THEMA – ARBEITSRECHT
MMag. Dr. Florian Striessnig
»ARD 6834/5/2023
Ist ein Arbeitnehmer arbeitsunfähig, hat er sein Fernbleiben vom Dienst dem Arbeitgeber zu melden. Eine solche Krankmeldung geht üblicherweise mit einer Krankschreibung durch einen Arzt einher, vom Arzt wird dafür eine förmliche Krankschreibung ausgestellt. Derartige Krankschreibungen müssen jedoch nicht unbedingt stimmen. Einerseits kann der Arbeitnehmer vielleicht unwissend doch arbeitsfähig im rechtlichen Sinn sein, aber tatsächlich trotzdem vom Arzt krankgeschrieben werden. Andererseits ist denkbar, dass ein in Wahrheit arbeitsfähiger Arbeitnehmer über eine ärztliche Krankschreibung verfügt, auf deren Richtigkeit er allerdings gerade nicht vertrauen darf. Und wenn dann arbeitgeberseitig der Vorwurf im Raum steht, ein Arbeitnehmer würde sich zu Unrecht krankschreiben lassen, führt das letztlich vielfach zu Streitfällen. Hierzu folgt nachstehend ein Überblick.
1. Allgemeines
Immer wieder spricht ein Arbeitgeber einem Arbeitnehmer die Berechtigung für dessen Krankenstand ab, tatsächlich nämlich soll der Arbeitnehmer nach Ansicht des Arbeitgebers sehr wohl arbeitsfähig sein. Dies ungeachtet des Umstands, dass der Arbeitnehmer über eine förmliche Krankschreibung durch einen Arzt verfügen mag. Eine häufig vom Arbeitgeber gezogene Konsequenz ist anschließend, dem Arbeitnehmer ein gemäß § 27 Z 4 AngG bzw gemäß § 82 lit f GewO 1859 unentschuldigtes Fernbleiben vom Dienst und Vertrauensunwürdigkeit iSv § 27 Z 1 AngG als Entlassungsgrund vorzuwerfen. Denn erscheint ein Arbeitnehmer trotz eigentlich bestehender Arbeitsfähigkeit grundlos nicht zur Arbeit, ist das eine mutmaßliche Dienstpflichtverletzung.
Führt die deshalb vom Arbeitgeber ausgesprochene Entlassung im weiteren Verlauf zum Streitfall, steht die Berechtigung ebendieses Krankenstandes samt der Richtigkeit der Krankschreibung auf dem Prüfstand. Hierzu wiederholte der OGH in einer jüngsten Entscheidung 9 ObA 96/21i1 die zwei wesentli-
1 Vgl OGH 17. 2. 2022, 9 ObA 96/21i [Punkt 8.2.], ARD 6799/7/2022; RIS-Justiz RS0028875.
chen Kriterien, auf die es bei der Beurteilung des dahin gehenden Fernbleibens vom Dienst ankommen soll: Entweder ist der krankgeschriebene Arbeitnehmer objektiv wirklich arbeitsunfähig, dann kann er krankheitsbedingt von vornherein seiner Arbeitstätigkeit nicht sinnvoll nachkommen. Oder der Arbeitnehmer ist zwar objektiv eigentlich gar nicht arbeitsunfähig, jedoch trotzdem von einem Arzt krankgeschrieben und darf auf die Krankschreibung vertrauen. In diesen beiden Fällen gereicht dem Arbeitnehmer ein Fernbleiben vom Dienst nicht zum Nachteil; eben weil er tatsächlich arbeitsunfähig ist oder ihm zumindest ein guter Glaube darauf zuzubilligen ist, von einem Arzt für arbeitsunfähig erklärt worden zu sein.
2. Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit
Dass ein Arbeitnehmer objektiv eigentlich überhaupt gar nicht arbeitsunfähig, aber von einem Arzt krankgeschrieben ist, passiert mitunter schnell. Auch, ohne dass irgendjemand etwas Böses wollen würde. Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit ist, wie vom OGH etwa in der Entscheidung 9 ObA 15/98s2 näher ausgeführt, nämlich gerade nicht bloß ein medizinischer Begriff. Demnach lässt sich einfaches Kranksein nicht ohne Weiteres mit Arbeitsunfähigsein gleichsetzen. Stattdessen geht es bei der Arbeitsunfähigkeit um die rechtliche Beurteilung, ob ein Arbeitnehmer aufgrund der medizinischen Befunde körperlich und geistig in der Lage ist, seiner jeweiligen Beschäftigung nachzukommen
Das hat zunächst der Arzt zu bewerten, in Abhängigkeit von seinem Ergebnis nimmt er eine Krankschreibung vor oder nicht. Unproblematisch ist derartiges, so vom OGH eigens in seiner Entscheidung 8 ObA 2302/96d3 angemerkt, indessen keineswegs. Nicht immer sind für einen Arzt Krankheitserscheinungen beim Arbeitnehmer klinisch feststellbar, technisch erhobene Befunde liegen regelmäßig ebenso wenig vor, der Arzt muss vielfach auf Angaben des Arbeitnehmers über seine subjektiven Beschwerden zurückgreifen. Einfacher wäre für den Arzt all das bei Diagnosen aufgrund für ihn direkt erkennbarer Symptome, hingegen
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2 Vgl OGH 20. 5. 1998, 9 ObA 15/98s, ARD 4964/1/98; RIS-Justiz RS0084713. 3 Vgl OGH 14. 11. 1996, 8 ObA 2302/96d, ARD 4817/11/97.
RA
Ärztliche Krankschreibungen und das Vertrauen auf deren Richtigkeit
werden ausschließlich auf Befragung des Arbeitnehmers beruhende Diagnosen weit schwerer fassbar.
Mehr noch: Zwischen den gesundheitlichen Beeinträchtigungen und den Anforderungen der am Arbeitsplatz geschuldeten Tätigkeit ist vom Arzt überdies eine Beziehung herzustellen. Kenntnis von der Tätigkeit, die der Arbeitnehmer am Arbeitsplatz schuldet, soll der Arzt insofern ebenfalls noch haben, kann er doch sonst nicht schlussfolgern, ob dem Arbeitnehmer gesundheitsbedingt ausgerechnet seine am Arbeitsplatz geschuldeten Tätigkeiten nicht möglich sind. Dem Arbeitnehmer muss es für eine gegebene Arbeitsunfähigkeit jedenfalls, das legt der OGH ua in der Entscheidung 9 ObA 66/13s4 fest, aufgrund der Krankheit unmöglich sein, seine arbeitsvertraglichen Pflichten zu erfüllen
Je nach der konkreten Arbeitspflicht des Arbeitnehmers samt etwaigem Verweisungsfeld ist demnach eine Krankschreibung völlig unterschiedlich zu beurteilen. Folglich ist, wie es beim OGH in der Entscheidung 8 ObA 2302/96d5 heißt, ein ausschließlich als Kraftfahrer tätiger Arbeitnehmer mit einer durch einen Wespenstich bedingten Schwellung am Fuß krankheitsbedingt an der Arbeitsleistung verhindert, weil die Lenkereignung und vor allem das prompte Bedienen der Pedale nicht gewährleistet wird. Andererseits gilt, was sich wiederum aus der Entscheidung 9 ObA 15/98s6 des OGH ergibt, ein offenkundig auf der linken Hand beeinträchtigter Arbeitnehmer, der deshalb keine Schreibarbeiten am PC erbringen kann, dennoch als arbeitsfähig, solange die Schreibarbeiten überwiegend auch handschriftlich mit der gesunden rechten Hand möglich sind.
Letztlich unumgänglich ist es demnach für einen Arzt bei einer Krankschreibung somit, das Krankheitsbild in eine Relation zur geschuldeten Arbeitstätigkeit zu setzen. Da kann es freilich durchaus vorkommen, dass ein im Kern gesundheitlich vielleicht angeschlagener Arbeitnehmer von einem Arzt als arbeitsunfähig gesehen wird, was sich aber nachträglich in einem Gerichtsverfahren nach Einholung ärztlicher und berufskundlicher Sachverständigengutachten mit der Weisheit des Rückblicks als Fehleinschätzung erweisen soll, weil der Arbeitnehmer streng genommen eigentlich hätte arbeiten können.
3. Vertrauensschutz des Arbeitnehmers
Jetzt wird ein Arbeitnehmer vom Arzt also krankgeschrieben, der Arbeitnehmer meldet sich unter Berufung auf die Krankmeldung beim daraufhin argwöhnischen Arbeitgeber krank. Und worauf kommt es an, ob der Arbeitnehmer auf die Richtigkeit seiner Krankschreibung vertrauen darf?
Einen gewissermaßen verdächtigen Anschein haben vielfach Krankschreibungen, die allein auf irgendwelchen Angaben des Arbeitnehmers gegenüber dem gutgläubigen Arzt beruhen. Ob ein über rasende Kopfschmerzen klagender Arbeitnehmer diese
4 Vgl OGH 27. 8. 2013, 9 ObA 66/13s [Punkt 1], ARD 6363/1/2013.
5 Vgl OGH 14. 11. 1996, 8 ObA 2302/96d, ARD 4817/11/97.
6 Vgl OGH 20. 5. 1998, 9 ObA 15/98s, ARD 4964/1/98.
tatsächlich hat, kann der Arzt mit eigenen Augen ja schwer oder gar nicht sehen. Behauptet der Arbeitnehmer solche Beschwerden, wird dem den Arbeitnehmer redlich krankschreibenden Arzt nichts vorzuwerfen sein, aber dem Arbeitnehmer bei Falschangaben gegenüber dem Arzt sehr wohl.
Ärztliche Skepsis gegenüber den Angaben eines Arbeitnehmers ist, wie es die Entscheidung 9 ObA 19/957 des OGH zeigt, sicher nicht ganz verfehlt: Dort behauptete der Arbeitnehmer gegenüber dem Arzt fälschlich eine Handverletzung, hatte sich zur Untermauerung dieser vorgetäuschten Handverletzung jedoch sogar einen Gips anlegen lassen. Dass der Arbeitnehmer unter diesen fragwürdigen Gesichtspunkten sicherlich keine richtigen Angaben gegenüber dem Arzt gemacht haben konnte, ist naheliegend ‒ und auch, dass der Arbeitnehmer nicht auf die Richtigkeit dieser Krankschreibung vertrauen darf.
Ein solcher guter Glaube des Arbeitnehmers auf die Richtigkeit einer Krankschreibung lässt sich, entsprechend der Entscheidung 9 ObA 199/898 des OGH, darüber hinaus jedoch zB auch widerlegen, sofern sich anlässlich der Untersuchungen durch den Kontrollarzt der Gebietskrankenkasse in einer Gesamtzusammenschau auch mit mehreren vorangegangen Krankenständen nie eine Beschwerdesymptomatik ergeben und er außerdem generell seit geraumer Zeit seine Arbeitslust verloren hatte. Ähnlich verhält es sich mit der Entscheidung 9 ObA 37/18h9 des OGH, in diesem Fall ging der Arbeitnehmer ausgerechnet zeitlich unmittelbar nach einer Auseinandersetzung mit dem Betriebsleiter zu seinem Hausarzt, allerdings nicht deshalb, weil er sich krank fühlte, sondern weil er seinen Dienst nicht durchführen wollte. Auch hat nach einer anderen Entscheidung 9 ObA 15/98s10 des OGH ein Arbeitnehmer, der zwar über eine noch aufrechte Krankschreibung verfügt, aber zwischenzeitig erkennbar wieder genesen und objektiv arbeitsfähig ist, seine Arbeit nach allfälliger vorheriger Konsultierung eines Arztes wieder aufzunehmen, verliert er sonst die Gutgläubigkeit auf die ursprüngliche Krankschreibung.
Schlussendlich bedeutet das: Macht der Arbeitnehmer gegenüber dem Arzt keine wahrheitsgetreuen Angaben, darf er subjektiv keineswegs davon ausgehen, zu Recht krankgeschrieben zu sein. Der gute Glaube des Arbeitnehmers auf die Richtigkeit der Krankschreibung ist in diesen Konstellationen sinnbildlich zerstört. Täuscht der Arbeitnehmer im Übrigen nicht bloß den Arzt, sondern verfälscht der Arbeitnehmer, was mitunter vorkommen soll, die vom Arzt erhaltene Krankschreibung, so wäre das, wie es sich wertungsmäßig aus der Entscheidung 8 ObA 63/05f11 des OGH ergibt, natürlich gleichermaßen verwerflich.
ard.lexisnexis.at 4 ARD 6834 THEMA – ARBEITSRECHT ART.-NR.: 5
7 Vgl OGH 22. 2. 1995, 9 ObA 19/95. 8 Vgl OGH 30. 8. 1989, 9 ObA 199/89, ARD 4114/27/89. 9 Vgl OGH 25. 4. 2018, 9 ObA 37/18h, ARD 6604/7/2018. 10 Vgl OGH 20. 5. 1998, 9 ObA 15/98s, ARD 4964/1/98. 11 Vgl OGH 6. 10. 2005, 8 ObA 63/05f, ARD 5656/5/2006.
