoj Žižek mit meiner „Chamäleon-Subjektive“ – zu einem expliziten Urteil, artikuliert durch Besserwisserei oder blankes Unverständnis. So scheint die verbreitete These, nach der das Nicht-Wissen oder Quasi-Wissen über die ethnische Zugehörigkeit oder nationale Identität ein unversöhnliches Defizit für das Individuum darstellt, überzeugender als meine Erfahrungswelt, gar meine Empfindung3 zu sein.

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Zitat von S. Žižek, entnommen der Mitschrift der Veranstaltung „The Pervert's Guide to Europe - Jürgen Kuttner trifft Slavoj Žižek”, 21.11.2015.

Foto: lemmiu / photocase.de

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Für ein besseres Textverständnis sollen an dieser Stelle folgende Vorbemerkungen gemacht werden: Die Entscheidung in den vorliegenden Ausführungen aus der Subjektive zu argumentieren bzw. autobiografische Momente zu integrieren, was in Wissenschaftskontexten gern vermieden wird, begründet sich u.a. in der Kritik am Wissenschaftsversprechen einer objektiven Betrachtung. Alternativ dazu schien es mir umso bedeutsamer, offen mit den Rändern, nebulösen Zuständen und Fragilitäten der Subjektive umzugehen und somit in einem Atemzug auch dessen Transformationspotential zu verdeutlichen.

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Es muss an dieser Stelle betont werden, dass die Existenz an kategorialen Peripherien stets neue Schübe von Emanzipationsbestrebungen einfordert. Darüber hinaus darf die Wirkung eines extrinsischen Verortungsfetischs, welcher in regelmäßigen Abständen identifikatorische Durststrecken auslöst, hier nicht tabuisiert werden. Trotzdem gilt für meine Subjektive, dass es oft genau diese Durststrecken sind, aus denen sich letztlich Kontroversen abzeichnen, welche die Alltagspraxis bereits absorbiert hat und die besonders angesichts dessen umso akuter behandelt werden müssen.

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Aus Kategorien, wie unter anderem der Herkunft oder Nationalität konstituieren Manche, Viele, und wieder Mehr-Werdende ihre partikulare Identität; eine Tendenz, die, erst vom Konstruktiven ins Destruktive rückt, sobald sie zu einem geschlossenen System degeneriert. Doch aus meinem Sichtfeld heraus intensivierte sich gerade diese kategoriale Geschlossenheit zunehmend und begann Ausmaße anzunehmen, welche die menschliche Kommunikation zu einem Aufeinanderprallen von Absolutismen degradierte. In Korrelation mit dieser gestellten Diagnose kristallisierte sich für mich die Notwendigkeit einer Transformation vom Nebeneinander im additiven Sinne in ein Miteinander im multiplikatorischen Sinne heraus; realisierbar durch die Erschließung des Gegenüber, welche die Möglichkeit eines Perspektivenwechsels eröffnen könnte. Besonders das dialektische Verhältnis zwischen Ferne und Nähe und das daraus emergierende Spannungsverhältnis übte auf mich zu dem Zeitpunkt eine große Faszination aus, weswegen die Prozesse der Annäherung und Entfernung als Reflexions­zentren fungieren – nicht zuletzt auch wegen deren Wirkung das Hier-und-Dort, das Wir-und-Die zu konstruieren und den Hunger nach kollektiven Zugehörigkeiten zu stillen. Aus meiner Perspektive verlangte das Nicht-(Er)kennen entfernter Entitäten nach einer näheren Betrachtung, einer Umkehrung des Innen und Außen, die entlang des an­ gestrebten Überwindens der Differenz das Potential besaß, unter Anwendung des Konzeptes der Empathie Ignoranz zu Toleranz zu Akzeptanz zu transformieren. Eine Annäherung konnte eine Erfahrung einer abstrakten Identität im Sinne einer Gemeinsamkeit, eines „großen Ganzen“, eines Universalismus, außerhalb kapitalistischer Realitäten, initiieren. Doch vermutlich beeinflusst durch den nicht immer erwünschten Erfahrungsschatz an der Peripherie des common sense wurde mir irgendwann klarer, dass auch meine Reflexionen festen Koordinaten verhaftet blieben, und zwar die der Dichotomien wie: Innen | Außen, Nähe | Ferne, Du | Ich. Laut Žižek ist genau das humanitärer Bullshit (Žižek 2015). Der neoliberale Respekt für Andere impliziert für ihn, dass die Berechtigung zur Partikularität eines Anderen in Abhängigkeit zu dessen Entfernung bestimmt wird und tritt angesichts dessen als eine Form des umgekehrten Rassismus an die Oberfläche (2006, 10: 2'22“). Žižek vertritt die These, dass nur dann Toleranz propagiert wird, wenn eine Intervention als zu stark erscheint (ebd. 01'19“) und plädiert daher, die Praxis universeller Toleranz in die Schranken weisend, für mehr geteilte Intoleranz, im Sinne einer universality of struggle (vgl. Žižek 2015).

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Ich erinnere mich noch genau wie ich die vermeintlich radikale Andersartigkeit von Žižek's Position zu Beginn fast als persönlichen Angriff empfand und sich meine These — dass der Schlüssel in der emphatischen Annäherung lag, durch deren Möglichkeit in eine alterierende Perspektive einzudringen, Dichotomien, wie das vermeintlich Eigene und Andere, relativiert werden konnten — in Abhängigkeit dazu zunehmend verfestigte. Doch umso entschiedener ich versuchte meine Lesart der menschlichen Begegnung, der ich mir einerseits immer sicherer wurde, von der Provokation Žižeks zu distanzieren, desto näher kam ich den kontroversen Momenten meiner kategorialen Ordnung. Was, wenn meine Überzeugung, dass eben das Beharren auf der Differenz den Blick auf das Verbindende anstelle des Separierenden blockierte, die kritisierte Ideologie der Negativfärbung von Differenz nur reproduzierte? Der Zweifel an meiner Diagnose und der vorgeschlagenen Behandlungsmethode wuchs und ich fragte mich zunehmend, ob eine Annäherung nicht auch das Empfinden einer negativen Andersartigkeit verstärken kann, ob Universalität tatsächlich erst durch emphatischen Austausch hervorgebracht wird, ob Verständnis nicht auch aus der Distanz möglich ist und, ob Akzeptanz wirklich das war, womit eine Veränderung kapitalistischer Globalisierungsprozesse getriggert werden konnte. Was mich an Žižeks Position im wortwörtlichen Sinne reizte, war gerade der zu Beginn empfundene Gegensatz, der schließlich, in Anwendung meines zu überprüfenden Mindsettings, eine Distanzierung von meiner partikularen Identifikation des Problems – ergo eine Annäherung an sein Konzept des Universalismus – initiierte. Im Zuge dieser perspektivischen Verschiebung stellte sich heraus, dass mein Verständnis der sogenannten universality in itself entsprach, die laut Žižek, der Ideologie des „I am this, you are that, but we are all humans“ unterstellt ist und welche es zu verabschieden galt (Žižek 2014: 39'22, 39'05“). Die Differenz zwischen dem Hier und Dort blind reproduzierend, ging ich davon aus, dass sich menschliche Begegnungen aus der dialektischen Dynamik zwischen Annäherung und Entfernung generieren. Ich empfand es als konstitutiv, dass durch den Erschließungsprozess des Gegenübers eine ego-überschreitende Erfahrung realisierbar gemacht wurde, bei der sich die blindspots des gewohnten Sichtfeldes enttarnen ließen. Die alternativ zur universality in itself anzuwendende universality for itself umgeht im Gegensatz dazu gekonnt etablierte Binärkonstellation des Du und Ich, indem sie ­impliziert, dass sich das Individuum durchweg als ein ­abstraktes (ebd. 39'42“), gemäß meiner bisherigen Lesart, als eines von der Subjektive entferntes, erfährt und ­Abstraktion somit stets Teil der unmittelbaren Erfahrung ist:

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„[…] in your own individual self-experience you r­ elate yourself to yourself as universal“ (Žižek 2006, 08: 06'00“). Und obwohl das Individuum gerade in dem Moment, wo es befürchtet ausschließlich in seiner Kultur versunken zu sein, Universalität beweist, da es sonst gar keine Verneinung der partikularen Identität realisieren könnte, entzieht sich diese universale Dimension doch meist der Subjektive (Žižek 2006, 10: 02'22“; 03'58“). Im Verlaufe der Annäherung an Žižek's Universalismus ließen sich zunehmend Parallelen zu meinen vorhergehenden Lesarten ziehen. Dazu gehört unter anderem die Beobachtung, dass die Erfahrung der Kluft zwischen Universalität und partikularer Aktualität (Žižek 2014: 41'37“), verkörpert in der partikularen Identität, welche in früheren Überlegungen über Annäherung oder Distanz entschied, einer Kontingenz unterlag (vgl. ebd. 40'46“). Greifbar wurde diese These für mich durch den Eindruck, dass die Konstruktion meiner partikularen Identität vor dem Hintergrund stetiger Quasi-Zugehörigkeiten durch Experimentierfreudigkeit, Konfliktpotential und viel Reibungsfläche gekennzeichnet ist, und andererseits auf Grund der Herausforderung regelmäßiger Perspektivenwechsel in Sachen emphatischem Zugang umso mehr zu punkten scheint. Ist es nicht paradox, dass die Toleranz gegenüber oszillatorischen Identitäten, die Offenheit variierende Iche zu suchen, zu finden, auszuprobieren, um sie dann erneut zu suchen usw., zunimmt, während die Involvierung mit dem Gegenüber als kaum gerechtfertigter Zusatzaufwand wahrgenommen wird und Präsuppositionen menschlicher Begegnungen fortan die Distanz zum Gegenüber wahren? Für Žižek besteht die Lösung in der bereitwilligen Annahme einer radikalen Universalität, die für das Individuum bedeutet, sich von genau dem abzuwenden, was es zu verlieren fürchtet, und zwar den Verlust der partikularen Identität, welche eh als kontingent definiert wurde, zu akzeptieren und universal zu werden, ein Appell, der meinen Gedanken nicht näher sein könnte (2006, 12: 01'55“). Das, was nach der Begegnung mit Žižek noch geblieben ist, ist der Eindruck, dass wir – überfordert mit der existenziellen Herausforderung die Komplexität hyperkapitalistischer Lebenswelten zu durchdringen – auch innerhalb der Gemeinsamkeit eher die Einsamkeit wählen, uns in Gesprächen mit narzisstischem Monologisieren oder Kommunikation à la small talk = all talk über Wasser halten. Und schließlich asozialisieren wir uns unablässig

hinter Zäunen und Grenzen, die im Namen der Sicherheit letztendlich noch mehr Unsicherheiten brüten4. Aber dennoch haben Mehr oder Wenige verstanden, dass noch längst nicht an Alle gedacht ist, wenn Alle nur an sich denken,5 oder? In diesem universal-partikularen Sinne: Lasst den humanitären Mist – Liebt eure Nachbarn – Akzeptiert die Andersartigkeit! (Žižek 2015). … Und bitte auch die eines Chamäleons, dessen Fähigkeit der Farbanpassung weniger als Tarnung oder Verteidigungsstrategie, sondern primär als kommunikativer Impuls verstanden werden sollte und für dessen Existenz die Ursprungsfarbe auch fortan unerheblich bleiben könnte.

literatur _ Latour, B. (2007): Elend der Kritik – Vom Krieg um Fakten zu Dingen von Belang, Diaphanes, Zürich / Berlin. _ Maeckes aka Winter, M. (2011): Niemandsland (feat.Tua), veröffentlicht auf “Manx” (EP), Chimperator Productions, Stuttgart. _ Žižek, S. (2006): Can One Really Tolerate A Neighbor. Teil 08, Vortrag vom 19.11.2006, veröffentlicht am 11.03.2008, Youtube: https://www.youtube.com/watch?v=ZgjR8IC-biE, zuletzt aufge­ rufen am 15.12.2015. _ --- (2006): Can One Really Tolerate A Neighbor. Teil 10, Vortrag vom 19.11.2006, veröffentlicht am 11.03.2008, Youtube: https:// www.youtube.com/watch?v=Fvqlrgp8Aws, zuletzt aufgerufen am 15.12.2015. _ --- (2006): Can One Really Tolerate A Neighbor. Teil 12, Vortrag vom 19.11.2006, veröffentlicht am 11.03.2008, Youtube: https:// www.youtube.com/watch?v=xHeMff1DtzQ, zuletzt aufgerufen am 15.12.2015. _ --- (2014): A Defense of Universalism, Vortrag vom 12.12.2014, veröffentlicht am 02.11.2015, Youtube: https://www.youtube.com/ watch?v=2od4on3iCv, zuletzt aufgerufen am 15.12.2015. _ --- (2015): The Pervert's Guide to Europe – Jürgen Kuttner trifft Slavoj Žižek, eigene Mitschrift des Vortrages, realisiert an der Volksbühne Berlin, am 21.11.2015. _ Žižek, S., Varoufakis, Y., Assange, J. (2015): Europe is Kaput. Long live Europe! Diskussionsrunde vom 16.11.2015, veröffentlicht am 23.11.2015, Youtube: https://www.youtube.com/watch?v=yjxAArOkoA0, zuletzt aufgerufen am 15.12.2015.

4 In Anlehnung an Yanis Varoufakis Ausführungen im Rahmen der Veranstaltung “Europe is kaput. Long live Europe!”, organisiert vom Southbank Centre in London, bei der es sich um ein Gespräch zwischen ihm, Slavoj Žižek und Julian Assange handelte, realisiert am 16.11.2015. Vollständige Videoaufnahme abrufbar auf: https://www.youtube.com/watch?v=yjxAArOkoA0; zuletzt aufgerufen am 12.12.2015. 5

Vgl.: Maeckes “Niemandsland (feat.Tua)”, 2011.

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Selbstkritische Differenzthematisierungen im Kontext geschlechter­ reflektierender Bildung

Text Astrid Messerschmidt

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usgehend von Differenzkonzeptionen in der erziehungswissenschaftlichen Frauenund Geschlechterforschung skizziert dieser Beitrag Wege zu einer selbstkritischen Auseinandersetzung mit Differenz. Jede pädagogische Thematisierung von Differenz identifiziert und reduziert Verschiedenheiten und verfehlt immer diejenigen, um die es doch angeblich geht – die Teilnehmenden von Bildungsprozessen. Aus der Perspektive einer kritischen Pädagogik erscheint es mir unmöglich, diesen Gefahren zu entgehen, eher geht es darum, sie selbst immer wieder zum Thema zu machen. Gegen die geschlechtslose Erzählung der Allgemeinen Pädagogik haben feministisch argumentierende Erziehungswissenschaftlerinnen eine Differenzdimension eingeführt und sind dabei von Anfang an mit der Ambivalenz dieses Vorhabens konfrontiert, um aus dem Denken der Differenz kein neues oder altes Denken der Identität werden zu lassen. Auf dieses Spannungs-

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feld hat sich die erziehungswissenschaftliche feministische Forschung insbesondere seit den 1990er Jahren eingelassen und kritische Perspektiven auf die eigenen Differenztheorien und -konzeptionen entwickelt. Zwischen Vernachlässigung und Hervorhebung von Differenz, Ignoranz und Betonung eröffnet sich ein Spannungsfeld, in dem feministische Forschung und Praxis sich bewegen. Geht es dem feministischen Engagement doch um die Möglichkeit, Differenz in Gleichheit leben zu können oder Gleichheit mit Differenzen zu realisieren. Dafür bedarf es einer Bewusstseinsbildung für das, was uns daran hindert, „ohne Angst verschieden [zu] sein“ (Adorno 1951, 113).

Diversitätsreflexion Mit der Pädagogik der Vielfalt bringt Annedore Prengel 1994 die erziehungswissenschaftliche Diskussion um Differenzen in Bewegung und plädiert dafür, Verschiedenheit

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als eine Bereicherung in pädagogischen Handlungszusammenhängen anzuerkennen, anstatt sie begrenzen zu wollen (vgl. Prengel 21995). Dabei bezieht sie sich explizit auf die drei Felder, die pädagogisches Handeln im Umgang mit Unterschieden erforschen und gestalten: Geschlechterverhältnisse, körperliche und/oder geistige Behinderung und Migration. Gender, dis/ability und race stehen somit im Blickpunkt der theoretischen und bildungskonzeptionellen Überlegungen zu Differenz. Da die Pädagogik immer herausgefordert ist, Antworten zu geben und Lösungen vorzuschlagen, ist der Diversity-Begriff teilweise an die Stelle der Problematisierung von Differenz und Differenzierung getreten. Seine positive Konnotation verspricht, Verhältnisse der Diskriminierung zu überwinden. Doch sowohl in dem Gedanken der Bereicherung wie auch in der Idee, Andere in ihrer Unterschiedlichkeit anzuerkennen, kommt eine Zwiespältigkeit zum Ausdruck, die viele Konzepte pädagogischen Umgangs mit Diversität kennzeichnet (vgl. Messerschmidt 2013). Im Wissen um dieses Problem betont Prengel die „egalitäre und die nicht-identifizierende Dimension von Heterogenität“ (Prengel 2004, 45) und hebt hervor, dass stets „Spannungsfelder und nicht etwa eindeutige Wahrheiten“ zu beachten sind, wenn „Pädagogik von Heterogenität ausgeht“ (ebd.). Mit der Anerkennung von Vielfalt und Verschiedenheit gehen Ambivalenzen einher, denn die Unterscheidungskategorien, auf die sich die Anerkennungsbemühungen beziehen, sind selbst problematisch. Der Bezug auf Heterogenität in pädagogischen Kontexten kann dazu führen, Personen und Gruppen als ‚anders‘ zu etikettieren, gerade weil Kategorien der Unterscheidung ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken. Die Nichtbeachtung von Verschiedenheit homogenisiert die Beteiligten in Bildungsprozessen und kann ihrerseits dazu führen, dass die verschiedenen Potenziale sich nicht entfalten können, weil keine Anknüpfungsmöglichkeiten eröffnet werden. Weder das Berücksichtigen noch das Ignorieren von Differenzen bieten einen Ausweg. Eher befindet sich eine diversitätssensible Pädagogik in einem Dilemma, das jeweils zu reflektieren ist und an das der Anspruch auf „egalitäre Differenz“ (Prengel 2001, 93) erinnert.

