ZWF 1/2024 Leseprobe

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Rainer Brandl | Severin Glaser | Robert Kert | Roman Leitner

Norbert Schrottmeyer | Mario Schmieder | Norbert Wess

Wirtschaftsstrafrecht

VfGH: Handysicherstellung verfassungswidrig

Persönlichkeitsschutz und Akteneinsicht von Beschuldigten

Die „Ermittlungshandlung“ im Strafverfahren

Wie weit reicht die staatliche Strafbefugnis?

Europastrafrecht

EuGH: Grenzüberschreitende Ermittlungen der EUStA

Finanzstrafrecht

Steuerbetrugsbekämpfung und Strafverfolgung

WiEReG-Meldungen und Sanierungsmöglichkeiten

Aus Sicht des Amts für Betrugsbekämpfung

Judikatur aus dem Bereich Finanzstrafsachen

Praxisinformationen

Rechtsprechungsübersicht

Literaturrundschau

Expertenwissen am Punkt.

Steuern. Wirtschaft. Recht. Am Punkt.

Fundierte Analyse von ausgewiesenen Expert*innen

HOLOUBEK | LANG (Hrsg.)

2023

440 Seiten, geb. 978-3-7073-4779-1

€ 125,–

digital erhältlich

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Inhaltsverzeichnis

Wirtschaftsstrafrecht

VfGH: Handysicherstellung verfassungswidrig

Michael Rohregger.............................................................................................................. 2

Aktuelle Rechtsprobleme im Zusammenhang mit Persönlichkeitsschutz und Akteneinsicht von (Mit-)Beschuldigten

Klaus Ainedter / Linda Poppenwimmer....................................................................................... 8

Zum Beginn eines (weiteren) strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens bei der Sichtung sichergestellter Datensätze durch die Strafverfolgungsbehörden

Thomas Pillichshammer / Norbert Wess....................................................................................... 14

Wie weit reicht die staatliche Strafbefugnis?

Konstantina Papathanasiou...................................................................................................... 18

Aus der aktuellen Rechtsprechung

Mario Schmieder / Norbert Wess................................................................................................. 30

Literaturrundschau

Mario Schmieder / Norbert Wess................................................................................................... 32

Rezension – Soyer (Hrsg), Unternehmensstrafrecht, Wettbewerb und Menschenrechtsschutz

Klaus Schwaighofer............................................................................................................................ 33

Europastrafrecht

EuGH: Grenzüberschreitende Ermittlungen der Europäischen Staatsanwaltschaft

Severin Glaser / Robert Kert................................................................................................... 35

Finanzstrafrecht

Steuerbetrugsbekämpfung und Strafverfolgung – internationale Entwicklungen

Elisabeth Köck................................................................................................................. 36

Verfehlungen und Sanierungsmöglichkeiten im Zusammenhang mit WiEReG-Meldungen

Tanja Rösler...........................................................................................................................................

Aus Sicht des Amts für Betrugsbekämpfung

Ausgewählte Judikatur aus dem Bereich Finanzstrafsachen im Jahr 2023 (Teil I)

Martina Elisabeth Eber......................................................................................................... 42

Finanzstrafrecht

Aus der aktuellen Rechtsprechung

Rainer Brandl / Roman Leitner.................................................................................................. 47

Literaturrundschau

Rainer Brandl / Roman Leitner.................................................................................................. 48

IMPRESSUM

Zeitschrift für Wirtschafts- und Finanzstrafrecht

Herausgeber:

StB Dr. Rainer Brandl; Univ.-Prof. Dr. Severin Glaser; Univ.-Prof. Dr. Robert Kert; WP/StB Hon.-Prof. Dr. Roman Leitner; RA Mag. Mario Schmieder; WP/StB Mag. Norbert Schrottmeyer; RA Dr. Norbert Wess.

Medieninhaber und Medienunternehmen:

Linde Verlag Ges.m.b.H., A-1210 Wien, Scheydgasse 24.

Telefon: 01/24 630 Serie. Telefax: 01/24 630-23.

E-Mail: office@lindeverlag.at.

Internet: http://www.lindeverlag.at. DVR 0002356; Rechtsform der Gesellschaft: Ges.m.b.H.; Sitz: Wien. Firmenbuchnummer: 102235x. Firmenbuchgericht: Handelsgericht Wien. ARA-Lizenz-Nr. 3991; ATU 14910701. Gesellschafter: Anna Jentzsch (35 %) und Jentzsch Holding GmbH (65 %). Geschäftsführung: Mag. Klaus Kornherr, Benjamin Jentzsch.

Erscheinungsweise und Bezugspreise:

Periodisches Medienwerk: ZWF –Zeitschrift für Wirtschafts- und Finanzstrafrecht.

Grundlegende Richtung: Fachinformationen zum Wirtschafts- und Finanzstrafrecht. Erscheint sechsmal jährlich.

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VfGH: Handysicherstellung verfassungswidrig

VfGH: Handysicherstellung verfassungswidrig

Michael

in Wien.

Die Sicherstellung und Auswertung digitaler Datenträger geht in Bezug auf deren Auswirkungen weit über die Sicherstellung eines bloßen „Gegenstands“ hinaus und ermöglicht einen so tiefen und detaillierten Einblick in die Kommunikation, das Leben und die Persönlichkeit des Besitzers, dass ihn dies zum gläsernen Menschen macht. Dem werden die derzeitigen Regelungen der StPO über die Sicherstellung nicht gerecht. In seinem Erkenntnis vom 14. 12. 2023, G 352/2021, hat der VfGH eine sehr weitreichende Aufhebung dieser Bestimmungen ausgesprochen, weil sie einen unverhältnismäßigen Eingriff in das Recht auf Achtung des Familienlebens (Art 8 EMRK) und des Grundrechts auf Datenschutz (§ 1 DSG) bewirken. Dieser Beitrag legt dar, wie der VfGH seine Entscheidung begründet, welche Vorgaben er für eine Neuregelung macht und wie eine Neuregelung aussehen könnte, um diesen Vorgaben zu entsprechen.

1.Ausgangssituation

Schon seit einiger Zeit wird kritisch thematisiert, dass die in der StPO enthaltenen Bestimmungen über die Sicherstellung von Gegenständen1 auf digitale Datenträger bzw digitale Daten nicht passen.2 Typischer Fall ist die Sicherstellung eines Mobiltelefons, das sich zwar vordergründig als bloß physischer Gegenstand darstellt,3 in Wahrheit aber ein digitales Abbild seines Besitzers ist, das seine bisherige Kommunikation, seine bisherige Lebensführung sowie seine Persönlichkeit in einer Breite und Detailtiefe erkennen lässt, die ihn zum gläsernen Menschen macht.4

1 §§ 109 ff StPO. An dieser Stelle der StPO befinden sich die Bestimmungen über die Sicherstellung seit BGBl I 2004/19. Davor siehe insbesondere § 143 StPO idF BGBl 1975/631, wo zwar nur von Beschlagnahme die Rede ist, aber aus der Sicht des hier betrachteten Aspekts damit funktional die heutige Sicherstellung gemeint ist. Vgl dazu auch VfGH 14. 12. 2023, G 352/ 2021, Rz 80 f. 2 Vgl zu den möglichen Bedenken Schrank/Stücklberger/ Kleinbrod , Sicherstellung im digitalen Zeitalter, ZWF 2020, 289; Zerbes, Beweisquelle Handy, ÖJZ 2021, 176; Rohregger/Benedik , Aktenleaks – Status quo und Reformüberlegungen, in Lewisch , Wirtschaftsstrafrecht und Organverantwortlichkeit. Jahrbuch 2021 (2021) 47; Ainedter/Poppenwimmer, Sicherstellung und Auswertung von auf Datenträgern gespeicherten Informationen – aktuelle Rechtsprobleme, ZWF 2022, 17; Zerbes/ Ghazanfari, Stellungnahme im Auftrag des Instituts für Anwaltsrecht der Universität Wien zur Sicherstellung und Auswertung von Daten und Datenträgern, AnwBl 2022, 640; Prior, Sicherstellung und Auswertung elektronischer Daten, AnwBl 2023, 554; Zerbes/Ghazanfari, Sicherstellung und Verwertung von Handy-Daten –Reformperspektiven, AnwBl 2023, 559; Fink , Sicherstellung von Datenträgern und Verwertung von Handydaten – Reformperspekt iven, AnwBl 2023, 565; Salimi, Analoge Sicherstellungsbefugnis in einer digitalen Welt? Vortrag im Rahmen der 10. ALES-Jahrestagung am 7. 11. 2023.

3 Theoretisch kann es aus strafprozessualer Sicht auch bei dieser Einordnung bleiben, etwa wenn ein Mobiltelefon als Tatwaffe bei einem Körperverletzungsdelikt eingesetzt oder darin Suchtgift versteckt wurde. Hier ist das Mobiltelefon tatsächlich nicht mehr als ein bloßer „Gegenstand“

4 Zutreffend wird vom „Logbuch“ des Beschuldigten gesprochen: Zerbes/Ghazanfari, AnwBl 2023, 559 (560).

Die Schwere eines solchen Eingriffs steht dabei in einem Missverhältnis zur Niederschwelligkeit der Eingriffsvoraussetzungen: Die Sicherstellung bedarf auf formaler Ebene nur einer Anordnung der Staatsanwaltschaft5 und hat materiell lediglich einen Anfangsverdacht sowie die Eignung des sichergestellten Gegenstands als Beweismittel zur Voraussetzung. Weiterer Voraussetzungen, wie etwa einer bestimmten Schwere der vermuteten Straftat oder einer gerichtlichen Bewilligung, bedarf es – anders als bei vergleichbar eingriffsintensiven Ermittlungsmaßnahmen6 – hingegen nicht.7 Spezifische Begleitregelungen, wie mit derart großen Datenbeständen umzugehen ist, fehlen überhaupt zur Gänze.

Die Defizite der aktuellen Rechtslage sind vom Gesetzgeber bei Erlassung der Regelungen sicher nicht beabsichtigt gewesen, sondern historisch erklärbar: Bei Schaffung der einschlägigen Bestimmungen8 gab es weder Mobiltelefone noch Datenbestände mit einer Leistungsfähigkeit oder Größe, die ausgereicht hätte, um die heute beobachtbaren nachteiligen Effekte bewirken zu können. Auf diese technischen Entwicklungen und die daraus resultierende, völlig anders gelagerte Mächtigkeit von Datenbeständen hat der Gesetzgeber bislang nicht reagiert.

2.Anlassfall

Anlassfall war eine Anordnung der Staatsanwaltschaft Klagenfurt, mit der in einem wegen

5 Bei Vorliegen der in § 110 Abs 3 StPO genannten Voraussetzungen kann eine Sicherstellung sogar durch die Kriminalpolizei von sich aus erfolgen (dazu VfGH 14. 12. 2023, G 352/2021, Rz 45). Vgl weiters § 99 Abs 2 StPO für den Fall, dass Gefahr in Verzug ist.

6 Vgl etwa §§ 116, 118, 119 ff, 123 f, 130 ff, 134 und 147 ff StPO.

7 Freilich gilt immer das allgemeine Verhältnismäßigkeitsprinzip gemäß § 5 StPO. Dass dieses bei komplexeren Konstellationen aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht genügt, hat der VfGH in Rz 89 seines Erkenntnisses vom 14. 12. 2023, G 352/2021, klar festgehalten. Vgl weiters die konkretisierende Aussage in Rz 46.

8 Zur Historie siehe FN 1.

Hon.-Prof. Dr. Michael Rohregger ist Rechtsanwalt

§153 StGB geführten Ermittlungsverfahren das Mobiltelefon und der Outlook-Kalender eines Beschuldigten sichergestellt wurden. Dagegen erhob der Beschuldigte Einspruch wegen Rechtsverletzung mit der Begründung, die Maßnahme sei unverhältnismäßig, weil das Mobiltelefon einen uferlosen Zugriff auf seine Lebensumstände und seine Lebensgeschichte ermögliche sowie auch Daten zugänglich würden, die in einer Cloud gespeichert seien. Nach Abweisung seines Einspruchs erhob der Beschuldigte Beschwerde an das Oberlandesgericht Graz und brachte aus deren Anlass einen Parteiantrag auf Normenkontrolle beim VfGH ein. In diesem wurde die Verfassungswidrigkeit jener Bestimmungen der StPO releviert, die eine Sicherstellung digitaler Datenträger bzw digitaler Daten erlauben. Geltend gemacht wurde eine Verletzung des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art 8 EMRK), des Grundrechts auf Datenschutz (§ 1 DSG) sowie des Gleichheitsgrundsatzes (Art 7 B-VG; Art 2 StGG).

3.Das Erkenntnis des VfGH

Der VfGH ist den Argumenten des Antragstellers im Wesentlichen gefolgt und hat § 110 Abs1 Z 1 und Abs 4 sowie § 111 Abs 2 StPO als verfassungswidrig aufgehoben. Als verletzt angesehen hat der VfGH Art 8 EMRK und § 1 DSG. Eine Prüfung der ebenfalls geltend gemachten Gleichheitswidrigkeit hat sich nach Ansicht des VfGH erübrigt,9 eine Verletzung des ebenfalls vorstellbaren Fernmeldegeheimnisses gemäß Art 10a StGG wurde im Antrag nicht behauptet.10

Die Begründung des Erkenntnisses ist sehr gehaltvoll: Der VfGH geht in den Rz 32 bis 102 ausführlich darauf ein, welche Aspekte für die Intensität des durch eine Sicherstellung bewirkten Rechtseingriffs von Bedeutung sind, ob diese Aspekte in den Eingriffsvoraussetzungen ausreichend abgebildet sind, und weshalb eine Verhältnismäßigkeitsprüfung diesbezüglich negativ ausfällt. In seinen Ausführungen lässt der VfGH auch erkennen, welchen Anforderungen eine verfassungskonforme Rechtslage genügen muss, und macht insoweit Vorgaben für die notwendige Neuregelung.