4. Fazit
Zusammengefasst ist beim Vertrauen des Arbeitnehmers auf die Richtigkeit einer Krankschreibung dem Arbeitnehmer nach dem OGH und seinem Rechtssatz RS0028875 dann kein guter Glaube zuzubilligen, sich subjektiv für arbeitsunfähig zu halten, wenn er (i) trotz der Krankschreibung arbeitsfähig war und (ii) davon auch Kenntnis hatte oder (iii) nach den Umständen des Falles offenbar Kenntnis haben müsste
Ob dem Arbeitnehmer ein solches Vertrauen auf die Richtigkeit der Krankschreibung zugebilligt werden darf oder nicht, ist nach Maßgabe der Rechtssätze wie RS0111996 und RS0031795 des OGH keine Tatfrage, sondern eine aus Schlussfolgerungen aus dem festgestellten Sachverhalt zu beurteilende Rechtsfrage Beweisbelastet dafür, dass der Arbeitnehmer in Bezug auf die Krankschreibung nicht gutgläubig war, ist jedenfalls der Arbeitgeber. Denn ihm obliegt es laut dem vom OGH aufgestellten Rechtssatz RS0028875, den Gegenbeweis anzutreten, dass der Arbeitnehmer trotz Vorlage einer entsprechenden Krankschreibung arbeitsfähig war und er das auch wusste oder hätte wissen müssen.
Klar soll dem Arbeitgeber bei alldem sein, dass allein eine objektiv falsche Krankschreibung für sich nicht ausreicht, dem Arbeitnehmer einen Vorwurf zu machen, weil der Arbeitnehmer
grundsätzlich ‒ in Abhängigkeit von den konkreten Umständen ‒ oftmals auch auf eine objektiv falsche Krankschreibung vertrauen darf. Vielmehr geht es im Ergebnis darum: Der Arbeitnehmer muss gewissermaßen den die Krankschreibung ausstellenden Arzt unter Vorspiegelung von Krankheitssymptomen oder sonstigen unzutreffenden Angaben über seinen Gesundheitszustand und/oder die von ihm zu erbringenden Arbeitsleistungen in die Irre geführt haben. Dass Derartiges ein Dritter wie der Arbeitgeber erst anhand von nach außen sichtbar zutage tretenden Begleitumständen herausfinden kann, erleichtert dessen prozessuale Ausgangslage angesichts der Beweislastverteilung nicht unbedingt. Je nach Einzelfall ist das aber keineswegs ein Hinderungsgrund, den Gegenbeweis nicht anzutreten.
Der Autor:
MMag. Dr. Florian Striessnig ist Rechtsanwalt und Partner der Orsini und Rosenberg & Striessnig Rechtsanwälte OG in Wien. Er berät und vertritt Unternehmen und Privatpersonen schwerpunktmäßig im Arbeitsrecht, Unternehmensrecht, Gesellschaftsrecht, Zivilrecht sowie bei der Prozessführung. Auf diesen Gebieten publiziert er auch regelmäßig in juristischen Fachzeitschriften.
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THEMA – ARBEITSRECHT ART.-NR.: 5
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VORLAGEN
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von Birgit Kronberger und Rainer Kraft
Auszahlung des Krankenentgelts unter Vorbehalt
Wenn im konkreten Fall ein Verdacht auf Krankenstandsmissbrauch (zB erschwindelte Krankschreibung durch bewusst falsche Angaben beim Arzt) oder grobe Fahrlässigkeit des Arbeitnehmers vorliegt (vgl § 8 Abs 1 AngG, § 2 Abs 1 EFZG), ist es empfehlenswert, vor Auszahlung des Krankenentgelts einen Rück-
forderungsvorbehalt gegenüber dem Arbeitnehmer zu erklären. Damit kann eine – allenfalls von Arbeitnehmerseite später behauptete – Gutgläubigkeit des Arbeitnehmers vermieden und ein diesbezüglicher Rückforderungsanspruch gesichert werden.
Entgeltfortzahlung unter Vorbehalt
Dem/Der Arbeitnehmer/in wird für den von ihm/ihr geltend gemachten Krankenstand von ………………………… bis ………………………… ein Betrag von € …………………… brutto an Krankenentgelt überwiesen.
Dem/Der Arbeitnehmer/in ist bekannt, dass im Falle eines
• von ihm/ihr vorsätzlich oder durch grobe Fahrlässigkeit verschuldeten Krankenstandes und/oder
• missbräuchlich geltend gemachten Krankenstandes (zB erschwindelte Krankschreibung oÄ) kein Anspruch auf Krankenentgelt besteht.
Sollten die das Nichtbestehen des Krankenentgeltanspruchs bewirkenden Umstände dem/der Arbeitgeber/in erst nach Überweisung des Krankenentgelts zur Kenntnis gelangen, wird eine Rückforderung bzw. Rückverrechnung des Krankenentgelts erfolgen, ohne dass sich der/die Arbeitnehmer/in auf gutgläubigen Erwerb berufen kann.
Ort, Datum
Unterschrift Arbeitgeber/in
Zur Kenntnis genommen und ausdrücklich verstanden:
Ort, Datum
Unterschrift Arbeitnehmer/in
ard.lexisnexis.at 6 ARD 6834 ART.-NR.: 6
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» ARD 6834/6/2023
RECHTSPRECHUNG
ARBEITSRECHT
Kündigung eines Straßenbahnfahrers wegen Verweigerung eines 3-G-Nachweises
» ARD 6834/7/2023
ArbVG: § 105 Abs 3 Z 1 lit i
OLG Wien 11. 8. 2022, 10 Ra 33/22d
Besteht für die Mitarbeiter im Betrieb der Arbeitgeberin, die in Wien für den öffentlichen Nahverkehr zuständig ist, im Sommer 2021 durch eine Konzernrichtlinie die Weisung, dass sich am Arbeitsplatz nur Personen aufhalten dürfen, die vollständig geimpft, von einer COVID-19Erkrankung genesen oder negativ auf COVID-19 getestet waren („3-G“), und weigert sich ein Straßenbahnfahrer beharrlich, die 3-G-Regeln einzuhalten, woraufhin er gekündigt wird, so liegt keine unwirksame Motivkündigung nach § 105 Abs 3 Z 1 lit i ArbVG vor, auch wenn es zum Kündigungszeitpunkt keine ausdrückliche gesetzliche Verpflichtung (COVID-19-Notmaßnahmenverordnung) für den von der Arbeitgeberin verlangten 3-G-Nachweis gibt, da sich eine Verpflichtung zur Vorlage eines 3-G-Nachweises durch einen Arbeitnehmer auch aus anderen rechtlichen Verpflichtungen der Arbeitgeberin – der Fürsorgepflicht gegenüber den Mitarbeitern sowie gewissen vertraglichen Schutz- und Sorgfaltspflichten gegenüber den Fahrgästen – im Zusammenspiel mit der Treuepflicht des Arbeitnehmers ableiten lässt.
Sachverhalt und bisheriges Verfahren
Der Arbeitnehmer war seit 2. 7. 2009 bei der beklagten Arbeitgeberin als Straßenbahnfahrer beschäftigt. Am 12. 8. 2020 wurde im Betrieb der Arbeitgeberin eine Betriebsvereinbarung zur Festlegung spezieller Verhaltensregeln und Schutzmaßnahmen zur Vermeidung von COVID-19-Infektionen am Arbeitsplatz abgeschlossen, wie zB die Verpflichtung der Bediensteten zum Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes unter bestimmten Voraussetzungen. Der Arbeitnehmer widersetzte sich der Verpflichtung des Tragens eines MNS und legte ein ärztliches Attest vor, wonach ihm das Tragen eines MNS unzumutbar sei. Am 13. 7. 2021 erließ die Geschäftsführung der Wiener Stadtwerke für alle Konzernunternehmen, zu denen auch die Arbeitgeberin zählt, eine Konzernrichtlinie mit einheitlichen Rahmenbedingungen für COVID-19-Schutzmaßnahmen. Seither galt bei der Arbeitge-
berin die Weisung, dass sich am Arbeitsplatz nur Personen aufhalten dürfen, die vollständig geimpft, von einer COVID-19-Erkrankung genesen oder negativ auf COVID-19 getestet waren („3-G“). Der Arbeitnehmer, der nach wiederholter Aufforderung der Arbeitgeberin, die „3-G“-Regeln am Arbeitsplatz zu befolgen, diese Regeln weiterhin verweigerte, da er sich weder impfen noch testen lassen wollte und nicht genesen war, wurde daraufhin mit Schreiben vom 19. 8. 2021 zum 30. 11.2021 gekündigt.
Der Arbeitnehmer brachte eine Anfechtungsklage ein, weil die Kündigung sozialwidrig und aufgrund eines verpönten Motivs erfolgt sei.
Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Die im Sommer 2021 eingeführte Anforderung im Betrieb der Arbeitgeberin an die Mitarbeiter, einen 3-G-Nachweis beizubringen, sei durch die Treue- und Fürsorgepflicht im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses gerechtfertigt. Das Berufungsgericht bestätigt die Entscheidung des Erstgerichts und führt dazu zusammengefasst aus:
Bisherige Rechtsprechung
Die (beharrliche) Weigerung eines Arbeitnehmers, sich auf Kosten seines Arbeitgebers den von diesem iSd § 10 Abs 4 COVID-19Notmaßnahmenverordnung angeordneten regelmäßigen Tests zu unterziehen, ist offenbar unbegründet, sodass in einer daraufhin ausgesprochenen Kündigung keine verpönte Retorsionsmaßnahme zu erblicken ist (vgl OGH 22. 2. 2022, 8 ObA 11/22h, ARD 6807/9/2022). Der vorliegende Sachverhalt unterscheidet sich von jenem, der den Entscheidungen des OGH vom 14. 9. 2021, 8 ObA 42/21s, ARD 6768/6/2021 und 22. 2. 2022, 8 ObA 11/22h, ARD 6807/9/2022, zugrunde lag, insofern, als die Arbeitgeberin im Zeitpunkt des Kündigungsausspruchs keiner mit § 10 Abs 4 COVID-19-Notmaßnahmenverordnung vergleichbaren Regelung unterlag, deren Einhaltung sie sicherzustellen hatte.
Erst mit 1. 11.2021 traten folgende Regelungen der 3. COVID-19-Maßnahmenverordnung in Kraft: Gemäß § 9 Abs 1 dürfen Arbeitnehmer, Inhaber und Betreiber Arbeitsorte, an denen physische Kontakte zu anderen Personen nicht ausgeschlossen werden können, nur betreten, wenn sie über einen 3-G-Nachweis verfügen. Gemäß § 9 Abs 4 der Verordnung können im Hinblick auf das Tragen einer Maske und die Vorlage eines Nachweises einer geringen epidemiologischen Gefahr in begründeten Fällen über diese Verordnung hinausgehende, strengere Regelungen vorgesehen werden.
Verpfl ichtung zum 3-G-Nachweis aus Fürsorge- und Treuepfl icht?
Allerdings lässt sich eine Verpflichtung zur Vorlage eines 3-GNachweises durch einen Arbeitnehmer auch aus anderen rechtlichen Verpflichtungen der Arbeitgeberin im Zusammenspiel mit
ard.lexisnexis.at ARD 6834 7 ART.-NR.: 7
bearbeitet von Manfred Lindmayr, Barbara Lass-Könczöl und Birgit Bleyer
der Treuepflicht des Arbeitnehmers ableiten. In der Entscheidung des OGH vom 14. 9. 2021, 8 ObA 42/21s, ARD 6768/6/2021, führte der OGH etwa aus, dass sich eine Verpflichtung zur Vorlage eines negativen Testergebnisses auch aus der Verantwortung eines Heimbetreibers für die Gesundheit der Heimbewohner rechtfertigen lässt.
Die Arbeitgeberin betreibt in Wien den öffentlichen Personennahverkehr und ist gegenüber den Fahrgästen als ihren Vertragspartnern zur Erfüllung ihrer Haupt- und Nebenleistungspflichten aus dem Beförderungsvertrag sowie Einhaltung gewisser Schutz- und Sorgfaltspflichten verpflichtet. Für eine allfällige schadenersatzrechtliche Haftung der Arbeitgeberin und die Beweislastverteilung gemäß § 1298 ABGB ist es dabei ohne Bedeutung, ob man die Pflicht des Personenbeförderers, den zu Befördernden unversehrt an den Bestimmungsort zu bringen, als Haupt- oder Nebenleistungspflicht ansieht. Mit dem Abschluss von Beförderungsverträgen entsteht für den Betreiber des Beförderungsmittels jedenfalls die vertragliche Verpflichtung, die Sicherheit von Fahrgästen zu gewährleisten. Die Fahrgäste haben ein berechtigtes Interesse daran, nur mit Arbeitnehmern der Arbeitgeberin zu tun zu haben, die einen hohen Schutzstandard, wie etwa einen 3-G-Nachweis, aufweisen (vgl Wolf/Potz/Krömer, Wie viel Schutz vor COVID-19 darf sein?, ZAS 2022, 136 [141]).