Differenzkritik Eine differenzreflexive und selbstkritische Geschlechterforschung wendet sich gegen dichotome Denkweisen und stereotypisierte Bilder von ‚Anderen‘. Die Analyse der Kategorie Geschlecht führt darin zu einer Erweiterung der Möglichkeiten, Geschlechterzugehörigkeiten zu leben. Aus der Sicht einer identitätskritisch argumentierenden Geschlechterforschung wird in den 1990er Jahren die in der Ausländerpädagogik erfolgte Klischeebildung der ‚Migrantin‘ als hilfsbedürftiger Frau kritisiert. Isabell Diehm weist auf die subjektiven Aktivitäten in Migrationsprozessen hin und wendet sich gegen das stereotypisierte Bild der Migrantin als ‚Opfer‘ (vgl. Diehm 1999, 185f). Sie

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zeichnet einen durch die „Kritik in den eigenen Reihen“ erfolgten „Perspektivenwechsel innerhalb der Migrantinnenforschung“ nach, der zu einem anderen Umgang mit Differenz geführt hat und die „verengte Wahrnehmung der ‚fremden Frauen‘“ um eine „‚selbstreflexive‘ und ‚anti-ethnozentrische‘ Sichtweise erweitert hat“ (ebd., 194). Die Perspektivenerweiterung wendete sich gegen die defizitorientierte pädagogische Wahrnehmungsweise, überwand aber nicht die vereindeutigende Betrachtung von kultureller Differenz – wie sie auch mit der ‚interkulturellen‘ Pädagogik verbunden ist, solange diese nicht kulturalisierungskritisch argumentiert. Deshalb erinnert Diehm daran, dass Differenz „eine offene Kategorie bleiben muss und nicht im Sinne einer vorab definierten fest umrissenen Größe verstanden werden kann“ (ebd., 195). ‚Wie kann die Andere unbestimmt bleiben?‘ wird zu einer wesentlichen Frage für eine differenzsensible Forschung und Bildungsarbeit in der Migrationsgesellschaft. Folgt die erziehungswissenschaftliche Geschlechterforschung ihrem eigenen Anspruch an den Umgang mit Differenz, kann sie eine kategorisierungskritische Perspektive in die Debatte um Geschlechterverhältnisse in der Migrationsgesellschaft einbringen und eine Bewegung der Kritik an Identifikationsmustern auf allen Seiten in Gang setzen. Eine geschlechterreflektierende, pädagogische Kritik an kulturrassistischen Unterscheidungspraktiken kann an ihre eigenen dekonstruktiven Ansätze anknüpfen, die sich gegen eine „vereinheitlichende Zuordnung unter ein dualistisch zweigeschlechtliches Menschenbild“ wenden und die „Vielfältigkeit weiblicher Existenz“ als Gegenentwurf zu totalisierenden Subjektkonzepten ansetzen (vgl. Löw 2001, S. 112).

Wessen Differenzen? Jedes Sprechen über Unterschiede und Unterscheidungen wirft das Problem der Repräsentation auf. Wer spricht hier über wen und wo wird beansprucht, für Andere sprechen zu können? Mit jedem Sprechen über Verschiedenheit bin ich involviert in Praktiken des Andersmachens und des Fremdmachens innerhalb von Verhältnissen, in denen einige nie als ‚Andere‘ betrachtet werden. Gayatri Chakravorty Spivak entwickelt den Begriff des „Othering“ aus postkolonialer Perspektive für die Praktiken machtvoller Kategorisierungen derer, die in dem von kolonialer Herrschaft geprägten Machtdiskurs zugleich eingeschlossen wie ausgeschlossenen sind, weil sie als Andere gelten (vgl. Spivak 1985). Darin liegt die Herausforderung für die erziehungswissenschaftliche Geschlechterforschung, das eigene Subjektverständnis zu hinterfragen. Durch die Kategorie ‚Frau‘ laufen vielfältige Differenzlinien hindurch, die sexuell, sozial und kulturell bedingt sind. Mit dieser Einsicht lässt sich feministische Kritik auf Differenz ein, anstatt an einer Identitätsbestimmung festzuhalten, die alles ausschließen muss, was sie fragwürdig werden lässt. Kritik an geschlechtlich bedingter Diskriminierung

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wird dabei nicht hinfällig, sondern erst in die Lage versetzt, wahrzunehmen, wie feministische Politiken und Repräsentationen selbst in diskriminierende Strukturen involviert sind. Durch die feministische Auseinandersetzung mit eigenen Machtpraktiken und mit den inneren Differenzierungen der Kategorie ‚Frau‘ sind Erweiterungen in der Analyse von Herrschaftsverhältnissen möglich geworden, die weit über die innerfeministische Diskussion ausstrahlen (vgl. Lorey 1998). „Eine Kritik an einem Mittelschichtsund Heterosexualitätsfokus sowie vor allem die Kritik von Schwarzen Feministinnen an einer dominanten weißen Perspektive hat eine Multiperspektivität sowohl auf Subjektivitäten wie auf Herrschaftsverhältnisse hervorgebracht“ (Stuve 2008, 83). Der Dominanzbegriff steht in dieser selbstkritischen Wendung innerhalb des feministischen Denkens für die Komplexität von Unterwerfung und Affirmation und zeigt an, dass die Prozesse moderner gesellschaftlicher Integration und Anpassung nicht repressionslogisch zu erklären sind, sondern deshalb funktionieren, weil Hierarchien und Ungleichheiten verinnerlicht werden (vgl. Rommelspacher 1995). Sie werden zum Bestandteil des eigenen Selbst. Nach Spivak setzt sich die mikrologische Struktur der Macht aus Subjektformationen zusammen. Die Art und Weise, Subjekt sein zu können, übt eine „epistemische Gewalt“ aus, d.h. eine Gewalt des Wissens über Andere, in der das koloniale Subjekt als Anderes konstituiert wird (Spivak 2008, 42). Anerkennung erfolgt in dieser Struktur nur um den Preis der Assimilierung der/des Anderen, also um den Preis des Verschwindens jeder Differenz. Das bedeutet für viele Selbstverleugnung und zwanghafte Anpassung an Normen geltender Identitätsordnungen.

Involviert in machtvolle Unterscheidungspraktiken Um dominante Unterscheidungsordnungen verschieben zu können, müssen Verhältnisse der Ausgrenzung und der Illegitimierung beachtet werden. Dazu bedarf es der Auseinandersetzung mit normalisierten privilegierten und entprivilegierten Positionierungen und somit einer Thematisierung von Unterdrückungspraktiken. Um aber thematisieren zu können, wie Akteur_innen in Bildungsinstitutionen selbst diese Ordnungen reproduzieren und stabilisieren, wird eine Analyse jener demokratisierten Macht benötigt, die produktiv ist, weil sie die Individuen dazu anregt, sich selbst in ihr darzustellen und sichtbar zu machen. Die Vermittler_innen differenzreflexiver Bildungsansprüche sind selbst involviert in die Zwänge, sich gut zu verkaufen, und in diesen liegt immer eine Tendenz zur Verwertung von Differenz, wie es in einem affirmativen Diversity-Verständnis zum Ausdruck kommt. Die Antwort darauf kann aus meiner Sicht nicht darin bestehen, sich auf eine selbstsichere Position aufklärender Bildungsarbeit

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zurück zu ziehen, sondern eher, die Zwiespältigkeit der eigenen Position sichtbar zu machen. Zwischen der traditionellen Kritik in Form der Entlarvung des Falschen und der missionarischen Übereinstimmung mit dem Bestehenden kann eine differenzreflexive Pädagogik einen dritten Ort besetzen, an dem das eigenen Involviertsein in die Dynamiken des machtvollen Unterscheidens offen gelegt wird. Sie kann Impulse setzen für eine gesellschaftsbezogene Selbstreflexion, die nach den Opfern der gegenwärtigen Entwicklungen fragt und die Schwierigkeiten bewusst macht, dafür Täter_innen zu benennen.

literatur _ Adorno, Theodor W. (1945/1951): Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt/M.: Suhrkamp. _ Diehm, Isabell (1999): „Pädagogische Ent-Fremdung. Die Verdichtung von Differenz in der Figur ‚fremder‘ Frauen und Mädchen“, in: Rendtorff, Barbara/Moser, Vera (Hrsg.): Geschlecht und ­Geschlechterverhältnisse in der Erziehungswissenschaft. Eine ­Einführung, Opladen: Leske & Budrich, S. 181-199. _ Lorey, Isabell (1998): „Dekonstruierte Identitätspolitik. Zum Verhältnis von Theorie, Praxis und Politik“, in: Antje Hornscheidt et al. (Hrsg.): Kritische Differenzen – geteilte Perspektiven. Zum Verhältnis von Feminismus und Postmoderne. Opladen: Leske & Budrich, S. 93-114. _ Löw, Martina (2001): „Feministische Perspektiven auf ‚Differenz‘ in Erziehungs- und Bildungsprozessen“ in: Lutz, Helma/Wenning, Norbert (Hrsg.): Unterschiedlich verschieden. Differenz in der Erziehungswissenschaft. Opladen: Leske & Budrich, S. 111-124. _ Messerschmidt, Astrid (2013): „Über Verschiedenheit verfügen? Heterogenität und Diversity zwischen Effizienz und Kritik“, in: Elke Kleinau/Barbara Rendtorff (Hrsg.): Differenz, Diversität und Heterogenität in erziehungswissenschaftlichen Diskursen. Opladen: Barbara Budrich, S. 47-61. _ Rommelspacher, Birgit (1995): Dominanzkultur. Texte zu Fremdheit und Macht. Berlin: Orlanda. _ Spivak, Gayatari C. (1985): “The Rani of Simur”, in: Francis Barker et al. (Hrsg.): Europe and its Others Vol. 1. Colchester: University of Sussex. _ Spivak, Gayatri Chakravorty (2008): Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation. Wien: Passagen. _ Prengel, Annedore (21995): Pädagogik der Vielfalt. Verschiedenheit und Gleichberechtigung in Interkultureller, Feministischer und Integrativer Pädagogik. Opladen Leske & Budrich. _ Prengel, Annedore (2001): „Egalitäre Differenz in der Bildung“, in: Lutz, Helma/Wenning, Norbert (Hrsg.): Unterschiedlich verschieden. Differenz in der Erziehungswissenschaft. Opladen: Leske & Budrich, S. 93-107.

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Zum Umgang mit Differenz in der Mediation Text laila lucas

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ediation als alternatives Konfliktlösungsverfahren hat in Deutschland zunehmend an Relevanz gewonnen. Ursprünglich in den 1960er und 70er Jahren in den USA, vorrangig im Bereich des Nachbarschafts- und Gemeinwesens entwickelt, umfasst das Anwendungsspektrum nun Scheidungsund Familienmediation, Schulmediation, Mediation in Wirtschaft und Unternehmen, Umweltmediation bis hin zu „Mediation im interkulturellen Kontext” (vgl. Nothhafft 2004, S. 83). Das Versprechen der Mediation reicht dabei von einer „menschlichen Wachstumschance“ (Besemer, 2009: 52)über ihre Kraft als Demokratisierungsinstrument, welches zu einer neuen „Qualität des Politikprozesses“ (Geis 2003: Vorwort Kap. I) führe, bis hin zu der Auffassung, Mediation habe die Fähigkeit „sozialen Frieden zu wahren oder zu stiften“ (vgl. Montada & Kals, 2007: XI). Im Folgenden argumentiere ich, dass bei all den der Mediation zugeschriebenen positiven Aspekten bisher wichtige Perspektiven ausspart werden. So stehen zwar „Differenzen“ im Sinne von unterschiedlichen Sichtweisen und Positionen an prominenter Stelle jeder Mediation, gesellschaftlich verankerte Differenzstrukturen werden dabei jedoch verblüffend wenig thematisiert. Will Mediation ihr Bild als Arena der Interessenstärkung und Selbstermächtigung aufrechterhalten, ist eine Reflexion der möglichen eigenen Rolle in der Reproduktion gesellschaftlicher Ungleichheitsverhältnisse unerlässlich, so die These dieses Beitrags.

ist dabei, den Streitparteien durch mediative Gesprächstechniken zu helfen, ihre Interessen und Bedürfnisse zu schildern und so abschließend eine gemeinsame, tragfähige und nachhaltige Problemlösung zu finden (vgl. Besemer, 2009: 14). Auch wenn Mediation den Konsens anzielt, werden auf dem Weg dorthin Differenzen – im Sinne von gegensätzlichen Positionen und Interessen – durchaus in den Vordergrund gestellt (vgl. Kriegel-Schmidt, 2012: 294). „Differenzen“ werden hier somit vorrangig als etwas beschrieben, das einerseits auf den besonderen Konfliktfall und andererseits auf die Ebene der individuellen Person beschränkt ist. Gemäß dem Prinzip der Eigenverantwortlichkeit der einzelnen Konfliktparteien bringen diese jeweils ihre ganz individuellen Inhalte ein und entscheiden somit, was innerhalb der Mediation bearbeitet werden soll. Indem der Prozess und die erarbeitete Lösung jedoch individuell „maßgeschneidert“ angepasst ist, fehlt sowohl der Blick zurück – im Sinne der unterschiedlichen Ausgangsbedingungen, die die Konfliktparteien mitbringen – als auch der Blick nach vorne. So kommen Chancen einer gesellschaftlich gestaltenden Wirkung von Mediation, die über den individuellen Fall hinausgehen und möglicherweise emanzipatorisch gesellschaftsgestaltend agiert, im Selbstverständnis der Mediation bisher wenig zum Tragen. Ausgehend von der Annahme, dass Subjekte jedoch immer auch unterschiedliche gesellschaftliche Positionierungen einnehmen und damit ein differenter Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen und Teilhabechancen einhergeht, kann auch die Mediation nicht in einem „gesellschafts­ losen“ Raum verortet werden.