Folgende wesentliche Aspekte lassen sich der Begründung des Erkenntnisses entnehmen:

3.1.Legitimes Ziel, Eignung zur Zielerreichung

Zunächst hält der VfGH fest, dass es sich bei dem durch die §§ 110 ff StPO angestrebten Ziel der Verfolgung strafbarer Handlungen mittels Sicherstellung (Zugriff und Auswertung) von Beweismitteln, zu denen auch Datenträger zählen, um ein legitimes Ziel iSd § 1 Abs 2 DSG und

9 VfGH 14. 12. 2023, G 352/2021, Rz 104.

10 Dazu Salimi, Sicherstellungsbefugnis, Vortrag am 7. 11. 2023.

Art 8 Abs 2 EMRK handelt, und die vorgesehenen Befugnisse zur Zielerreichung auch geeignet sind.11 Daran kann natürlich kein Zweifel bestehen, und anderslautende Bedenken wurden im Verfahren auch gar nicht vorgebracht. Interessant ist hier aber die implizit enthaltene Aussage des VfGH, dass eine Sicherstellung sowohl den Zugriff als auch die Auswertung umfasst.12

3.2.Besondere Intensität des Eingriffs

Nach Auffassung des VfGH kommt der Ermittlungsmaßnahme der Sicherstellung von Datenträgern eine besondere Eingriffsintensität zu.13

Dies folgt für den VfGH daraus, dass

 eine Sicherstellung bereits beim Vorliegen eines Anfangsverdachts zulässig ist;

 der Verdacht irgendeiner Straftat genügt und nicht eine Straftat bestimmter Schwere erforderlich ist;

 eine Sicherstellung nicht nur gegenüber einem Verdächtigen, sondern auch gegenüber einem (nicht verdächtigen) Dritten erfolgen kann;

 die Ermittlungsbehörden potenziell Zugriff auf sämtliche (auch sensible) Daten, die auf dem sichergestellten Datenträger (lokal oder extern) gespeichert sind oder gespeichert waren, somit zu allen inhaltlichen Daten und Verbindungsdaten haben;

 die Sicherstellung von auf Datenträgern wie PC, Notebook oder Mobiltelefon gespeicherten Daten und deren außerordentliche Streubreite den Zugriff auf Informationen über sämtliche Lebensbereiche der betroffenen Person sowie – möglicherweise sogar unter Zuhilfenahme prädiktiver Analysemethoden – die Erstellung eines umfassenden Verhaltens- und Bewegungsprofils des Betroffenen einschließlich detaillierter Rückschlüsse auf sein Verhalten, seine Persönlichkeit, seine Kontakte, seine Gesundheit und seine Gesinnung ermöglicht;

 sich durch die (technische) Möglichkeit, bereits gelöschte Daten zu rekonstruieren, die den Ermittlungsbehörden durch die Sicherstellung von Datenträgern ermöglichte Einsicht auch auf Daten erstreckt, die (potenziell unbegrenzt) in der Vergangenheit auf dem Datenträger verfügbar waren;

 es den Ermittlungsbehörden offensteht, die auf dem Datenträger vorhandenen Daten mit anderen ihnen zur Verfügung stehenden Daten zu verknüpfen;

 von der Ermittlungsmaßnahme nicht nur Personen betroffen sind, gegen die ein Anfangsverdacht der Begehung einer Straftat besteht, sondern sämtliche Personen, deren

11 VfGH 14. 12. 2023, G 352/2021, Rz 62; vgl weiters Rz76.

12 Vgl insbesondere VfGH 14. 12. 2023, G 352/2021, Rz70, 72 und 75.

13 Vgl insbesondere VfGH 14. 12. 2023, G 352/2021, Rz37, 65 ff, 71 f, 75 und 95.

Daten sich auf dem sichergestellten Datenträger befinden;

 für den Betroffenen nicht ersichtlich ist, in welcher Form Daten verändert wurden und in welcher Form die Auswertung der auf dem Datenträger (extern oder lokal) gespeicherten Daten erfolgt (ob zB gelöschte Daten wiederhergestellt werden, eine Verknüpfung mit anderen Daten vorgenommen wird etc).14

3.3.Unzureichende Zulässigkeitsvoraussetzungen und Vorgaben des VfGH für Neuregelung

Vor dem Hintergrund der besonderen Eingriffsintensität wären Zulässigkeitsvoraussetzungen erforderlich, die dem angemessen Rechnung tragen. Dem entspricht das Gesetz nach Ansicht des VfGH nicht, und er stellt klar, welche Kriterien dafür eine Rolle spielen und daher bei einer Neuregelung zu beachten sind. Eines dieser Kriterien – nämlich die vorhergehende richterliche Bewilligung der Sicherstellung – ist nach Ansicht des VfGH obligatorisch, die übrigen stellen eine Art bewegliches System dar. Folgende wesentliche Kriterien lassen sich dem Erkenntnis entnehmen:

3.3.1.Vorhergehende richterliche Bewilligung

Die Weite der Eingriffsbefugnisse erfordert einen wirksamen Rechtsschutz, durch den das Vorliegen der Voraussetzungen für die Sicherstellung und die Auswertung der Daten effektiv geprüft und ein Befugnismissbrauch unterbunden werden kann. Ein solcher effektiver Rechtsschutz kann im gegenständlichen Fall nach Ansicht des VfGH nur durch eine vorhergehende richterliche Bewilligung gewährleistet werden.15

Die derzeit geltenden Rechtsmittel reichen dafür nicht aus, weil die Betroffenen keine Kenntnis von der tatsächlichen Vorgangsweise bei der Auswertung und vom Umfang der ausgewerteten Daten haben.16

Dem ist zweifellos zuzustimmen, und die Aussage des VfGH lässt keinen Zweifel daran, dass eine Neuregelung jedenfalls17 eine vorherige richterliche Bewilligung vorsehen muss.18

14 Zu einer „geheimen“ oder „verdeckten“ Ermittlungsmaßnahme wird die Sicherstellung nach Ansicht des VfGH dadurch aber nicht (VfGH 14. 12. 2023, G 352/ 2021, Rz 75). Zu diesem Aspekt der Sicherstellung Zerbes/Ghazanfari, AnwBl 2023, 559 (560).

15 VfGH 14. 12. 2023, G 352/2021, Rz 77–82. Der VfGH thematisiert in Rz 80 f zu Recht auch, dass sich hier Sicherstellung und Beschlagnahme von den Wirkungen her nicht unterscheiden, im ersten Fall aber ohne und im zweiten Fall mit Mitwirkung des Gerichts erfolgen.

16 VfGH 14. 12. 2023, G 352/2021, Rz 86–88.

17 Der VfGH stellt aber auch klar, dass eine bloß vorhergehende richterliche Bewilligung nicht in allen Fällen ausreichend ist; vgl VfGH 14. 12. 2023, G 352/2021, Rz96.

18 Gerade bei Mobiltelefonen wird aber eine Sicherstellung durch die Kriminalpolizei bei Gefahr im Verzug ermöglicht werden müssen (§ 99 Abs 3 StPO). In diesem Fall sollte mit einer Auswertung erst begonnen werden dürfen, wenn die Bewilligung vorliegt.

Der VfGH kommt zu diesem Ergebnis bereits aufgrund einer Verhältnismäßigkeitsprüfung anhand des Art 8 EMRK und des § 1 DSG. Interessant wäre hier gewesen, wie der VfGH die Sicherstellung von Datenträgern und Daten im Vergleich mit anderen Ermittlungsmaßnahmen sieht, die intentional oder von ihren Wirkungen her einer Sicherstellung vergleichbar sind und einem richterlichen Genehmigungsvorbehalt unterliegen. So ähnelt die Sicherstellung eines Mobiltelefons in manchen Punkten der Kommunikationsüberwachung.19 An die dortigen Bewilligungsvoraussetzungen könnte man sich daher bei einer Neuregelung anlehnen.20 Angesichts der umfassenden Möglichkeit, Zufallsfunde auch bei ex post für unzulässig erklärten Sicherstellungen verwerten zu können, kommt dem Aspekt der Ex-ante-Kontrolle eine gewichtige Bedeutung zu. Eine bloß nachträgliche Kontrolle vermag zwar formal die rechtswidrige Sicherstellung zu beseitigen, aber nicht eine bereits erfolgte Auswertung und die daraus gewonnene Kenntnis der Ermittlungsbehörden.21

3.3.2.Berücksichtigung von Art und Schwere der Anlasstat

Nach Ansicht des VfGH kann es einen Unterschied machen, ob eine Sicherstellung von Datenträgern bei allen oder nur bei bestimmten Straftaten vorgesehen wird, zB nur bei schweren Straftaten oder etwa nur bei Cyberkriminalität.22 Damit übernimmt der VfGH ein Konzept, das der StPO an sich bereits inhärent ist und bei vielen Ermittlungsmaßnahmen ihren Niederschlag gefunden hat: Je eingriffsintensiver eine Ermittlungsmaßnahme ist, desto enger werden deren Zulässigkeitsvoraussetzungen gezogen, was Art und Schwere der Anlasstat betrifft.23

3.3.3.Begrenzung und Nachvollziehbarkeit der Auswertung

Die Zulässigkeit einer Sicherstellung kann nach Ansicht des VfGH auch davon abhängen, ob der Gesetzgeber Vorkehrungen trifft, dass die Auswertung nachvollziehbar sowie überprüfbar ist und der Datenträger nur im erforderlichen Ausmaß ausgewertet wird.24 Derzeit, so der VfGH, sei weder inhaltlich noch in verfahrenstechnischer Hinsicht geregelt, wie die Auswertung zu erfolgen habe.25

19 Vgl §§ 134 Z 3 und 4, 135 Abs 3 und 137 Abs 1 Satz 3 StPO. Dazu eingehend Zerbes , ÖJZ 2021, 176, und Zerbes/Ghazanfari, AnwBl 2023, 559 (559 f).

20 Salimi, Sicherstellungsbefugnis, Vortrag am 7. 11. 2023.

21 Nur ausnahmsweise normiert der Gesetzgeber anderes, etwa in § 140 oder § 112 Abs 2 letzter Satz StPO. Auch bei einer solchen Anordnung bleibt aber wohl fraglich, ob und wie ein Ermittlungsbeamter das gewonnene Wissen rückstandsfrei wieder vergessen kann.

22 VfGH 14. 12. 2023, G 352/2021, Rz 99; vgl weiters Rz44.

23 Vgl dieses Konzept etwa in §§ 123 Abs 2 und 4, 130 Abs3, 131 Abs 2, 135 Abs 2 Z 3 und Abs 3 Z 3, 136 Abs1 Z 3 und 141 Abs 3 StPO.

24 VfGH 14. 12. 2023, G 352/2021, Rz 100.

25 VfGH 14. 12. 2023, G 352/2021, Rz 39.

Hier wird bei einer Neuregelung zu überlegen sein, wie man eine auf das erforderliche Ausmaß eingeschränkte Auswertung sicherstellen kann. Im Prinzip muss – um überhaupt prüfen zu können, ob etwas verfahrensrelevant ist – der gesamte Datenbestand durchgesehen werden. Das könnte freilich (und ist bei größeren Datenbeständen auch gar nicht anders möglich) automatisiert – etwa durch Anwendung von Filtern –geschehen. Hier fehlen derzeit Regelungen zur Frage, wie die anzuwendenden Filterkriterien ausgewählt und festgelegt werden und was mit jenem Datenbestand zu geschehen hat, der nicht als Treffer ausgeworfen wird. Die Frage ist auch ganz entscheidend dafür, wie groß die Wahrscheinlichkeit von Zufallsfunden ist.

3.3.4.Wahrung der Rechte Betroffener

Der Gesetzgeber hat nach Ansicht des VfGH zu gewährleisten, dass die von der Sicherstellung eines Datenträgers und der Auswertung der Daten Betroffenen in geeigneter Weise jene Informationen erhalten können, die zur Wahrung ihrer Rechte notwendig sind.26

Dieser Aspekt ist in der Praxis ein ganz wesentlicher: In vielen Fällen – und praktisch immer bei Mobiltelefonen – verliert der Betroffene durch die Sicherstellung den Zugriff auf seine Daten. Allenfalls mag von einem anderen Gerät ein paralleler Zugriff auf Cloud-Speicher möglich sein, aber die lokal gespeicherten Daten sind im Regelfall nicht mehr zugänglich. Abgesehen davon, dass der (zumindest vorübergehende) Verlust der Daten rein faktisch für den Betroffenen ein Problem darstellt, ist ihm auch der Zugriff auf möglicherweise entlastendes Beweismaterial entzogen.27 Geboten wäre daher, dem Betroffenen eine Kopie des Datenbestands auszuhändigen. Dies stößt bei verschlüsselten Datenbeständen auf technische Probleme.28 Die rasche Aushändigung des Originalgeräts davon abhängig zu machen, dass der Betroffene freiwillig seine Zugangsdaten bekannt gibt, sodass für die Auswertung eine forensische Kopie angefertigt werden kann, ist zwar der Aufklärung dienlich und beseitigt das Problem sofort, setzt aber einen – in Wahrheit nicht sehr – freiwilligen Verzicht auf Beschuldigtenrechte voraus. In der Literatur wurden dazu aber bereits sehr brauchbare Lösungsansätze entwickelt.29

3.3.5.Effektive unabhängige Aufsicht Zuletzt bringt der VfGH noch als relevantes Kriterium ins Spiel, ob der Gesetzgeber effektive Maßnahmen einer unabhängigen Aufsicht vorsieht, die überprüft, ob sich die Ermittlungsbe-

26 VfGH 14. 12. 2023, G 352/2021, Rz 101.

27 Vgl demgegenüber das umfassende Einsichtsrecht in die Ergebnisse der Ermittlungstätigkeit gemäß § 139

Abs 1 StPO.

28 Dazu unten Pkt 4.1.

29 Siehe insbesondere Zerbes/Ghazanfari, AnwBl 2022, 640 (644 f und 649 f).

hörden bei der Datenauswertung im Rahmen der gerichtlichen Bewilligung bewegt haben und die Geheimhaltungsinteressen der Betroffenen in verhältnismäßiger Weise gewahrt wurden.30

Wer dafür in Betracht kommt, wird im Erkenntnis nicht thematisiert. Denkbar wäre eine Aufnahme der Sicherstellung in den Zuständigkeitskatalog des Rechtsschutzbeauftragten gemäß § 147 Abs 1 StPO, sofern man ihn für entsprechend unabhängig hält.31 Ebenso vorstellbar wäre die Einrichtung einer gerichtlichen Kontrollinstanz.

3.4.Verfahrensrechtliche Aspekte

Da die StPO die Sicherstellung digitaler Datenträger nicht eigenständig regelt, sondern als einen normalen Fall der Sicherstellung von Gegenständen behandelt,32 war dem VfGH eine punktgenaue Bereinigung der Rechtslage nicht möglich. Der Gerichtshof war daher gezwungen, auf die Möglichkeit zur Sicherstellung insgesamt zu greifen. Die Aufhebung insbesondere des § 110 Abs 1 Z 1 StPO bewirkt daher, dass – nach Inkrafttreten der Aufhebung mit 1. 1. 2025 – Sicherstellungen aus Beweisgründen überhaupt nicht mehr zulässig sind.33

Das geht von den Rechtswirkungen weit über das hinaus, was eigentlich für verfassungswidrig befunden wurde. Denn dafür, dass auch die Sicherstellung anderer Gegenstände als digitaler Datenträger verfassungswidrig wäre, findet sich im Erkenntnis kein Anhaltspunkt. Das steht in einem gewissen Spannungsverhältnis zur Rechtsprechung des VfGH, wonach nicht mehr aus dem Rechtsbestand ausgeschieden werden darf, als zur Bereinigung der Verfassungswidrigkeit erforderlich ist. Immerhin kann man seine Rechtsprechung aber so deuten, dass eine überschießende Bereinigung dann zulässig ist, wenn nur auf diesem Weg eine Bereinigung der Verfassungswidrigkeit möglich ist.34 Derart weitgehender „Beifang“ wie im vorliegenden Erkenntnis ist aber eher selten.

Konsequenz daraus ist freilich, dass eine Neuregelung vor dem 1. 1. 2025 unumgänglich ist, sofern nicht eine eklatante Regelungslücke entstehen soll. Es ist daher anzunehmen, dass entsprechende legistische Arbeiten im BMJ bereits im Gange sind und wohl noch vor dem Sommer mit ersten Vorschlägen zu rechnen ist.

30 VfGH 14. 12. 2023, G 352/2021, Rz 102.

31 Vgl dazu VfSlg 20.356/2019.

32 Die spezifisch für digitale Daten geltenden Bestimmungen, wie etwa § 111 Abs 2 StPO, schaffen nur eine Erweiterung der Verpflichtungen im Fall einer Sicherstellung, bilden aber keine eigenständige Rechtsgrundlage für die Anordnung einer Sicherstellung von Daten.

33 Vorbehaltlich natürlich einer Neuregelung, die mit größter Wahrscheinlichkeit rechtzeitig zu erwarten ist. Das Wiederinkrafttreten früherer Regelungen hat der VfGH in Spruchpunkt III. seines Erkenntnisses vom 14.12. 2023, G 352/2021, zu Recht ausgeschlossen, denn die frühere Rechtslage hätte noch weniger gepasst als die aktuelle. Erwägungen dazu finden sich im Erkenntnis aber nicht.

34 Vgl ähnlich die Konstellationen in VfSlg. 11.190/1986.

Da die Problemstellung seit Längerem absehbar war, gibt es bereits einschlägige Vorarbeiten von wissenschaftlicher Seite.35 Bis zu ihrem Außerkrafttreten sind die aufgehobenen Bestimmungen – trotz deren feststehender Verfassungswidrigkeit – unangreifbar.36 Soweit sie bei ihrem Vollzug eine Berücksichtigung der Erwägungen des VfGH aber zulassen, wäre dies im Weg der verfassungskonformen Interpretation bereits geboten.