Weiters ist die Beklagte als Arbeitgeberin im Rahmen der Fürsorgepflicht des § 1157 ABGB (und § 18 AngG) gegenüber ihren Arbeitnehmern verpflichtet, die Dienstleistungen so zu regeln, dass Leben und Gesundheit der Arbeitnehmer sowie andere immaterielle und materielle Interessen der Arbeitnehmer geschützt werden. Gerade der Schutz von Leben und Gesundheit ist der historische Ausgangspunkt und der Kernbereich der Fürsorgepflicht des Arbeitgebers. Auch nach den Bestimmungen des ASchG sind Arbeitgeber bei der Gestaltung der Arbeitsorganisation zum Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer in ihren Betrieben verpflichtet. Dies beinhaltet auch Schutzmaßnahmen zur Verhinderung von COVID-19-Infektionen von Arbeitnehmern.
Die den Arbeitnehmer treffende Treuepflicht (Fremdinteressenwahrungspflicht) verhält ihn dazu, auf betriebliche Interessen des Arbeitgebers entsprechend Rücksicht zu nehmen. Der Arbeitnehmer hat die betrieblichen Interessen zu respektieren und insbesondere alles zu unterlassen, was den unternehmerischen Tätigkeitsbereich, dessen Organisationswert und dessen Chancen beeinträchtigt. Er hat den Arbeitgeber im Rahmen der Beistandspflicht und Anzeigepflicht vor drohenden Schäden zu warnen und zu deren Beseitigung beizutragen.
Keine Motivkündigung
Werden durch eine Maßnahme schutzwürdige Interessen sowohl des Arbeitgebers als auch des Arbeitnehmers berührt, ist eine Interessenabwägung vorzunehmen, bei der die dargelegten Interessen und Pflichten einzubeziehen sind. Zu beachten ist, dass Eingriffe in Persönlichkeitsrechte auf die schonendste, noch zielführende Art vorzunehmen sind. In die Abwägung sind die Erfor-
derlichkeit der Maßnahme, die Eingriffsintensität und die Gefahrenlage einzubeziehen.
Bei der Arbeitgeberin galt in Umsetzung einer am 13. 7. 2021 in Kraft getretenen Konzernrichtlinie die Weisung, dass sich am Arbeitsplatz nur Personen aufhalten dürfen, die vollständig geimpft, von der COVID-19-Erkrankung genesen oder negativ auf COVID-19 getestet waren („3-G“). Damit kam die Arbeitgeberin sowohl ihren vertraglichen Pflichten gegenüber ihren Fahrgästen als auch ihrer Fürsorgepflicht gegenüber ihren Arbeitnehmern, die jeweils auch den Schutz vor einer Ansteckung mit COVID-19 beinhalten, nach.
Bei der Abwägung der Interessen der Arbeitgeberin, diesen Pflichten durch dem Gesundheitsschutz dienende Schutzmaßnahmen nachzukommen, und der vom Arbeitnehmer vorgebrachten Interessen ist hinsichtlich der Gefahrenlage zu beachten, dass zum Teil auch besonders vulnerable Personen öffentliche Verkehrsmittel benützen (müssen). Da im Sommer 2021 in Wien ein gut ausgebautes Netz an kostenlosen Testmöglichkeiten bestand, bei dem man zwischen Testung durch Nasenabstrich oder Gurgeln frei wählen konnte, ist die Eingriffsintensität der Maßnahme eher gering. Außerhalb des Arbeitsverhältnisses bestanden für viele Freizeitbereiche ähnliche Zugangsbeschränkungen. Dass die gebotene Interessenabwägung zugunsten der Testpflicht ausgeht, wird auch an den später in Kraft getretenen gesetzlichen Bestimmungen des § 9 Abs 1 der 3. COVID-19-Maßnahmenverordnung und des § 10 Abs 2 der 4. COVID-19-Maßnahmenverordnung deutlich, denen eine breite juristische und politische Diskussion vorangegangen war.
Der vom Arbeitnehmer behauptete Anspruch aus dem Arbeitsverhältnis, sich entgegen der Weisung seines Arbeitgebers doch nicht testen lassen zu müssen, war daher offenbar unberechtigt und konnte keinen Motivkündigungsschutz nach § 105 Abs 3 Z 1 lit i ArbVG begründen.
Hinweis: Die Revision wurde zugelassen, weil der OGH bisher zwar ausgesprochen hat, dass die Ablehnung einer nach der COVID-19-Notmaßnahmenverordnung vorgesehenen Testung durch den Arbeitnehmer nicht zur Kündigungsanfechtung gemäß § 105 Abs 3 Z 1 lit i ArbVG berechtigt (vgl OGH 14. 9. 2021, 8 ObA 42/21s, ARD 6768/6/2021 und OGH 22. 2. 2022, 8 ObA 11/22h, ARD 6807/9/2022), nicht jedoch, ob dies auch bei einem vom Dienstgeber verlangten 3-G-Nachweis gilt, wenn zu diesem Zeitpunkt keine ausdrückliche gesetzliche Verpflichtung dazu bestand. (Revision erhoben)
Bearbeiterin: Barbara Lass-Könczöl
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Kündigung nach verweigerter COVIDImpfung – keine Motivkündigung
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ArbVG: § 105 Abs 3 Z 1 lit i
OGH 16. 12. 2022, 8 ObA 78/22m
Die Klägerin wurde in der ersten Märzwoche 2021 von einer Angestellten der Arbeitgeberin darauf aufmerksam gemacht, dass es Überlegungen gibt, nicht gegen COVID-19 geimpfte Mitarbeiter nicht weiter zu beschäftigen. Die Klägerin erbat sich Bedenkzeit. Einige Zeit später sagte die Geschäftsführerin zu ihr, dass sie bis Ostern 2021 Zeit hätte, sich impfen zu lassen, ansonsten die Zusammenarbeit beendet werden würde. Die Klägerin erwiderte, dass sie sich „vergewaltigt“ und zur Impfung gezwungen fühle. Auch als von ihr in der Folge erneut „eingefordert“ wurde, sich impfen zu lassen, erbat sie sich wiederum Bedenkzeit. Am 29. 4. 2021 wurde die Klägerin gekündigt
Das Berufungsgericht wies das Begehren, die Kündigung für rechtsunwirksam zu erklären, ab. Der OGH hat diese Entscheidung gebilligt:
Nach dem von der Klägerin vorgebrachten Kündigungsanfechtungsgrund des § 105 Abs 3 Z 1 lit i ArbVG kann die Kündigung „wegen der offenbar nicht unberechtigten Geltendmachung vom Arbeitgeber in Frage gestellter Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis durch den Arbeitnehmer“ beim Gericht angefochten werden. Von der „Geltendmachung“ eines Anspruchs kann nach ständiger Rechtsprechung des OGH nur dann die Rede sein, wenn sich der Arbeitnehmer erkennbar – sei es auch nur konkludent – auf eine Rechtsposition beruft (vgl OGH 25. 11. 1999, 8 ObA 298/99b, ARD 5133/8/2000). Das Erbitten von Bedenkzeit und die Erklärung, sich durch eine Aufforderung zu einer Impfung „vergewaltigt“ oder gezwungen zu fühlen, ist keine Berufung auf eine Rechtsposition. Selbst wenn man annehmen wollte, dass die Klägerin durch ihre Aussagen die Rechtsposition erkennen ließ, nicht verpflichtet zu sein, sich impfen zu lassen, wäre § 105 Abs 3 Z 1 lit i ArbVG nicht anwendbar. Die Vorschrift setzt nämlich ua auch voraus, dass der Arbeitgeber den vom Arbeitnehmer geltend gemachten Anspruch „in Frage gestellt“ hat. Ein Anspruch wird vom Arbeitgeber „in Frage gestellt“, wenn er ihn – was nur bei Leistungsansprüchen möglich ist – nicht erfüllt oder – was bei allen Ansprüchen möglich ist – wenn er seine Berechtigung in Zweifel zieht (vgl OGH 8. 7. 1993, 9 ObA 114/93, ARD 4503/18/93). Solches ist hier nicht ersichtlich. Vielmehr hat die Klägerin bereits in ihrer Klage vorgebracht, dass die Geschäftsführerin ihr gegenüber erklärte, dass sie – die Klägerin – die Wahl habe. Die Arbeitgeberin hat damit gerade nicht den Standpunkt eingenommen, die Klägerin sei ihr gegenüber zur Impfung verpflichtet.
Weitere Fragen der Anwendung des § 105 Abs 3 Z 1 lit i ArbVG auf eine Kündigung wegen Verweigerung einer COVID-Impfung stellen sich hier nicht.
Bearbeiterin: Barbara Lass-Könczöl
Buslenker dauernd dienstunfähig: Kündigung nicht sozialwidrig
» ARD 6834/9/2023
ArbVG: § 105 Abs 3 Z 2
OLG Wien 15. 9. 2022, 10 Ra 57/22h
Der Kläger war seit 18. 3. 2010 bei der Arbeitgeberin als Buslenker beschäftigt. Mit 31. 5. 2020 wurde das Dienstverhältnis von der Arbeitgeberin gekündigt. Der Kläger hat die Kündigung wegen Sozialwidrigkeit iSd § 105 Abs 3 Z 2 ArbVG angefochten, da diese seine wesentlichen Interessen beeinträchtige. Das Erstgericht wies die Klage ab: Zwar seien durch die Kündigung wesentliche Interessen des Arbeitnehmers beeinträchtigt, jedoch würden in der Person des Arbeitnehmers gelegene Gründe die Kündigung rechtfertigen. Ihn treffe zwar kein Verschulden am Verkehrsunfall vom 20. 1. 2020, aber sein Leiden (transiente globale Amnesie) sei allein ursächlich für den Unfall gewesen. Das OLG Wien bestätigte nun diese Entscheidung:
Da im Berufungsverfahren nicht mehr strittig ist, dass durch die Kündigung wesentliche Interessen des Arbeitnehmers iSd § 105 Abs 3 Z 2 ArbVG beeinträchtigt werden, und betriebliche Rechtfertigungsgründe nicht vorgebracht wurden, ist einzig zu prüfen, ob ein subjektiver Rechtfertigungsgrund vorliegt, der im Rahmen einer Interessenabwägung zur Verneinung der Sozialwidrigkeit der Kündigung führt. Als personenbezogener Rechtfertigungsgrund kommt jedenfalls eine dauernde Dienstunfähigkeit des Arbeitnehmers in Betracht, die sogar den Entlassungstatbestand nach § 27 Z 2 AngG bzw § 82 lit b GewO 1859 erfüllen kann, und zwar selbst dann, wenn sie durch Krankheit oder Unglücksfall bedingt ist. Entscheidend ist, ob die Dienstunfähigkeit nach objektiven Gesichtspunkten vorliegt; auf ein Verschulden des Arbeitnehmers kommt es nicht an.
Im vorliegenden Fall umfasste die vertraglich vereinbarte Tätigkeit des Klägers ausschließlich das Lenken eines Autobusses und keine anderen Tätigkeiten. Daran vermag auch der Zusatz im Dienstvertrag, dass der Kläger mit einer Änderung seiner Verwendung einverstanden wäre, nichts zu ändern. Dadurch wurde ihm keinesfalls ein Recht auf einseitige Änderung seiner Dienstverwendung eingeräumt. Die Arbeitgeberin verfügte keine Änderung seiner Verwendung und setzte ihn stets als Buslenker ein. Da dem Kläger das berufsmäßige Lenken von Fahrzeugen seit dem Unfall vom 20. 1. 2020 nicht mehr möglich ist und ihm auch die Fahrberechtigung auf Dauer entzogen wurde, kann er die vereinbarte Tätigkeit nicht mehr ausüben, sodass dauernde Dienstunfähigkeit vorliegt.
Den Ausführungen des Klägers zur Fürsorgepflicht und zu alternativen Beschäftigungsmöglichkeiten ist zu entgegnen, dass Tätigkeiten als Fahrscheinkontrolleur, U-Bahn-Fahrer oder Frequenzzähler außerhalb seiner vertraglich vereinbarten Tätigkeit liegen würden. Die Arbeitgeberin war daher nicht verpflichtet, Beschäftigungsmöglichkeiten des Arbeitnehmers in diesem Bereich zu prüfen.
ard.lexisnexis.at ARD 6834 9 RECHTSPRECHUNG ART.-NR.: 9
Da die Kündigung zwar wesentliche Interessen des Klägers beeinträchtigt, aber die Arbeitgeberin den Nachweis erbracht hat, dass die Kündigung durch Umstände begründet ist, die in der Person des Klägers gelegen sind und die betrieblichen Interessen nachteilig berühren (dauernde Dienstunfähigkeit), ist die Kündigung nicht sozialwidrig iSd § 105 Abs 3 Z 2 ArbVG. Der Berufung war daher der Erfolg zu versagen. (Urteil rechtskräftig)
Bearbeiterin: Barbara Lass-Könczöl
Anzustellende Zukunftsprognose bei beabsichtigter Kündigung wegen langer Krankenstände
» ARD 6834/10/2023
ArbVG: § 105 Abs 3 Z 2
OLG Wien 28. 6. 2022, 8 Ra 3/22b
Der Kläger war beim beklagten Arbeitgeber als Straßenbahnfahrer beschäftigt. Ab 16. 4. 2019 bis zum Ausspruch der Kündigung am 25. 11. 2019 war er – mit einer kurzen Unterbrechung – durchgehend im Krankenstand. Aufgrund eines orthopädischen Fußproblems (Hallux valgus) konnte er keine geschlossenen festen Schuhe tragen, was aber aus Sicherheitsgründen bei der Tätigkeit als Straßenbahnfahrer vorgeschrieben ist.