Mediation versteht sich als Vermittlung in Konfliktfällen durch unparteiische Dritte. Aufgabe der Mediator_innen

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Vielmehr bringen die Konfliktparteien jeweils ihre ganz vielfältigen Ausgangslagen mit, die auch einen Einfluss auf das Mediationsgeschehen haben können. Ist sich Mediation dieser grundlegenden sozialen Macht- und Ungleichheitsverhältnissen nicht bewusst, besteht die Gefahr diese zu reproduzieren. Wie kommt es dazu, dass Mediation bisher gegenüber der eigenen Einbettung in (und Neuverhandlung von) gesellschaftlich vermittelten Macht- und Herrschaftsverhältnissen eher zurückhaltend ist? Einige Autor_innen sehen den Grund im Neutralitätsgebot, einem wesentlichen Aspekt der Charakterisierung von Mediation (vgl. Wing 2009, Cobb & Rifkin 1991, Bogdanoski 2009). So zählt zu Neutralität oftmals eine allparteiliche Haltung, die Rücknahme eigener Urteile sowie die Verpflichtung den Prozess symmetrisch für alle Konfliktparteien zu gestalten. Im Gegensatz zu einem Gerichtsverfahren, erhält Mediation aufgrund ihres informellen, im Privaten agierenden Charakters seine Legitimation vor allem durch das Versprechen dieser Neutralität (vgl. Astor, 2007: 224). Neutralität wird somit in erster Linie als Garant und wichtige Voraussetzung für die Durchführung eines fairen Prozesses angesehen, der alle Konfliktteilnehmer_innen gleich behandelt. Kritische Stimmen sehen in dem Diskurs um „Neutralität“ eher eine Verschleierung der möglichen Machtasymmetrien und der eigenen Positionierung der Mediator_innen (vgl. Cobb & Rifkin 1991). Die Trennlinie, an der Neutralität aufhört und Interventionen anfangen, ist dabei nicht immer eindeutig. Jede_r Mediator_in wirkt permanent steuernd auf den Prozess ein, indem er oder sie sich für eine bestimmte Frage, mehr oder weniger Redezeit der einzelnen Konfliktparteien etc. entscheidet. Auch einzelne Maßnahmen, die auf die Einhaltung eines fairen Prozesses abzielen, basieren letztendlich auf abgeleiteten Normen und Vorstellungen der entsprechenden Mediator_innen (vgl. Astor, 2007: 227). Insbesonders wenn sich die Mediator_innen eher im Raum der Mehrheitsgesellschaft bewegen, könnten die Normen und Handlungspraktiken sich aus diesem kulturellen Standard-Repertoire speisen. In diesem Zusammenhang haben Cobb & Rifkin (1991) auf die Wichtigkeit des storytellings innerhalb einer Mediation hingewiesen. In der Regel werden die Konfliktparteien in der sogenannten „zweiten Phase“/„Phase 2“ des Mediationsprozesses aufgefordert, ihre Sichtweisen des Konflikts zu schildern (vgl. Besemer, 2009: 78-79). Indem ein bestimmter Ausschnitt der Situation dargestellt wird, spinnen die Mediationsteilnehmer_innen ihre „Konfliktgeschichte“. Es gibt jedoch Unterschiede darin, welche Narrative auf gängige kulturelle Muster zurückgreifen können, welche anerkannt werden und sich somit durchsetzen können (Cobb & Rifkin

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1991). Menschen, die über gesellschaftlich privilegiertere Positionen verfügen, haben es daher mitunter auch leichter an Normalitätsvorstellungen und anerkannten „Master-Narrativen“ anzudocken. Personen, die einen anderen Erfahrungsraum besitzen, müssen unter Umständen entsprechend mehr Zeit und andere Sprachformen aufwenden, um auch Situationsdarstellungen klar zu formulieren, die der Lebenswirklichkeit der privilegiert-positionierten Mediator_innen weniger vertraut sind. Dies wiederum widerspricht der Idee einer symmetrischen Behandlung beider Konfliktparteien, zwecks Aufrechterhaltung einer neutralen Haltung. Allen die exakt gleichen Sprech- und Zeitvolumen einzuräumen, könne jedoch die „Geschichte“, die sich besser an gesellschaftliche Bilder und die Lebenswirklichkeit der Mediator_innen einfügt, favorisieren (vgl. Wing 2009: 398). Auch wenn sich die Auslegung der Allparteilichkeit oder einer neutralen Haltung in der Praxis individuell differenzierter gestalten mag, scheint zumindest das Selbstverständnis der Mediationsliteratur und -praxis an diesem Grundsatz festzuhalten. Wird Neutralität als höchst ambivalentes Konstrukt und die Interventionen der Mediator_innen selbst nicht frei von standpunktorientierter Wahrnehmung gesehen, liegt es nahe, gesellschaftlich vermittelte Ungleichheitspositionierungen bewusster zur Sprache zu bringen. So könnte es beispielsweise hilfreich sein im Falle einer Trennungs- oder Scheidungsmediation auch die Sorgearbeit der Kinder und die jeweiligen beruflichen Entfaltungsmöglichkeiten zu thematisieren. Je nach subjektiver Darstellung der Situation könnten die Konfliktparteien eingeladen werden darüber nachzudenken, wie es sich für ihren spezifischen Kontext gestaltet und ob dies gegebenenfalls in der Lösungssuche (z.B. im Sinne der Vermögensaufteilung) eine Rolle spielen sollte. Ebenso besteht die Möglichkeit, dass eine homosexuelle Co-Mutter anders in einer Mediation um Zeit mit den Kindern verhandelt, weil sie weiß, dass ihr Status vor einem Gericht einen negativen Einfluss hätte (vgl. Astor, 2007: 233). Diese Themen aufzugreifen wenn sie sich während des Mediationsprozesses „anbahnen“, könnte somit die Wahrscheinlichkeit eines allseits zufriedenstellenden Ausgangs der Mediation vergrößern. Werden die Anregungen der Mediator_in dabei als „Angebote“ formuliert und auf einer beschreibenden Ebene angesiedelt, vermag dieser Ansatz möglicherweise den Konfliktparteien ihre jeweiligen (Diskriminierungs-)Erfahrungsräume und Sichtweisen näher zu bringen. Gleichzeitig besteht bei einer bewussten Positionierung und der Wahl bestimmter Interventionen in der Mediation immer auch die Gefahr, wieder auf festschreibende Kate-

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gorien zurückzufallen und essentialisierende Identitäten festzuschreiben. Mediation bietet aber die Möglichkeit – und verfügt auch teilweise über entsprechend kreative Methoden – eigene Hypothesen in vorsichtiger Weise anzubringen. Darüber hinaus hat sie das Potential den Raum zur eigenen Darstellung für die Konfliktparteien zu schaffen. Im Sinne von Mehrfachzugehörigkeiten oder einer intersektionalen Perspektive treffen sich in einer Person immer eine Vielzahl unterschiedlichster Teilidentitäten und Zugehörigkeitsordnungen. Welche jeweils für den spezifischen Kontext und im aktuellen Mediationsfall relevant sind, kann dialogischer Aushandlungsgprozess in der Mediation sein. So kann gefragt werden: „Als wer oder was sehen Sie sich in dieser Sache? Wie möchten Sie bezeichnet werden?“ (Fechler, 2013: 193). Dies könnte insbesondere in Kontexten, wo es um sogenannte „Interkulturelle Mediationen“ geht, bedeutsam sein. So existieren häufig noch Annahmen, dass „interkulturell“ sich auf die Vermittung zwischen „Nationen“ bezieht oder von einer homogenen, statischen Vorstellung von „Kultur“ ausgeht. Dass diese Konflikte weniger auf „(national-) kulturelle Differenz“, sondern auch auf sozialen Macht­ asymmetrien und Konstruktionsprozessen basieren, wird bisher erst randständig thematisiert (vgl. Fechler, 2013: 174). Auch hier könnten spezifische Fragen und bestimmte mediative Techniken helfen zu verstehen, was der_diejenige meint, wenn „Kultur“ als Erklärung herangezogen wird. Es geht dann darum den „jeweiligen Sinn kontextspezifischer Gebrauchsweisen der ‚Kultur‘- Praktik zu erkennen” (Mecheril, 2013: 28). In der Zentrierung auf die Entscheidungsmacht und Verantwortlichkeit der Konfliktparteien zeigt sich Mediation wiederum als möglicherweise starkes Instrument, mit Prozessen der (Selbst)-Unterscheidung und Mehrfach-Verortung spielerisch und situationsbezogen umzugehen. Inwieweit Mediation bewusster mit Machtasymmetrien, die auf gesellschaftlichen Differenzkonstruktionen beruhe umgehen kann ohne dabei wieder selbst zu sehr in Essentialisierungen bzw. Bevormundungen zu verfallen, könnte zukünftig noch lohnenswerter Diskussionspunkt sein. Fest steht jedoch schon jetzt: Wird die eigene Verwobenheit in ein standpunktbeeinflusstes Denken und die Maxime der neutralen Haltung reflektiert, ist der Weg zu einer „differenz- ,dominanz- und kontextsensiblen Mediation“ (Fechler 2013, 173) geöffnet.

literatur _ Astor, H. (2007), „Mediator Neutrality: Making Sense of Theory and Practice“, in Social & Legal Studies, Vol.16, No.2, pp. 221–239. _ Besemer, C. (2009), Mediation. Die Kunst der Vermittlung in Konflikten, Gewaltfrei Leben Lernen, Karlsruhe. _ Bogdanowski, T. (2009), “The ‘Neutral’ Mediator’s perennial Dilemma: To intervene or not to intervene?“, in Queensland University of Technology Law and Justice Journal, Vol. 9, No. 1, pp. 26-43. _ Cobb, S. & J. Rifkin (1991), “Practice and Paradox: Deconstructing Neutrality in Mediation”, in Journal of Law and Social Inquiry, Vol 16, No. 1, pp. 35–65. _ Fechler, B. (2013), „Interkulturelle Mediationskompetenz. Umrisse einer differenz-, dominanz- und kontextsensiblen Mediation“, in G. Auernheimer (Hg.): Interkulturelle Kompetenz und pädagogische Professionalität, VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden, pp. 173-200. _ Geis, A. (2003), „Umstritten, aber wirkungsvoll: die Frankfurter Flughafen-Mediation”, in HSFK-Report 13, Frankfurt am Main. _ Kriegel-Schmidt, K. (2012), Interkulturelle Mediation. Plädoyer für ein Perspektiven-reflexives Modell, LIT Verlag, Münster. _ Mecheril, P. (2013), „Kompetenzlosigkeitskompetenz. Pädagogisches Handeln unter Einwanderungsbedingungen“, in G. Auernheimer (Hg.): Interkulturelle Kompetenz und pädagogische Professionalität, VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden, pp. 15-35. _ Montada, L & E. Kals (2007), Mediation: Ein Lehrbuch auf psychologischer Grundlage, Beltz, Weinheim. _ Nothhafft, S. (2004), Partizipation durch Mediation. Wege zur Konfliktlösung in der Zivilgesellschaft, Herbert Utz, München. _ Wing, L. (2009), „Mediation and Inequality Reconsidered: Bringing the Discussion to the Table“, in Conflict Resolution Quarterly, Vol. 26, No. 4, pp. 383-404.

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Children, Childhood and the Making of Racial Difference in South Africa Text Sarah Emily Duff

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n an intriguing scene in Lewis Carroll’s Alice’s Adventures in Wonderland (1865) the Caterpillar asks Alice ‘Who are YOU?’ Having spent the day being shrunk, telescoped, and grown again, Alice is at a loss: ‘I – I hardly know, sir, just at present – at least I know who I WAS when I got up this morning, but I think I must have been changed several times since then.’ During a period obsessed with the constitution of difference, with lineages, classes, and groups, Alice’s inability to slot herself into the correct category feels profoundly transgressive. Her ontological uncertainty – she remarks to the Caterpillar ‘I can’t explain MYSELF … because I’m not myself ’ – is a more thoughtful position than that taken by the Caterpillar who will, as Alice argues, turn into a chrysalis and then a butterfly. Nobody is one thing for very long.1

As an historian of childhood who has thus far written mainly about nineteenth-century South Africa, I often find myself unable to place the people who produced and who populate my sources into what are now easily defined and recognisable categories, pertaining to race, class, and gender, but also to age. It would be as incorrect and anachronistic to apply the race categories of post-apartheid South Africa to the Cape Colony in the 1800s, as it would be to impose retrospectively the same age categories. A child in Johannesburg in 2015 would not necessarily have been a child in Cape Town in 1895. Indeed, the late nineteenth century, in particular, is useful for understanding how racial and ethnic difference – crucial to the construction of the racial order under segregation and apartheid in the following century – was made. I argue that the category of childhood was particularly useful for this manufacture of difference.

1 Lewis Carroll, Alice’s Adventures in Wonderland, and Through the Looking-Glass and What Alice Found There (Oxford: Oxford University Press, 1998), pp. 40-41

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In 1896, Henry Osborne, a Church of England minister in charge of the biggest mission school in Cape Town, struggled to describe the racial composition of the classes he taught. Although the institution was ‘professedly a coloured school’ – meaning that it was intended mainly for children of multiracial descent – he accepted ‘white children as well.’ There were ‘lightly coloured children of all sorts’ and, really, it was ‘impossible to draw a line, because in some families you will find white children and light coloured children; the gradations of colour are frequently very fine.’2 Osborne’s audience was a group of politicians conducting a commission of enquiry into an apparent labour shortage in the Cape Colony. Their interest in precisely who he taught was rooted in the widely made claim that mission schools removed black youth from the labour market. Although certainly not borne out by statistics – in 1875, only 18% of black children under the age of fifteen were enrolled in school – this belief pointed to an anxiety about the status, paradoxically, of white children and youth, and particularly those who were poor. As Osborne’s answer indicates, distinguishing between who was white and who was not, was not necessarily a straightforward task. It was defined socially and subjectively. The politician Arthur Vanes had commented two years previously that while there was a ‘theoretical difficulty’ in defining who was, and who was not, white in the schools in his constituency, there was no ‘practical difficulty’.3 Sir Thomas Muir, the powerful Superintendent for Education, explained: ‘I find in the country that suppose you have two children of the very same colour, the public makes a distinction’.4 It was that distinction-making which concerned the Cape’s politicians in the final three decades of the nineteenth century. Urbanisation, industrialisation, the extension of the colonial frontier through conquest, and a nascent Afrikaner nationalism all contributed to a waning support for liberal arguments which emphasised that Africans, particularly, could be civilised through education, conversion, and entry into wage-earning labour. Frightened of the demographic threat posed by Africans from the 1870s, the Cape’s white elite began to shore up its authority through segregation. Gradually, hospitals, prisons, public spaces and amenities were segregated on the grounds of race. As in other parts of the empire, the whiteness of the colonial elite – despite a long history of interracial sexual encounters – was not in question. Administrators were anxious about the rural and urban poor, whose numbers had swelled as the region’s economy had grown after the discovery of diamonds (1867) and gold (1882). In Cape Town, white and black families were crammed, cheek-by-

jowl into overcrowded, fetid slums. In the countryside, commentators worried that it was impossible to tell apart black and white itinerant farmers and woodcutters. If the future of the Cape was to remain in white hands, then white children needed to be raised and educated to become the next ruling class. Schooling was a key site for the making and maintenance of whiteness. With only 40% of children defined as white in school in 1893, the state introduced a raft of measu­res to encourage parents to enrol their children in fulltime education. Most of these interventions were aimed at poor rural white families, a very tiny proportion of whom sent their children to school regularly. While the Department of Education blamed parents’ ignorance and backwardness for low attendance – part of a long discourse about rural idleness and anti-modernity – school and agri­ cultural calendars were often in tension with each other. Children were required at home during particular times of the farming year. Many families relied on children’s labour when they could not afford to employ workers. For the co­ lony’s civil servants, education became a means of bringing white rural families fully into modernity, respecting timetables, clocks, and the authority of the teacher who was, frequently, a young woman. Indeed, the schooling of black children was believed to undermine this project: education was intended to prepare white youth for entry into colonial society, business, and politics. At most, the education of black youth was to teach them enough for entry into the workforce. Segregation of schools was then urgently to be dealt with, and one of the Department’s most interesting strategies involved renaming. The Department of Education provided some funding to the mission schools dotted across the Cape’s vast, rural interior. Although intended largely for African children, a substantial number of poor white children – a third of all those white children enrolled in school in 1891 – attended them too. Their low fees and the fact that they were often the only schools in sparsely populated districts made them an attractive prospect for families who could not afford to send their children away to boarding schools in towns and cities. In 1892, the Department urged those schools with a majority of white pupils to rename themselves simply as government schools. This would not change their curricula, management, or quality of teaching, but would simply distinguish them from mission schools with mainly African pupils. But, as Osborne pointed out, distinguishing between black and white pupils was complex, occasionally to the point of impossibility.

2

Report of the Select Committee of the Legislative Council. Education, 1896 (Cape Town: W.A. Richards & Sons, 1896), p. 59.

3

Debates in the House of Assembly in the First Session of the Tenth Parliament of the Cape of Good Hope, 1895 (Cape Town, 1895), p. 60.

4

Debates in the House of Assembly, 1895, p. 4.

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A more radical attempt to define and shore up white childhood was the 1895 Destitute Children Relief Act. The Act expected white parents to provide children under the age of fifteen with upbringings that would mould them into working, productive, and useful adults. Those children deemed to be abused or neglected – or raised by parents unable financially to support them – were to be removed and placed under the care of the state. In discussions before the finalising the legislation, Members of Parliament made it clear that the Act was underpinned by the conviction that ‘the white population should maintain the ruling position in the county’.5 Education was vital if this was to be ensured, as one MP noted: ‘white children are more or less dependent on education. Coloured people can do more or less without education, and earn their living in the sphere of life to which they have been called.’6 Children whose circumstances prevented them from being in school, were allowed to be apprenticed and, importantly, agents of the state were urged to be careful in selecting appropriate employment for white youth: they were not to engage in the same unskilled or semi-skilled labour intended for black young people.

This brief discussion of how one shifting category – childhood – was used to fix absolutely what it was to be ‘white’ or ‘black’, has tried to demonstrate that contemporary race categories have very short histories. And by clinging to them, we risk both dehistoricising them, as well as allowing those who originated them far too much power. In other words, let us think carefully before we answer the Caterpillar’s question – ‘Who are YOU?’ – with easy categories.

Both the idea and experience of childhood have changed over time. Definitions of the category of childhood are inflected by race, class, and gender. It is possible for multiple childhoods to exist side-by-side at any time. The model for the childhood prescribed by 1895 Destitute Children Relief Act was (white) middle-class childhood and youth. Although the extended childhoods of wealthy children were out of reach of the majority of families in the Cape – white and black – this powerful conceptualisation of childhood as a period of innocent play and education, secluded from the world and carefully supervised by parents and servants, became the template according to which all white childhoods needed to conform. This process was not unique to South Africa, but in the Cape, this definition of childhood became a means of making white childhood when defining who was – and who was not – white was a matter of some difficulty. The success of Department of Education’s interventions and, even, the Destitute Children Protection Act was limited – insufficient funding, and a changing political landscape were chiefly to blame – but they were part of a broader movement which linked long, innocent, work-free childhoods with being white. references _ Lewis Carroll, Alice’s Adventures in Wonderland, and Through the Looking-Glass and What Alice Found There. Oxford: Oxford University Press, 1998. _ Report of the Select Committee of the Legislative Council. Education, 1896. Cape Town: W.A. Richards & Sons, 1896. _ Debates in the House of Assembly in the First Session of the Tenth Parliament of the Cape of Good Hope, 1895. Cape Town, 1895. 5 Report of the Select Committee of the Legislative Council. Destitute Children Relief Bill (Cape Town: W.A. Richards & Sons, 1894), pp. 40-41. 6

_ Report of the Select Committee of the Legislative Council. Destitute Children Relief Bill. Cape Town: W.A. Richards & Sons, 1894.