3.5.Würdigung

Sowohl das Ergebnis als auch die Begründung des Erkenntnisses des VfGH überzeugen. Der Gerichtshof hat die tatsächlichen Auswirkungen der Sicherstellung großer Datenbestände lebensnah gewürdigt, zu Recht das Fehlen von Regelungen festgestellt, die der hohen Eingriffsintensität Rechnung tragen, und auch dargelegt, welche zusätzlichen Eingriffsvoraussetzungen zur Verfügung stehen, um die verfassungsrechtlich geforderte Verhältnismäßigkeit herzustellen. Auf die Frage der grundsätzlichen Zulässigkeit der Sicherstellung von Mobiltelefonen und Datenbeständen gibt das Erkenntnis somit eine recht ausführliche Antwort.37

4.Offene Punkte

Neben den im Verfahren vor dem VfGH aufgeworfenen Fragen stellen sich im Zusammenhang mit digitalen Datenträgern und digitalen Daten aber einige weitere, die in Strafverfahren eine Rolle spielen. Tatsächlich stellen sich die nun beantworteten Fragen bloß als Teil eines größeren Fragenkomplexes dar, der sich rund um digitale Datenträger und digitale Daten rankt. An weiteren Aspekten können hier insbesondere genannt werden:

4.1.Verschlüsselte Daten

Offen ist derzeit die Frage, wie mit verschlüsselten Datenbeständen umzugehen ist.38 Die StPO behandelt hier nur den Aspekt der Verpflichtung zur Bekanntgabe des Schlüssels.39 Das löst Verschlüsselungsthemen nur, wenn auf diese Weise die Entschlüsselung rasch gelingt. In anderen Fällen aber – etwa wenn der Schlüssel nur dem nicht zur Herausgabe verpflichteten Beschuldigten bekannt ist40 – befindet sich ein Datenbestand bei der Ermittlungsbehörde, der potenziell zur Aufklärung beitragen kann, ihr aber (derzeit) nicht zugänglich ist.

35 Siehe insbesondere Zerbes/Ghazanfari, AnwBl 2022, 640, und Zerbes/Ghazanfari, AnwBl 2023, 559.

36 Rohregger in Korinek/Holoubek, B-VG, Art 140 Rz 312.

37 Eine weitere Antwort, allerdings aus einem anderen Blickwinkel, ist im Fall Bezirkshauptmannschaft Landeck des EuGH zu C-548/21 zu erwarten.

38 Zum Thema Verschlüsselung ausführlich Schrank/ Stücklberger/Kleinbrod, ZWF 2020, 289.

39 § 111 Abs 2 StPO.

40 Tipold/Zerbes in Fuchs/Ratz, WK StPO, § 111 Rz 13/1; Zerbes, ÖJZ 2021, 176; Ainedter/Poppenwimmer, ZWF 2022, 17.

Hier muss überlegt werden, wie lange in solchen Fällen mit Entschlüsselungsversuchen verbracht bzw in der Hoffnung auf eine spätere Entschlüsselungsmöglichkeit zugewartet werden darf. Fehlerlose Verschlüsselungsalgorithmen in Kombination mit ausreichend langen Schlüsseln sind nach derzeitigem Stand der Technik auch mit exzessivem Aufwand nicht knackbar. Dazu kommt das Problem, dass bei hardwareseitiger Verschlüsselung41 das Passwort nur im Gerät vorhanden ist und nicht ausgelesen werden kann, sodass Bit-idente Kopien selbst vom Beschuldigten unter Zuhilfenahme des (nur) ihm bekannten Passworts nicht entschlüsselt werden können.42 Zur Entschlüsselung bedarf es technisch zwingend sowohl des Originalgeräts als auch des (nur) dem Beschuldigten bekannten Schlüssels. Dem Beschuldigten fehlt Ersteres, der Ermittlungsbehörde Zweiteres.

4.2.Daten versus Datenträger

Die aktuelle Rechtslage differenziert kaum zwischen digitalen Datenträgern und digitalen Daten. Zwar weiten die Ermittlungsbehörden zumeist – wohl durch systematische Interpretation des (an sich nur von „Gegenständen“ sprechenden) § 109 Z 1 StPO mit insbesondere §§ 110 Abs 4 und 111 Abs 2 StPO – den Anwendungsbereich der Sicherstellung auch auf digitale Daten aus. Hier könnte aber überlegt werden, ob die physische/haptische Sicherstellung eines Gegenstands nicht ein (ganz) anderes Regelungsregime erfordert als der Zugriff auf digitale Daten und deren inhaltliche Auswertung. Als sensibel erweist sich in der Praxis im Regelfall nämlich nur die Auswertung von Daten, nicht die rein physische Sicherstellung des Datenträgers.43 Eine solche Trennung würde auch einen deutlich differenzierteren Rechtsschutz erlauben. Das in der Praxis vordringlichste, eher auf technischer Ebene liegende Problem bei Sicherstellung digitaler Daten besteht darin, dass die Sicherstellung der – fallbezogen durchaus sehr eng umschreibbaren – verfahrensgegenständlichen Einzeldaten nur gelingt, wenn man physisch einen Datenträger sicherstellt, auf dem sich diese Daten – aber auch ein um viele Größenordnungen umfangreicherer Datenbestand als „Beifang“44 – befinden. Setzt man – wie es

41 Diese Verschlüsselung ist technisch von der PIN- bzw Passworteingabe zu unterscheiden: Der Schlüssel ist im Gerät hinterlegt, man muss ihn nicht eingeben und kennt ihn gar nicht. Selbst eine Bit-idente Kopie des Datenbestands ist in solchen Fällen unlesbar, weil ohne den physischen Chip, auf dem der interne (unbekannte und nicht auslesbare) Schlüssel hinterlegt ist, eine Entschlüsselung auch bei Kenntnis aller sonstigen PINs und Zugangspasswörter nicht möglich ist.

42 Zur daraus resultierenden Intransparenz Zerbes/ Ghazanfari, AnwBl 2022, 640 (649 f).

43 So auch Salimi, Sicherstellungsbefugnis, Vortrag am 7.11. 2023.

44 Anders als bei überschießender Sicherstellung von Papierunterlagen, ist hier nicht bloß vom Doppelten oder Dreifachen zu sprechen, sondern durchaus vom 100-, 1.000- oder 10.000-Fachen.

derzeit durch die Ermittlungsbehörden geschieht – die technisch notwendige, inhaltlich aber überschießende Sicherstellung des Datenträgers mit der Sicherstellung der darauf befindlichen Daten gleich, so führt die Sicherstellung des Datenträgers (in Kombination mit der weitgehend unbeschränkten Verwertbarkeit von Zufallsfunden)45 zu einer strafrechtlichen Komplettdurchleuchtung des Beschuldigten. Das eigene Mobiltelefon wird solcherart zum freiwillig angelegten Vorratsdatenspeicher.46

Dem könnte entgegenwirkt werden, indem der Sicherstellungsvorgang rechtlich klar in zwei Phasen gegliedert wird, nämlich zum einen in die physische Sicherstellung des Datenträgers, die rechtlich noch nicht als Sicherstellung aller darauf befindlichen Daten qualifiziert wird, sowie zum anderen in die Einräumung der Berechtigung zum Lesen und Auswerten der darauf befindlichen – fallbezogenen – Daten selbst. In der Praxis wird eine solche Trennung auf Basis der geltenden Rechtslage bereits versucht, diese bietet aber keine ausreichend präzisen Vorgaben für eine Trennung in zwei Phasen. Würde hier eine passende Neuregelung samt Etablierung einer tauglichen technischen Schnittstelle gelingen, die etwa in einer Herausfilterung der fallbezogenen Daten und –vollständigen, nicht wiederherstellbaren (!) –Verwerfung der übrigen Daten, die dann nicht Inhalt des Anlassverfahrens werden dürfen, bestehen könnte, wäre das eine deutliche Verbesserung des Rechtsschutzes. Möglich wäre etwa, die rein physische Sicherstellung von Datenträgern unter relativ geringe Zulässigkeitsvoraussetzungen zu stellen, die Art und den zulässigen Umfang der Auswertung der darauf befindlichen Daten aber von weiteren Kriterien abhängig zu machen und hier verschiedene Intensitäten zuzulassen.

4.3.Sicherstellung von Daten(-trägern) als neue Kategorie an Ermittlungsmaßnahmen?

Eine Zusammenschau aller Fragen und Probleme bei der Sicherstellung und Auswertung digitaler Datenträger und digitaler Daten zeigt, dass hier die technische Entwicklung in Wahr-

45 Zum Aspekt von Zufallsfunden bei Sicherstellung umfangreicher Datenbestände Zerbes/Ghazanfari, AnwBl 2022, 640 (647 ff).

46 Dass eine gesetzliche Verpflichtung dazu wohl verfassungswidrig wäre, ergibt sich aus VfSlg 19.892/2014.

heit eine neue Kategorie an Ermittlungsmaßnahmen hervorgebracht hat.47 Fragen der Verschlüsselung, der Cloud-Speicherung, der Sensibilität und Mächtigkeit großer Datenbestände sowie auch der Struktur der vom VfGH angesprochenen Aufsicht bedürften einer konsistenten Neukodifikation.48 Das erfordert eine grundlegende Auseinandersetzung mit technischen Aspekten und wird innerhalb der vom VfGH für das Außerkrafttreten der Aufhebung gesetzten Frist (1. 1. 2025) nicht zu leisten sein, könnte aber als zukünftiges legistisches Vorhaben ins Auge gefasst werden.

▶ Auf den Punkt gebracht

Der VfGH hat die Regelungen über die Sicherstellung digitaler Datenträger wegen Verfassungswidrigkeit mit 1. 1. 2025 aufgehoben. Entscheidend dafür war, dass digitale Datenbestände einen derart tiefen Einblick in die Kommunikation, das Leben und die Persönlichkeit des Betroffenen gewähren, dass zumindest eine vorhergehende gerichtliche Bewilligung, unter Umständen auch noch weitere Zulässigkeitsvoraussetzungen, im Gesetz vorgesehen sein müssen. Dass derzeit ein Anfangsverdacht und eine Anordnung der Ermittlungsbehörde genügen, bewirkt einen unverhältnismäßigen Eingriff in das Recht auf Privatleben (Art 8 EMRK) und das Grundrecht auf Datenschutz (§ 1 DSG).

Die Aufhebung erfasst alle Sicherstellungen zu Beweiszwecken. Eine Neuregelung vor dem 1. 1. 2025 ist daher unumgänglich und könnte sich einigen grundsätzlichen Fragen widmen, die sich bei digitalen Datenbeständen in Strafverfahren stellen.

47 Vgl VfGH 14. 12. 2023, G 352/2021, Rz 70, wo der Gerichtshof festhält, dass die Sicherstellung eines Datenträgers nicht mit der Sicherstellung und Auswertung anderer Gegenstände iSd § 109 Z 1 lit a StPO verglichen werden kann und darüber hinausgehende verfassungsrechtliche Fragen aufwirft.

48 Denkbar wäre ein eigener Abschnitt im 8. Hauptstück der StPO. Systematisch fänden dort auch die seit Längerem als notwendig erkannten Bestimmungen über die Sicherstellung, Beschlagnahme und Verwertung von Kryptowährungen ihren Platz; vgl Salimi, Sicherstellungsbefugnis, Vortrag am 7. 11. 2023.

Aktuelle Rechtsprobleme im Zusammenhang mit Persönlichkeitsschutz und Akteneinsicht von (Mit-)Beschuldigten

RA Mag. Klaus Ainedter ist Partner der Kanzlei Ainedter & Ainedter RAe in Wien und vertritt derzeit zwei Beschuldigte im sogenannten IbizaVerfahren.

Mag. Linda Poppenwimmer ist als geprüfte Rechtsanwaltsanwärterin für RA Mag. Klaus Ainedter in Wien tätig.

Im Beitrag der Autoren im Märzheft 20231 wurde ausgehend vom Urteil des OGH vom 24.8. 2022, 14 Os 82/22y, wonach eine – verfassungsrechtlich (§ 1 DSG; Art 8 EMRK) gebotene – Interessenabwägung in Bezug auf die Frage des Umfangs der Akteneinsicht nach §51 Abs 1 StPO und des Persönlichkeitsschutzes von Beschuldigten im Strafverfahren im Verhältnis zu Mitbeschuldigten unter Verweis auf § 51 Abs 2 StPO nicht vorzunehmen ist, weil das verfassungsgesetzlich gewährleistete (vgl Art 6 Abs 1 iVm Abs 3 lit a und b MRK) Recht auf Akteneinsicht eines Beschuldigten nur aus den in § 52 Abs 1 StPO normierten Gründen eingeschränkt werden darf, dargelegt, dass vor diesem Hintergrund der Frage, welche personenbezogenen Daten überhaupt „veraktet“ werden dürfen und folglich der Akteneinsicht unterliegen, besondere Bedeutung zukommt.

Im Zusammenhang mit dem Recht des Beschuldigten auf Akteneinsicht im Ermittlungsverfahren (§ 51 Abs 1 StPO) als Fundament umfassender Verteidigung2 wurde auf den Grundsatz der Aktenvollständigkeit und die Unzulässigkeit der rein faktischen Beschränkung der Akteneinsicht eingegangen, wobei zu diesen Themen im Sprengel des OLG Wien im Jahr 2023 mehrere Gerichtsentscheidungen ergangen sind, die – neben dem unverändert fehlenden Schutz von Persönlichkeitsrechten – eine erhebliche Einschränkung der Verteidigungsrechte zum Nachteil von Beschuldigten bedeuten und daher im Folgenden nach einer kompakten Darstellung der Rechtslage näher erläutert werden.

1.Grundsätzliches zum Recht des Beschuldigten auf Akteneinsicht Wie bereits im Beitrag der Autoren im Märzheft 2023 ausgeführt,3 ist das verfassungsrechtlich gewährleistete4 Recht des Beschuldigten auf Akteneinsicht5 einfachgesetzlich in § 49 Abs 1 Z 3 StPO garantiert und in §§ 51 bis 53 StPO näher geregelt.6

Gemäß § 51 Abs 1 StPO ist der Beschuldigte berechtigt, in die der Kriminalpolizei, der Staatsanwaltschaft und dem Gericht vorliegenden Ergebnisse des Ermittlungs- und des Hauptverfahrens Einsicht zu nehmen sowie Beweisgegenstände in Augenschein zu nehmen, soweit dies ohne Nachteil für die Ermittlungen möglich ist.

Das Recht auf Akteneinsicht soll sämtliche Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens umfassen, weshalb Kriminalpolizei, Staatsanwaltschaft und Gericht zu einer am Grundsatz der Aktenvollständigkeit orientierten Aktenbildung verpflichtet sind. Dadurch soll gewährleistet sein, dass keine relevanten Informationen zurückgehalten werden können.7

Ermittlungsakten sind jedoch nicht faktisch, sondern rechtlich determiniert, sodass erst die

1 K. Ainedter/Poppenwimmer, Persönlichkeitsschutz und Akteneinsicht von (Mit-)Beschuldigten, ZWF 2023, 61.

2 OLG Wien 27. 11. 2023, 17 Bs 239/23f.

3 Siehe K. Ainedter/Poppenwimmer, ZWF 2023, 61 (61 f).

4 Vgl Art 6 Abs 1 iVm Abs 3 lit a und b EMRK.

5 Vgl OGH 24. 8. 2022, 14 Os 82/22y.

6 Soyer/Stuefer in Fuchs/Ratz, WK StPO, § 49 Rz 18; vgl McAllister/Wess in Birklbauer/Haumer/Nimmervoll/ Wess, Linzer Kommentar zur StPO (2020) § 51 Rz 1.

7 ErlRV 25 BlgNR 22. GP, 69 ff.

Bewertung eines Ergebnisses als beweisrelevante Information auch zu aktenmäßiger Dokumentation (Zum-Akt-Nahme) als Ergebnis iSd § 51 Abs 1 StPO verpflichtet, mit der sodann die Zugänglichkeit im Weg der Akteneinsicht nach §53 Abs 1 StPO einhergeht.8

Das Recht des Beschuldigten auf vollständige Akteneinsicht darf nur in den in § 51 Abs 2 StPO normierten und restriktiv auszulegenden Ausnahmefällen beschränkt werden – also bei Bestehen einer ernsten Gefahr für Leben, Gesundheit, körperliche Unversehrtheit oder Freiheit einer gefährdeten Person iSd § 162 StPO oder (vor Beendigung des Ermittlungsverfahrens) bei der auf besondere Umstände gegründeten Befürchtung einer Gefährdung des Zwecks der Ermittlungen durch die sofortige Information eines Beschuldigten.9

Der Antrag auf Akteneinsicht löst die Verpflichtung zur zeitnahen Entsprechung durch die zuständige Behörde aus.10 Durch einen gewissen administrativen Aufwand kann es zwar zu einem kurzfristigen Aufschub kommen. Dieser Umstand begründet aber kein Ermessen und ist zudem in einem Aktenvermerk (§ 95 StPO) festzuhalten und zu begründen.11

Die Akteneinsicht ist somit entweder (zeitnah) zu gewähren oder mit entsprechender Be-

8 RIS-Justiz RS0133676; Ratz, Ausnahmen vom Recht auf Akteneinsicht abschließend, ÖJZ 2023, 61; OLG Wien 24. 7. 2023, 17 Bs 53/23b, 17 Bs 54/23z.