Dass durch die Kündigung wesentliche Interessen des Klägers iSd § 105 Abs 3 Z 2 ArbVG beeinträchtigt werden, war im Berufungsverfahren nicht mehr strittig. Das Erstgericht sah die Kündigung dennoch als gerechtfertigt an, weil durch die lang andauernden Krankenstände in der Person des Klägers gelegene Umstände vorliegen, die die betrieblichen Interessen nachteilig berührten, und die Zukunftsprognose negativ ausgefallen sei.
Diese Ansicht wird vom OLG Wien nicht geteilt. Vielmehr sei im vorliegenden Fall von einer positiven Zukunftsprognose auszugehen. Da dem Arbeitgeber eine vorübergehende Beschäftigung des Klägers im Hilfsdienst (Leichtdienst) zumutbar sei, wurde die Kündigung für rechtsunwirksam erklärt:
Zwar ist der Kläger dem Arbeitgeber über einen außerordentlich langen Zeitraum nicht als Straßenbahnfahrer zur Verfügung gestanden, als er sich zur Kündigung entschloss. Der vorliegende Fall ist aber dadurch gekennzeichnet, dass der Ausfall des Klägers als Straßenbahnfahrer ausschließlich dadurch bedingt war, dass er aufgrund eines orthopädischen Fußproblems (Hallux valgus) keine geschlossenen festen Schuhe tragen konnte, was aber aus Sicherheitsgründen bei dieser Tätigkeit vorgeschrieben ist. Nun kann nach der allgemeinen Lebenserfahrung davon ausgegangen werden, dass ein Hallux valgus (Fehlstellung der Großzehe) durch einen chirurgischen Routineeingriff (zumindest weitgehend) behoben werden kann und danach wieder das schmerzfreie Tragen von normalem Schuhwerk möglich ist. Der Kläger hat sich dem auch nicht verschlossen, sondern am 16. 4.
2019 einer Operation unterzogen. Vom Operateur wurde – offenbar intraoperativ, jedenfalls ohne Wissen des Klägers – entschieden, anstatt der an sich geplanten Hallux valgus Operation nur eine Überbeinkorrektur durchzuführen, was dem Kläger erst im Nachhinein mitgeteilt wurde und was sich in der Folge als unzureichend herausstellte. Aufgrund der anhaltenden Schmerzen wurde dem Kläger zu einer weiteren Operation geraten. Im Zuge eines Arbeitsversuchs im Juli 2019 teilte der Kläger seinem Vorgesetzten mit, dass er eine weitere Operation in Aussicht habe, und fragte diesen, ob er bis dahin einer anderen Tätigkeit nachgehen könne. Am 7. 11. 2019 teilte der Kläger seinem Vorgesetzten mit, dass die weitere Operation im April 2020 stattfinden werde und dass bis dahin keine Besserung zu erwarten sei. Der Arbeitgeber nahm dies zum Anlass, das Dienstverhältnis am 25. 11. 2019 zum 29. 2. 2020 zu kündigen. Die Zeit zwischen dem Kündigungstermin und der aus damaliger Sicht für April 2020 geplanten Operation und dem Abschluss einer im Anschluss daran erforderlichen Rehabilitation stellt einen überschaubaren Zeitraum dar, innerhalb welchem die vollständige Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit des Klägers als Straßenbahnfahrer zu erwarten war. Es bestand somit zum Kündigungszeitpunkt bezogen auf den Zeitpunkt des Endes der Kündigungsfrist eine positive Prognose, dass der Kläger seine volle Arbeitsfähigkeit als Straßenbahnfahrer in absehbarer Zeit wiedererlangen werde und danach mit keinen längeren Krankenständen mehr zu rechnen sein würde.
An dieser Einschätzung ändert auch der Umstand nichts, dass die zweite Operation tatsächlich erst im Mai 2020 erfolgte. Bei der gegebenen Sachlage überwiegt das Interesse des Klägers an seiner Weiterbeschäftigung das Interesse des Arbeitgebers an der Auflösung des Dienstverhältnisses zum 29. 2. 2020. Im Rahmen der den Arbeitgeber auch gegenüber jüngeren Arbeitnehmern treffenden Fürsorgepflicht wäre es ihm zuzumuten gewesen, den Kläger vorübergehend bis zur zweiten Operation im Hilfsdienst zu beschäftigen, wofür sein medizinisches Leistungskalkül ausgereicht hätte. Dass einer solchen Beschäftigung irgendwelche Hindernisse entgegengestanden wären, lässt sich dem festgestellten Sachverhalt nicht entnehmen. (Urteil rechtskräftig)
Bearbeiter: Manfred Lindmayr
Kündigung einer Straßenbahnfahrerin wegen langer Kranken-
» ARD 6834/11/2023
ArbVG: § 105 Abs 3 Z 2
OLG Wien 15. 12. 2022, 10 Ra 61/22x
Ist eine Straßenbahnfahrerin aus gesundheitlichen Gründen über einen Zeitraum von rund einem Jahr und auch in Zukunft nicht in der Lage, die dienstvertraglich vereinbarte
ard.lexisnexis.at 10 ARD 6834 RECHTSPRECHUNG ART.-NR.: 10
stände gerechtfertigt
und geschuldete Arbeitsleistung zu erbringen, und wird daraufhin von der Arbeitgeberin gekündigt, ist die Kündigung rechtmäßig erfolgt, da die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses wegen der Dienstunfähigkeit der Arbeitnehmerin der Arbeitgeberin nicht mehr zumutbar ist. Auch wenn die Kündigung für die Arbeitnehmerin eine gewichtige Beeinträchtigung ihrer wesentlichen Interessen darstellt, ist mangels weiterer Verwendungsmöglichkeit der Arbeitnehmerin im Rahmen des Arbeitsvertrags die Weiterbeschäftigung ohne entsprechende Arbeitsleistung mit erheblichen betrieblich-wirtschaftlichen Nachteilen für die Arbeitgeberin verbunden und der dadurch entstehende finanzielle Aufwand für die Arbeitgeberin unzumutbar.
Sachverhalt und bisheriges Verfahren
Die Arbeitnehmerin, die im Jahr 1966 geboren ist, war ab 2003 bei der beklagten Arbeitgeberin als Straßenbahnfahrerin beschäftigt. Zusätzlich hat sie die Ausbildung zur Fahrscheinprüferin absolviert. Die Krankenstände der Arbeitnehmerin erhöhten sich über die letzten Jahre, zuletzt war sie zwischen 19. 8. 2019 und 22. 7. 2020 339 Tage im Krankenstand. Das Arbeitsverhältnis wurde von der Arbeitgeberin zum 31. 1. 2021 gekündigt, da die Arbeitnehmerin ihre vertraglich vereinbarte Tätigkeit als Straßenbahnfahrerin nicht mehr ausüben konnte.
Die Arbeitnehmerin hat die Kündigung wegen Sozialwidrigkeit angefochten, weil weder personenbezogene, noch betriebliche Gründe für die Kündigung vorlägen.
Das Erstgericht gab der Klage statt. Bei einer Gesamtbetrachtung aller Umstände sei davon auszugehen, dass durch die Kündigung wesentliche Interessen der Arbeitnehmerin berührt seien. Auch eine erst nach Anfechtung der Kündigung, aber noch vor der Beendigung des Arbeitsverhältnisses erfolgte Postenausschreibung der Arbeitgeberin einer Portierin sei bei der Entscheidung zu berücksichtigen. Die Arbeitnehmerin habe sich bereit gezeigt, diese ausgeschriebene Tätigkeit aufzunehmen, da sie auch ihren Qualifikationen entspreche. Da die Arbeitgeberin der Arbeitnehmerin diese freie Position nicht angeboten habe, habe sie dadurch ihre Pflicht, die weitere Verwendungsmöglichkeit der Arbeitnehmerin im Gesamtunternehmen zu prüfen, verletzt.
Das Berufungsgericht gab der Berufung der Arbeitgeberin statt und änderte die Entscheidung dahin gehend ab, dass das Klagebegehren abgewiesen wurde.
Kündigung wegen Dienstunfähigkeit
Die Arbeitgeberin hat eingewandt, dass die Kündigung durch die hohe Anzahl an Krankenstandstagen, zuletzt fast ein Jahr durchgehend, aber va auch durch die Untauglichkeit zur Erbringung der geschuldeten Leistung als Straßenbahnfahrerin begründet war, und ihre betrieblichen Interessen nachteilig berührt würden. Sie hat sohin subjektive und nicht objektiv betriebsbedingte Rechtsfertigungsgründe für die Kündigung geltend gemacht.
Die Arbeitnehmerin war als Straßenbahnfahrerin beschäftigt, zusätzlich hatte sie die Ausbildung zur Fahrscheinprüferin absolviert und war in einem geringeren Ausmaß auch als solche tätig, jedoch seit 4. 1. 2019 gar nicht mehr. Dass von ihrem Arbeitsvertrag tatsächlich weitere Tätigkeiten umfasst wären, hat die Arbeitnehmerin nicht behauptet. Sie gestand auch zu, dass sie für die Berufsausübung als Straßenbahnfahrerin nicht mehr geeignet ist. Der Arbeitnehmerin mangelt es daher an der körperlichen Eignung zur Erfüllung der von ihr aus dem Arbeitsvertrag geschuldeten Leistung. Eine mögliche Verbesserung ihres Gesundheitszustands iSe Wiederherstellung ihrer Leistungsfähigkeit hat sie nicht einmal behauptet. Die Arbeitnehmerin war daher im Kündigungszeitpunkt zur Erfüllung ihrer aus dem Arbeitsvertrag geschuldeten Leistungen gesundheitlich ungeeignet und sohin dienstunfähig
Soziale Gestaltungspfl icht
Richtig ist, dass auch im Rahmen der personenbezogenen Kündigungsgründe bei der Kündigung älterer und langjährig beschäftigter Arbeitnehmer – wie hier – vom Arbeitgeber die Fürsorgepflicht bzw die soziale Gestaltungspflicht zu beachten ist. Der Arbeitgeber ist aufgrund seiner sozialen Gestaltungspflicht dazu verpflichtet, dem zu kündigenden Arbeitnehmer einschlägige (freie) Stellen anzubieten. Jedoch dann, wenn es sich um eine eher ungewöhnliche Möglichkeit der Weiterverwendung im Betrieb handelt, muss der Arbeitnehmer selbst initiativ werden und sich um diese Stellen bewerben.
Bei der vom Erstgericht herangezogenen Stelle einer Portierin handelt es sich aber gerade um eine solche ungewöhnliche Möglichkeit einer Weiterverwendung der bisher als Straßenbahnfahrerin und einige Zeit davor auch zu einem geringeren Teil als Fahrscheinprüferin tätig gewesenen Arbeitnehmerin. Eine Tätigkeit als Portierin ist nicht vom Arbeitsvertrag umfasst. Mag die Arbeitnehmerin auch Kenntnisse, die sie als Fahrscheinprüferin erworben hat, bei einer Tätigkeit als Portierin bei der Arbeitgeberin nützen können, stellen sich die Tätigkeiten als Portierin inhaltlich wesentlich unterschiedlich zu jenen als Straßenbahnfahrerin, aber auch als Fahrscheinprüferin mit erforderlicher spezieller Prüfung und va Kontrollfunktion dar, die beide anders als die beschriebene Portierin im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Straßenbahn- bzw Fahrbetrieb der Arbeitgeberin stehen. Die angeführte Stelle einer Portierin wurde ausgeschrieben, sodass es der Arbeitnehmerin möglich gewesen und an ihr gelegen wäre, sich um diese Stelle zu bewerben. Festgestellt wurde zwar, dass sie bei der Arbeitgeberin eine Tätigkeit innerhalb ihres medizinischen Leistungskalküls mit leichten Arbeiten zB als Portierin ausüben möchte. Dass sie diesen Wunsch gegenüber der Arbeitgeberin auch geäußert hätte, steht jedoch nicht fest.
Kündigung gerechtfertigt
Die Kündigung der Arbeitnehmerin stellt für sie unbestritten eine gewichtige Beeinträchtigung ihrer wesentlichen Interessen dar. Die zum Zeitpunkt der Kündigung 54-Jährige war 17 Jahre
ard.lexisnexis.at ARD 6834 11 RECHTSPRECHUNG
11
ART.-NR.:
bei der Arbeitgeberin beschäftigt. Sie ist verheiratet, wobei ihr Mann einen Bruttolohn von € 3.174,30 bezieht, sie keine Sorgepflichten treffen und eine monatliche Gesamtbelastung von € 1.040,98 besteht. Der Arbeitnehmerin wird es in absehbarer Zeit nicht gelingen, einen zum vorliegenden Arbeitsplatz gleichwertigen Arbeitsplatz zu erlangen. Sie würde auf nicht absehbare Zeit auf Arbeitslosengeld und Notstandshilfe angewiesen sein. In rund vier Jahren könnte sie aber in den Ruhestand treten.