Destitute Children Relief Bill, p. 54.

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Keine Pille für den Mann – Vergeschlechtlichung in der Entwicklung von Kontrazeptiva Text Miriam Klemm

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m 20. Jahrhundert wurden zahlreiche reversible Methoden der Empfängnisverhütung entwi­ckelt: Pille, Spirale, Diaphragma, Hormonspritzen, Pflaster, Implantate, Ringe und Femdom. Diese Methoden verhindern entweder das Eindringen von Spermien in den Uterus durch eine Barriere am Muttermund oder sie verhindern Ovulationen oder die Einnistung einer befruchteten Eizelle in der Gebärmutterschleimhaut. Alle interagieren also mit dem weiblichen1 reproduktiven Körper. Männern*2 stehen Methoden zur Verfügung, die schon vor 400 Jahren existierten: Kondom, Coitus interruptus und temporäre Abstinenz. Nur die Vasektomie (die irreversible Sterilisation, bei der beide Samenleiter im Hodensack durchtrennt werden) ist am Ende des 19. Jahrhunderts dazugekommen. Reversible

Langzeitverhütungsmittel, welche in die Spermienproduktion oder in Eigenschaften von Spermien eingreifen, z.B. die sogenannte „Pille für den Mann“, werden zwar seit den 1970er Jahren erforscht und die kontrazeptive Effektivität sowie die Reversibilität wurde in zahlreichen klinischen Studien nachgewiesen,3 trotzdem hat es bisher keines dieser Mittel auf den Markt geschafft. Die Gründe für die erfolglose Entwicklung von Langzeitverhütungsmitteln für Männer* sind vielschichtig. In diesem Artikel konzentriere ich mich auf Prozesse der Differenzierung in Mann und Frau; konkret auf Vergeschlechtlichungsprozesse von Körpern, medizinischen Praktiken und Diskursen sowie einer damit einhergehenden Vergeschlechtlichung von Kontrazeptiva. Diese Vergeschlechtlichung führte zu der Prämisse, Verhütung sei „Frauensache“.

1 Individuelle, gebärfähige Körper werden nicht zwangsläufig als weibliche gelebt. In diesem Artikel geht es jedoch um die wirkmächtige Differenzierung zwischen Körpern, welche u.a. aufgrund der Gebärfähigkeit weibliche Körper konstruiert und von männlichen abgrenzt. 2

Auch hier geht es vorwiegend um Männer und um vorwiegend männliche Körper. Nicht alle Körper, die in der Lage sind zu schwängern, werden als männliche gelebt. Andersherum sind weder alle weiblichen Körper gebärfähig, noch alle männlichen Körper fähig zu schwängern.

3

Siehe u.a. die klinischen Studien zur hormonellen Unterdrückung der Spermienproduktion der WHO in den 1980er und 1990er Jahren (WHO 1990, 1996), die klinischen Studien zum gleichen Ansatz in China mit über 1.000 teilnehmenden Paaren (Gu et al. 2009) und die Studien zum reversiblen Verschluss der Samenleiter mit Hilfe eines Gels in Indien (vgl. Lohiya et al., 2014).

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Die Frau als das Andere – Die historische Vergeschlechtlichung der Empfängnisverhütung Gegen Ende des 19. Jahrhunderts begannen westliche Wissenschaftsdiskurse Frauen* als ontologisch eigene Kategorie von Männern* zu differenzieren.4 Die Frau wurde als ‚das Andere‘ etabliert und zum Objekt der Wissenschaft und Medizin (vgl. Moscucci 1990). Um die Jahrhundert­ wende entstand die Gynäkologie als wissenschaftliche Disziplin. Mann gründete Gesellschaften, Zeitschriften und Kliniken, die auf das Studium und die Behandlung weiblicher Körper ausgerichtet waren. In den 1920er und 30er Jahren wurde dieser Trend noch durch das Aufkommen der wissenschaftlichen Disziplin Endokrinologie, der Lehre der Hormone, verstärkt: Die bereits existierenden gynäkologischen Infrastrukturen ermöglichten es dieser jungen Disziplin, sich auf Frauen*körper zu spezialisieren. Das hormonelle Modell des weiblichen Körpers wurde in Krankheiten, diagnostische Werkzeuge und Medikamente übersetzt (Oudshoorn 2003, 5). Schon im frühen 20. Jahrhundert war der weibliche Körper als das natürliche Objekt medizinischer Intervention institutionalisiert worden. Auch Männer*körper waren Objekte wissenschaftlicher Studien und Eingriffe,5 jedoch wurde der Aufstieg der Gynäkologie nicht durch eine ähnliche Entwicklung in der Wissenschaft männlicher Körper komplementiert (Oudshoorn 1994). „As the male was the standard of the species, he could not be set apart on the basis of his sex“ (Moscucci 1990, 32). Im 19. Jahrhundert war Empfängnisverhütung in den meisten Fällen verbunden mit dem eigentlichen sexuellen Akt und Männer* waren selbstverständlich in Verhütungs­ methoden wie Kondomnutzung oder Coitus interruptus, den am weitesten verbreiteten Methoden, involviert. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts begannen jedoch Her­ stellerfirmen kontrazeptiver Mittel sich auf Frauen* zu konzentrieren. In den USA und verschiedenen euro­pä­i­ schen Staaten wurde das Bewerben kontrazeptiver Mittel verboten. Firmen bewarben und verkauften dann einige dieser Mittel, v.a. Vaginalduschen, als „Frauenhygiene“, um die Gesetze zu umgehen (Campo-Engelstein 2012, 147). Aufgrund des medizinischen Fokus auf Frauen* einerseits und der ökonomischen Spezialisierung auf Kundinnen* andererseits, sah das 20. Jahrhundert die Entwicklung zahlreicher sexueller und reproduktiver Technologien, die mit dem Frauen*körper interagieren: vom Vibrator über In-vitro-Fertilisation, Hormonersatztherapie, ScreeningProgrammen für Brust- und Gebärmutterhalskrebs bis hin zu den oben genannten Mitteln der Empfängnisverhütung.

Auch die Frauen*(gesundheits)bewegungen des 20. Jahrhunderts setzten Frauen* ins Zentrum ihrer Sexualdebatten und initiierten Familienplanungsprogramme, welche Frauen* dienten. Diese sozialen Bewegungen mit ihren Institutionen bedingten einerseits und verstärkten sich andererseits durch die Entwicklung der hormonellen Verhütung. Die „Revolution Pille“ der 1960er Jahre materialisierte erneut Verhütung ungewollter Schwangerschaften als „Frauensache“. Frauen* weltweit eigneten sich die Verhütungsmittel des 20. Jahrhunderts an, erlangten mit ihnen ein höheres Maß an Kontrolle über die eigene Fertilität, über den eigenen Körper, und erkämpften sich u.a. in Auseinandersetzung mit neuen reproduktiven Technologien Selbstbestimmung und Partizipation an politischen Prozessen. Jedoch verlagerten sich im 20. Jahrhundert auch die Verantwortung und Kosten durch Empfängnisverhütung auf die Seite der Gebärfähigen. Welche absurden Ausmaße diese Vergeschlechtlichung von Verhütung in medizini­schen Praktiken annimmt, zeigt das Beispiel einer Effizienz­studie für Kondome am Guttmacher Institut: Während den Frauen* der Umgang mit den zu testenden Kondomen beigebracht wurde, bekamen ihre teil­nehmenden männlichen Partner die Studienleiter nie zu Gesicht (Edwards 1994, 77).

Vergebliche Entwicklung männlicher Kontrazeptiva Seit den 1970er Jahren wird der männliche reproduktive Körper in Medizin und Industrie sichtbarer. Andrologie, die Disziplin der männlichen Fortpflanzungsfunktionen, institutionalisierte sich und Viagra, Ende der 1990er Jahren entwickelt, erfuhr eine weltweite Akzeptanz und Verbrei­ tung wie zuvor kein anderes Medikament (Oudshoorn 2003, 3). Während sich die Pharmaindustrie als klassische Akteurin der Medikamentenentwicklung mit dem dankbareren Thema der Impotenz beschäftigte, widmete sich die Weltgesundheitsorganisation (WHO) der Aufgabe, ein langfristig wirkendes, reversibles, sicheres Verhütungsmittel für Männer* zu entwickeln. Somit verlagerte sich ein Großteil der Forschung und Entwicklung dieser neuen Kontrazeptiva in den internationalen, öffentlichen Sektor. Unter Koordination der WHO forschten Labore und Klini­ ken weltweit an Spermien, synthetisierten Androgene und unternahmen Tierversuche mit möglichen Verhütungsmitteln. In den 1980er Jahren fanden die ersten erfolg­reichen, multinationalen klinischen Studien zur hormonellen

4

Zuvor herrschte laut Lacquer (1990) das Ein-Geschlecht-Modell, in welchem der weibliche Körper als unvollkommene Version des Männerkörpers verstanden wurde.

5

Zum Beispiel wurden Homosexualität und Masturbation besonders als Krankheiten männlicher Körper problematisiert, da sie als solche nationale Projekte gefährdeten (vgl. Pantović 2013).

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Unterdrückung der Spermienproduktion statt. Inzwischen haben weltweit über 3.000 Testpersonen an klinischen Studien zum hormonellen Ansatz teilgenommen. Die kontrazeptive Effektivität konnte bewiesen werden: Die hormonelle Unterdrückung der Spermienproduktion erzielt einen vergleichbaren PEARL-Index6 wie die Pille. Auch die Reversibilität der Methode wurde gezeigt: Bei allen Probanden erreichte die Konzentration von Spermien im Ejakulat nach der Beendigung der Versuche die gleichen Werte wie vor der klinischen Studie.7 Nebenwirkungen wie Hautunreinheiten, Stimmungsund Gewichtsschwankungen waren jedoch bisher der Grund, warum die hormonelle Verhütungsmethode für den Mann* nicht zugelassen wurde. Diese Unannehmlichkeiten erinnern zu Recht an Nebenwirkungen der Pille. In einem Artikel der Zeitschrift Science erklärt der Autor, dass die Toleranzschwelle für Nebenwirkungen von Verhütungsmitteln bei Gebärfähigen höher sei, da diese für sie eine Schwangerschaft am eigenen Körper verhindern. Die Nebenwirkungen der Empfängnisverhütung werden dann in Kauf genommen, da Nebenwirkungen und Risiken einer Schwangerschaft vermieden werden (Kean 2012). Oudshoorn (2003) weist darauf hin, dass natürlich auch bei der Verwendung von männlichen Verhütungsmitteln medizinische Risiken einer Schwangerschaft vermieden werden. Neben der Schwierigkeit, die Sicherheit eines Kontrazeptivums für Männer* zu verhandeln, müssen sich Entwickler*innen auch gegen dominante Männlichkeitsstereotype durchsetzen. Campo-Engelstein (2013) findet drei zentrale Ideologien, durch welche relevante Akteur*innen, wie die Pharmaindustrie, geleitet werden und die schluss­ endlich zu einer Vernachlässigung der Forschungs- und Entwicklungsprojekte männlicher Kontrazeptiva führen: Zum Einen herrscht das Narrativ der unkontrollierbaren männlichen Libido, welches meist eingebettet ist in eine ‚spread the seed‘- vs. ‚hoard the eggs‘-Mentalität. Diese argumentiert biologistisch, dass Frauen von Natur aus selektiver und vernünftiger in der Auswahl von Sexualpartnern seien, während Männer ihre Triebe nur schwer kontrollieren und in Bezug auf Sex kaum rational handeln könnten (ebd., 285). Die zweite Ideologie handelt von der männlichen Inkompetenz in häuslichen Angelegenheiten. Sheldon Segal antwortete auf die Frage, wie Frauen wohl auf die Pille für den Mann reagieren würden, mit folgender imaginierter weiblicher Antwort: „Are you kidding? I can't

even trust him to take out the garbage!“ (Segal 2003, 130 n. Campo-Engelstein 2003, 290). Das dritte Narrativ beschreibt ­­­­Fruchtbarkeit als unbedingtes Kriterium für Männlichkeit und wird bevorzugt auf nicht-weiße, nicht-westliche Männer* angewandt. Diese Narrative zu Maskulinität füttern das Argument, dass einerseits Männer kein Interesse an Empfängnisverhütung hätten und andererseits Frauen ihren männlichen Partnern diese gar nicht anvertrauen würden. Dementsprechend gäbe es keinen Markt für männliche Langzeitverhütungsmittel; nicht in der westlichen Welt und schon gar nicht im globalen Süden. Eine Sprecherin der Gates Foundation, Kellie Sloan, begründet in einem Interview, warum die Stiftung nicht in die Entwicklung männlicher Kontrazeptiva investiert: „The science of contraception for men is less advanced, as is the proof of concept for men using contraception in the poorest countries of the world“ (Millikan 2015). Tatsächlich gibt es aber zahlreiche Belege dieser Art. Seit den 1980er Jahren werden Akzeptanzstudien durchgeführt, die zeigen, dass Männer* verschiedenster Hintergründe weltweit bereit wären, ein reversibles Langzeitverhütungsmittel zu benutzen (vgl. Heinmann et al. 2005). Ein weiteres, einflussreiches Narrativ, gegen welches sich Entwickler*innen männlicher Kontrazeptiva positionieren müssen, ist ein wissenschaftsinternes. Es besagt, dass es viel schwieriger wäre, den männlichen reproduktiven Körper daran zu hindern, fertil zu sein. Während im Frauen­körper lediglich eine Eizelle pro Monat ins Visier genommen werden muss, seien beim Mann Millionen von Spermien pro Ejakulat zu sabotieren. Dieses Argument wird von Wissen­ schaftler*innen, die an konkreten Forschungsprojekten zu männlicher Verhütung arbeiten, zurückgewiesen, da bei den Mechanismen der Empfängnisverhütung die Anzahl der Keimzellen keine Rolle spielt.8 Emily Martin zeigte bereits 1991 auf, wie stark Vorstellungen zu Gender die Darstellungen und Beschreibungen von Eizellen und Spermien in wissenschaftlichen Texten beeinflussen. Dabei wird die Eizelle als passiv und alternd, als Jungfrau in Not beschrieben und Spermien als aktiv, stark, und die Eizelle umkämpfend.9 Selbst wissenschaftliche Befunde, die zeigen, dass Eizellen die Spermazellen aktiv an sich binden und Spermien weder zielgerichtet schwimmen noch „aus eigener Kraft“ die Wand der Eizelle durchdringen können, konnten nichts an diesen Darstellungen ändern (Martin 1991).

6

Der PEARL-Index gibt die Effektivität von Methoden der Empfängnisverhütung an, indem er die Anzahl der sexuell aktiven Frauen* benennt, die bei Verwendung der jeweiligen Methode innerhalb eines Jahres schwanger werden.

7 Einige nicht-hormonelle Ansätze, wie beispielsweise das Verhütungsgel RISUG/Vasalgel, führten zu ähnlich positive Ergebnisse in klinischen Studien. Allerdings werden diese nicht-hormonellen Ansätze noch weniger finanziert und durch die relevante Akteur*innen beachtet. 8 Bei der hormonellen Verhütung z.B. wird im männlichen und weiblichen Fall dem Gehirn signalisiert, es seien genügend Sexualhormone im Blut (durch die Gabe von synthetisierten Gestagenen oder Androgenen), sodass das Gehirn die Produktion von Gonadotropin unterbricht. Dies führt in gleicher Weise zur Unterdrückung der Ovulation und zur Unterdrückung der Spermienproduktion. 9

Das “egg as damsel in distress, shielded only by her sacred garments [and] sperm as heroic warrior to the rescue” (Martin 1991, 491).