9 OGH 24. 8. 2022, 14 Os 82/22y; 1. 10. 2013, 14 Os 43/ 13z (14 Os 115/13p, 14 Os 116/13k).

10 OLG Wien 22. 9. 2023, 17 Bs 145/23g.

11 Vgl Soyer/Stuefer in Fuchs/Ratz, WK StPO, § 53 Rz 25 und 27.

gründung zu verweigern.12 Die Entscheidung ist wegen des damit verbundenen Grundrechtseingriffs aktenmäßig festzuhalten und nachvollziehbar zu begründen.13 Die Begründung kann jedoch im Einzelfall unterbleiben, wenn sich „die Beschränkung der Akteneinsicht von selbst versteht, da ansonsten der Zweck einer bevorstehenden oder laufenden Ermittlungsmaßnahme vereitelt würde“ 14

Die Beschränkung der Akteneinsicht selbst erfolgt durch eine – in der Aktenübersicht zu vermerkende – Herausnahme des jeweiligen Aktenstücks.15

2.Recht auf Aktenvollständigkeit?

Nach dem Postulat der Aktenvollständigkeit hat der Akt alles zu enthalten, was im Rahmen des Ermittlungsverfahrens (und später des Hauptverfahrens) geschaffen oder sichergestellt16 und zudem als beweisrelevant beurteilt17 wurde.

Nach Ansicht des OLG Wien im sogenannten BUWOG-Verfahren dienen die Bestimmungen der Durchführungsverordnung zum Staatsanwaltschaftsgesetz (DV-StAG) oder der Geschäftsordnung für die Gerichte erster und zweiter Instanz (Geo) dazu, diese Aktenvollständigkeit zu gewährleisten.18

Gemäß § 2 DV-StAG findet die Geo in der jeweils geltenden Fassung auf die Staatsanwaltschaften unmittelbar oder sinngemäß Anwendung. Gemäß § 108 Abs 2 Geo sind Einlaufstücke, soweit sie neu anfallende Sachen betreffen, sogleich nach dem Einlangen in die Register und sonstigen Geschäftsbehelfe einzutragen (§361 Abs 2 Geo), soweit sie schon anhängige Sachen betreffen, zu den bestehenden Akten zu nehmen, mit Geschäftszahlen und allenfalls Seitenzahlen zu versehen und erforderlichenfalls in die Aktenübersicht einzutragen.

Alle Geschäftsstücke (Eingaben, Protokolle, Urschriften, Zustellausweise usw), die dieselbe Sache betreffen, sind gemäß § 371 Abs 2 Geo unter einer gemeinsamen Bezeichnung, dem Aktenzeichen (§ 372 StPO), als der Akt dieser Sache zu vereinigen. Bei Erstberichten und Neuanzeigen ist gemäß § 8 Abs 1 DV-StAG aus dem Register mithilfe der Namenverzeichnisse zu ermitteln, ob gegen den oder die Angezeigten, Verdächtigen oder Beschuldigten bei dieser Staatsanwaltschaft bereits ein Strafverfahren an-

12 ErlRV 25 BlgNR 22. GP, 74.

13 Soyer/Stuefer in Fuchs/Ratz, WK StPO, § 53 Rz 21; ErlRV 25 BlgNR 22. GP, 72; OGH 1. 10. 2013, 14 Os 43/ 13z (14 Os 115/13p, 14 Os 116/13k); OLG Wien 8. 11. 2019, 23 Bs 193/19d; Pilnacek/Pleischl, Das neue Vorverfahren: Leitfaden zum Strafprozessreformgesetz (2005) Rz 189 ff.

14 OLG Wien 24. 7. 2023, 17 Bs 53/23b, 17 Bs 54/23z; 27.11. 2023, 17 Bs 239/23f.

15 Vgl Soyer/Stuefer in Fuchs/Ratz, WK StPO, § 53 Rz 23.

16 OLG Linz 11. 6. 2015, 8 Bs 171/14z; OLG Wien 8. 11. 2019, 23 Bs 193/19d; Soyer/Stuefer in Fuchs/Ratz, WK StPO, § 53 Rz 21; McAllister/Wess in Birklbauer/Haumer/ Nimmervoll/Wess, LiK StPO, Rz 8 f.

17 RIS-Justiz RS0133676; Ratz, ÖJZ 2023, 61.

18 OLG Wien 8. 11. 2019, 23 Bs 193/19d.

hängig und die gemeinsame Führung (§ 26 Abs1 StPO) möglich ist. Berichte, die eine oder mehrere Personen betreffen, gegen den oder die bereits ein Strafverfahren anhängig ist, sind zu diesem Verfahren zu nehmen.

Die einzelnen Geschäftsstücke sind gemäß §375 Abs 1 Geo nach der Zeitfolge ihres Einlangens zu den Akten zu nehmen oder, wie zB kürzere Protokolle, Amtsvermerke und Urschriften, nach der Zeitfolge ihrer Errichtung in die Akten zu schreiben, sodass die Reihung der Geschäftsstücke im Akt der zeitlichen Aufeinanderfolge der Verfahrensschritte entspricht. Die Geschäftsstücke erhalten fortlaufende Ordnungsnummern, die in jeder Sache mit 1 beginnen und ohne Rücksicht auf das Jahresende fortlaufen.

Auch gemäß § 8a Abs 1 StPO gilt der Grundsatz der Aktenbildung nach der Zeitfolge, der in einer Aktenübersicht darzustellen ist. Jedes Geschäftsstück ist gemäß § 8 Abs 5 StAG rechts oben mit der Ordnungsnummer (ON) und – soweit vorhanden – davor mit dem Buchstaben der entsprechenden Mappe zu versehen. Seiten sind innerhalb jeder Ordnungsnummer jeweils mit der Zahl 1 beginnend unter ausschließlicher Verwendung ungerader Zahlen für die Vorderseiten zu nummerieren. Die Übersichten sind gemäß § 380 Abs 2 Geo von der Geschäftsabteilung ohne Rückstand zu führen.

Demnach ist es – auch aus ermittlungstaktischen Gründen – unzulässig, Geschäftsstücke nicht mit fortlaufenden Ordnungsnummern, also zB mit Kleinbuchstaben, zu versehen, zu einem beliebigen Zeitpunkt zum Akt zu nehmen und entweder gar nicht oder unrichtig in der Aktenübersicht darzustellen.

Gemäß § 8a Abs 6 StAG hat die Staatsanwaltschaft für den Verkehr mit dem Gericht im Ermittlungsverfahren und für die Anordnungen gegenüber der Kriminalpolizei einen Anordnungsund Bewilligungsbogen (§ 15a DV-StAG) zu führen. Alle Anordnungen der Staatsanwaltschaft sowie Anträge, Erklärungen, Mitteilungen, Zuschriften und Erledigungen im Verkehr zwischen Staatsanwaltschaft und Gericht sind gemäß § 15a Abs 1 DV-StAG auf den Anordnungs- und Bewilligungsbogen zu setzen. Der Anordnungsund Bewilligungsbogen erhält stets die Ordnungsnummer 1. Die Eintragungen darauf haben der Zeitfolge genau zu entsprechen.

Daraus folgt, dass sowohl die Beschränkung der Akteneinsicht nach § 51 Abs 2 StPO als auch die Entscheidung über Gewährung oder Verweigerung der Akteneinsicht im Ermittlungsverfahren von der Staatsanwaltschaft am Anordnungs- und Bewilligungsbogen aktenmäßig festzuhalten ist.

Im Übrigen gelten gemäß § 8a Abs 10 DV-StAG die allgemeinen Vorschriften für die Bildung von Akten sinngemäß, insbesondere die §§ 371 bis 384 Geo. § 376 Abs 1 Geo regelt vereinzelte Ausnahmen von der Aktenbildung

nach Zeitfolge. Sammeln sich Geschäftsstücke zu einer Zeit an, in der der Akt sich nicht bei Gericht (oder bei der Staatsanwaltschaft) befindet, so sind sie gemäß §376 Abs 2 Geo einstweilen nicht mit Ordnungsnummern zu versehen. Nach Rücklangen des Akts ist sofort die der Zeitfolge entsprechende Ordnung herzustellen.

Zutreffend hielt das OLG Wien somit im BUWOG-Verfahren fest, dass Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens zeitnah zum Akt zu nehmen sind, wobei der in § 8a Abs 1 DV-StAG normierte Grundsatz der Aktenbildung nach der Zeitfolge beachtet und in einer Aktenübersicht dargestellt werden muss. Der Beschuldigte soll dadurch in die Lage versetzt werden, sich über die Ermittlungsergebnisse dann informieren zu können, wenn sie von den Strafverfolgungsbehörden erlangt werden. Nur so ist eine wirksame Ausübung des Rechts auf Verteidigung gemäß Art 6 Abs 3 lit b EMRK möglich. Eine Einschränkung der Akteneinsicht in der Form, dass bestimmte Aktenstücke (vorerst) nicht zum Akt genommen werden, sieht das Gesetz nur ausnahmsweise vor, etwa in § 145 StPO, sodass es keinesfalls im Belieben der Staatsanwaltschaft liegen kann, wo sie Aktenbestandteile verwahrt und wann sie diese in den von ihr geführten Ermittlungsakt aufnimmt.19

Auch im sogenannten Ibiza-Verfahren stellte das OLG Wien klar, dass für den Beschuldigten erkennbar sein muss, „dass Aktenbestandteile gemäß § 51 Abs 2 StPO ausgenommen sind […]; das bloße Nicht-Zum-Akt-Nehmen von Aktenbestandteilen (zB Zeugeneinvernahmeprotokolle) ist daher selbst dann rechtswidrig, wenn die Voraussetzungen vorlägen. Denn der Beschuldigte muss die Möglichkeit haben, die Ausnahme gerichtlich überprüfen zu lassen, was naturgemäß Kenntnis von der Beschränkung voraussetzt.“ Das OLG Wien führt weiters aus, „dass sich aus den restriktiven Ausnahmen vom Recht auf Akteneinsicht und dem Recht, die Verweigerung der Ausübung dieser Rechte mit Einspruch zu bekämpfen, klar ableiten lässt, dass eine potentielle Rechtsverletzung für den Beschuldigten erkennbar sein muss“. 20

Allerdings bestätigte das OLG Wien im Ibiza-Verfahren die Rechtsansicht des Landesgerichts für Strafsachen Wien, dass kein subjektives Recht auf Einhaltung des Grundsatzes der Aktenbildung nach Zeitfolge iSd § 8a Abs 1 DV-StAG besteht,21 sodass unklar ist, in welcher konkreten Form die Beschränkung der Akteneinsicht als potenzielle Rechtsverletzung für den Beschuldigten erkennbar sein muss.

Unter Berufung auf diese Entscheidung des OLG Wien im Ibiza-Verfahren führte das Landesgericht für Strafsachen Wien sodann aus, dass Aktenführungsbestimmungen hinsichtlich der Verletzung subjektiver Rechte prinzipiell

19 OLG Wien 8. 11. 2019, 23 Bs 193/19d.

20 OLG Wien 24. 7. 2023, 17 Bs 53/23b, 17 Bs 54/23z.

21 OLG Wien 24. 7. 2023, 17 Bs 53/23b, 17 Bs 54/23z.

unbeachtlich sind. ISd Art 6 EMRK müsse der Beschuldigte aber, um eine effektive Verteidigung zu gewährleisten, aus dem Ermittlungsakt erkennen können, ob zumindest ein (sic!) Aktenbestandteil von der Akteneinsicht ausgenommen oder der Akt vollständig ist, um die Beschränkung einer gerichtlichen Kontrolle unterziehen zu können. Es muss daher zumindest ein (sic!) Aktenbestandteil „offen“, also erkennbar zum Akt genommen werden, wobei gleichzeitig am Anordnungs- und Bewilligungsbogen eine Beschränkung der Akteneinsicht gemäß §51 Abs 2 StPO anzuordnen und zu begründen ist (und dieser dann wiederum von der Akteneinsicht ausgenommen werden kann).22

In weiterer Folge vertrat das Landesgericht für Strafsachen Wien wiederum im Ibiza-Verfahren die Ansicht, dass der Beschuldigte auch kein subjektives Recht auf Aktenvollständigkeit dahingehend hat, dass sämtliche Ergebnisse und Verfügungen am Anordnungs- und Bewilligungsbogen (allenfalls mit dem Vermerk „von der Akteneinsicht ausgenommen“) zum Akt genommen und vollständig in der Aktenübersicht erfasst werden, oder dass dem Beschuldigten bekannt gegeben wird, welche konkreten Aktenstücke von der Beschränkung der Akteneinsicht betroffen sind. Generell muss zwar bei jeder Ausnahme von der Akteneinsicht für den Beschuldigten erkennbar sein, dass neue Aktenbestandteile von der Akteneinsicht ausgenommen wurden, die jeweilige Anzahl der ausgenommenen Aktenbestandteile – „selbstverständlich jeweils pro Verfügung der Ausnahme von der Akteneinsicht“ – ist jedoch nicht relevant. Die gegen § 8a Abs 1 und 5 DV-StAG verstoßende Aktenbildung verletzt den Beschuldigten nur dann in seinem subjektiven Recht, wenn sie zu einer „verdeckten“, also für den Beschuldigten gar nicht erkennbaren Beschränkung seines Rechts auf Akteneinsicht führt, wobei es auf die Dauer einer solchen unzulässigen „verdeckten“ Beschränkung nicht ankommt.23

Das OLG Wien führte zuletzt ebenfalls im Ibiza-Verfahren aus, dass der Beschuldigte gemäß dem Grundsatz der Aktenvollständigkeit Anspruch auf Einsicht in sämtliche Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens hat. Durch eine „verdeckte“, für den Beschuldigten also nicht erkennbare Beschränkung der Akteneinsicht wird der Beschuldigte „in seinem subjektiven Recht auf Akteneinsicht (zeitnahe Zum-Akt-Nahme und Übermittlung, Aktenvollständigkeit, Effektivität der Verteidigung)“ verletzt. Die Rechtsansicht des Landesgerichts für Strafsachen Wien, dass der in § 8a Abs 1 DV-StAG normierte Grundsatz der Aktenbildung nach Zeitfolge dem Beschuldigten kein subjektives Recht einräumt, wird im Ergebnis bestätigt.24

22 Landesgericht für Strafsachen Wien 5. 9. 2023, 316 HR 191/20p. 23 Vgl Landesgericht für Strafsachen Wien 22. 11. 2023, 316 HR 191/20p. 24 OLG Wien 27. 11. 2023, 17 Bs 239/23f.

Zusammengefasst sollen also nach der jüngeren Rechtsprechung im Ibiza-Verfahren die in Geo und DV-StAG enthaltenen Bestimmungen über die Aktenbildung und die Aktenführung zwar die für das subjektive Recht des Beschuldigten auf Akteneinsicht als Fundament umfassender Verteidigung maßgebliche Aktenvollständigkeit gewährleisten. Ein subjektives Recht des Beschuldigten auf Einhaltung dieser Bestimmungen besteht jedoch nicht, sodass deren Verletzung nur mit Aufsichtsbeschwerde gemäß § 37 StAG geltend gemacht werden kann. Eine Rechtsverletzung iSd § 106 Abs 1 Z 1 StPO soll in diesem Zusammenhang nur vorliegen, wenn die Staatsanwaltschaft beim Beschuldigten den unrichtigen Eindruck erweckt, der Ermittlungsakt sei vollständig oder der Beschuldigte habe uneingeschränkte Akteneinsicht, obwohl dies tatsächlich nicht der Fall ist.