Dem steht gegenüber, dass die Arbeitnehmerin zum Zeitpunkt der Kündigung bereits über einen Zeitraum von rund einem Jahr und auch in Zukunft nicht in der Lage ist, die dienstvertraglich vereinbarte und geschuldete Arbeitsleistung zu erbringen. Die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses war der Arbeitgeberin nicht mehr zumutbar, weil die Arbeitnehmerin für die vertraglich vereinbarte Tätigkeit dienstunfähig ist. Die Arbeitgeberin hat aufgrund der gesundheitlichen Defizite der Arbeitnehmerin jedenfalls ein nachvollziehbares und berechtigtes Interesse daran, das Arbeitsverhältnis nicht mehr weiter aufrecht zu halten. Die Interessensabwägung führt zu einer Gewichtung zugunsten der Arbeitgeberin (vgl OGH 30. 3. 2022, 8 ObA 20/22g, ARD 6813/10/2022). Mangels weiterer Verwendungsmöglichkeit der Arbeitnehmerin im Rahmen des Arbeitsvertrags ist die Weiterbeschäftigung ohne entsprechende Arbeitsleistung mit erheblichen betrieblich-wirtschaftlichen Nachteilen für die Arbeitgeberin verbunden. Der dadurch entstehende finanzielle Aufwand ist der Arbeitgeberin unzumutbar.
Der Berufung war daher Folge zu geben. (Revision nicht zugelassen)
Bearbeiterin: Barbara Lass-Könczöl
Kündigung: Keine generelle Pflicht zur Suche einer Weiterbeschäftigung im Konzern
» ARD 6834/12/2023
ArbVG: § 105 Abs 3 Z 2 lit b
OGH 31. 8. 2022, 9 ObA 61/22v
Die generelle Annahme einer „konzernweiten sozialen Gestaltungspflicht“ des Arbeitgebers im Sinn der Verpflichtung, die Möglichkeit der Weiterbeschäftigung eines Arbeitnehmers, dessen Arbeitsplatz wegfällt, konzernweit zu prüfen bzw für die Weiterbeschäftigung des betroffenen Arbeitnehmers in einem anderen Konzernbetrieb „zu sorgen“, kommt nicht in Betracht Ausnahmsweise kann die Annahme einer konzernweiten sozialen Gestaltungspflicht nur im Falle eines „konzernbezogenen Arbeitsverhältnisses“ erwogen werden (vgl OGH 29. 6. 2009, 9 ObA 34/08b, ARD 6005/6/2009).
Die vom Kläger bekämpfte klagsabweisende Entscheidung des Berufungsgerichts bewegt sich im Rahmen der Grund-
sätze der Rechtsprechung zur sozialen Gestaltungspflicht des Arbeitgebers:
Im vorliegenden Fall musste die beklagte Arbeitgeberin ihren Betriebsstandort in Feistritz/Drau im März 2021 aus betriebswirtschaftlichen Gründen schließen. Wegen wirtschaftlicher Schwierigkeiten des Unternehmens war der Kläger bereits seit 1. 1. 2019 nicht mehr (zunächst ausschließlich) im Betrieb der Arbeitgeberin mit dem Vertrieb ihres gesamten Portfolios, sondern beim Schwesterunternehmen M*** GmbH mit Sitz in Deutschland mit dem Verkauf von Fußbodenklebstoffen in Österreich, Deutschland und der Schweiz betraut. Nachdem die M*** GmbH 2019 entschied, den Klebstoffbereich nicht weiter zu entwickeln und zudem konzernintern die Entscheidung getroffen wurde, das beklagte Unternehmen zu schließen und die Produktion der Stahlanker nach Polen zu verlagern, wurde der Kläger im Zuge der dadurch erforderlichen Umstrukturierungs- und Einsparungsmaßnahmen zum 31. 3. 2020 gekündigt.
Seine Arbeitsplätze wurden nicht nachbesetzt. Eine Weiterbeschäftigung des Klägers innerhalb der M***-Gruppe wurde gruppen- und konzernintern geprüft, war aber aufgrund der konzerninternen Vorgaben (Personalreduktion), der schlechten wirtschaftlichen Entwicklung, aber auch deshalb nicht möglich, weil er bei vergleichsweiser Betrachtung mit seinen deutschen Kollegen aufgrund sozialer Kriterien (Alter, Betriebszugehörigkeit) und aufgrund seiner eingeschränkten Sprachkompetenz (kein Türkisch, Ukrainisch, Russisch) nachgeordnet wurde. Schließlich kam seine Verwendung bei einem Konzerntochterunternehmen im nicht deutschsprachigen Ausland aufgrund sprachlicher Barrieren bzw mangelnder Kenntnis der jeweiligen Landessprache nicht in Betracht.
Einer weiteren Klärung der Bedeutung der konzernweiten sozialen Gestaltungspflicht durch den OGH bedarf es im vorliegenden Fall nicht. Selbst wenn man von dieser Pflicht ausgeht, ist die Beklagte ihrer sozialen Gestaltungspflicht nachgekommen. Freie Stellen im Konzern, für die der Kläger qualifiziert gewesen wäre, konnten dem Kläger unter Berücksichtigung der geplanten Umstrukturierungsmaßnahmen zum Kündigungszeitpunkt nicht angeboten werden.
Bearbeiterin: Barbara Lass-Könczöl
» ARD 6834/13/2023
ABGB: § 879
OLG Wien 27. 9. 2022, 9 Ra 83/22z
Hätte einer Arbeitnehmerin aufgrund ihrer juristischen Ausbildung und ihrer Position als Leiterin der Abteilung Compliance und Recht bewusst sein müssen, dass der Ab-
ard.lexisnexis.at 12 ARD 6834 RECHTSPRECHUNG ART.-NR.: 12
Unwirksamkeit eines unüblichen vertraglichen Kündigungsschutzes für Compliance-Beauftragte
schluss einer vertraglichen Kündigungseinschränkung nach den unternehmensinternen Richtlinien nicht in die alleinige Kompetenz der Geschäftsführerin fällt (sondern vom Vorstand hätte genehmigt werden müssen), ist sie in Bezug auf den Missbrauch der Vertretungsmacht durch die Geschäftsführerin nicht schutzwürdig und die mit ihr abgeschlossene Zusatzvereinbarung über einen erweiterten Kündigungsschutz ist nicht wirksam
Sachverhalt und bisheriges Verfahren
Die Klägerin war bei der beklagten Arbeitgeberin zuletzt als Leiterin der Abteilung Compliance und Recht beschäftigt, mit 15. 8. 2021 wurde sie gekündigt. Mit ihrer Klage begehrt sie die Feststellung des aufrechten Bestandes des Dienstverhältnisses, da ihr vertraglich ein erweiterter Kündigungsschutz zugebilligt worden sei. Sie hätte nur bei Vorligen der Voraussetzungen des § 105 Abs 3 Z 2 lit a und lit b ArbvG gekündigt werden können, doch liegen diese Umstände hier nicht vor.
Das Erstgericht wies die Klage ab, weil die Geschäftsführerin nach der Satzung der Beklagten nicht zum Abschluss der Zusatzvereinbarung befugt gewesen sei und ihre Vertretungsmacht gegenüber der Arbeitgeberin missbraucht habe. Diese Rechtsansicht wird vom OLG Wien geteilt:
Kompetenzüberschreitung durch Geschäftsführerin
Nach den Feststellungen wurde für die laufende Gebarung der Zentrale und für Geschäftsstücke geringerer Bedeutung die Vertretungsbefugnis gemäß § 8 der Satzung der Beklagten an die Geschäftsführerin und bestimmte Organisationseinheiten delegiert. Personalagenden wurden in der Praxis immer von der Geschäftsführerin selbstständig erledigt, sie durfte Kündigungen und Entlassungen ohne Absprache mit dem Vorstand aussprechen.
Daraus kann prinzipiell geschlossen werden, dass Personalagenden und damit im Zusammenhang stehende Vertragsabschlüsse in dem Maß, als es der regelmäßigen Praxis und Übung entsprach, der Geschäftsführerin übertragen worden waren. Im Umkehrschluss kann eine solche Übertragung daher nicht angenommen werden, soweit der Inhalt des Arbeitsvertrages nicht der regelmäßigen Praxis und Übung entsprach (vgl OGH 29. 10. 2014, 9 ObA 68/14m, ARD 6437/7/2015), was in Bezug auf den Kündigungsschutz vorliegend der Fall ist. Dem Erstgericht ist daher zuzustimmen, dass die Geschäftsführerin nicht befugt war, ohne Zustimmung/Befassung des Vorstandes die in Rede stehende Vereinbarung über den Kündigungsschutz mit der Klägerin zu treffen Zwar wird aus Gründen des Verkehrsschutzes die Gültigkeit des vom Vertreter, hier der Geschäftsführerin, mit einem Dritten, hier der Klägerin, abgeschlossenen Geschäfts grundsätzlich nicht berührt. Von diesem Grundsatz wird aber dann eine Ausnahme gemacht, wenn der Dritte nicht schutzwürdig ist. Dies wird dann angenommen, wenn der Vertreter und der Dritte kollusiv, also absichtlich zusammengewirkt haben, um den Vertretenen zu
schädigen; dem ist gleichzuhalten, dass der Vertreter mit Wissen des Dritten bewusst zum Nachteil des Vertretenen handelte oder sich der Missbrauch dem Dritten geradezu aufdrängen musste (vgl OGH 24. 6. 2016, 9 ObA 61/16k, ARD 6509/8/2016). Für die Unwirksamkeit des Geschäfts mit dem Dritten genügt dessen grob fahrlässige Unkenntnis des Missbrauchs der Vertretungsmacht.
Zusatzvereinbarung unwirksam
Die Klägerin hat das Doktoratsstudium der Rechtswissenschaften und einige juristische Zusatzausbildungen abgeschlossen. Sie war Leiterin der Abteilung Compliance und Recht. Ihr war die Satzung der Beklagten bekannt und gerade sie als Compliance-Beauftragte hat für die Einhaltung der Bestimmungen im Unternehmen Sorge zu tragen. In ihrem ganzen Berufsleben kam ihr ein besonderer Kündigungsschutz, wie hier (einzelvertraglich) vereinbart, noch nicht zu.
Ausgehend davon ist dem Erstgericht zuzustimmen, dass die Klägerin in diesem konkreten Fall die Kompetenz der Geschäftsführerin zum Abschluss der gegenständlichen Vereinbarung hätte anzweifeln müssen. Es hätte gerade ihr als Compliance-Beauftragte bewusst sein müssen, dass der Abschluss einer Kündigungseinschränkung nicht zu den gewöhnlich von der Geschäftsführerin vorgenommenen Personalagenden wie Kündigungen bzw Entlassungen zählt und schon gar nicht ein Geschäftsstück geringerer Bedeutung iSd § 8 der Satzung der Beklagten darstellt. In dieser Situation davon auszugehen, dass der Geschäftsführerin die Kompetenz zusteht, eine Kündigungseinschränkung für bestimmte von ihr ausgewählte Arbeitnehmer zu vereinbaren, ist für eine ausgebildete Juristin in der Position der Klägerin grob fahrlässig Zusammengefasst war die Geschäftsführerin nicht befugt, ohne Einbindung des Vorstandes die in Rede stehende Vereinbarung zu treffen, und es ist der Klägerin auch verwehrt, sich auf eine Vertretungsmacht der Geschäftsführerin zu berufen. Der Berufung war daher ein Erfolg zu versagen. (Urteil rechtskräftig)
Bearbeiterin: Barbara Lass-Könczöl
SOZIALVERSICHERUNGSRECHT
Umfang der Geschäftsführerhaftung für offene SV-Beiträge
» ARD 6834/14/2023
ASVG: § 67 Abs 10, § 68 Abs 1
VwGH 31. 10. 2022, Ra 2021/8/0038
1. Erstattet der Geschäftsführer einer GmbH ein Vorbringen zu den Verbindlichkeiten der Gesellschaft – inklusive der Beitragsschulden – und den darauf geleisteten Zahlungen und sind danach die fälligen Beitragsschul-
ard.lexisnexis.at ARD 6834 13 RECHTSPRECHUNG
14
ART.-NR.:
den im dargestellten Sinn schlechter behandelt worden als sonstige Gesellschaftsschulden, führt dies nicht – bzw jedenfalls nicht zwingend – dazu, dass der Geschäftsführer für sämtliche offenen Beiträge zur Gänze haftet. Es ist vielmehr die allgemeine Zahlungsquote und die Beitragszahlungsquote zu ermitteln, das Produkt aus der Differenz der beiden Quoten und den insgesamt fälligen Beitragsschulden ergibt letztlich den Haftungsbetrag.