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Ausblick Die Konstruktion von Differenzen zwischen Mann und Frau in medizinischen und pharmazeutischen Diskursen und Praktiken ist keineswegs abgeschlossen. 2014 verabschiedete das US-amerikanische National Institute of Health die Vorgabe, in allen vorklinischen und Tierstudien eine ausgeglichene Anzahl an männlichen und weiblichen Zellen zu benutzen. Die Intention hinter dieser Maßnahme, Frauen* und Minderheiten in Gesundheitspolitiken einzuschließen, bleibt verfehlt, argumentiert die feministische Neurowissenschaftlerin Daphna Joel:

„[T]he formulation of this call in terms of a search for sex differences does not serve the aim of promo­ ting health for all, but is rather a reflection of a domi­ nant paradigm which assumes that males and females belong to two distinct categories and views sex al­ most exclusively through the lens of ‘sex differences’“ (Joel 2015, 4). Für Organisationen der öffentlichen Gesundheit stellt sich diese Differenzierung als Repräsentationsdilemma dar: Die Idee, Männern* kontrazeptive Autonomie zu verschaffen, steht im Widerstreit mit dem Mandat, Frauen*gesundheit zu vertreten. Es wird befürchtet, dass Frauen* Entscheidungsmacht verlieren würden, wenn sie Männern* gegeben wird. Seit Jahrzehnten wird in diesem Bereich schon erfolglos über eine angemessene Sprache verhandelt, um Männer* zu involvieren.10 Der Fokus auf Differenz statt Diversität wird auch in absehbarer Zukunft eine Legitimation männlicher Verhütungsmittel in medizinischen, politischen und ökonomischen Kontexten erschweren.

literatur _ Campo-Engelstein, L. (2012) “Contraceptive Justice: Why We Need a Male Pill”, American Medical Association Journal of Ethics 14/2: 146-151. _ Campo-Engelstein, L. (2013) “Raging hormones, domestic incompetence, and contraceptive indifference: narratives contributing to the perception that women do not trust men to use contraception”, Culture, Health & Sexuality – An International Journal for Research, Intervention and Care 15/3: 283-95. _ Djerassi, C. (2013) “I, a feminist father of the Pill, foresee no male Pill.” Wired Magazine, unter: http://www.wired.co.uk/magazine/ archive/2013/11/ideas-bank/carldjerassi [Stand: 03.01.2016]. _ Edwards, S. (1994) “The role of men in contraceptive decision-­ making – current knowledge and future implications“, Family Planning Perspectives 26/2: 77-82. _ Gu, Y., Liang, X., Wu, W., Peng, L., Cheng, L.F., Huang, M.K., Huang, Z.J. & Zhang, G.Y. (2009) “Multicenter contraceptive efficacy trial of injectable testosterone undecanoate in Chinese men”, The Journal of Clinical Endocrinology and Metabolism 94/6: 1910–5. _ Heinemann, K., Saad, F., Wiesemes, M., (2005). “Attitudes toward male fertility control – results of a multinational survey on four continents”, Human Reproduction 20/2: 549–556. _ Joel, D. (2015) “The NIH call to consider sex as a biological variable is conceptually 'captured' in the 'sex differences' paradigm”, Catalyst: Feminism, Theory, Technoscience 1/1: 1-12. _ Kean, S. (2012) “Reinventing the Pill: Male Birth Control”, Science 338: 318-320. _ Laqueur, T. (1990) Making Sex: Body and Gender from the Greeks to Freud, Harvard University Press, Cambridge. _ Lohiya, N.K., Alam, I., Hussain, M., Khan, S.R., Ansari, A.S. (2014) “RISUG: an intravasal injectable male contraceptive”, Indian Journal of Medical Research 140: 63-72. _ Martin, E. (1991) “The Egg and the Sperm: How Science Has Constructed a Romance Based on Stereotypical Male-Female Roles”, Signs 16/3: 485-451. _ Millikan, A. (2015) “The Perfect Birth Control for Men is Here. Why Can't We Use It?” Vice Motherboard, unter: http://motherboard. vice.com/read/the-perfect-birth-control-for-men-is-here-whycant-we-use-it [Stand: 21.01.2015]. _ Moscucci, O. (1990), The Science of Woman: Gynaecology and Gender in England 1800 – 1929, Cambridge University Press, Cambridge. _ Oudshoorn, N. (1994), Beyond the Natural Body: An Archeology of Sex Hormones, Routledge, London. _ Oudshoorn, N. (2003), The Male Pill: A Biography of a Technology in the Making, Duke University Press, Durham, N.C. _ Pantović, L. (2013) “Medicalization of Masturbation Travels East”, Pulse 1. _ World Health Organization, Task Force for the Regulation of Male Fertility (1990) “Contraceptive efficacy of testosterone-induced azoospermia in normal men”, Lancet 336: 955–9. _ World Health Organization, Task Force on Methods for the Regulation of Male Fertility (1996) “Contraceptive efficacy of testosterone-­induced azoospermia and oligozoospermia in ­ normal men”, Fertil Steril 65: 821–9.

10

Terminologien wie „Reproductive rights for men“ und „men's needs“ werden gegen „men's responsibility“ and „men as partners“ verhandelt.

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Adler oder Hühnchen? Differenzierungen an der Grenze Tijuanas Text Theresa Elze

I

n der Grenzstadt Tijuana scheppert laute Musik auf den Straßen. Sie dröhnt aus den hunderten Apotheken, die für den kleinen Grenzverkehr bestimmt sind, aus den Bars und aus den Autos. Nicht selten handeln die Lieder in den Radios von der Grenze, denn die Grenze gehört zu dieser Stadt wie die Brücken zu Venedig. „Fliegend wie der Adler und ungestüm wie ein Raubtier, fordere ich die Grenzen heraus!“, singt eine Kapelle mit dem Namen Los Tigres del Norte auf Spanisch. „Ich habe mein ganzes Leben lang andere Länder erkundet, denn ich wollte meinen Kindern ein besseres Morgen geben. Weil wir arbeiten wollen, bewachen sie die Grenze. Sie haben uns den Krieg erklärt, aber sie können uns nicht zähmen.“1 Diese Zeilen stammen aus einem Corrido dieser beliebten Kapelle aus der Grenzstadt. Heldengeschichten und Lieder wie dieses zeugen von dem Mut, den es erfordert, diese hochgerüstete und extrem gesicherte Grenze zu überqueren. Sie zeugen auch davon, wie die Grenze ihre eigenen HeldInnen schafft, die sich den strengen Regeln dieses Regimes entziehen. Die GrenzüberquererInnen

sehen sich häufig gar nicht als passiv und unterdrückt – im Gegenteil: Sie sehen sich als mutig und verwegen. In einer Bar unweit des Grenzübergangs im Rotlichtviertel Tijuanas2 begegnen sich jene, die nicht den Weg über den offiziellen Grenzübergang nehmen, sondern die versuchen, die Grenze „in den Bergen“ zu überqueren. Dort berichten Personen vorbehaltlos, wie oft sie die Grenze abseits der offiziellen Grenzübergänge überquert haben. „Ich bin bereits neunmal durch die Berge gegangen und ich warte auf die nächste Gelegenheit, es ein zehntes Mal zu versuchen“ berichtet Federico.3 Er erzählt seine Geschichten, ohne dass die Frage der Legalität oder der Illegalität für ihn eine Rolle spielt. Dabei zweifelt er nicht einen Moment daran, dass sein Gegenüber die Einwanderungsgesetze und die Regelungen am Grenzübergang ebenso sinnlos finde wie er selbst. Doch in den Berichten dieser Heldengeschichten dominieren die Gefahren. Personen, welche die Grenze „illegal“ überqueren, werden an der Grenze oft als pollos („Hühnchen“) be­ zeichnet, da sie den „Kojoten“, den Menschenschmugglern, manchmal schutzlos ausgeliefert sind.

1

Die Liedzeile stammt aus dem Lied „De Paisano a Paisano“. Der Liedtext kann unter folgendem Link nachgelesen werden: http://www.musica.com/letras.asp?letra=888441 (Letzter Aufruf 21.2.16).

2

Dieser Artikel beruht auf ethnologischer Feldforschung in Tijuana zwischen den Jahren 2010 und 2015. In diesem Zeitraum wurde die Grenze regelmäßig überquert und teilnehmende Beobachtung durchgeführt (vgl. Elze, 2015).

3

Tagebuchnotizen vom 11. November 2015.

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Sind die Adler, die von den Los Tigres del Norte als Held­ Innen des Grenzgebiets besungen werden und die Grenzen in diesem Bild einfach frei und fliegend überqueren können, vielleicht doch nur Hühnchen, die riskieren gefressen zu werden? Sie haben keine Flügel und müssen sich auf einen gefährlichen Weg begeben statt frei und grenzenlos durch die Lüfte zu fliegen. Es gibt demnach einen blinden Fleck in allen diesen HeldInnengeschichten. Sie ändern nichts an den Bedingungen auf beiden Seiten der Grenze und an den Statusfragen, die durch sie entstehen und die dazu führen, dass bestimmte Personengruppen ein extremes Risiko tragen, um die Grenze zu überqueren. Außerdem bestimmt dieses Risiko fortlaufend ihr Leben auf der anderen Seite der Grenze. Der Grenzübergang zwischen Tijuana und San Diego, zwischen Mexiko und den USA, zählt zu den größten Grenzübergängen der Welt. Täglich wollen tausende Menschen diese Staatsgrenze überqueren. Besonders streng verfahren die GrenzbeamtInnen, wenn jemand die Grenze in Richtung Norden, von Mexiko in die USA überqueren möchte. Die Grenze zwischen Mexiko und den USA verläuft zwischen zwei Staaten, die sehr unterschiedliche Regeln besitzen, wie das Sozialprodukt verteilt wird. Die US-mexikanische Grenze ist eine Wohlstandsgrenze, die den reicheren Norden vom ärmeren Süden trennt. Genau diese Unterschiede machen Grenzregionen so profitabel.4 Sie verwehren vielen Akteuren des Grenzgebiets den Zugang zu einer politischen Arena, in der die Distribution gesellschaftlicher Produkte erkämpft werden kann. Außerdem erfordern die Risiken, die die Menschen beim Überschreiten dieser Grenze eingehen, besondere persönliche Kontakte. Diese persönlichen Kontakte verlangen Loyalität, die wiederum die Arbeitsbereiche der papierlosen ArbeiterInnen durchdringen, denn sie führen dazu, dass diese noch härter arbeiten, ohne für die persönlichen Rechte als ArbeiterInnen eintreten zu können (vgl. Heyman, 2001: 134). Daher lässt sich festhalten, dass, auch wenn sich diese Personen mit ihren Grenzübertritten den offiziellen Regeln am Grenzübergang entziehen, sie jedoch von den Effekten betroffen sind, die diese Differenzierungen zwischen den Menschen am Grenzübergang erwirken. Mithilfe der Reisedokumente und entlang differenzierter Kategorien entscheiden die BeamtInnen hier jeden Tag darüber, ob Personen die Grenze überqueren dürfen oder ob ihnen die Einreise verwehrt bleibt. Welche Kriterien zur Differenzierung von Personen spielen dabei für die GrenzbeamtInnen eine Rolle? Welche Folgen haben diese Differenzierungen für soziale Zusammenhänge in den Grenzstädten und darüber hinaus? Die GrenzbeamtInnen haben eine doppelte Aufgabe: Sie müssen einerseits die Zirkulation von Kapital unterstützen

und vereinfachen und andererseits die Grenzsicherung erhöhen (Muriá & Chavez, 2011: 360). Um beiden Tendenzen der aktuellen Grenze gerecht zu werden, differenzieren sie zwischen den Menschen, welche die Grenze überqueren (ebd.). Den BeamtInnen am Grenzübergang bleiben durchschnittlich 45 Sekunden, um ihr Gegenüber einzuschätzen und es mithilfe verschiedener Kategorien einzuordnen. Haben sie eine Person vor sich, wird nach den Dokumenten gefragt, diese werden eingescannt. Sie sehen der Person unvermittelt in die Augen, fragen sie nach dem Grund der Reise und ob sie etwas mit sich führe. Manchmal stellen GrenzbeamtInnen eine weitere unerwartete Frage oder machen einen Witz. Sie versuchen so die Situation etwas zu verändern und damit die Nerven der Reisendenden zu testen (vgl. Heyman, 2001: 689). Nun wägen die GrenzbeamtInnen auf der Grundlage der Einwanderungsgesetze ab, ob sie die Person durchlassen, sie der sogenannten zweiten Revision zuführen oder sie im schlimmsten Fall verhaften. Letzteres wird anhand der Gültigkeit von Papieren entschieden. Die Schablone für die Differenzierung bilden jedoch neben den Einwanderungsgesetzen, die sich in den Einreisepapieren dokumentiert, sogenannte „verdeckte Kategorien“ (vgl. ebd.: 131). Zu diesen Kategorien zählen vor allem Klassenzuschreibungen – so wird zum Beispiel zwischen KonsumentInnen und ArbeiterInnen unterschieden – und rassistische Kategorien (ebd.). Letztere Kategorien bestimmen das Racial Profiling – eine vielfach angewandte Strategie in der Sicherung der Grenze. Obwohl das Grenzregime am Grenzübergang mit einer ganzen Reihe an legalen Kategorien und entsprechenden Dokumenten operiert und damit einen hochspezialisierten schwer zu durchschauenden bürokratischen Apparat benötigt, scheinen doch immer wieder die gleichen Differenzen und Klassifizierungen die Entscheidung zu beeinflussen, ob jemand ungehindert passieren darf. Die umfangreichen Einwanderungsgesetze werden durch diese verdeckten Kategorien beeinflusst. Während in der bürokratischen Regelung des Grenzübergangs eine Vielzahl verschiedener Dokumente ausgestellt werden, mit denen die Grenze in unterschiedlichen Geschwindigkeiten überquert werden kann – führen die verdeckten Kategorien zu einer einfachen Polarisierung zwischen einer privilegierten Gruppe und einer unterprivilegierten Gruppe. Diese fortschreitende Polarisierung zwischen den Reisenden hat Auswirkungen auf die öffentlichen Bereiche und die soziale Landschaft der Grenzregion und darüber hinaus. Die Schlange am Grenzübergang gehört zu einem der wichtigsten öffentlichen Orte in Tijuana. Die Wartenden nutzen die Zeit, um über die Wartezeiten zu diskutieren, über Politik oder über Einreisebestimmungen. Da die Sonne fast jeden Tag in der niederkalifornischen Stadt scheint, ist nicht das Wetter das beliebteste alltägliche Thema unter

4 Die derzeitige Beschaffenheit der Grenze ist vor allem Ergebnis von NAFTA, dem Freihandelsabkommen von 1994. Im Zuge dieses Abkommens wurde die Grenze ökonomisch weiter geöffnet, gleichzeitig aber mit der sogenannten Operation Gatekeeper, die im selben Jahr stattfand, auch zu einer nahezu unüberwindbaren Barriere hochgerüstet (vgl. Nevins, 2002).

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den Wartenden, sondern die Wartezeiten und wie sie sich entwickeln. Cristina steht in der Schlange und berichtet, dass eine ihrer Bekannten letzte Woche vier Stunden am Grenzübergang gestanden habe und dass die Wartezeiten sich in letzter Zeit sehr verlängert hätten.5 Unter den Wartenden befindet sich aber auch immer die unauffällige, bangende Gruppe von Menschen, deren Grenzüberquerung eine große Unsicherheit darstellt, die sich nicht sicher sind, ob sie nicht aufgehalten werden. In der Schlange am Grenzübergang passiert dabei schon die erste große Differenzierung unter den Wartenden. Meistens ist das Überschreiten der US-mexikanischen Grenze am Grenz­ übergang zwischen Tijuana und San Diego mit längerem Warten verbunden. Es kann zwischen 25 Minuten und vier Stunden dauern, je nach Tages- und Jahreszeit. Doch mit diesen Wartezeiten ist nur der unmittelbare Grenzübertritt ermessen. Die Beschaffung eines Visums oder irgendeines Dokuments, das jemandem die Einreise gewährt, kann Monate oder Jahre dauern. Für manche bleibt nur der „Weg durch die Berge“ abseits der offiziellen Grenzübergänge. Denn die erste und wohl wichtigste Differenzierung, welche die GrenzbeamtInnen unter den Menschen vornehmen, die eine Grenze überqueren, ist jene zwischen StaatsbürgerInnen und AusländerInnen oder auch legalen Grenzübertritten und illegalen Grenzübertritten. In der Tijuana manifestiert sich diese Differenzierung auch in räumlichen Kategorien. Überquert jemand die Grenze im Zentrum der Stadt und stellt sich ordnungsgemäß in eine Schlange, um bei den GrenzbeamtInnen seine Einreisedokumente vorzulegen oder überquert jemand abseits der Öffentlichkeit die Grenze „durch die Berge“ und hält sich dabei versteckt von Kontrollpunkten und Straßen. Dann sind Kontaktpersonen nicht GrenzbeamtInnen, sondern die „Kojoten“, die ihre teuren Dienste als professionelle GrenzüberquererInnen anbieten. Doch auch am Grenz­ übergang selbst wird diese wesentliche Differenzierung virulent. Bei dem stundenlangen Warten in der Schlange am Grenzübergang werden einzelne Personen aus der Schlange heraus verhaftet. Häufig werden Verhaftete an der Schlange entlang abgeführt oder aber sie müssen mit Handschellen an der Schlange warten, bis sie abgeführt werden. Auch der Grenzübergang wird für den illegalen Übertritt genutzt. Dadurch, dass die Grenze heute abseits der großen Grenzübergänge so stark gesichert ist, wird der offizielle Grenzübergang wieder vermehrt für den illegalen Übertritt genutzt. Falsche Dokumente sind ein Mittel, diesen Weg zu meistern. Eine weitere, aber inzwischen zu gefährliche, Strategie war es zum Beispiel in der Nacht ganz ohne Dokumente über die Grenze zu fahren in der Hoffnung von übermüdeten GrenzbeamtInnen durchgewinkt zu werden. Werden sie dennoch gefragt, können sie immer noch angeben, dass sie ihre Dokumente vergessen haben. Das wichtigste und häufigste Dokument, das hingegen für