Dieser Rechtsansicht folgend genügt es daher jedenfalls, wenn die Staatsanwaltschaft (zeitnah) in einem Amtsvermerk festhält, dass die Akteneinsicht des Beschuldigten beschränkt ist bzw (zumindest) eine Ausnahme von der Akteneinsicht besteht. Dabei hat der Beschuldigte kein subjektives Recht auf eine vollständige Aktenübersicht oder sonstige Information, aus der hervorgeht, wie viele Aktenstücke mit welchen konkreten Ordnungsnummern von der Akteneinsicht ausgenommen wurden. Das Landesgericht für Strafsachen Wien begrüßte in diesem Zusammenhang jedoch ausdrücklich die Praxis, „bei der Erledigung von Akteneinsichtsanträgen auf eine bestehende Ausnahme von der Akteneinsicht hinzuweisen, unabhängig davon, dass dies kein subjektives Recht berührt, zum Zweck der Klarstellung“. 25

Damit liegt es letztlich im Belieben der Staatsanwaltschaft, auf welche Weise und vor allem auch in welchem Umfang sie eine Beschränkung der Akteneinsicht für den Beschuldigten erkennbar macht. Es könnte daher sogar ausreichen, dass die dem Beschuldigten übermittelten Aktenstücke keine fortlaufenden Ordnungsnummern oder fortlaufende ungerade Seitenzahlen enthalten, weil diesfalls „erkennbar“ der Akt nicht vollständig bzw seine Akteneinsicht nicht uneingeschränkt ist.

Dass die Ausübung der Verteidigungsrechte erschwert wird, wenn der Beschuldigte – noch dazu in unübersichtlich geführten Großverfahren mit einer Vielzahl von Verfahrenssträngen und Verfahrensbeteiligten – nach jeder Übermittlung einer Aktenkopie deren Vollständigkeit akribisch prüfen muss, weil eine Unvollständigkeit des Akts bzw Beschränkung seiner Akteneinsicht nicht den Bestimmungen von Geo und DV-StAG entsprechend im Detail aus der Aktenübersicht und dem Anordnungs- und Bewilligungsbogen nachvollziehbar ist, liegt auf der Hand und widerspricht dem Grundsatz eines fairen Verfahrens.

25 Vgl Landesgericht für Strafsachen Wien 22. 11. 2023, 316 HR 191/20p.

Diese Problematik wird dadurch verschärft, dass ein Akt, der aus einer Vielzahl von unterschiedlichen Faktenkomplexen besteht, auch eine Vielzahl von die Vorwürfe gegen den Beschuldigten nicht betreffende Aktenteile enthält, die jedoch ebenfalls der Akteneinsicht unterliegen und daher jedenfalls auch zu prüfen sind, was zu einem weiteren unnötigen Zeit- und Kostenaufwand für den Beschuldigten führt.

3.Verletzung subjektiver Rechte bei faktischer Beschränkung der Akteneinsicht

Da es sich bei der Beschränkung der Akteneinsicht um einen Eingriff in ein subjektives Recht handelt, steht dem Beschuldigten26 gegen eine Verweigerung der Akteneinsicht Einspruch wegen Rechtsverletzung nach § 106 Abs 1 Z 1 StPO zu, um eine nachprüfende gerichtliche Kontrolle zu ermöglichen.27 Der Antrag gemäß § 106 Abs 3 StPO kann auf bloße Feststellung der Rechtsverletzung gerichtet sein, wenn rechtlichen oder faktischen Verfehlungen im Nachhinein nicht mehr abgeholfen werden kann,28 und zwar unabhängig davon, ob die Staatsanwaltschaft diese Rechtsverletzung zwischenzeitig aus eigenem beendet hat.

Im Zusammenhang mit der Akteneinsicht kommt daher insbesondere die Feststellung der Verletzung des verfassungsrechtlich gewährleisteten Rechts des Beschuldigten auf Akteneinsicht (zeitnahe Zum-Akt-Nahme und Übermittlung, Aktenvollständigkeit, Effektivität der Verteidigung) gemäß §§ 49 Abs 1 Z 3, 51 StPO und Art 6 EMRK sowohl durch eine rein faktische Beschränkung der Akteneinsicht in Form von Nicht-zum-Akt-Nahme von Aktenstücken29 oder Nicht-Bearbeitung von Anträgen auf Akteneinsicht als auch durch eine rechtlich nicht gedeckte Beschränkung in Form unrichtiger rechtlicher Beurteilung des Bestehens von Akteneinsichtsrechten (§ 51 Abs 1 StPO) oder Ausschlussgründen (§ 51 Abs 2 StPO)30 in Betracht. Im Fall einer zunächst nicht erkennbaren „verdeckten“ Beschränkung seiner Aktenein-

26 Siehe bereits K. Ainedter/Poppenwimmer, ZWF 2023, 61 (67 f).

27 Soyer/Stuefer in Fuchs/Ratz, WK StPO, § 53 Rz 21; ErlRV 25 BlgNR 22. GP, 72; OGH 1. 10. 2013, 14 Os 43/ 13z (14 Os 115/13p, 14 Os 116/13k); OLG Wien 8. 11. 2019, 23 Bs 193/19d; Pilnacek/Pleischl, Vorverfahren, Rz 189 ff.

28 OLG Wien 8. 11. 2019, 23 Bs 193/19d unter Hinweis auf ErlRV 25 BlgNR 22. GP, 143 f; diesen folgend Pilnacek/ Pleischl , Vorverfahren, Rz 438; Koller in Schmölzer/ Mühlbacher, StPO2 (2021) § 106 Rz 4; Fabrizy, StPO13 (2017) § 106 Rz 7; Pilnacek/Stricker in Fuchs/Ratz, WK StPO, § 106 Rz 24; vgl auch Brandstetter/Singer in Birklbauer/Haumer/Nimmervoll/Wess, Linzer Kommentar zur StPO (2020) § 106 Rz 41 ff.

29 OLG Wien 8. 11. 2019, 23 Bs 193/19d; 24. 7. 2023, 17 Bs 53/23b, 17 Bs 54/23z; 27. 11. 2023, 17 Bs 239/23f; vgl Ratz , Verfahrensführung und Rechtsschutz nach der StPO2 (2022) Rz 94, wonach willkürliches Vorenthalten von Informationen aus § 106 Abs 1 Z 1 StPO geltend gemacht werden kann.

30 Vgl OLG Wien 22. 9. 2023, 17 Bs 145/23g.

sicht kann der Beschuldigte zusätzlich die Feststellung der Verletzung seines ebenfalls verfassungsrechtlich gewährleisteten Rechts auf wirksame Beschwerde in Form eines Einspruchs wegen Rechtsverletzung gemäß §§ 49 Abs 1 Z 7, 106 Abs 1 StPO iVm Art 13 EMRK begehren.31

Wie der Beschuldigte jedoch sein Recht auf wirksame gerichtliche Kontrolle der Beschränkung seiner Akteneinsicht sinnvoll ausüben soll, wenn er nach der oben dargelegten Rechtsprechung im Ibiza-Verfahren keinen Anspruch auf Art und Umfang der Information über die konkrete faktische oder rechtliche Beschränkung hat, bleibt unerfindlich. Um seine Rechte zu wahren, ist der Beschuldigte daher im Zweifel gehalten, jede scheinbar noch so geringfügige erkennbare Beschränkung seines Rechts auf Akteneinsicht einer gerichtlichen Überprüfung zu unterziehen, was nicht im Sinn des Gesetzgebers32 und sowohl für den Beschuldigten als auch für das Gericht mit einem enormen Ressourcenaufwand verbunden ist.

Dass der Beschuldigte nach der Rechtsprechung nunmehr zwar ein subjektives Recht auf Akteneinsicht, nicht jedoch auf Aktenvollständigkeit und Einhaltung der dafür maßgeblichen Bestimmungen hat, sofern seine Akteneinsicht in irgendeiner Form „erkennbar“ in nur ein einziges Aktenstück beschränkt ist, führt dazu, dass die Staatsanwaltschaft weiterhin einen großen Spielraum bei der Aktenführung hat, der sich nachteilig auf das Recht auf Akteneinsicht auswirkt. So stellt die rein faktische Beschränkung der Akteneinsicht durch mehrmonatige Nicht-zumAkt-Nahme von diversen Aktenstücken (Vernehmungsprotokolle, Aktenvermerke, E-MailKorrespondenz und Schriftsätze) unter gleichzeitiger Vermittlung des unrichtigen Eindrucks, der Akt sei vollständig, und folglich Verhinderung der Möglichkeit, diese nicht erkennbare Beschränkung einer gerichtlichen Kontrolle zu unterziehen, eine Rechtsverletzung zum Nachteil des Beschuldigten dar.33 Ein solches Vorgehen der Staatsanwaltschaft beruht auf einer unvertretbarer Rechtsansicht, weshalb Beschuldigte im Weg der Amtshaftung einen Anspruch auf Ersatz für die notwendigen und zweckmäßigen Kosten ihrer erfolgreichen Einsprüche wegen Rechtsverletzung gegen die Republik Österreich geltend machen können.34

Allerdings ist der Staatsanwaltschaft ein angemessener Zeitraum zur Beurteilung der Relevanz von Unterlagen und eines allfälligen Geheimhaltungsinteresses vor der Zum-Akt-Nahme zuzugestehen. Konkret waren nach Ansicht des OLG Wien in Übereinstimmung mit dem Landesgericht für Strafsachen Wien „angesichts der Komple-

31 Vgl OLG Wien 27. 11. 2023, 17 Bs 239/23f.

32 Vgl ErlRV 25 BlgNR 22. GP, 74.

33 Vgl OLG Wien 24. 7. 2023, 17 Bs 53/23b, 17 Bs 54/23z.

34 Die Finanzprokuratur als Anwalt der Republik Österreich hat jüngst außergerichtlich derartige Ersatzansprüche im Zusammenhang mit OLG Wien 24. 7. 2023, 17 Bs 53/23b, 17 Bs 54/23z, anerkannt.

xität des Ermittlungsverfahrens und der knappen Personalressourcen“ Zeiträume von elf Tagen, bei Unterlagen mit untergeordneter Bedeutung für das Ermittlungsverfahren (substratlose BKMSMeldungen) sogar von einem Monat, und von vier Monaten für die Bewertung durch die Staatsanwaltschaft vor der Zum-Akt-Nahme „selbstverständlich angemessen“ 35 Hingegen stellte das OLG Wien eine Rechtsverletzung durch die mehrjährige (!) Nicht-zum-Akt-Nahme von nur wenige Seiten umfassenden Unterlagen mit untergeordneter Bedeutung (substratlose BKMS-Meldung und anonyme Anzeige) fest.36

Auch die mehrmonatige, ohne Begründung iSd § 27 StPO rein faktische Führung eines getrennten „Schattenakts“, also eines gesonderten Akts, dessen Existenz von der Staatsanwaltschaft gegenüber dem Beschuldigten geheim gehalten wurde, stellt eine Rechtsverletzung dar. Dabei kommt es nicht darauf an, ob der Beschuldigte in einem solchen „Schattenakt“ von der Staatsanwaltschaft formal als Beschuldigter erfasst wurde, sondern ob er materiell Beschuldigter ist, also die Staatsanwaltschaft faktisch zur Aufklärung eines Anfangsverdachts (§ 1 Abs3 StPO) gegen ihn ermittelt.37 Die materielle Stellung als Beschuldigter und damit einhergehend sein Recht auf Akteneinsicht gemäß § 51 Abs 1 StPO wird zB durch die (fortgesetzte) Vernehmung eines Mitbeschuldigten38 oder die Durchsuchung eines bereits sichergestellten Datenbestands39 zur Prüfung neuer Vorwürfe gegen den Beschuldigten begründet. Schließlich stellt die Beschränkung der Akteneinsicht des Beschuldigten in sogenannte „sensible Informationen“, also personenbezogene Daten von (Mit-)Beschuldigten oder Zeugen, insbesondere Namen, Vornamen, Geburtsdaten, Wohnadressen, Staatsbürgerschaften, Berufen, Ausweis- und Kontaktdaten, ohne Vorliegen der in § 162 StPO angeführten Gefahr (§ 51 Abs 2 StPO) eine Rechtsverletzung dar.40 Hingegen kommt dem Beschuldigten kein subjektives Recht auf Wahrung seiner Persönlichkeitsrechte dahingehend zu, dass rein beweiswürdigende Erwägungen der Staatsanwaltschaft in Aktenvermerken oder sogenannten „Analyseberichten“, die keine bedeutsamen Umstände iSd § 95 StPO darstellen, nicht zum Akt genommen und weiteren Verfahrensbeteiligten zur Kenntnis gebracht werden.41 Zwar ist eine beweiswürdigende Zusammenfassung von „Ergebnissen“ des Ermittlungsverfahrens (§ 51 Abs 1 StPO) durch die Staatsanwaltschaft gänzlich gesetzesfremd,42 dies wäre jedoch gegebe-

35 Vgl OLG Wien 24. 7. 2023, 17 Bs 53/23b, 17 Bs 54/23z.

36 OLG Wien 27. 11. 2023, 17 Bs 239/23f.

37 OLG Wien 27. 11. 2023, 17 Bs 239/23f.

38 OLG Wien 27. 11. 2023, 17 Bs 239/23f.

39 OLG Wien 22. 9. 2023, 17 Bs 145/23g.

40 LG Wiener Neustadt 20. 4. 2023, 31 HR 341/22x.

41 Vgl OLG Wien 24. 7. 2023, 17 Bs 54/23z.

42 Ratz, Beweiswürdigung im Ermittlungsakt und Sicherstellung ohne Kriminalpolizei und durch Sachverständige, ÖJZ 2022, 58 (61).

nenfalls von der Dienstaufsicht (im Weg einer Aufsichtsbeschwerde nach § 37 StAG) aufzugreifen.43

4.Fazit

Die dargelegte Rechtsprechung führt zu einer Aushöhlung des verfassungsrechtlich gewährleisteten Rechts von Beschuldigten auf Aktensicht als Fundament umfassender Verteidigung, weil sie der Staatsanwaltschaft nicht nur einen großen Spielraum bei Art und Umfang der Information über die Beschränkung der Akteneinsicht einräumt, sondern unter dem Deckmantel angeblicher Komplexität und fehlender Ressourcen die Möglichkeit bietet, die teils offenkundige Relevanz von Unterlagen über mehrere Monate zu „prüfen“ und solcherart die Akteneinsicht von Beschuldigten – ohne Vorliegen der in § 51 Abs 2 StPO normierten und restriktiv auszulegenden Ausnahmefälle44 – faktisch zu beschränken. Dadurch kann sich die Staatsanwaltschaft einen sachlich nicht zu rechtfertigenden und gegen den Grundsatz eines fairen Verfahrens verstoßenden Informationsvorsprung gegenüber der Verteidigung verschaffen, weil nicht mehr sichergestellt ist, dass „keine relevanten Informationen zurückgehalten werden können“ 45 Es bleibt abzuwarten, ob und wie die Dienstund Fachaufsicht – auch vor dem Hintergrund bereits anerkannter und drohender weiterer Amtshaftungsansprüche Beschuldigter gegen die Republik Österreich – auf diese grundrechtswidrige und überdies auch gegen die Bestimmungen von Geo und DV-StAG verstoßende Praxis der Aktenbildung und Aktenführung reagiert. Dem Beschuldigten steht – unabhängig vom Bestehen gerichtlichen Rechtsschutzes – jedenfalls auch die Erhebung einer Aufsichtsbeschwerde nach § 37 StAG offen. Andernfalls bleibt nur die Möglichkeit, die Rechtsprechung im Sprengel des OLG Wien im Weg eines Erneuerungsantrags (§ 363a StPO) oder einer Wahrungsanregung an die Generalprokuratur (§ 23 Abs 1 StPO) einer Überprüfung durch den OGH zuzuführen.