2. Die Anmeldung der Beitragsforderung durch die Gesundheitskasse im Insolvenzverfahren über das Vermögen der Gesellschaft bewirkt, dass die Verjährung mit Rechtskraft des Beschlusses über die Aufhebung des Konkurses von Neuem zu laufen beginnt
Sachverhalt und bisheriges Verfahren
Der Revisionswerber war Geschäftsführer der U GmbH, über die am 7. 1. 2011 das Konkursverfahren eröffnet wurde. Die Wiener Gebietskrankenkasse teilte dem Revisionswerber am 8. 8. 2016 schriftlich mit, dass er als ehemaliger Geschäftsführer gemäß
§ 67 Abs 10 ASVG für die SV-Beiträge hafte, die für die Dienstnehmer der U GmbH von Oktober bis Dezember 2010 offengeblieben seien.
Am 20. 4. 2018 wurde das Konkursverfahren nach Verteilung des Massevermögens aufgehoben. Die WGKK verpflichtete den Revisionswerber als ehemaligen Geschäftsführer, offene Beitragsschulden iHv von € 495.297,83 zu begleichen.
Dagegen erhob der Revisionswerber Beschwerde und legte im Verfahren eine Aufstellung der Verbindlichkeiten der U GmbH vor, wonach im Zeitraum von der Fälligkeit der ersten offenen Beitragsforderung bis zur Eröffnung des Insolvenzverfahrens insgesamt 65,7 % der Verbindlichkeiten aller Gläubiger und 27 % der Beitragsschulden bei der WGKK beglichen worden seien.
Das Bundesverwaltungsgericht wies die Beschwerde ab. Es bestehe nach § 58 Abs 5 ASVG eine Pflicht zur Gleichbehandlung der Beitragsgläubiger mit anderen Gläubigern. Diese Gleichbehandlung sei von einem haftungspflichtigen Geschäftsführer darzulegen. Ein solcher Nachweis sei vom Revisionswerber nicht erbracht worden, er hafte daher für die Beitragsschulden zur Gänze.
Zur Zulässigkeit der Revision wird zusammengefasst geltend gemacht, eine Haftung des Vertreters trete jedenfalls nur in dem Umfang ein, in dem eine Pflichtverletzung kausal für den Entgang von Beiträgen zur Sozialversicherung geworden sei. Hinsichtlich des erhobenen Vorwurfs der ungleichen Behandlung der Gläubiger erstrecke sich die Haftung daher nur auf den Betrag, der bei anteilsmäßiger Befriedigung der Forderungen der SV-Träger abzuführen gewesen wäre. Darüber habe sich das BVwG hinweggesetzt, indem es den Revisionswerber zur Haftung hinsichtlich der gesamten rückständigen Beiträge verpflichtet habe. Im Übrigen sei die gesamte Forderung auch verjährt.
Laut VwGH ist die Revision zulässig und auch berechtigt:
Keine Haftung für die gesamten offenen Beiträge
Nach § 67 Abs 10 ASVG haften die zur Vertretung juristischer Personen oder Personenhandelsgesellschaften berufenen Personen und die gesetzlichen Vertreter natürlicher Personen im Rahmen ihrer Vertretungsmacht neben den durch sie vertretenen Beitragsschuldnern für die von diesen zu entrichtenden Beiträge insoweit, als die Beiträge infolge schuldhafter Verletzung der den Vertretern auferlegten Pflichten nicht eingebracht werden können.
Einen Vertreter nach § 67 Abs 10 ASVG trifft dabei nach der Rechtsprechung des VwGH die besondere Verpflichtung darzutun, aus welchen Gründen ihm die Erfüllung seiner Verpflichtungen unmöglich war, widrigenfalls eine schuldhafte Pflichtverletzung angenommen werden kann. Wenn der Vertreter dabei nicht bloß ganz allgemeine, sondern einigermaßen konkrete sachbezogene Behauptungen aufstellt, ist er zur weiteren Präzisierung und Konkretisierung des Vorbringens aufzufordern; kommt er dieser Aufforderung nicht nach, so bleibt die Behörde bzw das Verwaltungsgericht zur Annahme berechtigt, dass er seiner Pflicht schuldhaft nicht entsprochen hat. Dabei muss der Vertreter nicht nur allgemein dartun, dass er dem Benachteiligungsverbot Rechnung getragen hat, sondern insbesondere die im Beurteilungszeitraum fälligen unberichtigten Beitragsschulden und die fälligen offenen Gesamtverbindlichkeiten sowie die darauf jeweils geleisteten Zahlungen darlegen (vgl VwGH 26. 3. 2021, Ra 2021/08/0034, ARD 6758/13/2021).
Im vorliegenden Fall hat der Revisionswerber in diese Sinn ein Vorbringen zu den Verbindlichkeiten der U GmbH – inklusive der Beitragsschulden – und der darauf geleisteten Zahlungen erstattet. Das BVwG hat diese Angaben o ffensichtlich als zutreffend erachtet und seiner Beurteilung zugrunde gelegt. Es trifft zu, dass danach die fälligen Beitragsschulden im dargestellten Sinn schlechter behandelt wurden als sonstige Gesellschaftsschulden. Entgegen der Ansicht des BVwG führt dies jedoch nicht – bzw jedenfalls nicht zwingend – dazu, dass der Revisionswerber für sämtliche offenen Beiträge zur Gänze haftet. Vielmehr ist der Umfang der Haftung nach den in der Rechtsprechung des VwGH dargestellten Grundsätzen zu ermitteln (vgl zuletzt VwGH 8. 3. 2022, Ra 2020/08/0134, ARD 6804/14/2022):
Danach ist in einem ersten Schritt der Beurteilungszeitraum festzustellen, der mit der Fälligkeit der ältesten am Ende jenes Zeitraums noch offenen Beitragsverbindlichkeit beginnt und der mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens – soweit nicht zuvor eine frühere allgemeine Zahlungseinstellung oder Beendigung der Vertreterstellung erfolgt – endet.
In einem zweiten Schritt sind einerseits das Verhältnis aller im Beurteilungszeitraum erfolgten Zahlungen zu allen fälligen Verbindlichkeiten einschließlich der Beitragsschulden (allgemeine Zahlungsquote) sowie andererseits das Verhältnis der im selben Zeitraum erfolgten Zahlungen auf die Beitragsverbindlichkeiten zu den insgesamt fälligen Beitragsschulden (Beitragszahlungsquote) zu ermitteln.
ard.lexisnexis.at 14 ARD 6834 RECHTSPRECHUNG ART.-NR.: 14
Das Produkt aus der Differenz der beiden Quoten und den insgesamt fälligen Beitragsschulden ergibt letztlich den Haftungsbetrag
Schon aus diesem Grund hat das BVwG – wie von der Revision zutreffend dargelegt wird – das angefochtene Erkenntnis mit Rechtswidrigkeit des Inhaltes belastet.
Verjährung eingetreten?
Auch dem weiteren Zulässigkeitsvorbringen kommt im Ergebnis insoweit Berechtigung zu, als der festgestellte Sachverhalt nicht ausreicht, um die Frage der Verjährung der Beitragsschulden zu beurteilen.
In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass eine Haftung eines Vertreters nach § 67 Abs 10 ASVG dann zu verneinen ist, wenn dieser zwar die Beiträge schuldhaft nicht entrichtet hat, die Beitragsschuld beim Hauptschuldner aber etwa nicht uneinbringlich geworden, sondern verjährt ist. In einem solchen Fall ist der Kausalzusammenhang zwischen dem Verschulden am Unterbleiben der Beitragsentrichtung und einer nachfolgenden Uneinbringlichkeit, etwa aufgrund eines späteren Insolvenzverfahrens, nicht mehr gegeben.
Gemäß § 68 Abs 1 ASVG verjährt das Recht auf Feststellung der Verpflichtung zur Zahlung von Beiträgen bei Beitragsschuldnern und Beitragsmithaftenden binnen 3 Jahren vom Tag der Fälligkeit der Beiträge. Die Verjährung wird durch jede zum Zweck der Feststellung einer Beitragsschuld getroffene Maßnahme – so etwa auch durch eine beim Beitragsschuldner vorgenommene Beitragsprüfung – unterbrochen, sobald der Zahlungspflichtige hiervon in Kenntnis gesetzt wird. Eine solche Maßnahme ist insbesondere auch die Anmeldung der Forderung im Insolvenzverfahren. Durch diese wird nach § 9 Abs 1 IO bewirkt, dass die Verjährung erst mit Rechtskraft des Beschlusses über die Aufhebung des Konkurses von neuem zu laufen beginnt.
Im Sinne von § 68 Abs 1 ASVG wirken Maßnahmen zur Verjährungsunterbrechung gegen den Zahlungspflichtigen in gleicher Weise gegen den Beitragsmithaftenden, somit insbesondere auch gegen den nach § 67 Abs 10 ASVG haftenden Vertreter einer juristischen Person. Sollte die WGKK die Beitragsforderungen daher rechtzeitig als Forderungen im am 7. 1. 2011 eröffneten Konkursverfahren über das Vermögen der U GmbH angemeldet haben, konnte die Verjährung gegenüber dem Revisionswerber daher grundsätzlich nicht vor Aufhebung des Konkurses zu laufen beginnen (vgl VwGH 9. 9. 2019, Ra 2019/08/0126, ARD 6677/15/2019).
Ob die WGKK im Konkursverfahren der U GmbH eine Anmeldung der nunmehr gegenständlichen Beitragsforderung vorgenommen hat bzw sonst rechtzeitig Maßnahmen zur Unterbrechung der Verjährung iSd § 68 Abs 1 vierter Satz ASVG gegenüber der U GmbH gesetzt hat, wurde aber nicht festgestellt und ist auch nicht aus dem Akteninhalt zweifelsfrei ersichtlich. Solche Feststellungen wären aber erforderlich gewesen, um beurteilen zu können, ob die Beitragsforderungen bereits verjährt sind. Das an den Revisionswerber gerichtete Schreiben der WGKK vom 8. 8. 2016 ist
allein nämlich nicht ausreichend, um eine Verjährung der gegenständlichen Beitragsforderungen für die Monate Oktober bis Dezember 2010 bzw der Haftung des Revisionswerbers nach § 67 Abs 10 ASVG auszuschließen. Das angefochtene Erkenntnis war somit wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
Bearbeiterin: Barbara Lass-Könczöl
SV-Beiträge: Hemmung der Feststellungsverjährungsfrist
» ARD 6834/15/2023
ASVG: § 68 Abs 1 letzter Satz
VwGH 25. 10.2022, Ra 2021/08/0005
Die Kenntnis des Beitragspflichtigen von der Einleitung des Verfahrens über das Bestehen der Pflichtversicherung ist Voraussetzung für den Eintritt der damit verbundenen Hemmung des Ablaufs der Feststellungsverjährungsfrist nach § 68 Abs 1 letzter Satz ASVG.
Sachverhalt und bisheriges Verfahren
Nach Zusendung einer Mahnung vom 7. 2. 2019 verpflichtete die NÖGKK (nunmehr: ÖGK) die Revisionswerberin mit Bescheid vom 3. 7. 2019 zur Zahlung eines Nachverrechnungsbetrages betreffend die Beschäftigung des Dienstnehmers R***. Dieser hat 2012 bei der WGKK die Erlassung eines versicherungsrechtlichen Bescheides betreffend seine Tätigkeit für die Revisionswerberin beantragt. Die WGKK hat daraufhin am 22. 5. 2012 die Abteilung Beitragsprüfung mit dem Sachverhalt beauftragt. Der Akt ist von der WGKK zuständigkeitshalber der NÖGKK übermittelt worden, die mit Bescheid vom 8. 9. 2015 feststellte, dass der R*** aufgrund seiner Tätigkeit als Außendienstmitarbeiter für die Revisionswerberin in der Zeit von 3. 9. 2008 bis 31. 1. 2012 der Vollversicherungspflicht gemäß § 4 Abs 1 Z 1 iVm Abs 2 ASVG unterlegen sei. Der Bescheid wurde vom BVwG am 14. 8. 2018 bestätigt, eine dagegen erhobene Revision hat der VwGH am 30. 10. 2018 zurückgewiesen (Ra 2018/08/0217).
Mit dem nunmehr von der Revisionswerberin angefochtenen Beschluss hob das BVwG den Bescheid vom 3. 7. 2019 auf und verwies die Sache zur Erlassung eines neuen Bescheides an die belangte Behörde zurück und sprach aus, dass die Beitragsnachverrechnung für die strittigen Zeiträume nicht verjährt sei.