5

die legale Einreise benutzt wird, ist das Laser Visum. Die Grenzgebietsforscherin Rihan Yeh beschreibt, wie wichtig dieses Dokument für die lokale Öffentlichkeit der Bewohner des Grenzgebiets ist (Yeh, 2009a und 2009b). Es wird zum bestimmenden Dokument für die sogenannte „reisende Öffentlichkeit“. Yeh beschreibt, wie das Dokument und die erweiterte Öffentlichkeit, die daran geknüpft ist, eine soziale Differenzierung verdeutlicht, die durch die Grenze beeinflusst wird (ebd.). Die Schlange am Grenzübergang gehört den Personen mit einem sicheren Status und legalen Dokumenten. Denjenigen ohne offiziellen Status – den „illegalen GrenzüberquererInnen“ – gehören die entlegenen „Berge“ (ebd.). Obwohl die Mehrzahl der Menschen die Grenze legal überquert – angeblich sind 97% der Grenzübertritte legal (vgl. Murìa & Chavez, 2011: 356) – hat dieses Verhältnis nichts mit der Reichweite der Auswirkungen der Maßnahmen zur Grenzsicherung zu tun. Es sind viel mehr als nur die verbleibenden drei Prozent, die mit illegalen Übertritten assoziiert werden. Denn um diese drei Prozent zu kontrollieren, werden weitreichende Kategorien und Differenzierungen geschaffen, große Personengruppen und ganze Stadtteile überwacht. Die Gruppe derjenigen, die verdächtigt werden zu den drei Prozent zu gehören, ist daher viel größer. Dieses Beispiel macht deutlich, dass Differenzierung immer auch eine Verallgemeinerung ist. Die Klassifizierung von Menschen als potentielle „GrenzverletzerInnen“ wird an bestimmte Personengruppen aufgrund rassistischer Kategorien (Racial Profiling) und aufgrund von Klassenzuschreibungen angeheftet. Seit der „Krieg gegen den Terror“ auch an der Grenze geführt wird, ist die Ermittlungsarbeit mithilfe rassistischer Kategorien mehr und mehr zu einer legitimierten Strategie in der Arbeit der BeamtInnen des Grenzschutzes avanciert. Racial Profiling bedeutet, dass einer bestimmten Gruppe konkrete Eigenschaften zugeschrieben werden. In der Profilbildung des „Latino“ und der „Latina“ werden Personen, die in den Augen der BeamtInnen des Grenzschutzes „typisch mexikanisch“ aussehen mit illegalen Einwanderern gleichgesetzt. Diese rassistische Strategie in der Überwachung der Grenze beruht auf visuellen Eindrücken und wird daher sehr gut von neuen Überwachungstechnologien ergänzt. Diese Strategie wird nicht nur am Grenzgebiet angewendet, sie wird auf das gesamte Grenzgebiet ausgeweitet (Goldsmith & Romero, 2008: 130). Durch das Racial Profiling entstehen exklusive Räume. Bestimmte Stadtgebiete werden aufgrund rassistischer Kategorie bestimmten Personengruppen zugeordnet. Hält sich ein „Latino“ oder eine „Latina“ zu bestimmten Zeiten in Vierteln auf, die vornehmlich von „Weißen“ bewohnt werden, wird sie mit hoher Wahrscheinlichkeit

Tagebuchnotizen vom 12.November 2015.

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kontrolliert. Aufgrund ihrer äußeren Erscheinung gilt die verdächtige Person nicht als dazugehörig zu dieser städtischen Umgebung. Zudem patrouillieren die Beamtinnen des Grenzschutzes häufiger in den städtischen Gebieten, in denen viele „Latinos“ und „Latinas“ leben (ebd.: 133). Auch wenn die äußere Erscheinung wesentlich für das Racial Profiling ist, spielt auch die Sprache für diese Profilbildung eine Rolle. Am Grenzübergang werden die Fragen auf Englisch gestellt. Bei der Antwort des Befragten wird der Agent des Grenzschutzes nicht nur auf den Inhalt achten, sondern auch darauf, wie gut sein gegenüber die englische Sprache beherrscht (vgl. ebd.: 137). Die starke Verallgemeinerung von „Latinos“ und „Latinas“ als illegale Einwanderer zeigt sich darin, dass durch Racial Profiling auch jene identifiziert und kontrolliert werden, die in den USA geboren sind und die US-amerikanische Staatsbürgerschaft besitzen (ebd.: 139). Im Gegensatz dazu kann es am Grenzübergang passieren, dass „weiße“ US-Amerikaner, die ihre Dokumente in Mexiko verloren oder vergessen hatten, die Grenze auch ohne diese passieren durften. Darin zeigt sich, wie die Statusdifferenzen aufgrund von rassistischen Vorannahmen auf eine größere Gruppe übertragen werden.

vorzubeugen keine Gehaltsabrechnungen bei sich tragen, die verraten könnten, dass er oder sie in den USA arbeitet (Muríà & Chavez, 2011: 363). Schließlich argumentieren auch Murià und Chavez, dass eine derartige Differenzierung zwischen den Reisenden in ArbeiterInnen und KonsumentInnen in ein erweitertes Regime einer räumlichen und sozialen Trennung nach rassistischen Kategorien und nach Klassen einfließt (ebd.: 359). Die Arbeit am Grenz­ übergang erfolgt zunehmend mit Überwachungstechnologie. Mit dieser wird kartographiert, wo in der Stadt welche GrenzüberquererInnen leben, wo die KonsumentInnen und wo die ArbeiterInnen. Marketingagenturen orientieren sich an diesen Daten und versuchen, Datenbanken zu erstellen, die sich die Informationen der Grenzsicherung zu Nutze machen. Die Vermarktung von Immobilien wird etwa zunehmend von derartigen Daten beeinflusst (ebd.: 370). Letzteres kann als Beispiel dafür betrachtet werden, wie eine verdeckte Kategorie am Grenzübergang die soziale Geographie der Stadt unmittelbar beeinflusst und wie die ursprünglichen legalen Kategorien auf eine ganze Reihe weiterer Differenzierungen übertragen werden, die dann das Grenzgebiet strukturieren.

Ist der oder die Reisende in der Schlange bis zum Schalter vorgerückt, wird er oder sie nach den Beweggründen der Reise gefragt. Dabei gibt es zwei Gründe, auf die sich die Fragen der GrenzbeamtInnen fokussieren und die die Komplexität aller anderen Beweggründe simplifizieren: Will die Person einkaufen und Geld in den USA investieren oder will sie die Grenze überqueren, um dort zu arbeiten und Geld zu verdienen? Gehört sie der Mittelklasse an oder ist sie Teil der Arbeiterklasse? Um die Grenze zum Einkaufen zu überqueren reichen einfache Visa. Eine Arbeitserlaubnis zu bekommen ist jedoch sehr schwer. Diese werden nur nach sehr strengen Kriterien vergeben und der Antragsprozess ist langwierig und kostspielig. Letzteres führt dazu, dass das grenzüberschreitende Pendeln in Illegalitätsverdacht geriet (Muríà & Chavez, 2011: 357). Doch nicht nur die Antwort auf die Frage nach dem Grund der Reise hilft GrenzbeamtInnen abzuwägen, warum die betreffende Person die Grenze übertritt. Die BeamtInnen nehmen auch andere optische Merkmale in Augenschein und fragen sich z.B. ob ihr oder sein Kleidungsstil eher der Mittelklasse oder eher der Arbeiterklasse entspricht (vgl. Heyman, 2001).6 Beim häufigen Überqueren der Grenze wird der vereinfachende Blick der GrenzschutzbeamtInnen in der Beurteilung der Personen deutlich. Es lässt sich leicht erahnen, wer Probleme bekommen und der zweiten Revision unterzogen wird. Personen, die in Arbeitsbekleidung in der Schlange stehen, werden mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit einer zusätzlichen Kontrolle unterzogen. Auch sollten GrenzüberquererInnen um Problemen

Die Differenzierung zwischen Personen, die die US-mexikanische Grenze überqueren wollen, macht deutlich, wie Grenzen auch in den Zeiten zunehmender Globalisierung und Mobilität noch immer ausgrenzen und eingrenzen. Selbst wenn eine Person erfolgreich den abenteuerlichen Weg über die Grenze „durch die Berge“ abseits der offiziellen Wege nimmt, wird sie auf der anderen Seite mit den Auswirkungen der Grenze konfrontiert und kann ihr nicht entkommen. Es scheint unmöglich geworden zu sein, die Grenze einzureißen, um etwas an dieser Situation zu ändern. Wenn möglichst viele Personen die Grenze auf verschiedenen Wegen überqueren, den Grenzübergang überwindend oder die Grenze jenseits der Grenzübergänge, „durch die Berge“, überschreitend und sich dabei verbündend, dann kann sich die Grenze mit der Zeit strukturell verändern und offener werden. Auch die Bedingungen auf beiden Seiten der Grenze werden sich dann verändern. Insofern sind auch die Hühnchen Helden, weil sie bereits dabei sind, tatsächlich zu Adlern zu werden.

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An dieser Stelle spielen für die GrenzbeamtInnen auch das Geschlecht und das Alter eine Rolle. Diese beiden Kategorien habe ich aus Platzgründen jedoch vernachlässigt. Insgesamt sind die Kategorien der „Klasse“ und die rassistischen Kategorien bestimmender für die sozialen Zusammenhänge der Grenze. Geschlechterkategorien sind jedoch auch bedeutend: Frauen benutzen zum Beispiel häufiger als Männer den Grenzübergang für illegale Grenzübertritte, da der „Weg durch die Berge“ immer gefährlicher geworden ist. Über diese Tendenz sind sich auch die GrenzbeamtInnen bewusst und sie beeinflusst ihre Entscheidungen.

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literatur _ Chavez, S. & M. Murìa (2011), „Shopping and Working in the Borderlands: Enforcement, Surveillance and Marketing in Tijuana, Mexico”, in Surveillance & Society 8(3). pp. 355-373. _ Elze, T. (2015), Die gefeierte Linie. Rituale und Komplizenschaft an der US-mexikanischen Grenze. Transcript: Bielefeld. _ Goldsmith, P. R. & M. Romero (2008), „‚Aliens‘, ‚Illegals‘ and Other Types of ‚Mexicaness‘: Examination of Racial Profiling in Border Policing.“, in Hattery, A. J.; D. G. Embrick & E. Smith (ed.), Globalization and America: Race, Human Rights, and Inequality, Lanham, Maryland, pp. 127-142. _ Heyman, J. McC. (2001), „Class and Classification at the U.S.-Mexico Border“, in Human Organization 60 (2), pp. 128–140. _ Nevins, J. (2002), Operation Gatekeeper. The Rise of the ‚Illegal Alien‘ and the Making of the U.S.-Mexico Boundary. Routledge: New York. _ Yeh, R. (2009a), „‚We’re Mexican Too‘: Publicity and Status at the International Line“, in Public Culture 21 (3), pp. 465-493.

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Foto: 0x11B / photocase.de

_ Yeh, R. (2009b), Passing: An Ethnography of Status, Self and the Public in a Mexican Border City. University of Chicago: Chicago.

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Spielend spiegeln am Beispiel von „Papers, Please“ – Der Umgang mit dem Fremden in einer ethno­ grafischen Simulation Text Gerrit Retterath & Alessandro Tietz

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B

ereits im Jahr 2013 erschien das von Lucas Pope entwickelte Videospiel Papers, Please. Hier wird die freiwillig spielende Person nach einer kurzen Einführungssequenz – „Congratulations. The October Labor Lottery is complete. Your name was pulled“ (Papers, Please 2013) – in die unfreiwillige, zugeloste Rolle eines Inspector of the Ministry of Admissions (M.O.A.) des fiktiven Staates Arstotzka geworfen und findet sich damit auf der kontrollierenden Seite eines Grenzpostens wieder.

Die Aufgabe dieses Inspektors ist es, anhand der fast täglich geänderten Arstotzka'schen Richtlinien der Grenzpolitik (vermerkt in dem M.O.A.'s Official Bulletin) und der von einreisewilligen Personen1 vorgelegten Dokumente über deren Einreise zu entscheiden. Das täglich2 wechselnde Narrativ des geforderten Umgangs mit Fremdheit, von „Entry is restricted to Arstotzkan citizens only. Deny all foreigners“ über „Entry for non-citizens is now regulated. ­­­All foreigners require a valid entry ticket.3“ bis zu „A search scannersystem has been installed in your booth, Kolechian extremists are supected in yesterday’s bombing. Search all Kolechians before approving their entry.“ (Hervorhebung ­­ durch die Autoren)4, wird für den*die Spieler*In zur Herausforderung. Die vom Spiel vorgegebenen Narrative der Fremdheit und die damit verbundene Notwendigkeit der Einordnung der Antragsteller*Innen sollen das Haupt­ thema dieses kurzen Artikels werden: Wie wird Andersheit im Spiel erzählt und dargestellt und wie konstruiert das Spiel hiermit die wortwörtlichen Spielräume der grenzkontrollierenden Person? Um diese Fragen zu beantworten, scheint es hilfreich zu sein sich zunächst einige Grundelemente von Spiel(en) zu vergegenwärtigen.

„Ihre Papiere bitte!“ – Der Spielraum In Spielen stellt sich der*die Spieler*In einem artifiziellen Konflikt, also einem oder mehreren erst durch das Spiel geschaffenen Hindernissen (vgl. Freiwilligkeitscharakter des Spiels bei Huizinga 1956). Das Spielerische besteht also darin, sich einer konkret gegebenen, aber lediglich spielinhärenten Aufgabe auszuliefern. Die Herausforderung in Papers, Please ist der Konflikt zwischen der akkuraten Überprüfung der vorgelegten Dokumente im Angesicht drohender Strafen bei Fehlentscheidungen und dem Zeitdruck, der aufgrund der Bezahlung pro „korrekt“ durch die Grenze gelassene Person entsteht. Ist diese Bezahlung zu gering, sei es aufgrund von langsamem Spielen oder Bußgeldern für „Fehlentscheidungen“, muss der Inspektor mit Nachteilen für seine Familie rechnen, welche dann mangels finanzieller Mittel unter einer

ausfallenden Heizung, Nahrungsmangel und Krankheiten zu leiden hat. Neben den ludologischen Momenten (z. B. den Spielregeln) finden die Spieler*Innen sich im Spiel auch in ein Narrativ, in das Thema des Spiels eingebettet, welches je nach Genre oder Spielinteresse der jeweiligen Person ignoriert bzw. gefördert, also in das Spielen eingebettet werden kann. Das Aufgreifen oder Fallenlassen von angebotenen Narrativen in Kopplung mit den Spielmechanismen wirkt sich unterschiedlich auf das Spielerlebnis aus. Papers, Please bietet dem*der Spielenden neben dem spielerischen Hindernis (der Bedienung des Grenzschalters, der Stempel etc.), ein Narrativ, das das Spiel(en) transzendiert und an einen Themenkomplex außerhalb der Spielsphäre anknüpft (vgl. den Arenabegriff bei Strauss 2010: 226f.; auch das Plädoyer für ein Eingebettet-Sein der Spielwelt in andere soziale Welten bei Lehdonvirtha 2010). Beschäftigt man sich aktuell mit Papers, Please, wird man unvermeidlich an die Debatten zum Umgang mit Flüchtlingen erinnert, wodurch das Spiel über seine Grenzen hinaus an Reichweite gewinnt. Die hier und dort stattfindende Konstruktion von Fremdheit am Scharnier der Grenze, die häufig dem Leitnarrativ der Krise folgt, wird im Spiel(en) für den*die Spieler*In somit auf eine konkret erlebbare Ebene gehoben. Während im alltäglichen Reden über diese Narrative der Fremdheit ein Umgang mit dem selbigen erwartet wird, welcher stark an die sozialen Erwartungen der jeweiligen Diskussionsumfelder geknüpft ist und von diesen sanktionierbar ist, ermöglicht das Spiel Papers, Please einen „freieren“ (d. h. spielerischen) Umgang mit dem Thema. Diese Sichtweise auf das Spiel soll hier an den die Idee des „lusory attitude“ (Salen und Zimermann 2004: 574; in Anlehnung an Bernard Suits) anknüpfen. Gemeint ist damit ein „state of mind whereby game players consciously take on the challenges and obstacles of a game in order to experience the play of the game itself. Accepting the artificial authority of the magic circle, submitting behavior to constraints of rules in order to experience the free movement of play, is a paradoxical state of mind” (ebd.; Hervorhebung durch die Autoren). Dieses Paradox der Freiheit-durch-Unterwerfung ist es, welches es dem*der Spieler*In erlaubt, die Situation und die von ihr mitgebrachten Verhaltensoptionen spielend zu spiegeln und zu erfassen. Dabei folgt die spielende Person der Logik der „lusory attitudes“ und erkennt für den Moment des Spiel(en)s die Spielregeln als vordergründig an. Auf dieser Ebene befreit sie sich von den Erwartungen anderer sozialer Systeme, es ist sogar im Rahmen des Spiels vollkommen in Ordnung, gegen diese Erwartungen zu handeln.

1

Hierbei handelt es sich um Non Player Characters (NPCs), d. h. um geskriptete Charaktere, die vorgeschriebene Rollen erfüllen sollen.