Außerdem bestätigt die dargelegte Rechtsprechung die von den Autoren vertretene Ansicht,46 dass vor dem Hintergrund der zunehmenden Anzahl an Großverfahren mit einer Vielzahl von Beschuldigten und teils nicht miteinander zusammenhängenden Faktenkomplexen, in denen in der Regel auch – ohne ausreichende gesetzliche Hürden – umfangreiches Datenmaterial sichergestellt wird, der Schutz von verfassungsrechtlich gewährleisteten (vgl §1 DSG; Art 8 EMRK) Persönlichkeitsrechten der Beschuldigten im Ermittlungsverfahren durch die Regelungen der Strafprozessordnung absolut unzureichend ist und den diesbezüg-

43 Landesgericht für Strafsachen Wien 2. 2. 2023, 316 HR 191/20p.

44 OGH 24. 8. 2022, 14 Os 82/22y.

45 OLG Wien 8. 11. 2019, 23 Bs 193/19d.

46 Siehe bereits K. Ainedter/Poppenwimmer, ZWF 2023, 61 (68).

lichen unionsrechtlichen Anforderungen und Bestrebungen nicht gerecht wird.47

Der VfGH hat zwar jüngst die Sicherstellung von Datenträgern ohne richterliche Bewilligung für verfassungswidrig erklärt, weil der Zugriff auf einen Datenträger detailreiche Rückschlüsse auf das Verhalten, die Persönlichkeit und die Gesinnung des Betroffenen zulässt, der Abgleich und die Verknüpfung mit anderen Daten, aber auch die Wiederherstellung gelöschter Daten und der Zugriff auf externe Speicher möglich sind, der Eingriff in das Privatleben auch anderer Personen besonders intensiv ist und der derzeitige Rechtsschutz in Bezug auf Auswertung und Umfang der Daten nicht ausreicht.48 Allerdings treten die entsprechenden Bestimmungen (§§ 110 Abs 1 Z 1 und Abs 4, 111 Abs 2 StPO) erst ab 1. 1. 2025 außer Kraft, sodass gerichtlicher Schutz von Persönlichkeitsrechten im Ermittlungsverfahren bis dahin jedenfalls weiterhin nicht (ausreichend) gegeben sein wird. Im Hinblick auf das gänzlich uneingeschränkte Recht von Mitbeschuldigten (§ 26 StPO) auf vollumfängliche Akteneinsicht49 bedarf es daher zum Schutz von Persönlichkeitsrechten und zur Sicherstellung ausgewogenen und vor allem faktisch wirksamen Rechtsschutzes bei der Entscheidung, ob eine Information „aktenmäßig festzuhalten“ ist, einer Gelegenheit für den Betroffenen zur Stellungnahme sowie die Möglichkeit gerichtlicher Prüfung im Weg eines Einspruch wegen Rechtsverletzung vor dem aktenmäßigem Erfassen.50

▶ Auf den Punkt gebracht

Die Einhaltung der Bestimmungen von Geo und DV-StAG über die Aktenbildung und Aktenführung durch die Staatsanwaltschaft soll die für das verfassungsrechtlich gewährleistete Recht des Beschuldigten auf Akteneinsicht maßgebliche Aktenvollständigkeit gewährleisten, ist jedoch vom Beschuldigten (derzeit) gerichtlich nicht durchsetzbar. Dieser Umstand verschafft der Staatsanwaltschaft in Verletzung des Grundsatzes eines fairen Verfahrens (derzeit) nicht nur einen großen Spielraum bei Art und Umfang der Information des Beschuldigten über die Beschränkung seiner Akteneinsicht, sondern auch die Möglichkeit, durch eine langwierige strategische „Prüfung“ von Eingaben und Informationen auf deren teils offenkundige Relevanz vor der Zum-Akt-Nahme die Akteneinsicht des Beschuldigten – ohne Vorliegen der in § 51 Abs 2 StPO normierten und restriktiv auszulegenden Ausnahmefälle – faktisch zu beschränken.

47 Vgl K. Ainedter/Poppenwimmer, Sicherstellung und Auswertung von auf Datenträgern gespeicherten Informationen – aktuelle Rechtsprobleme, ZWF 2022, 17; Pilnacek, Wieviel Rechtsstaatlichkeit verträgt die Strafrechtspflege? ZWF 2023, 50.

48 Vgl VfGH 14. 12. 2023, G 352/2021.

49 Vgl OGH 24. 8. 2022, 14 Os 82/22y.

50 Ratz, ÖJZ 2023, 61 (61 f)

Zum Beginn eines (weiteren) strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens bei der Sichtung sichergestellter Datensätze durch die Strafverfolgungsbehörden

Zugleich eine Besprechung von OLG Wien 22. 9. 2023, 17 Bs 145/23g

Thomas Pillichshammer / Norbert Wess

Dr. Thomas Pillichshammer ist Rechtsanwaltsanwärter bei wkk law Rechtsanwälte in Wien.

Norbert Wess, LL.M.,

Die Auslegung des Begriffs der „Ermittlungshandlung“ ist für das Strafverfahren von weitreichender Bedeutung: Gemäß §1 Abs2 StPO beginnt ein Strafverfahren, sobald Kriminalpolizei oder Staatsanwaltschaft zur Aufklärung eines Anfangsverdachts ermitteln. §91 Abs2 StPO definiert den Begriff der „Ermittlung“; die bloße „Nutzung“ sogenannter „behördeninterner Informationsquellen“ ist davon ausdrücklich ausgenommen (diese sind gesetzlich aber nicht näher definiert). Von der Staatsanwaltschaft sichergestellte, aber noch nicht zu einem Ermittlungsakt genommene Daten sind nach der jüngsten Entscheidung des OLG Wien keine „behördeninternen Informationsquellen“ iSd §91 Abs2 StPO. Die Sichtung von sichergestellten, aber noch keinem Ermittlungsakt zugeordneten Datenbeständen ist vielmehr eine Ermittlungshandlung (an die auch entsprechende Beschuldigtenrechte knüpfen).

1.Zum maßgebenden Sachverhalt

Der gegenständlichen Entscheidung des OLG Wien liegt ein (gegen zahlreiche Beschuldigte geführtes) Ermittlungsverfahren der Zentralen Staatsanwaltschaft zur Verfolgung von Wirtschaftsstrafsachen und Korruption (WKStA) wegen des Verdachts der Untreue gemäß §153 StGB und anderer Delikte zugrunde.1 Im Zuge dieses Ermittlungsverfahrens wurden im Oktober 2021 bei mehreren Beschuldigten Hausdurchsuchungen durchgeführt und dabei (elektronische) Daten(träger) in beträchtlichem Umfang sichergestellt. Im Rahmen einer Akteneinsicht in den Anordnungs- und Bewilligungsbogen in diesem Verfahren erlangte eine Beschuldigte im Juli 2022 Kenntnis davon, dass die WKStA unmittelbar zuvor wegen im Zuge der laufenden Ermittlungen neu hervorgekommener Verdachtsmomente das Anlegen eines neuen Ermittlungsaktes (unter einem neuen Aktenzeichen) gegen sie (und andere Beschuldigte) verfügt hatte.

Aufgrund dieser Verfügung beantragte die Beschuldigte umgehend Akteneinsicht auch in diesem „neuen“ Verfahren. Dem Antrag auf Akteneinsicht wurde nicht entsprochen. Vielmehr teilte die WKStA der Beschuldigten bezugnehmend auf den Antrag mit, dass unter dem neuen Aktenzeichen „derzeit kein Ermittlungsverfahren geführt“ werde und „die Anfangsverdachtsprüfung noch nicht abgeschlossen“ sei. Auch wiederholt gestellte weitere Anträge auf Akteneinsicht der Beschuldigten blieben unerledigt.

Im Februar 2023 verständigte die WKStA die Beschuldigte schließlich gemäß §50 Abs1 StPO von der Führung eines (weiteren) strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens aufgrund der neu hervorgekommenen Verdachtsmomente (unter

1 Die Kanzlei wkk law Rechtsanwälte vertritt die Beschuldigte in diesem Verfahren.

einem mit dieser Verständigung gewährte die WKStA auch Einsicht in den „neuen“ Ermittlungsakt). In dieser Verständigung führte die WKStA aus, dass diese erst jetzt erfolgt sei, weil bislang lediglich „im Zuge einer Anfangsverdachtsprüfung bereits vorliegende Daten gesichtet“ worden seien (die betreffenden Daten befanden sich zu diesem Zeitpunkt2 noch auf Datenträgern und waren – von einem Teil abgesehen –weder Aktenbestandteil des laufenden noch des „neuen“ Verfahrens). Diese Sichtung stelle der WKStA zufolge „keine ein Ermittlungsverfahren in Gang setzende Ermittlungshandlung“ dar.3 Die Beschuldigte sah in der vorgenommenen Datensichtung durch die WKStA hingegen eine Ermittlungshandlung und sah sich durch die Nichtgewährung von Akteneinsicht sowie die bislang unterbliebene Verständigung von der Führung eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens konsequent in ihren subjektiven Rechten nach §50 Abs1 StPO bzw §51 Abs1 StPO verletzt. Die Beschuldigte erhob daher Einspruch wegen Rechtsverletzung gemäß §106 StPO, gerichtet auf die Feststellung der Verletzung der genannten Beschuldigtenrechte.

2 Der genaue Zeitraum, in dem die im Oktober 2021 sichergestellten Daten auf die neu hervorgekommenen Verdachtsmomente hin gesichtet wurden, geht aus dem Akt nicht hervor. Allerdings ergibt sich aus der Verständigung gemäß §50 Abs1 StPO, dass die Anfangsverdachtsprüfung diese Verdachtsmomente betreffend im Zeitpunkt der Vollmachtsbekanntgabe samt Antrag auf Aktenabschrift im Juli 2022 bereits abgeschlossen war.

3 Die Verständigung nach §50 Abs1 StPO hält abschließend fest, dass die Generalprokuratur der WKStA mitgeteilt habe, dass das Sichten von der Behörde bereits vorliegenden, aber noch zu keinem Ermittlungsakt genommenen Daten bereits eine Ermittlungshandlung darstelle. Aufgrund dieser Mitteilung der Generalprokuratur und der sich aus dieser Rechtsansicht für das gegenständliche Verfahren möglicherweise ergebenden Folgen habe die WKStA die Beschuldigte nunmehr als Verdächtige erfasst.

Dr.
MBL ist Rechtsanwalt und Partner bei wkk law Rechtsanwälte in Wien.

2.Einspruchsverfahren

2.1.Einleitende Bemerkungen

Die maßgebende Rechtslage stellt sich dar wie folgt: Gemäß §91 Abs2 StPO ist eine Ermittlung „jede Tätigkeit der Kriminalpolizei, der Staatsanwaltschaft oder des Gerichts, die der Gewinnung, Sicherstellung, Auswertung oder Verarbeitung einer Information zur Aufklärung des Verdachts einer Straftat dient. Sie ist nach der in diesem Gesetz vorgesehenen Form entweder als Erkundigung oder als Beweisaufnahme durchzuführen.“ Ferner enthält §91 Abs2 StPO eine (Negativ-)Definition dahingehend, dass „die bloße Nutzung von allgemein zugänglichen oder behördeninternen Informationsquellen […] keine Ermittlungshandlung in diesem Sinn darstellt“.

Die WKStA vertrat schon in der Verständigung gemäß §50 Abs1 StPO den Standpunkt, mit der Sichtung der sichergestellten, wenngleich noch nicht zu einem Ermittlungsakt genommenen Daten bloß behördeninterne Informationsquellen genutzt zu haben: Die vorgenommene Sichtung der sichergestellten Daten (auch) im Zuge einer Anfangsverdachtsprüfung aufgrund neuer Verdachtsmomente stelle somit keine Ermittlungshandlung dar, weil die Behörde ausschließlich behördeninterne Schritte gesetzt habe.

2.2.Argumentation der Einspruchswerberin und der WKStA

Dem Vorbringen der Einspruchswerberin zufolge hätte die WKStA diese hingegen schon im Zeitpunkt der Vornahme der Sichtung der sichergestellten Daten anlässlich der neu hervorgekommenen Verdachtsmomente von der Führung eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens verständigen und auch dem Antrag auf Akteneinsicht entsprechen müssen; durch das Unterlassen der Verständigung nach §50 Abs1 StPO und die Verweigerung der Akteneinsicht habe die WKStA in zweifacher Weise Beschuldigtenrechte verletzt. Der Einspruch verwies auf die Rechtsprechung des OGH, wonach nur jene Quellen als „behördenintern“ anzusehen sind, auf die die Behörde ohne Hilfe Dritter zugreifen kann.4 Davon abgesehen sei der Begriff der „Informationsquelle“ bislang ohne nähere Erörterung geblieben. Davon ausgehend, dass sämtliche Entscheidungen des OGH zur Qualifikation von Informationsquellen als behördenintern oder -extern Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft sowie Akten von Zivil- oder Strafgerichten (neben reinen „Registerdaten“ in Form der Verfahrensautomation Justiz, des EKIS oder des Strafregisters) betrafen, vertrat die Einspruchswerberin den Standpunkt, dass nur solche Ermittlungsergebnisse eine Informationsquelle iSd §91 Abs2 StPO sein können, die – anders als die von der WKStA gesichteten Daten – be-

4 RIS-Justiz RS0132755.

reits formal in einem Ermittlungsverfahren zum Akt genommen wurden.

Die WKStA erwiderte daraufhin (unter Verweis auf OGH 25.6.2019, 14Os 21/19y), „Informationsquellen“ iSd §91 Abs2 letzter Satz StPO seien alle Aufzeichnungen oder Speicherungen von Informationen, die Gegenstand der Datenverarbeitung einer Behörde waren. Datenverarbeitung sei nach Art4 Z2 Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) jeder „mit oder ohne Hilfe automatisierter Verfahren ausgeführte Vorgang oder jede solche Vorgangsreihe im Zusammenhang mit personenbezogenen Daten wie das Erheben, das Erfassen, die Organisation, das Ordnen, [oder] die Speicherung […]“. In einem anderen Verfahren durch Erfassen, Speicherung und Organisation iSd Art4 Z2 DSGVO verarbeitete Daten seien daher behördeninterne Informationsquellen iSd §91 Abs2 letzter Satz StPO und deren Sichtung demnach keine Ermittlungshandlung. Für diese Ansicht spreche der WKStA zufolge auch das systematische Argument, dass Ermittlungen nach der in der StPO vorgesehenen Form entweder als Erkundigung oder als Beweisaufnahme durchzuführen seien. Beweisaufnahmen und Erkundigungen werden im 8.Hauptstück der StPO geregelt, und sämtliche an dieser Stelle angeführten Beweisaufnahmen und Ermittlungsmaßnahmen seien dadurch charakterisiert, dass sie – anders als die Sichtung bereits vorhandener Daten – Außenwirkung entfalten. Demzufolge entsprach die WKStA dem Einspruch nicht und legte diesen samt ablehnender Stellungnahme dem Landesgericht für Strafsachen Wien vor.5

2.3.Erstinstanzliche Entscheidung

Das Erstgericht folgte der von der WKStA („richtigerweise“) vertretenen Ansicht und wies den Einspruch wegen Rechtsverletzung mit Beschluss zurück:6 „Behördenintern“ bedeute (auch) der Begründung des Erstgerichts zufolge ein Tätigwerden ohne Außenwirkung, ohne Inanspruchnahme Dritter, und „Informationsquellen“ iSd §91 Abs2 letzter Satz StPO seien alle Aufzeichnungen oder Speicherungen von Informationen, die Gegenstand der Datenverarbeitung einer Behörde waren (auch das Erstgericht bemüht an dieser Stelle den Verweis auf OGH 25.6.2019, 14Os 21/19y). Der Begriff der „Datenverarbeitung“ richte sich nach Art4 Z2 DSGVO (siehe oben). In einem anderen Verfahren durch Erfassen, Speicherung und Organisation iSd Art4 Z2 DSGVO verarbeitete Daten seien daher behördeninterne Informationsquellen iSd §91 Abs2 letzter Satz StPO. Da die WKStA demnach „bislang ausschließlich allge-

5 Ungeachtet der Frage, ob fallkonkret bereits ein Ermittlungsverfahren eingeleitet wurde, vertrat die WKStA in ihrer ablehnenden Stellungnahme die Rechtsansicht, dass Angezeigten bereits vor Beginn eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens Akteneinsicht im Wege einer analogen Anwendung von §51 StPO zustehen soll.

6 LG für Strafsachen Wien 10.5.2023, 316HR 104/23y.

mein zugängliche und behördeninterne Informationsquellen nutzte, sohin Vorfeldermittlungen minderer Intensität durchführte, liegt noch kein Ermittlungsverfahren iSd §1 Abs2 StPO vor“, weshalb auch ein Einspruch wegen Rechtsverletzung nicht zulässig sei.