Die Revisionswerberin begründet die Revision mit einem Widerspruch des angefochtenen Beschlusses zu der zur Verlängerung der Verjährungsfrist auf 5 Jahre nach § 68 Abs 1 ASVG ergangenen Rechtsprechung und zum anderen unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung, wonach Unterbrechungshandlungen nur dann zur Unterbrechung der Verjährung führen könnten, wenn sie dem Beitragspflichtigen zur Kenntnis gelangt seien.
ard.lexisnexis.at ARD 6834 15 RECHTSPRECHUNG
ART.-NR.: 15
Der VwGH hat die Revision zugelassen, die auch berechtigt ist und zur Aufhebung des Beschlusses führte:
Beschluss ist rechtswidrig
Das BVwG hat den Eintritt der Verjährung im angefochtenen Beschluss verneint: Zum einen verlängere sich die (grundsätzlich dreijährige) Frist nach dem dritten Satz des § 68 Abs 1 ASVG „in Fällen wie dem vorliegenden“, in denen der Dienstgeber oder Meldepflichtige keine Meldung nach § 33 ASVG erstattet habe, auf 5 Jahre. Dazu, warum auch die zweite Voraussetzung des § 68 Abs 1 ASVG dritter Satz im vorliegenden Fall erfüllt gewesen sei, wonach der Meldepflichtige die unterbliebenen Meldungen „bei gehöriger Sorgfalt als notwendig oder unrichtig hätte erkennen müssen“, führt der angefochtene Beschluss jedoch nichts aus. Indem das BVwG der belangten Behörde damit ohne ausreichende Begründung (endgültig) die Auffassung überbunden hat, dass sich die Verjährungsfrist im vorliegenden Fall auf 5 Jahre verlängert habe, belastete es den angefochtenen Beschluss mit Rechtswidrigkeit
Selbst im Fall der Richtigkeit der Annahme des BVwG, dass sich die Verjährungsfrist nach dem dritten Satz des § 68 Abs 1 ASVG verlängert habe, vermag die durch den angefochtenen Beschluss überbundene Auffassung zur Verjährungsfrage einer rechtlichen Prüfung nicht standzuhalten. Das BVwG ist davon ausgegangen, dass „die am 22. 5. 2012 mit der Beauftragung der Abteilung Beitragsprüfung erfolgte Einleitung eines Verfahrens zur Feststellung der Pflichtversicherung“ betreffend den Dienstnehmer R*** „die Verjährung bis zum (endgültigen) Abschluss des Verfahrens mit der Zustellung des Beschlusses des VwGH an die NÖGKK am 16. 11. 2018 gehemmt“ habe. Ausgehend davon sei im Hinblick auf die „Fälligkeit der ältesten Beitragsschuld am 30. 9. 2008 ... zum Zeitpunkt des Endes der Hemmung der Verjährung“ am 16. 11. 2018 noch eine „Restlaufzeit“ von rund einem Jahr und 4 Monaten verblieben, innerhalb derer die Revisionswerberin „über eine zum Zwecke der Feststellung getroffene Maßnahme in Kenntnis gesetzt werden konnte, um die Unterbrechung der Verjährung zu bewirken“. Dies sei mit der Übermittlung der mit 7. 2. 2019 datierten Mahnung geschehen, die der Revisionswerberin am 13. 2. 2019 zur Kenntnis gelangt sei.
Die Rechtmäßigkeit der Annahme des BVwG, dass die Verjährung während des Zeitraumes von 22. 5. 2012 und 16. 11. 2018 gehemmt gewesen sei, ist daher (abgesehen von der bereits angesprochenen Frage der Verlängerung der Verjährungsfrist) davon abhängig, ob der Eintritt der Hemmungswirkung nach § 68 Abs 1 letzter Satz ASVG voraussetzt, dass der Beitragsschuldner von der als hemmend in Betracht kommenden Tatsache der Anhängigkeit eines Verfahrens (hier: über das Bestehen der Pflichtversicherung) Kenntnis erlangt hat.
Kenntnis vom eingeleiteten Verfahren
Der VwGH hat zu dieser Frage bislang nicht explizit Stellung genommen. In seiner Rechtsprechung ging er jedoch davon aus,
dass der Beitragspflichtige, dem gegenüber der Ablauf der Verjährungsfrist während der Dauer eines anhängigen Verfahrens (zB betreffend die Versicherungspflicht) gehemmt wird, ein rechtlich geschütztes Interesse daran hat, dass dieses Verfahren in angemessener Zeit geführt wird (vgl VwGH 11. 12. 2013, 2012/08/0287). Diese Annahme der zitierten Entscheidung wäre ohne Kenntnis des Beitragsschuldners von der Einleitung eines solchen Verfahrens unberechtigt. Die Kenntnis des Beitragspflichtigen von der Einleitung des betreffenden Verfahrens ist sohin eine Voraussetzung für den Eintritt der damit verbundenen Hemmung des Ablaufs der Feststellungsverjährungsfrist.
Dazu, ob die Revisionswerberin bereits vor der Zustellung des Bescheids vom 8. 9. 2015 (über die Feststellung der Versicherungspflicht für den Dienstnehmer R***) von diesem Verfahren Kenntnis hatte, hat das BVwG, ausgehend von seiner unzutreffenden Rechtsauffassung, keine Feststellungen getroffen. Auf Basis des festgestellten Sachverhalts entsprach die Ansicht des BVwG, dass die Hemmung der Verjährung bereits „am 22. 5. 2012 mit der Beauftragung der Abteilung Beitragsprüfung“ eingetreten sei, nicht dem Gesetz. Erst gerechnet ab dem Zeitpunkt, in dem eine solche Kenntnis festgestellt werden kann, wird das BVwG den Eintritt der Hemmung der Verjährung annehmen dürfen.
Aus den dargelegten Gründen war der angefochtene Beschluss wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
Bearbeiterin: Barbara Lass-Könczöl
Straferkenntnis: Notwendige Auseinandersetzung mit widersprechenden Beweisergebnissen
» ARD 6834/16/2023
ASVG: § 111 Abs 1 Z 1
AVG: § 60
VwGH 21. 11. 2022, Ra 2021/08/0056
Eine Bestrafung wegen unterlassener Anmeldung von Dienstnehmern zur Sozialversicherung nach § 111 Abs 1 Z 1 ASVG erfordert, dass eindeutig festgestellt wird, wer einen Dienstnehmer für welche Tätigkeit beschäftigt hat (allenfalls welche natürliche Person für welche juristische Person handelte). Gegebenenfalls sind auch Feststellungen zu einem Kontrollsystem zu treffen, sofern ein solches behauptet wird. Derartiges lässt das angefochtene Erkenntnis vermissen.
Soweit sich in den im Erkenntnis enthaltenen (nicht nachvollziehbar zwischen Feststellungen, Beweiswürdigung und rechtlichen Erwägungen unterscheidenden) Ausführungen unter der Überschrift „Das Verwaltungsgericht Wien hat erwogen“ stellenweise die Bezugnahme auf einzelne im Verfahren hervorgekommene Beweismittel erkennen lässt, kann darin im Übrigen
ard.lexisnexis.at 16 ARD 6834 RECHTSPRECHUNG ART.-NR.: 16
keine den Anforderungen an eine verwaltungsgerichtliche Entscheidung entsprechende Auseinandersetzung mit widersprechenden Beweisergebnissen erblickt werden. Bei Widersprüchen zwischen den Behauptungen und den Angaben der Verfahrenspartei und sonstigen Ermittlungsergebnissen bedarf es einer klaren und übersichtlichen Zusammenfassung der maßgeblichen, bei der Beweiswürdigung angestellten Erwägungen, damit der VwGH die Entscheidung auf ihre inhaltliche Rechtmäßigkeit überprüfen kann. Eine dem § 60 AVG entsprechende Entscheidungsbegründung muss (auch) zu widersprechenden Beweisergebnissen im Einzelnen Stellung nehmen und schlüssig darlegen, was das Verwaltungsgericht veranlasst hat, dem einen Beweismittel mehr Vertrauen entgegenzubringen als dem anderen; die dabei vorgenommenen Erwägungen müssen schlüssig sein, dh mit den Gesetzen der Logik und dem allgemeinen menschlichen Erfahrungsgut im Einklang stehen (vgl VwGH 21. 10. 2014, Ro 2014/03/0076, ARD 6435/6/2015).
Die Ausführungen des angefochtenen Erkenntnisses nehmen auf einzelne vom Revisionswerber genannte Beweismittel Bezug, so etwa auf einen im Verfahren vorgelegten Auftrag bzw Werkvertrag, unterlassen dabei aber eine nähere Begründung für die vom Verwaltungsgericht vertretene Annahme, dass es sich dabei „um einen gefälschten Vertrag“ handle, der „aufgesetzt wurde, um den wahren Sachverhalt zu verschleiern“. Auf weitere vom Revisionswerber in der Beschwerde ins Treffen geführte Argumente zur Beweiswürdigung (wie etwa den Inhalt der niederschriftlichen Aussagen der eingesetzten Arbeitnehmer oder die Aussagen eines Zeugen bei seiner niederschriftlichen Einvernahme) ging das Verwaltungsgericht nicht weiter ein und begründete auch nicht, warum es von der beantragten Einvernahme eines in der Beschwerde namhaft gemachten Zeugen Abstand nahm.
Bereits aus diesen Gründen war das Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
Bearbeiterin: Barbara Lass-Könczöl
STEUERRECHT
BFG: Keine Abzugsfähigkeit des Arbeitszimmers einer Lehrerin trotz
» ARD 6834/17/2023
EStG 1988: § 16 Abs 1 Z 7a, § 20 Abs 1 Z 2 lit d BFG 10. 1. 2023, RV/7103002/2022
Verrichtet eine Lehrerin im Streitjahr 2021 ihre Tätigkeit aufgrund der Empfehlung ihres Arbeitgebers auch im so-
genannten „Homeschooling“, so liegt keine Abzugsfähigkeit der Aufwendungen für ein Arbeitszimmer vor, da keine Notwendigkeit eines eigenen häuslichen Arbeitszimmers bestand und auch keine Verlagerung des Mittelpunktes der Tätigkeit angenommen werden kann.
Sachverhalt und bisheriges Verfahren
Die Beschwerdeführerin ist als Lehrerin tätig. Sie nutzte für ihre Tätigkeit ein häusliches Arbeitszimmer, das sich im Wohnungsverband befindet. Im Jahr 2021 hat sie ihre Tätigkeit auch im sogenannten „Homeschooling“ durchgeführt, da ein Präsenzunterricht aufgrund der bekannten Corona-Maßnahmen nicht uneingeschränkt möglich gewesen ist. Im bekämpften Einkommensteuerbescheid wurden jedoch bloß das Homeoffice-Pauschale sowie der Pauschbetrag für Werbungskosten berücksichtigt.
Die Beschwerdeführerin bestreitet nicht, dass das häusliche Arbeitszimmer im „Normalfall“ (also ohne die Besonderheiten der Corona-Pandemie) nicht zu Werbungskosten einer Lehrerin führen würde. Die Besonderheiten der Pandemie (Homeschooling, Klassenteilung, Informationsweitergabe per Handy und Internet, Konferenzen, Anfragen, ...) hätten allerdings zu den hier beantragten Mehraufwendungen geführt. Sie begehrt daher die Anerkennung von anteiligen Aufwendungen (Miete, Strom, etc) für das in ihrer Wohnung gelegene Arbeitszimmer, da sie dort pandemiebedingt einen Teil ihrer Lehrertätigkeit ausgeübt hätte.
Das BFG bestätigte nun aber die insofern abweisende Entscheidung des Finanzamtes:
Keine Notwendigkeit
Eines der wesentlichen Kriterien, das für die Abzugsfähigkeit der Aufwendungen für ein Arbeitszimmer unbedingt erfüllt sein muss, ist die Notwendigkeit, dh die Erforderlichkeit eines eigenen Raumes für die Ausübung der beruflichen Tätigkeit. Die Beschwerdeführerin bezog sich nun in ihrer Argumentation darauf, dass infolge der Corona-Pandemie von Seiten des Dienstgebers und der Gesundheitsbehörden veranlasst wurde, die Unterrichtsgebäude zu schließen. Lehrer, Schüler und Eltern seien, um den Bildungsauftrag halbwegs erfüllen zu können, zu „Homeschooling“ verpflichtet worden.
Für das hier streitgegenständliche Jahr 2021 kann allerdings eine (behördliche) Schließung der Schulgebäude nicht erkannt werden. Der Beschwerdeführerin war also das Betreten des Schulgebäudes jedenfalls möglich – auch wenn es allenfalls eine Empfehlung gegeben hat, die Kontakte so weit wie möglich zu reduzieren.
Eine generelle Anordnung wäre auch nicht möglich gewesen, da es sicherlich auch Lehrpersonal gegeben hat (und weiterhin gibt), welche keine Möglichkeit hatten, sich einen Arbeitsraum zu schaffen. Diesen Lehrern musste also jedenfalls die Möglichkeit offen gestanden sein, das Schulgebäude zu betreten. Ein gesetzliches Verbot des Betretens des Schulgebäudes ist nicht ausgesprochen worden. Eine Verpflichtung zum Unterricht aus
ard.lexisnexis.at ARD 6834 17 RECHTSPRECHUNG
ART.-NR.: 17
„Homeschooling“
einem vom Schulgebäude dislozierten Arbeitszimmer ist dem BFG nicht bekannt und wurde von der Beschwerdeführerin auch nicht behauptet. Allenfalls hat es eine Empfehlung des Dienstgebers gegeben, aber keine Verpflichtung
Wenn die Beschwerdeführerin die Möglichkeit, ihre nichtselbstständige Tätigkeit im häuslichen Arbeitszimmer auszuüben, ergriff, so tat sie dies zwar über Empfehlung und im Einvernehmen mit dem Dienstgeber, aber auch allenfalls zum eigenen Schutz und zum Schutz der Schüler und Kollegen. Diese Intention entspricht typischerweise einer (zumindest teilweise) in der Lebenshaltung begründeten Motivation. Der (vorübergehend) freiwillige Verzicht, den Arbeitsplatz an der Arbeitsstätte zu nutzen, spricht jedoch gegen die Notwendigkeit der Einrichtung eines häuslichen Arbeitszimmers.