2

Das Spiel ist in Runden (Tage genannt) aufgeteilt.

3

Eine Übersicht aller Anforderungen der einzelnen Tage kann auf http://papersplease.wikia.com/wiki/Official_bulletin nachgelesen werden.

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Wenn die Vertreter*Innen dieser außerhalb des Spiels liegenden sozialen Welten nicht anwesend sind, finden Sanktionen nur innerhalb des Spiels statt (z. B. verhängt das M.O.A. Bußgelder). So können sie Blickwinkel einnehmen, die außerhalb der Spielwelt verpönt sind und diese Positionen spielend spiegeln. Während eine alternative Meinung im Alltag erst erkämpft, also mit anderen ausgehandelt werden muss, ist die Aushandlung im Spiel und mit dem Spiel selbst weniger konsequenzenreich, da sie im Schutzraum Spiel(en) stattfindet (vgl. auch Huizinga 1956). Hier greift die Freiheit der Spielendenrolle: Dadurch, dass Papers, Please ein Single-Player Spiel ist (und somit erst im Darüber-Reden mit anderen soziale Relevanz erfährt), wird das Auftreten der spielenden Person nicht durch ihre Entscheidungen vor den Anderen kompromittiert. Sie handelt die Narrative der Fremdheit abseits der Agenten der sozialen Erwartungen aus. Ein Spiel kann zwar als eine Form von geskriptetem Agent gelesen werden, dieser hat aber nur Sanktionspotenzial innerhalb der Spielsphäre (vgl. der Begriff des Zauberkreises in Huizinga 1956). So kann der*die Spielende verschiedene Narrative erleben und erspielen und hat lediglich mit Sanktionen auf der Ebene des Ludus zu rechnen. So ermöglichen die verschiedenen Simulationen der Narrative im Spiel eine Freiheit im Umgang mit denselben, die im Alltag so nicht gegeben scheint.

beispielsweise der Gültigkeit des Passes, den mitgeführten zusätzlichen Dokumenten, den Angaben zum Reisegrund, die mit dem Visum übereinstimmen müssen etc. Diese sind, wie die Gültigkeit der Unterlagen, teilweise recht eindeutig zu kontrollieren, teilweise jedoch auch Auslegungssache (z. B. das Erkennen des Geschlechts4). So gibt es beispielsweise für die Diskrepanz zwischen dem Aussehen einer Person, das sie der spielenden Person vor dem Schalter präsentiert, und dem Passfoto auch fernab einer Fälschung Gründe wie Personen im Spiel selbst mitteilen: „The years have been cruel“. Parallel bietet das Spiel neben den Aussagen der Personen, die als Argument im Spiel selbst keinerlei Gültigkeit besitzen, die Möglichkeit der „tatsächlichen“ Überprüfung der Merkmale an. Fällt einem*einer Spieler*In eine mögliche Diskrepanz auf, kann er*sie zwei Punkte markieren (z. B. Spieltagesdatum und expiration date des Passes) und über einen Interrogate-Knopf weiter Fragen stellen, Fingerabdrücke anfordern etc. Dieser vermeintliche Fokus auf Fakten stößt jedoch auch an seine Grenzen. Trotz vorhandener Optionen der eindeutigen Überprüfung verweist uns das Spiel zurück in die Pragmatik: Wir müssen uns entscheiden; und das am besten schnell. Hier herrscht ein permanenter Zwang zum Umgang mit der Fremdheit und damit ein Zwang zur Einordnung. Die antragsstellende Person, vertreten durch ihren Reisepass, wird von der spielenden Person als gewollt oder ungewollt in Arstotzka abgestempelt (s. Bild 2).

Prüfen, Einordnen und Stempeln

Bild 1: Gesichter in Papers, Please

Als Dreh- und Angelpunkt innerhalb von Papers, Please zeigt sich die mehr oder weniger angemessene Einordnung der gegenüberstehenden Fremden anhand der Vorgaben durch das Ministry of Admissions. Dieses fremde Andere tritt uns in Papers, Please mit einem konkreten Gesicht in Form von Einreisewilligen am Grenzschalter gegenüber ­ (s. Bild 1). Man sieht die Personen, erhält in den meisten Fällen ihre Dokumente zur Überprüfung und ist sogar in der Lage, mit ihnen zu sprechen, wenn auch nur auf denkbar funktionell-bürokratische Weise. Die Überprüfung geschieht dann anhand einer Vielzahl von Variablen, wie

Diese Einordnung kann mit Rückgriff auf Zygmunt ­ aumans klassische Definitionen des Fremden, als B „(vielleicht das wichtigste, das archetypische) Mitglied der Familie der Unentscheidbaren“ (Baumann 2005: 95; vgl. auch ebd. 2000: 79) und als eine somit äußerst wackelige Konstruktion beschrieben werden. Denn, wohingegen beispielsweise eine Einordnung in das Muster „Freund/Feind“ mehr oder minder strukturierte Umgangsweisen mit dem Gegenüber vorgibt, entzieht sich die Sozialfigur des Fremden als Quell der Unsicherheit einer genau solchen Einordnung und befindet sich dementsprechend außerhalb der Unterscheidung von Innen und Außen (Bauman 2005: 92ff). „Der Fremde ist per definitionem ein Akteur, der

4 Bemerkenswert ist, dass die Ambivalenz der geschlechtlichen Einordnung keineswegs vom Macher des Spiels Lucas Pope beabsichtigt war, wie dieser im Interview mit Pixelenemy betonte: „Even though I’m more interested in the gameplay aspects, there’s a lot of political stuff going on in the game and it’s hard to predict how it’ll be interpreted and by who. […] What I didn’t predict is that having wrong sex listed on the passport pushes the game into commentary about gender issues. I’m guessing there’s probably a few other things like that where I’m unintentionally referencing something that’s an important issue for many people” (Pope im Interview mit Pixelenemy 2013).

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mit gegebenen Rahmen-Bedingungen umgehen muss und innerhalb dieser Rahmen Spielräume (!) besitzt.

Bild 2: Stempel

von Absichten geleitet wird, über die man bestenfalls spekulieren, bei denen man sich jedoch nie ganz sicher sein kann, sie erfasst zu haben“ (Bauman 2008: 128). Dies führt, sowohl in der Logik Baumans (ebd. 2005: 94) wie auch in der von Papers, Please, zu einer Objektivierung des Gegenübers: Die Selbstbeschreibungen des befragten Gegenübers („It must be a mistake. The documentis valid.“ oder „Check again.“) können im Angesicht des automatischen Abgleichs der im System (dem erwähnten Interrogate) abgefragten Fakten nicht standhalten und müssen auf der Spielebene überhört werden. Man kann den Leuten nur vor die Köpfe gucken – sich auf die Entscheidung des Geräts zu verlassen sichert hingegen zumindest das bußgeldfreie Weiterspielen. Anstelle moralischer steht im Narrativ Papers, Please zunächst bürokratische Richtigkeit im Zentrum. Die dem*der Spieler*In durch das Narrativ zugewiesene Rolle des Inspektors zwingt ihn*sie zu einer Einordnung. Gemäß der Annahme, man möchte das Spiel durchspielen, bleibt für moralische Handlungen wenig Platz: Eine gewisse Anzahl an Personen mit „falschen“ Dokumenten pro Tag kann man sicherlich passieren lassen, für das Weiterkommen im Hauptteil des Spiels ist es jedoch nötig, die vorgegebenen Kriterien der Kontrolle umzusetzen.5

Ausblick: Papers, Please als ethnografische Simulation Das Spiel zwingt folglich auch sozialwissenschaftlich ungeschulte Spieler*Innen zu einer simuliert-ethnografischen Immersion. Als eigentlich Feldfremde*r unterwirft man sich den Zwängen der sozialen Situation, um die Situation selbst erfassen zu können (vgl. Dellwing & Prus 2012: 53). Täte man es nicht, hörte man auf zu spielen. Indem man mitspielt, übernimmt man als Spieler*In die Sichtweise und damit auch die möglichen Sorgen des Charakters. Durch diese Rollenübernahme sind die Zwänge, d. h. möglichen Erwartungen verschiedener Gruppen der Spielnarration (z. B. Familie) für den Spieler konkret erlebbar. Herausforderungen und Zwänge der simulierten Situation spürt man so am eigenen Leib. Als Spieler*In muss man sich im Rahmen des Spiels zwangsläufig der „sozialen“ Situation der Passkontrolle ausliefern. Im Spiel(en) kann man in hohem Maß nicht anders, als der Richter am Schalter zu sein, der

Die spielende Person wird in eine sozial relevante Entscheidungssituation versetzt, in welcher sich außerhalb der Welt des Spiels so gut wie niemand gerne wiederfinden möchte. Das Spiel(en) schafft auf diese Weise eine erfahrbare Vielschichtigkeit der Situation, in der man zwischen oder mit den Extremen des Umgangs mit Fremdheit (d. h. offene oder verschränkte Arme) spielen muss und lädt so zu einem inneren Dialog mit dem sozialen Rollen-Repertoire der Spieler*Innen ein.6 Im Hinblick auf eine mögliche Kritik der Zustände heißt das aus der hier eingenommenen soziologischen Perspektive: „Don’t hate the player, hate the game“ – was ein Beenden des Spiels nicht ausschließt.

literatur _ Bauman, Z. (2008), Flüchtige Zeiten. Leben in Ungewissheit, Hamburger Ed, Hamburg. _ Bauman, Z. (2005), Moderne und Ambivalenz. Vom Ende der Eindeutigkeit, Hamburger Ed, Hamburg. _ Bauman, Z. (2000), Vom Nutzen der Soziologie, Suhrkamp, Frankfurt am Main. _ Dellwing, M. und R. Prus (2012), Soziologie im Außendienst. Einführung in die interaktionistische Ethnografie, VS-Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. _ Eigmüller, M. und G. Vobruba (Hrsg.) (2006), Grenzsoziologie – Die politische Strukturierung des Raumes, VS-Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. _ Huizinga, J. (1956), Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel, Rowohlt, Hamburg. _ Lehdonvirtha, V. (2010), “Virtual Worlds Don’t Exist. Questioning the Dichotomous Approach in MMO Studies”, in: The Internatinal journal of Computer Game Research 10/1. [Digitale Fassung] http://gamestudies.org/1001/articles/lehdonvirta (letzter Zugriff: 15.01.2016). _ Papers, Please (2013), Papers, Please Homepage. [Digitale Fassung] http://papersplea.se (letzter Zugriff: 15.01.2016). _ Perkins, C. (2006), „Der tägliche Trott – Aus dem Leben eines Immigration Officer an der Grenze zwischen den USA und Mexiko“, in: Eigmüller, M. und G. Vobruba (Hrsg.): Grenzsoziologie – Die politische Strukturierung des Raumes, VS-Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. _ Pixelenemy(2013), ‘Papers, Please’ developer Lucas Pope talks about his thriller immigration game and more. [Digitale Fassung] http://pixelenemy.com/papers-please-developer-lucas-popetalks-about-his-thriller-immigration-game-and-more/ (letzter Zugriff: 15.01.2016). _ Salen K. und Zimmerman, E. (2004), Rules of Play, MIT Press, Cambridge. _ Strauss, A. (1993), Continual Permutations of Action, De Gruyter, New York.

bildnachweise _ Bild 1: Gesichter in Papers, Please. [Digitale Fassung] Zusammenschnitt aus http://papersplease.wikia.com/wiki/Entrant (letzter Zugriff: 15.01.2016) _ Bild 2: Stempel. [Digitale Fassung] Zusammenschnitt aus http:// papersplease.wikia.com/wiki/Entry_approval und http://papersplease.wikia.com/wiki/File:ScreenHunter_03_Jun._10_22.12.jpg (letzter Zugriff: 15.01.2016)

5

Einige der möglichen Enden von Papers, Please widersprechen bei ihrem Erreichen dieser Aussage, was jedoch nichts am Hauptprinzip des Spiels ändert, welchem man zu großen Teilen folgen muss, um diese Enden zu erreichen.

6

Einen etwas älteren, aber in vielen Teilen weiterhin aktuellen Einblick in die Arbeit eines Migration Officers an der Grenze zwischen den USA und Mexiko erhält man in einem Bericht von Clifford Alan Perkin (ebd. 2006).

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What is racism? Zone of Being and Zone of Non-Being in the Work of Frantz Fanon and Boaventura De Sousa Santos Text RamÓn Grosfoguel translation Jordan Rodriguez

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T

his article discusses the concept of racism by creating a fusion between the decolonial sociology of Boaventura de Sousa Santos and the decolonial vision of Frantz Fanon. Although Fanon’s work is very well known world wide, the work of Boaventura de Sousa Santos is less known in the Global North, but well recognized in the Global South. The work of Boaventura de Sousa Santos constitutes a fundamental contribution to the decoloniza­ tion of the social sciences. His work is an example of decolonial critical theory produced from Europe in critical dialogue with the thought from the Global South. Today it is inexcusable for thinkers of the Global North to continue producing critical theory without dialogue and with deafness towards what De Sousa Santos conceptualizes as the “epistemologies of the south.” Based on De Sousa Santos’s work, there is no justification to argue that it is impossible for thinkers of the Global North to think together and with the critical thinkers of the Global South. Since Jean Paul Sartre there has not been a European thinker with the political and social commitment to the Global South like Boaventura de Sousa Santos. However De Sousa Santos surpasses Sartre to the extent that the latter was never influenced by, or took seriously, the epistemologies of the South. Sartre was a lifelong existentialist without rethinking his Eurocentric biases or without being influenced by the thought from the South. In contrast, Boaventura de Sousa Santos has posed as a priority in the production of knowledge in the social sciences thinking together and with the Global South. De Sousa Santos shares the principle that “the understanding of the world is much broader than the Western understanding of the world”. His sociology is a rupture with the Eurocentric universalism calling for the production of an epistemology of the South through an ecology of knowledges that includes anything from social scientific knowledge to other epistemologies and knowledges produced from the South. The ecology of knowledges is a fundamental epistemic principle in the work of De Sousa Santos that represents the dialogic point of departure enabling to escape from the Eurocentric monoculturalist monologue. In this intervention I wish to highlight the significance and fruitful encounter between Sousa Santos’ and Fanon’s work to understand the complexities involved in the concept of racism.

Fanonian Conception of Racism For Fanon, racism is a global power hierarchy of superi­ ority and inferiority along the line of the human that has been politically produced and reproduced for centuries by the “modern/colonial, capitalist/patriarchal imperialist/ Western-centric” world system (Grosfoguel, 2011). People who are above the line of the human are socially recognized in their humanity as being human with rights and

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access to subjectivity and human/citizen/civil/labor rights. People below the line of the human are considered sub-human or non-human, that is to say, their humanity is in question and thus negated (Fanon, 2010). There are many important points to highlight with this definition. The Fanonian definition of racism allows us to conceive of diverse forms of racism avoiding the reductionisms of many definitions. Depending on the different colonial histories in various regions of the world, the power hierarchy of superiority/inferiority along the line of the human can be constructed with various racial markers. Racism can be marked through color, ethnic, linguistic, cultural, or religious identity. While color racism has been predominant in many parts of the world, it is not the only and exclusive form of racism. Many times we mistake the particular form of marking racism in one region of the world as the exclusive, universal form of marking racism everywhere. This has created a huge amount of theoretical and conceptual problems. If we collapse the particular form of racism that one region or country of the world adopts as if it were the universal definition of racism, we lose sight of the diversity of racisms that are not necessarily marked in the same way in other regions. Thus we adopt the false conclusion that in other parts of the world racism does not exist if the form of marking racism in one particular region or country does not coincide with the form of marking it in another region or country. Racism is a hierarchy of superiority/ inferiority along the line of the human. This hierarchy can be constructed/marked with various markers. Westernized elites of the Third World (Africans, Asians, or Latin Americans) reproduce racist practices against socially “inferiorized” ethnic/racial groups, where depending on the local/colo­ nial history, inferiorization can be defined or marked across religious, ethnic, cultural, or color lines. In Irish colonial history, the British constructed their racial superiority over the Irish not through markers of skin color but through religious identity. What seemed in appearance like a religious conflict between Protestants and Catholics was in fact a racial/colonial domination. The same can be said of Islamophobia in Europe and the Unit­ ed States today. The Muslim religious identity constitutes today one of the most prominent markers of inferiority below the line of the human. I say “one of the markers” because in these two regions of the world color racism remains very important and entangled in complex ways with religious racism. Nevertheless, while in many regions of the world the ethno-racial hierarchy of superiority/inferiority is marked by skin color, in other regions it is constructed by ethnic and linguistic practices or religious and cultural identity. Racialization occurs through the marking of ­bodies with identities that are considered symbols of superi­ority or inferiority. Some bodies are racialized as superior and other bodies are racialized as inferior.

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The important point for Fanon is that those subjects located in the superior side of the line of the human live in what he calls the “zone of being”, while those subjects that live in the inferior side of this line live in the “zone of nonbeing” (Fanon, 2010). This is not a geographical concept but a position in racial/ethnic hierarchies.