3.Beschwerdeverfahren

3.1.Ergänzende Argumente der Einspruchswerberin im Beschwerdeverfahren

Die Beschuldigte erhob gegen diesen Beschluss Beschwerde nach §87 StPO und brachte (zusammengefasst) vor, die vom Erstgericht (und auch der WKStA) bemühte Auslegung des Begriffs der „Informationsquelle“ iSd §91 Abs2 StPO sei eindeutig zu weit. Es sei zwar richtig, dass den jüngsten Entscheidungen des OGH zufolge (nur) jene „Informationsquellen“ als „behördenintern“ anzusehen sind, auf die die Behörde ohne Hilfe Dritter zugreifen kann. Soweit das Erstgericht (wie auch die WKStA) den Begriff der „Informationsquelle“ unter Verweis auf 14Os 21/19y unter Bezugnahme auf Art4 Z2 DSGVO interpretiere („[…] alle Aufzeichnungen oder Speicherungen von Informationen, die bereits Gegenstand der Datenverarbeitung irgendeiner Behörde waren“), sei allerdings festzuhalten: Der Verweis beziehe sich auf eine alleinig vom 14.Senat des OGH vertretene Rechtsprechung, die durch in der Zwischenzeit ergangene Entscheidungen des 12. sowie des 15. Senats als überholt gelte.7

Allen voran überzeuge der von WKStA und Erstgericht bemühte Verweis aber auch für sich genommen nicht: So habe der OGH selbst in der zitierten Entscheidung in unmittelbarem Zusammenhang mit der (mittlerweile überholten) Definition der „behördeninternen Informationsquelle“ explizit festgehalten, dass eine Abgrenzung der Nutzungsbefugnis behördeninterner Informationsquellen anhand datenschutzrechtlicher Begrifflichkeiten (idF des Begriffs des „Auftraggebers“) nicht in Betracht komme.8 Zum anderen sei die DSGVO auf die Verarbeitung personenbezogener Daten „durch die zuständigen Behörden zum Zwecke der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder der Strafvollstreckung, einschließlich des Schutzes vor und der Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit“ gemäß Art2 Abs2 litd DSGVO nicht anzuwenden. Daten eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens werden damit nicht nach dem Begriffsverständnis der DSGVO verarbeitet.9 Gegen die Beschwerdeführerin sei demnach seit einem nicht näher bekannten Zeitpunkt vor Juli 2022 ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren geführt worden, von dem diese erst im Februar 2023 –sohin mehr als sieben Monate nach Beginn der Ermittlungen – verständigt wurde, womit die

7 Flora in Bertel/Venier, StPOI2 (2020) Rz3 mwN.

8 OGH 25.6.2019, 14 Os 21/19y.

9 Heißl in Knyrim, DatKomm (70.Lfg, 2023) Art2

DSGVO Rz81.

Ausübung sämtlicher Beschuldigtenrechte verunmöglicht wurde.

3.2.Entscheidung des OLG Wien

Mit Entscheidung vom 22.9.2023 gab das OLG Wien10 der Beschwerde Folge, hob den angefochtenen Beschluss auf und stellte fest, dass die Beschwerdeführerin durch die WKStA in dem gegen sie neu eingeleiteten strafrechtlichen Ermittlungsverfahren durch die unterlassene zeitnahe Belehrung nach §50 Abs1 StPO und die unterlassene zeitnahe Herstellung einer Aktenabschrift in ihrem jeweiligen subjektiven Recht verletzt wurde.11 Anschließend an eine grundlegende Erörterung des vom Gesetzgeber mit der Definition des Beginns eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens in §1 Abs2 StPO verfolgten Zwecks führt das OLG Wien zum in Frage stehenden Begriff der „behördeninternen Informationsquelle“ Folgendes aus: Unter „behördeninternen Informationsquellen“ seien jedenfalls (nur) jene gespeicherten Informationen zu verstehen, die bereits Gegenstand einer Datenverarbeitung waren. Die von WKStA und Erstgericht an das Begriffsverständnis des DSG bzw der DSGVO angelehnte Auslegung der Datenverarbeitung wies das OLG Wien – wie in der Beschwerde vorgebracht: unter Verweis auf die mangelnde Anwendbarkeit der DSGVO – explizit zurück. Indessen hält das OLG Wien fest: „Da sich eine Verarbeitung von Daten im Strafverfahren aber nur auf in einer konkreten Sache jeweils erforderliche Daten beziehen darf (vgl §74 Abs1 StPO) und der Inhalt eines (solcherart rein rechtlich determinierten) Ermittlungsakts nicht mit der Summe der elektronisch abrufbaren Daten gleichzusetzen ist, […] sind in diesem Sinne ,verarbeitete‘ Daten […] nur jene gespeicherten Informationen, die bereits als für einen konkreten Verfahrensgegenstand erheblich bewertet und damit Bestandteil eines Ermittlungsverfahrens bzw -akts wurden.“ Unter behördeninternen Informationsquellen sind damit dem OLG Wien zufolge „letztlich nur jene Quellen zu verstehen, die Zugang zum Inhalt bzw den Ergebnissen eines anderen Ermittlungsverfahrens gewähren“ „Informationen aus einem erliegenden Datenbestand, deren Relevanz für ein anderes Ermittlungsverfahren noch nicht festgestellt wurde und die damit noch nicht Inhalt des betreffenden Ermittlungsakts (bzw vorliegende Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens [vgl §51 Abs1 StPO] sind, genügen diesen Erfordernissen hingegen nicht; deren Sichtung (bzw der Zugriff auf diese) stellt vielmehr eine Ermittlungshandlung dar […].“

Begründend führt das OLG Wien aus, dass, solange sichergestelltes Datenmaterial noch nicht vollständig auf Beweisrelevanz hin untersucht und zum Bestandteil (irgend)eines Ermittlungsakts wurde, der Vollzug der Sicherstellungsanord-

10 OLG Wien 22. 9. 2023, 17 Bs 145/23g.

11 OLG Wien 22. 9. 2023, 17 Bs 145/23g.

nung (unzweifelhaft eine Ermittlungsmaßnahme nach dem 8. Hauptstück der StPO) noch andauert.12 Durch die Sichtung der sichergestellten, aber noch keinem Ermittlungsakt zugeordneten Daten werde folglich weiterhin ermittelt und nicht bloß eine behördeninterne Informationsquelle genutzt. Aufgrund des materiellen Beschuldigtenbegriffs der StPO,13 der keinen förmlichen „Einleitungsakt“ verlangt, wurde gegen die Beschwerdeführerin durch die Sichtung des Datenmaterials ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren wegen der neuen Vorwürfe eingeleitet.

4.Fazit

Im Lichte der Bedeutung der Wahrung der (zum Großteil auch verfassungsgesetzlich abgesicherten) Beschuldigtenrechte im Strafverfahren kann nur begrüßt werden, dass das Rechtsmittelgericht zu dieser Frage klar Stellung bezogen hat. Die von WKStA und Erstgericht vertretene Ansicht, die Sichtung von sichergestellten, aber noch nicht zu einem Ermittlungsakt genommenen Daten sei keine Ermittlungshandlung, führt zu einer nicht zu rechtfertigenden Beschränkung der Beschuldigtenrechte (§49 Abs1 StPO) in Hinblick auf die neuen Vorwürfe, in deren Lichte die Sichtung erfolgt:

Dadurch, dass nach dieser Ansicht keine Verständigung des Beschuldigten von der Führung eines Ermittlungsverfahrens (§50 Abs1 StPO) zu erfolgen hat, wird dem Beschuldigten effektiv die Ausübung jedweder Beschuldigtenrechte hinsichtlich der neuen Verdachtsmomente verunmöglicht (denklogisch ist die Verständigung nach §50 Abs1 StPO die Voraussetzung der Ausübung sämtlicher Beschuldigtenrechte und steht dergestalt auch mit dem in Art6 Abs3 litb EMRK normierten Recht auf Verteidigung in einem untrennbaren Zusammenhang14). Die Entscheidung des OLG Wien ist insoweit von wesentlicher Bedeutung nicht nur für die einspruchsgegenständlichen §§50f StPO, sondern für sämtliche Beschuldigtenrechte. Durch das vom OLG Wien vertretene Begriffsverständnis der „behördeninternen Informationsquellen“ wird gewährleistet, dass Beschuldigte in derartigen Konstellationen ihre in §49 Abs1 StPO normierten Rechte überhaupt ausüben können.

Für die Praxis ist die ergangene Entscheidung fraglos höchst relevant: Die Menge an Daten, die den Strafverfolgungsbehörden heutzutage im Zuge von Sicherstellungen insbesondere in Wirtschaftsstrafverfahren vorliegt, ist nahezu unüberschaubar. Schon ein einziges Mobiltelefon vermag eine enorme Menge an Daten zu enthalten, von der Sicherstellung des Servers eines Unternehmens ganz zu schweigen.

12 Unter Verweis auf Pilnacek/Stricker in Fuchs/Ratz, WK StPO, §106 Rz11 mwN.

13 Vgl Wess in Kier/Wess, Handbuch Strafverteidigung2 (2022) Rz7.8 mwN.

14 McAllister/Wess in Birklbauer/Haumer/Nimmervoll/ Wess , Linzer Kommentar zur StPO (2020) §50 Rz1; Soyer/Stuefer in Fuchs/Ratz, WK StPO, §50 Rz3.

Die Verteidigungsmöglichkeiten sind insoweit zuweilen schon rein faktisch beschnitten: Zwar erfährt der von einer Sicherstellung betroffene Beschuldigte (spätestens über das Sicherstellungsprotokoll), welche Daten(träger) von der Strafverfolgungsbehörde sichergestellt wurden. Welche Daten dieser dadurch tatsächlich zugänglich werden, ist für die Beschuldigten aber oft schwierig einzuschätzen, zumal sich ein Beschuldigter nicht immer erinnern wird, welche Daten er wo gespeichert oder ob er diese schon gelöscht hat (von den Möglichkeiten der Strafverfolgungsbehörden, bereits gelöschte Daten technisch wiederherzustellen, ganz abgesehen). Zuweilen ist es für Beschuldigte daher nicht möglich, abzuschätzen, ob bzw auf welche zusätzlichen Verdachtsmomente die Strafverfolgungsbehörden bei der Auswertung der sichergestellten Daten gestoßen sind und ob mit diesen allenfalls weitere Ermittlungen einhergehen (auch, wenn schließlich Akteneinsicht gewährt wird, erhält der Beschuldigte keinen Zugang zu den nicht zum betreffenden Ermittlungsakt genommenen Daten). Der Entscheidung des OLG Wien, aus der die Pflicht der Staatsanwaltschaft resultiert, den Beschuldigten bei der Sichtung sichergestellter (aber noch nicht zum Akt genommener) Daten wegen bzw im Lichte neuer Verdachtsmomente über diese gemäß §50 Abs1 StPO grundsätzlich umgehend zu informieren, ist daher uneingeschränkt zuzustimmen.

▶ Auf den Punkt gebracht

Die Frage, wann ein Ermittlungsverfahren beginnt, ist in der Praxis von großer Bedeutung, zumal sich daran Rechte des Beschuldigten einerseits (vgl §49 Abs1 StPO) und Pflichten der Strafverfolgungsbehörden andererseits (insbesondere die Information des Beschuldigten über das gegen ihn geführte Ermittlungsverfahren samt Rechtsbelehrung) knüpfen. Im Zuge eines Einspruchsverfahrens nach §106 StPO hatte das OLG Wien darüber zu entscheiden, ob die Sichtung von sichergestellten, aber noch nicht zum Akt genommenen Daten durch die Strafverfolgungsbehörde als „Ermittlung“ oder als bloße Nutzung „behördeninterner Informationsquellen“ iSd §91 Abs2 StPO zu qualifizieren ist. Das OLG Wien entschied im Sinne der von der Beschwerdeführerin vertretenen Ansicht: Wird ein in einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren wegen FaktumA sichergestellter Datenbestand von den Ermittlungsbehörden in der Folge (auch) wegen neuer Verdachtsmomente in Richtung eines zusätzlichen Faktums (FaktumB) gesichtet, wird dadurch ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren gegen die beschuldigte Person auch wegen der neuen Vorwürfe (FaktumB) eingeleitet.

Wie weit reicht die staatliche Strafbefugnis?

Zum Strafanwendungsrecht im Allgemeinen und zur österreichischen Regelung im Besonderen

Konstantina Papathanasiou

Prof. Dr. Konstantina

LL.M. ist Professorin für Wirtschaftsstrafrecht, Compliance und Digitalisierung an der Universität Liechtenstein.

Die Berechtigung eines Staats, einen Sachverhalt strafrechtlich zu ahnden, wird als Strafbefugnis bezeichnet. Das Strafanwendungsrecht hat die spezifische Funktion, diese Strafberechtigung zu regeln. Es handelt sich um jene nationale Vorschriften, die bestimmen, wann das jeweilige inländische Strafrecht zur Anwendung kommt. Dieser Grundlagenbeitrag geht folgenden Fragen nach: Welche Bedeutung hat das Strafanwendungsrecht für das materielle und prozessuale Strafrecht? Welche Grenzen setzt das Völkerrecht? Und welche Anknüpfungsmöglichkeiten für Sachverhalte mit Auslandsbezug haben sich durch die Praxis der Staaten im Laufe der Jahrhunderte herausgebildet? Zudem widmet er sich der dogmatischen, straftatsystematischen Einordnung der Regelungen des Strafanwendungsrechts und einer Darstellung der österreichischen lex lata 1

1.Einstieg anhand eines konstruierten Falls

Der Franzose F. betreibt einen Gebrauchtwagenhandel in Aix-en-Provence, dem Geburtsort Paul Cézannes. In einem Versteck des Kofferraums des zuletzt gelieferten Wagens zum Weiterverkauf entdeckt er eines Tages zufällig ein Gemälde von Cézanne. Er geht von einem gestohlenen Objekt aus und hält das Gemälde fälschlicherweise für ein Original. Zugleich glaubt er nun, einen großen Wurf landen zu können und fahrt nach Genua, um dort seinen alten Freund, den Deutschen D., in dessen Galerie zu treffen. D. fällt dank langjähriger Erfahrung im Kunsthandel sofort die – tatsächlich nicht leicht erkennbare – Unechtheit des Gemäldes auf. Aufgrund seiner eigenen finanziell angespannten Situation will er diese Chance nutzen. D. klärt deshalb F. umfassend über das fragliche Gemälde auf. Dank dieser Schulung kann F. glaubhafte Aussagen hinsichtlich der Echtheit des Gemäldes gegenüber dem Schweizer S. am Rande einer Veranstaltung in Wien machen. Dieser möchte das Gemälde für den New Yorker Finanzier und leidenschaftlichen Kunstsammler N.Y. erstehen. S., begeistert vom Angebot, kauft das Gemälde und verfügt daher über Vermögenswerte, die er für N.Y. in der Schweiz verwaltet.

Es stellt sich nun die Frage, ob das StGB auf diesen Sachverhalt anwendbar ist. Auf strafrechtsdogmatischer Ebene kann diese wie folgt abstrahiert werden: Wie weit reicht die österreichische Strafbefugnis? Im Wirtschaftsstrafrecht, das oft über die territorialen Grenzen des Landes hinausreicht, und im Cyberstrafrecht, das grundsätzlich keine Grenzen kennt, gewinnt

1 Dieser Beitrag beruht auf Passagen der Habilitationsschrift der Autorin: Papathanasiou, Ius puniendi und staatliche Souveränität – Genese, völkerrechtlicher Rahmen und straftheoretische Kontextualisierung des sog. Internationalen Strafrechts (Manuskript 2021; in Bearbeitung für die Drucklegung).

diese Frage eine herausragende Praxisrelevanz. Die Antwort macht den Regelungsgegenstand des spezielleren Gebiets des Strafrechts aus, der als Strafanwendungsrecht (§§ 62 ff StGB) bezeichnet wird.

Nachfolgend wird dieser spezielle Teilbereich des Strafrechts näher erläutert. In diesem Zusammenhang wird – entgegen der hM – aufgezeigt, dass die Regelungen des Strafanwendungsrechts keine (unrechtsirrelevanten) objektiven Strafbarkeitsbedingungen sind. Vielmehr handelt es sich nach der hier vertretenen Auffassung um (unrechtsrelevante) Tatbestandsmerkmale, die vom Vorsatz umfasst werden müssen.