Der Beschwerdeführerin ist zwar darin beizupflichten, dass die Corona-Pandemie kein Normalfall für die Tätigkeit war und hierfür auch besondere Maßnahmen notwendig waren. Diese Maßnahmen haben einen nicht unerheblichen Anteil an Dienstnehmern betroffen, die nunmehr entgegen früheren Gewohnheiten in ihrer Wohnung oder in ihrem Haus ihren Dienst verrichten mussten bzw durften. Es steht allerdings fest, dass einer Vielzahl von betroffenen Dienstnehmern die Einrichtung eines eigenen Arbeitszimmers wegen der räumlichen Verhältnisse in ihrer Wohnung gar nicht möglich gewesen wäre. Darüber hinaus ist davon auszugehen, dass angesichts des Umstandes, dass die HomeofficeEmpfehlung vorerst nur als vorübergehende (eben nur für die Dauer der Pandemie dauernde) Maßnahme eingeschätzt werden musste, eine mit Kosten und Aufwand verbundene bloß vorübergehende Umwidmung eines Raumes (soweit überhaupt vorhanden) in ein eigenes Arbeitszimmer für einen Großteil der Betroffenen nicht zumutbar gewesen wäre. Unter diesen Gesichtspunkten erschien die Einrichtung eines eigenen, ausschließlich für die berufliche Nutzung vorgesehenen Arbeitszimmers weder angemessen noch notwendig. Insofern konnte nach der Verkehrsauffassung auch nicht von einer auslastungsbedingten Notwendigkeit eines eigenen häuslichen Arbeitszimmers gesprochen werden. Als notwendig war vielmehr nur die Einrichtung eines (vorübergehenden) Arbeitsplatzes in der Privatwohnung zu erachten.
Der Notwendigkeit der Einrichtung eines solchen häuslichen Arbeitsplatzes trug der Gesetzgeber insofern Rechnung, als er mit BGBl I 2021/52 mit § 16 Abs 1 Z 7a EStG 1988 eine eigene Bestimmung schuf, die auf die steuerliche Entlastung von COVID19-bedingter beruflicher Tätigkeit im privaten Wohnbereich abzielte. So sind – gemäß § 124b Z 374 EStG 1988 – Ausgaben für ergonomisch geeignetes Mobiliar ab 2020 unter den dort angeführten Voraussetzungen als Werbungskosten abzugsfähig. Daraus ist abzuleiten, dass sich der Gesetzgeber der Problematik der nunmehr vermehrt in Anspruch genommenen HomeofficeTätigkeit durchaus bewusst war. Er nahm diese aber nicht zum Anlass, die Anforderungen an das Vorliegen eines steuerlichen Arbeitszimmers neu zu definieren, sondern begnügte sich mit der Erleichterung der Absetzbarkeit von Aufwendungen für die Einrichtung eines Homeoffice-Arbeitsplatzes.
Keine Verlagerung des Mittelpunktes der Tätigkeit
Der Mittelpunkt der gesamten beruflichen Tätigkeit eines Steuerpflichtigen richtet sich laut Rechtsprechung nach deren materiellem Schwerpunkt, wobei sich dieser aus dem typischen Berufsbild der Tätigkeit ergibt. Nur wenn der materielle Schwerpunkt nach der Verkehrsauffassung nicht eindeutig bestimmt werden kann, ist im Zweifel auf das zeitliche Überwiegen abzustellen. Dieses lag möglicherweise im Jahr 2020 (eventuell auch im Jahr 2021 – was allerdings nicht nachgewiesen wurde) im häuslichen Arbeitszimmer. Allerdings bestehen seitens des BFG Bedenken, allein wegen der pandemiebedingt vermehrten Heimarbeit von einer grundsätzlichen Verlagerung des materiellen Schwerpunktes auszugehen.
Die Beschwerdeführerin ist Lehrerin und es ergibt sich somit ihr Arbeitsort – die Schule – als gewöhnlicher Arbeitsort. Daraus ergibt sich ein typisches Berufsbild mit einem eindeutigen materiellen Tätigkeitsschwerpunkt außerhalb eines häuslichen Arbeitszimmers, da bei Nichtselbstständigen die berufliche Tätigkeit in der Regel, dh typischerweise am vom Arbeitgeber zur Verfügung gestellten Arbeitsplatz ausgeübt wird.
Wenn der Arbeitgeber bedingt durch ein außergewöhnliches, unvorhersehbares Ereignis, wie dem der Pandemie, zwecks Minimierung der Ansteckungsgefahr dem Dienstnehmer empfiehlt bzw es ihm erlaubt, seine Tätigkeit in seinem privaten Wohnbereich auszuüben, so kann aus dem Blickwinkel eines objektiven Betrachters keine unmittelbare Änderung des typischen Berufsbildes mit seinem materiellen Schwerpunkt abgeleitet werden. Die vom Arbeitgeber empfohlene Maßnahme musste vielmehr als eine von vielen vorübergehenden Maßnahmen bis zur Klärung der Auswirkungen der Pandemie angesehen werden. Daraus bereits im ersten Jahr eine grundlegende Änderung des typischen Berufsbildes bzw des materiellen Tätigkeitsschwerpunktes abzuleiten, entspräche nicht der Verkehrsauffassung. Eine Änderung des Tätigkeitsschwerpunktes würde zumindest eine entsprechende, konkrete Vereinbarung zwischen Dienstgeber und Dienstnehmer (abweichend von der Vereinbarung laut Dienstvertrag vor der COVID-19-Pandemie), die auf eine länger angelegte Dauer abzielt, erfordern.
Eine solche dauernde, konkrete Vereinbarung, die einen möglichen Tätigkeitsschwerpunkt am Heimarbeitsplatz und die Notwendigkeit eines solchen als Grundlage des Dienstverhältnisses von vornherein festlegte, lag hier nicht vor. Mangels Änderung des materiellen Schwerpunktes aufgrund des typischen Berufsbildes hatte hier eine für Zweifelsfälle nach zeitlichen Kriterien vorzunehmende Bestimmung des Mittelpunktes der Tätigkeit daher nicht zu erfolgen. (Revision vom BFG nicht zugelassen)
Bearbeiterin: Birgit Bleyer
Jederzeit und überall abrufbar: ard.lexisnexis.at
ard.lexisnexis.at 18 ARD 6834 RECHTSPRECHUNG ART.-NR.: 17
ART.-NR.: 19
BFG: Pizzaboten als Dienstnehmer
» ARD 6834/18/2023
EStG 1988: § 47
BFG 15. 11. 2022, RV/7103505/2017
Haben sich Speisenzusteller nach einem vorab erstellten Dienstplan zu den darin festgelegten Zeiten in der Filiale des Restaurantbetriebes einzufinden, dort bereitzuhalten und einlangende Bestellungen in einer vorgegebenen Reihenfolge an Kunden auszuliefern, werden zudem Arbeitsmittel (zB Wärmetaschen, Arbeitskleidung) vom Restaurantbetreiber beigestellt und sind sie verpflichtet, eine Dienstverhinderung (zB bei Krankheit) zu melden, ist von einer Weisungsunterworfenheit und Eingliederung der Speisenzusteller in den Restaurantbetrieb und damit von Dienstleistungen und nicht von individualisierten Werkleistungen auszugehen. Insbesondere begründet das „Bereitstehen auf Abruf“ eine besondere persönliche Abhängigkeit, die für bestimmte Gruppen von Arbeitnehmern eher typisch ist als für selbstständige Unternehmer. Die Speisenzusteller waren daher nicht selbstständige Werkunternehmer, sondern Dienstnehmer iSd § 47 EStG 1988.
Dass bei der Diensteinteilung die Wünsche der Zusteller insofern berücksichtigt wurden, als diese sich nach Maßgabe der noch freien Zeiten in eine Liste eintragen konnten, steht dem nicht entgegen. Ebenso wenig steht der Annahme eines Dienstverhältnisses entgegen, dass die Zusteller ihre eigenen Fahrzeuge verwendet haben sowie dass einige von ihnen keinem Konkurrenzverbot unterlagen und teilweise auch für andere Gastronomiebetriebe Speisen zugestellt haben (in diesen Fällen ist von zwei Dienstverhältnissen zu unterschiedlichen Dienstgebern auszugehen). Auch dass Zusteller, die von der Dienstgeberin kontaktiert wurden, ob sie kurzfristig Zustellfahrten übernehmen können, derartige Anfragen mitunter abgelehnt haben, wenn sie keine Zeit hatten, spricht nicht gegen das Vorliegen eines Dienstverhältnisses, sondern ergibt sich dies aus der Kurzfristigkeit der Anfrage, bei der naturgemäß nicht gewährleistet ist, dass die betreffende Person ad hoc tätig werden kann. Eine solche flexible Handhabung der Dienstzeiten ist vielmehr für Betriebe, in denen nicht alle Mitarbeiter gleichzeitig Dienst versehen, durchaus üblich
Die im Betrieb der Dienstgeberin eingeführte Regel, wonach die Zusteller in der Reihenfolge ihres Eintreffens in der Filiale die einlangenden Aufträge abzuarbeiten hatten, stellt eine (generelle) Weisung dar, zumal sich daraus ergibt, wer welche konkrete Zustellfahrt durchzuführen hat. Darüber hinaus wurden auch individuelle Weisungen erteilt, indem einzelne Zustellfahrten von einem Mitarbeiter (Kassakraft bzw „Koordinator“) angeordnet wurden. Dass Zusteller nicht gegen ihren Willen zum Dienst bzw zu einer konkreten Zustellfahrt eingeteilt werden mussten, liegt daran, dass – zumindest nach den Wahrnehmungen der einvernommenen Zeugen – sich immer ein Ersatz fand, wenn ein Zusteller einen Dienst oder eine Zustellfahrt nicht über-
nehmen wollte, und nicht daran, dass die Dienstgeberin eine derartige Anordnung nicht treffen hätte können.
Es sprechen daher schon Kriterien der Eingliederung und der Weisungsunterworfenheit dafür, dass die Zusteller in einem Dienstverhältnis standen, auch wenn noch weitere Kriterien dafür sprachen – so hatten Zusteller kein unternehmerisches Risiko zu tragen; sie wurden pro Zustellfahrt mit einem bestimmten Betrag entlohnt, auf den sie auch Anspruch hatten, wenn die Speisen nicht ausgeliefert werden konnten; der Kreis der möglichen Vertreter war auf die anderen Zusteller eingeschränkt. (Revision vom BFG nicht zugelassen)
Bearbeiterin: Birgit Bleyer
BFG: Pendlerpauschale bei Gleitzeit
» ARD 6834/19/2023
EStG 1988: § 16 Abs 1 Z 6
PendlerVO: § 1 Abs 4 BFG 28. 11. 2022, RV/5100269/2022
Gemäß § 1 Abs 4 der Pendlerverordnung ist bei flexiblen Arbeitszeitmodellen (beispielsweise gleitender Arbeitszeit) der Ermittlung der Entfernung ein Arbeitsbeginn und ein Arbeitsende zugrunde zu legen, das den überwiegenden tatsächlichen Arbeitszeiten im Kalenderjahr entspricht.
Im vorliegenden Fall ergibt die Berechnung des Pendlerrechners, dass die Benützung des Massenbeförderungsmittels bei einem Arbeitsbeginn bis 6:27 Uhr morgens oder einem Arbeitsende zwischen 18:08 Uhr und 18:24 Uhr aufgrund der Fahrzeit mit dem Massenbeförderungsmittel oder aufgrund der Tatsache, dass kein Massenbeförderungsmittel verkehrt, unzumutbar ist und daher das große Pendlerpauschale für eine Wegstrecke von mehr als 20 km bis 40 km zusteht. Bei einem Arbeitsbeginn ab 6:28 Uhr am Morgen und einem Arbeitsende bis 18:07 Uhr und ab 18:25 Uhr ergibt die Berechnung des Pendlerrechners, dass die Benützung von öffentlichen Verkehrsmitteln auf der überwiegenden Strecke möglich und zumutbar ist und das Pendlerpauschale € 58,- monatlich beträgt.
Die weit überwiegenden tatsächlichen Arbeitszeiten des Beschwerdeführers liegen im Kalenderjahr 2020 ab 6:28 Uhr am Morgen und vor 18:08 Uhr bzw nach 18:24 Uhr am Abend. Somit ist dem Beschwerdeführer aber die Benützung von öffentlichen Verkehrsmitteln auf der überwiegenden Strecke möglich und zumutbar und steht ihm nur das kleine Pendlerpauschale zu. (Revision vom BFG nicht zugelassen)
Bearbeiterin: Birgit Bleyer
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ard.lexisnexis.at ARD 6834 19 RECHTSPRECHUNG