Differentiated Intersectionalities: Zone of Being and Zone of NonBeing In a colonial/capitalist/imperial world, race constitutes the transversal dividing line that crosses through relations of class, national, sexual, and gender oppressions at a global scale. This is what has become known as the “coloniality” or race as infrastructure (Fanon, 2010). The “intersection­ ality” of power relations of race, class, sexuality, and gender, a concept developed by Black feminists (Crenshaw, 1991), occurs in both zones of the world that Fanon describes. However, the lived experience of the diverse oppressions and the particular way the intersectionality occurs is different in the zone of being in comparison to the zone of non-being. This is related to differences in the materiality of domination used by the system. In the zone of being, subjects, for reasons of being racialized as superior, do not live racial oppression but racial privilege. As it will be discussed later, this has fundamental implications for how they live class, sexual, and gender oppressions. In the zone of non-being, due to the subjects being racialized as inferior, they live racial oppression in place of racial privilege. Therefore, the oppression of class, sexuality, and gender that exist in the zone of non-being is qualitatively different and more devastating from those oppressions that exist in the zone of being. The point that should be emphasized is that there is a qualitative difference between the intersectional oppressions that exist in the zone of being and the zone of non-being in the “modern/colonial Christiancentric/Westerncentric patriarchal/capitalist” world-system (Grosfoguel, 2011). But while in the zone of being oppressions of class, gender and sexuality are mitigat­ed due to racial privilege, in the zone of non-being these oppressions are aggravated due to racial oppression. For Fanon, neither of these zones is homogenous. Both zones are heterogeneous spaces.

Fanonian Zones and De Sousa Santos’s Abysmal Line For De Sousa Santos (2010) in modernity an abysmal line exist between the people above this line and the people below it. If we translate this line as the Fanonian line of the human and assign the zone of being to those who reside above the abysmal line and the zone of non-being to those who reside below this line, we can enrich our understand­ ing of modernity and its colonial/racial/patriarchal/impe-

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rial/capitalist world-system of oppressions that we inhabit. For De Sousa Santos the way conflicts are managed by the system in the zone of being (above the abysmal line) is through what he calls mechanisms of regulation and emancipation. There exist codes of labor/civil/women/ human rights, relations of civility, spaces of negotiation, and political actions that are recognized and extended to the oppressed “Other” in its conflict with the oppressor “I” within the zone of being. Emancipation refers to concepts of liberty, autonomy, and equality that form part of the discursive, institutional, and legal ends of the management of conflicts in the zone of being. As a trend, conflicts in the zone of being are materially managed through non-violent methods. Violence is always an exception and used in exceptional moments. The latter does not deny that violent moments exist in the zone of being. However, they exist more as an exception than as a rule. In short, the materiality of domination is different in the zone of being as opposed to the zone of non-being. In the zone of being we have forms of managing conflicts of perpetual peace with exceptional moments of war, while in the zone of non-being we have perpetual war with exceptional moments of peace.

Intersectionality and Stratification in the zones marked by the abysmal line The oppression of class, gender, and sexuality lived within the zone of being and within the zone of non-being are not the same. Since the conflicts with dominant classes and dominant elites in the zone of being are lived with racial privilege, in the class, gender, and sexual conflicts the “Other Being” shares the privileges of imperial rights, Enlightenment emancipatory discourses, and processes of negotiation or conflict resolution that are relatively peaceful. On the contrary, since in the zone of non-being, class, gender, and sexuality conflicts are aggravated by racial oppression, the conflicts are managed and administered with violent methods and perpetual appropriation/dispossession. The oppression of class, sexuality, and gender lived by the “Other Non-Being” is aggravated due to the artic­ ulation of these oppressions with racial oppression. For example, while workers in the zone of non-being risk their lives when they try to organize a union, earning one or two dollars a day while working ten or 14 hours a day, workers in the zone of being enjoy labor rights, higher wages per hour, and better working conditions. Although a worker in a maquiladora in Ciudad Juarez who earns two dollars a day is formally a waged worker, her lived experience has nothing to do with that of a waged manual worker in Boeing Company in Seattle who earns 100 dollars an hour. The same principle applies to the oppression of gender and sexuality. Western Women and Western gays/lesbians enjoy

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access to resources, wealth, rights and power, disproportionately greater than oppressed non-Western women or gays/lesbians in the zone of non-being. As a matter of fact, despite the gender oppression in the zone of being, Western women, while being a demographic minority in the world, have more power, resources, and wealth than the majority of men in the world that are of non-Western origins that live in the zone of non-being of the present system. In the order of Western-centric imperial things, it is not the same to be an “Other human” in the zone of being as it is to be an “Other non-human” in the zone of non-being. For Fanon and De Sousa Santos the zone of being is the imperial world that includes not only the imperial elites but also its oppressed Western subjects while the zone of non-being is the colonial/neocolonial world with its oppressed non-Western subjects. But the zone of non-Being is also heterogeneous and stratified. What this means is that in the zone of non-being, besides the oppression that subjects live at the hands of the privilege subjects in the zone of being, there are in addition oppressions exercised within the zone of non-being between subjects belonging to this same zone that are also stratified. A non-Western, heterosexual man of the zone of non-being lives privileged oppressing non-Western heterosexual women and/or gays/lesbians within the zone of nonbeing. Despite the fact that non-Western heterosexual man is an oppressed subject in the zone of non-being in relation with the zone of being, the social situation is still worse for a woman or a gay/lesbian in the zone of non-being. The problem is that the non-Western woman and non-Western gays/lesbians in the zone of non-being are oppressed by not only Western people who inhabit the zone of being, but also by other subjects belonging to the zone of non-being. This implies a double, triple, or quadruple oppression for oppressed non-Western subjects within the zone of nonbeing that has no comparison to those oppressed Western subjects within the zone of being with the access to labor/ civil/human rights, norms of civility, and emancipatory discourses recognized and lived by those oppressed West­ ern subjects within the zone of being.

Bibliographical References _ Crenshaw, Kimberle. “Mapping the Margins: Intersectionality, Identity Politics, and Violence against Women of Color”. Stanford Law Review. No. 43 (1991). P. 1.241-1.279 _ Fanon, Frantz. Piel Negra, Mascara Blancas. Akal: Madrid, 2010. _ De Sousa Santos, Boaventura. Renovar la teoria critica y reinventar la emancipacion social (encuentros en Buenos Aires). CLACSO: Buenos Aires, 2006 _ Epistemologias del Sur. Siglo XXI: Mexico, 2010.

This article is a shortened version. The full length article can be found online: www.powision-magazin.de

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_ Grosfoguel, Ramon. “Decolonizing Post-Colonial Studies and Paradigms of Political-Economy: Transmodernity, Decolonial Thinking and Global Coloniality”. Transmodernity: Journal of Peripheral Cultural Production of the Luso-Hispanic World. Vol. 1, NO. 1 (2011). P. 1-38

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autor*innen­ infos Prof. Dr. Susan Arndt ---------------------

Katharina Gensch - - -----------------------

lehrt Englische Literaturwissenschaft und Anglophone Literaturen an der Universität Bayreuth. Zu ihren Arbeitsgebieten gehören westafrikanische Frauenliteratur, Kritische Weißseinsforschung und Rassismus. Sie ist Autorin zahlreicher Bücher.

studierte Politikwissenschaft (BA) und Amerikanistik (MA) in Leipzig. Derzeit absolviert sie ein Praktikum bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin.

Shanna Carlson PhD ----------------------

received her Ph.D. from the Department of Romance Stud­ ies at Cornell University in 2012. She is currently working on a book manuscript titled Sex for Structuralists: Freud, Lacan, Levi-Strauss.

PD Dr. P. H. Heide Glaesmer ----------------

ist Psychologische Psychotherapeutin, Stellvertretende Leiterin der Abteilung für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie und Leiterin des Arbeitsbereiches „Psychotraumatologie und Migrationsforschung“, der Universität Leipzig.

Dr. Claudia Gottwald Julia Dittmann ----------------------------

promoviert an der Universität Bayreuth zum Thema „Dekoloni(ali)sierung des weiß-weiblichen Blicks. Entwicklung rassismuskritischer Strategien für eine dekonstruktivistische Filmanalyse.“

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ist Studienträtin im Hochschuldienst an der TU Dortmund am Lehrstuhl Theorie der Rehabilitation und Pädagogik bei Behinderung und forscht aktuell zur UN-Behinterdenrechtskonvetion und ihre Bedeutung für die kommunale Stadtentwicklung.

Sarah Duff PhD ---------------------------

Prof. RamÓn Grosfoguel PhD -------------

is a Researcher at the Wits Institute for Social & Economic Research (WISER). She focuses on histories of childhood, sexuality, and medicine in nineteenth- and twentieth-century South Africa. Her current project investigates histories of sex education in twentieth-century South Africa. She also is the author of Changing Childhoods in the Cape Colony: Dutch Reformed Church Evangelicalism and Colonial Childhood, 1860-1895.

is internationally recognized for his work on decoloniza­ tion of knowledge and power as well as for his work in international migration and political-economy of the world-­system. He has been a research associate of the ­Maison des Science de l'Homme in Paris for many years and is now Associate Professor of Chicano/Latino Studies at the UC Berkeley.

Dr. Theresa Elze - - -------------------------

studierte Global Studies in Leipzig und Wien. Sie promoviert an der Technischen Universität Berlin am Graduiertenkolleg „Innovationsgesellschaft heute“ und untersucht in ihrer Arbeit Forschungs- und Entwicklungsbemühungen um Langzeitverhütungsmittel für Männer.

studierte Ethnologie, Kunstgeschichte und Journalistik in Leipzig und Paris. Ihre Doktorarbeit schrieb sie über Tijuana und die sozialen Konflikte, die diesen Ort kennzeichnen. Seitdem widmet sie sich bevorzugt dem Themenfeld der Staatsgrenzen.

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Miriam Klemm-- ----------------------------

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Petra Klug --------------------------------

Gerrit Retterath --------------------------

ist Soziologin, Kultur- und Religionswissenschaftlerin. Sie hat u.a. zum Islambild in Deutschland sowie zu islamisch geprägten Gesellschaften geforscht. Derzeit ist sie Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Uni Bremen und bringt dort ihre Promotion zu Religiöser Normierung von Atheist_innen in den USA zu Ende.

ist in der Soziologie am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Universität Kassel tätig und promoviert zum Thema Sharing, der genaue Titel ist momentan „Praktiken des Teilens - Zivile Kompetenzen und Potenziale im kollaborativen Konsum“.

Laila Lucas --------------------------------

studierte Sinologie, Medien- und Kommunikationswissenschaft und Betriebswirtschaftslehre an der Universität Leipzig. Gegenwärtig steckt sie in den Vorbereitungen für ihre Doktorarbeit in der Sinologie und übersetzt nebenbei Beiträge für die Utopie – Magazin fuer Sinn & Verstand.

absolvierte den Bachelor Kulturwissenschaften an der Universität Leipzig und studiert zur Zeit an der Humboldt Universität zu Berlin. Sie ist ausgebildete Mediatorin.

Prof. Dr. Astrid Messerschmidt -----------

ist Erziehungswissenschaftlerin. Sie lehrt und forscht im SoSe 2016 zu den Schwerpunkten Gender, Diversität und Diskriminierung an der Bergischen Universität Wuppertal.

Dr. habil. Hyacinthe Ondoa ---------------

ist Associate Professor an der Faculté des Arts, Lettres et Sciences Humaines, Université de Yaoundé I und Kultur­ attaché in Paris. Nach dem Studium der Germanistik und Erziehungswissenschaften in Yaoundé und Berlin, promovierte er 2004 in Leipzig und wurde 2014 habilitiert.

Dr. Sybille Reinke de Buitrago ------------

Anja M. Rommel - - --------------------------

Alessandro Tietz- - ------------------------

schreibt gerade an seiner Masterarbeit zum Thema „Auf den Spuren des homo ludens. Der Versuch eines soziologischen Destillat des Spiel(en)s“ und ist in der Soziologie am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften an der Uni Kassel tätig. Eden Yohannes Yoseph --------------------

is a graduate of the MA program in Cultural Studies from the Institute of Ethiopian Studies, Addis Ababa. Her M.A. thesis explored the depiction of masculinity in Ethiopian folktales. She is passionate about the topics of gender, folklore and Indigenous Knowledge.

studierte internationale Beziehungen, Friedensforschung, Konfliktlösung und Internationale Kommunikation an der American University in Washington, DC. Derzeit entwickelt sie ein Projekt zu Sicherheitskonzeptionen auf multilateraler Ebene, in dem sie anhand regionaler Fallstudien die Entwicklung eines gemeinsamen Sicherheitsverständnisses analysiert. Sie ist Fellow am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg.

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powision im abo Für alle, die Powision lieb gewonnen haben, gibt es die Möglichkeit das semesterweise erscheinende Magazin zu unterstützen und druckfrisch nach Hause zu bekommen. Für einen Beitrag von 8€ (oder 15€ im Förderabo) können zwei Ausgaben pro Jahr bezogen werden, in der Regel eine im Wintersemester und eine im Sommersemester.

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Hier könnte DEIN Call for Papers stehen  …

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n dieser Stelle veröffentlichen wir für gewöhnlich das Call for Papers für die folgende Ausgabe der Powision. Leider werden wir im Sommer nicht mehr über die personellen Kapazitäten verfügen, ein neues, wie gewohnt spannendes und interessantes Heft heraus zu bringen. Bedeutet das das Ende von Powision? Wir hoffen nicht! Dafür sind wir aber auf viele neue Gesichter, Ideen, Anregungen… angewiesen. Um euch die Möglichkeit zu geben, die Arbeit von Powision richtig kennen zu lernen und um herauszufinden, ob sie etwas für euch wäre, werden wir am

24. Juni 2016 ab 14 Uhr einen Workshoptag im GWZ zur Einführung in die Arbeit bei Powision veranstalten. Dabei sollen die verschiedenen Aufgaben und Arbeitsbereich vorgestellt werden, die das Herausgeben einer Ausgabe der Powision mit sich bringt, sowie ein brandneues Call for Papers für die Ausgabe 19 der Powision erarbeitet werden. Somit kann gleich mit der Arbeit an dem neuen Heft losgelegt werden. Es soll eure Ausgabe werden, wenn ihr mögt! Für Kaffee und Knabbereien wird ebenso gesorgt sein. Wir freuen uns auf euer zahlreiches Erscheinen! Lass Powision weiter leben, es kann DEIN Magazin werden! Euer Team von Powision P.S.: Unsere Homepage (www.powision-magazin.de) bietet euch schon vorher Einblick in unsere Arbeitsbereiche, die bisherigen Ausgaben und die Ausrichtung und Ziele des Magazins. Aktuelles findet ihr unter: www.facebook.com/powision

Neue Räume für Politik

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impressum

Herausgegeben von Powision e.V.

Redaktion

Jahrgang X, Heft 18

Jella Bunke, Miriam Klemm, Ulrike Nack, Monika Rohmer, Luisa Schmidt, Alva Traebert

Erscheinungstermin

Juni 2016

Layout

Preis

Leonie Münch hello@leoniemuench.de www.buntewelten.net

2,00€ Anschrift

bildnachweise

Powision c/o FSR Politikwissenschaft Beethovenstraße 15 04105 Leipzig

www.photocase.de

kontakt

Druck

Sedruck KG Beethovenstraße 10 04107 Leipzig

aktive@powision.de ISSN 1864-9777 Web

www.powision-magazin.de Abonnement

abo@powision-magazin.de

Powision ist ein wissenschaftliches Magazin, welches i.d.R. zweimal im Jahr erscheint. Es versteht sich als Beitrag zu einem demokratisches Wissenschaftsverständnis und zu einem Gedankenaustausch, der nicht nur Hochschulangehörige, sondern die Gesellschaft als Ganze ansprechen soll. Sein Schwerpunkt bilden die Sozialwissenschaften, aber wo möglich, streben wir eine umfassende Interdisziplinarität an. Des Weiteren stehen studentische Beiträge neben Artikeln von Wissenschaftler*innen, die zum jeweiligen Magazinthema forschen und/oder lehren. Ergänzt wird das Format durch Interviews. Wir legen Wert darauf, Wissenschaftler*innen jenseits der konservativen Mainstream-Wissenschaften anzusprechen. Dabei achten wir darauf, Frauen* angemessen zu repräsentieren und ihre Forschung öffentlich zu machen. Zudem bemühen wir uns besonders um Perspektiven aus den Gender Studies und Postcolonial Studies. Ebenso hoffen wir auch Schreibende jenseits der vermeintlichen „Zentren der Wissenschaft“ mit unseren Themen ansprechen zu können. Das Magazin soll allen zugänglich sein, weshalb wir den Verkaufspreis niedrig halten (mit 2€ unter dem Druckpreis) und die Artikel nach ca. einem Jahr als open access ins Internet stellen. Als letzte Besonderheit sei genannt, dass die Artikel relativ kurz sind. Sie sollen kurzweilig eine Position darlegen, einen Einstieg bieten oder eine Idee erläutern und zum Weiterdenken anregen. Verantwortlich für den Inhalt sind die jeweilig Autor*innen. Die Entscheidung hinsichtlich der Rechtschreibregeln unterliegt ebenfalls ihrem Ermessen. Wir würden uns wünschen, dass das nächste Magazin im Wintersemester 2016/17 erscheint.

Dank gilt den Förderern dieser Ausgabe

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