2.Zum Strafanwendungsrecht im Allgemeinen

2.1.Begriff, Grenzen und Funktionen Welcher Staat berechtigt ist, einen Sachverhalt zu bestrafen, wird auch Strafbefugnis genannt. Die Funktion des Strafanwendungsrechts liegt gerade in der Regelung der Strafberechtigung. Beim Strafanwendungsrecht handelt es sich somit um jene nationalen Vorschriften, die bestimmen, wann das jeweilige inländische Strafrecht angewandt wird. Das Strafanwendungsrecht erfasst sowohl die strafgewaltbegründende als auch die rechtsanwendungsregelnde Funktion.2

Für die Regelungen des Strafanwendungsrechts ist auch der Begriff des Internationalen Strafrechts allgemein gebräuchlich,3 wobei „Internationales“ andeuten soll, dass es sich um den Gegensatz „inländisch“ und „nichtinländisch“ handelt.4 Es stellt aber eine „strafrechtliche Bin-

2 Eser, Die Entwicklung des Internationales Strafrechts im Lichte des Werkes von Hans-Heinrich Jescheck, in Vogler et al , Festschrift für Hans-Heinrich Jescheck zum 70. Geburtstag (1985) 1353 (1359).

3 Siehe etwa Frank, Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich18 (1931) § 3 StGB; Jescheck/Weigend, Strafrecht. Allgemeiner Teil5 (1996) 163.

4 Hegler, Prinzipien des internationalen Strafrechts (1906) 27.

Papathanasiou,

senweisheit“ dar, dass dieser Begriff verfehlt ist.5

Der Begriff Internationales Strafrecht entspricht einem umfassenderen Verständnis, vergleichbar mit dem englischsprachigen Terminus „international criminal law“ 6 Alternativ wird ua der (von Eser vorgeschlagene7) Begriff „Transnationales Strafrecht“8 verwendet. Im französischen Schrifttum wird mehrheitlich vom „droit pénal international“ gesprochen, wenn es um das Strafanwendungsrecht geht.9 Der Begriff „droit international pénal“ entspricht hingegen eher dem, was das Völkerstrafrecht ausmacht.10

Als Grundlage der staatlichen Strafbefugnis gehört das Strafanwendungsrecht einerseits zum materiellen Strafrecht.11 Wie Oehler für die deutsche Rechtsordnung12 treffend anmerkt, ist es sachgerecht, die strafanwendungsrechtlichen Regelungen als Themenbereich des materiellen Strafrechts zu betrachten. Es entspricht der logischen Konsequenz, dass eine Handlung zuerst vom Anwendungsbereich eines Gesetzes erfasst sein muss, bevor festgestellt werden kann, welcher Tatbestand durch die Handlung verwirklicht wird. Erst anschließend tritt die Frage der Art und Weise der Verfolgung des Täters für seine Tat auf.13 Als Teil des materiellen Strafrechts unterliegt das Strafanwendungsrecht außerdem selbst den Erfordernissen des Gesetzlichkeitsprinzips.14

Andererseits ist das Strafanwendungsrecht für das Verfahrensrecht und die prozessuale Justizhoheit dahingehend ebenso sehr relevant,15 dass die inländische Strafgerichtsbarkeit im Fall der Nichtanwendbarkeit inländischen Straf-

5 Zieher, Das sog. Internationale Strafrecht nach der Reform (1977) 26.

6 Hierzu statt vieler Bassiouni (Hrsg), International Criminal Law I–II (1986).

7 Siehe Eser, Das „Internationale Strafrecht“ in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, in Canaris et al, 50 Jahre Bundesgerichtshof IV (2000) 3.

8 Vgl Ambos in Münchener Kommentar zum dStGB3 (2017) Vor § 3 Rz 1; Böse in Nomos Kommentar zum dStGB6 (2023) Vor § 3 Rz 9; Eser/Weißer in Schönke/ Schröder, dStGB30 (2019) Vor § 3 Rz 7; Neumann, Normentheoretische Aspekte der Irrtumsproblematik im internationalen Bereich des „Internationalen Strafrechts“, in Guido Britz et al, Festschrift für Heinz Müller-Dietz zum 70. Geburtstag (2001) 589 (595) jeweils mwN. Andere Bedeutung misst diesem Begriff Jeßberger , Der transnationale Geltungsbereich des deutschen Strafrechts (2011) 27, zu.

9 Vgl Merle/Vitu, Traité de droit criminel (1967) Rz 192. Grundlegend Donnedieu de Vabres, Les principes modernes du droit pénal international (1928) 3.

10 Merle/Vitu, Droit criminel, Rz 253.

11 Vgl Böse in NK dStGB6, Vor § 3 Rz 11; Eser/Weißer in Schönke/Schröder, dStGB30, Vor § 3 Rz 8 f.

12 Das deutsche Strafanwendungsrecht ist in den §§ 3 ff dStGB verankert.

13 Oehler, Internationales Strafrecht2 (1983) Rz 37.

14 Ebenso bereits Böse in NK dStGB6, Vor § 3 Rz 48; Eser/ Weißer in Schönke/Schröder , dStGB 30 , Vor § 3 Rz 6; Fischer, dStGB66 (2019) Vor § 3 Rz 1; vgl Comité européen pour les problèmes criminels, Compétence extraterritoriale en matière pénale (1990) 24.

15 Die hM redet in diesem Zusammenhang von einer „Doppelnatur“ der strafanwendungsrechtlichen Regelungen; siehe repräsentativ Ambos in MünchKomm dStGB3, Vor § 3 Rz 2.

rechts nicht berechtigt ist, ein Strafverfahren zu eröffnen. Im strafprozessualen Sinne besteht somit ein Prozesshindernis, weswegen ein Strafverfahren einzustellen ist.16 Inländische Gerichte dürfen grundsätzlich ausschließlich inländisches materielles Strafrecht anwenden. Dies hat zur Folge, dass die Bejahung inländischer Strafgewalt zugleich die Anwendung inländischen Strafrechts bedeutet.17 Die Anwendbarkeit nationalen materiellen Strafrechts und die internationale Zuständigkeit sind untrennbar miteinander verknüpft.

Beim Strafanwendungsrecht handelt es sich um genuin innerstaatliches Recht, das durch die Grundsätze des Völkerrechts eingeschränkt wird.18 Es sind die unterschiedlichen nationalen Gesetzgeber, die den Geltungsbereich des eigenen nationalen Strafrechts regeln. Die nationalen Strafgesetzgeber sind hierbei in ihrer souveränen Entscheidung über den Umfang und die Geltung inländischer Strafvorschriften weitgehend frei. Allerdings stoßen sie auf jene Grenzen, die durch das Völkerrecht festgelegt sind, weil Staaten nicht isoliert als unabhängige Einheiten existieren, sondern in einem globalen Kontext der Staatengemeinschaft verankert sind.

Das Völkerrecht setzt insofern einen Rahmen, innerhalb dessen das nationale Strafanwendungsrecht geregelt werden kann, darf und soll. Diesen Rahmen legt das völkerrechtliche Nichteinmischungsgebot fest, auch Interventionsverbot genannt: Ein Staat darf sich in die Angelegenheiten anderer Staaten nicht einmischen.19 Sofern ein nationaler Gesetzgeber eine Regelung verabschieden würde, wonach das jeweilige inländische Strafrecht auch in anderen Ländern gelten sollte, wäre dies eine Einmischung in die Angelegenheiten des Hoheitsgebiets eines anderen Staats. Mit anderen Worten: Die Geltung der Normen eines Staats S 1 im Hoheitsgebiet des Staats S 2 würde bedeuten, dass sich Staat S 1 in die Angelegenheiten von Staat S2 einmischt. Das gilt als völkerrechtswidrig. Beim Nichteinmischungsgrundsatz geht es letztendlich um die grundsätzliche Souveränitätsfrage der Staaten: Jeder Staat gilt spätestens seit der Festlegung in Art 2 Abs 1 UN-Charta,20

16 BGHSt 34, 1; Böse in NK dStGB6, Vor § 3 ff Rz 11; Eser/ Weißer in Schönke/Schröder , dStGB30 , Vor § 3 Rz 9; Fischer, dStGB66, Vor § 3 Rz 1; Hoyer in Systematischer Kommentar zum dStGB (2011) Vor § 3 Rz 3; Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht9 (2020) § 3 Rz 2; Werle/Jeßberger in Leipziger Kommentar zum dStGB12 (2007) Vor § 3 Rz 10.

17 Vgl Eser/Weißer in Schönke/Schröder, dStGB30, Vor § 3 Rz 8; Zieher, Internationales Strafrecht, 28.

18 Ambos in MünchKomm dStGB3, Vor § 3 Rz 1; Eser/ Weißer in Schönke/Schröder , dStGB30 , Vor § 3 Rz 5; Oehler, Internationales Strafrecht2, Rz 121; vgl auch bereits von Bar, Das internationale Privat- und Strafrecht (1862) 539 ff.

19 Vgl Hobe, Einführung in das Völkerrecht10 (2014) 290.

20 Art 2 Abs 1 UN-Charta: „Die Organisation beruht auf dem Grundsatz der souveränen Gleichheit aller ihrer Mitglieder.“

die am 26. 6. 1945 in San Francisco erlassen wurde, als souverän und den anderen gegenüber als gleich.21 Gerade deswegen soll ein Strafgesetzgeber die Souveränität aller anderen Staaten respektieren, wenn er die Expansion, mithin die Erweiterung der eigenen Strafgewalt im Sinn des Strafanwendungsrechts regelt.

An dieser Stelle stellt sich die Frage: Ist österreichisches Strafrecht etwa in Fällen wie dem eingangs konstruierten Betrugssachverhalt überhaupt anwendbar? An höchster Praxisrelevanz gewinnt diese Frage besonders im Kontext des Wirtschaftsstrafrechts, das oft über die Grenzen eines bestimmten Landes hinausreicht. In der heutigen global vernetzten Welt ist es eher die Ausnahme, dass Delikte wie Geldwäsche, Untreue, Betrug oder gerade Kryptodelikte nur einen einzigen Staat betreffen. Insbesondere bei umfangreichen und komplexen Strafverfahren haben die zu ermittelnden Sachverhalte einen grenzüberschreitenden Charakter. In Österreich findet sich das Strafanwendungsrecht in den §§62 ff StGB. Diese beginnen mit den Worten: „Die österreichischen Strafgesetze gelten […].“ Es geht also um die Festlegung, wann die österreichischen Strafbestimmungen gelten, mithin wie weit die Strafbefugnis von Österreich aufgrund des österreichischen Strafanwendungsrechts reicht. Durch die Bejahung nationaler Strafgewalt werden zugleich die österreichische Strafgerichtsbarkeit und die Anwendbarkeit des österreichischen materiellen Strafrechts festgelegt.22 Bereits im Vorstehenden wurde dargelegt, dass bei Nichtanwendbarkeit inländischen Strafrechts ein Prozesshindernis vorliegt. Gerade darin liegt auch der große Unterschied zur Materie des Internationalen Privatrechts (IPR): Dieses ist ein reines, ein echtes Koalitionsrecht. Die Zivilgerichte wenden gegebenenfalls auch ausländisches Privatrecht an und das IPR regelt, welches Recht den Vorrang genießt. Solche Konfliktfälle können zB im Fall einer Scheidung auftreten, sind aber im Rahmen des Strafanwendungsrechts ausgeschlossen. Das Strafanwendungsrecht ist kein Kollisionsrecht, sondern funktioniert nach dem Entweder-oder-Prinzip: Entweder findet das österreichische Strafanwendungsrecht Anwendung und mithin zugleich auch das österreichische materielle und prozessuale Strafrecht, oder nicht.

Das Verneinen der Fremdrechtsanwendung ist allerdings kein zwingendes Prinzip.23 Eine

21 Österreich trat den Vereinten Nationen am 14. 12. 1955 bei, während Liechtenstein am 18. 9. 1990 UN-Mitglied wurde.

22 Salimi in Höpfel/Ratz, WK StGB2, Vor §§ 62–67 Rz 1, 65 Rz 6. Dass etwa nach § 65 Abs 2 StGB fremdes Strafrecht berücksichtigt wird, um die günstigere Gesamtauswirkung herauszufinden, bedeutet bei Weitem noch nicht, dass fremdes Strafrecht angewandt wird. Teilweise anders Glaser, Strafanwendungsrecht in Österreich und Europa (2018) 47 ff.

23 In Deutschland wird dieses Prinzip sogar in Art 103 Abs 2 GG als Gesetzesvorbehalt verortet. Siehe repräsentativ aus der Kommentarliteratur Eser/Weißer in Schönke/Schröder, dStGB30, Vor § 3 Rz 8 mwN.

Entwicklung hin zu einer Fremdrechtsanwendung könnte in Österreich nicht ausgeschlossen werden, wäre aber mE nicht zutreffend. Ein wichtiges Argument gegen die Fremdrechtsanwendung liegt darin, dass der nationale Bürger mit unterschiedlichsten Rechtsordnungen konfrontiert wäre, die er nicht kannte, nicht kennen konnte bzw kaum hätte kennen können. Die Besonderheit der strafrechtlichen Materie zeigt sich nicht zuletzt auch in der Zurückhaltung der EU, die ihre Zuständigkeiten in verschiedenen Rechtsbereichen unterschiedlich ausübt.

2.2.Anknüpfungsmöglichkeiten des nationalen Strafrechts an Sachverhalte mit Auslandsbezug

2.2.1.Völkerrechtlicher Kontext

In der berühmten Entscheidung Lotus vom 7. 9. 192724 hat der Ständige Internationale Gerichtshof (StIGH) grundlegend ausgeführt, dass das Völkerrecht die Beziehungen unabhängiger Staaten regelt und auf deren eigenem Willen beruht. Es besteht insbesondere keine Vermutung für eine Einschränkung der Unabhängigkeit der Staaten („Les limitations de l’indépendance des États ne se présument donc pas“).25 Die Gerichtsbarkeit ist sicherlich territorial gebunden und kann außerhalb des Territoriums nicht ausgeübt werden, es sei denn, eine einschlägige Erlaubnisnorm resultiere aus dem Völkergewohnheitsrecht oder einem zwischenstaatlichen Vertrag.26 Dies hindert die Staaten aber nicht daran, Menschen, Güter und Handlungen durch ihre Gesetze außerhalb ihres Staatsgebiets zu erfassen und der auf ihrem eigenen Staatsgebiet ausgeübten Gerichtsbarkeit zu unterwerfen. Die Freiheit der Staaten wird nur durch konkrete Verbotsnormen begrenzt. Ansonsten ist jeder Staat frei, die Regelungen zu treffen, die er für die besten und passendsten hält.27 Die Staaten dürfen nur jene Grenzen nicht überschreiten, die das Völkerrecht zieht; diesseits dieser Grenzen findet sich die Rechtsgrundlage der von einem Staat ausgeübten Gerichtsbarkeit in seiner Souveränität.28

Die Rechtssache Lotus hat anerkanntermaßen die Vermutung der Völkerrechtskonformität staatlichen Verhaltens (sogenannte Lotus-Doktrin) eingeführt. Die Entscheidung war derart richtungsweisend, dass ihre Wirkung etliche Jahrzehnte lang fortdauerte. Erst Ende des 20. Jahrhunderts hat sich angesichts der weiteren dynamischen Entwicklung des Völkerrechts mit dem Nuklearwaffen-Rechtsgutachten des Internationalen Gerichtshofs vom 8. 7. 199629 die Gegenauffassung durchgesetzt:

24 Siehe hierzu Papathanasiou, Völkerrechtmäßiges Verhalten und Extraterritorialität der staatlichen Souveränität – zum 90. Jubiläum der Lotus-Entscheidung, jM 2018, 80.

25 StIGH 7. 9. 1927, PCIJ, Serie A, No 10, Lotus, 18.

26 StIGH 7. 9. 1927, PCIJ, Serie A, No 10, Lotus, 18 f.

27 StIGH 7. 9. 1927, PCIJ, Serie A, No 10, Lotus, 19.

28 StIGH 7. 9. 1927, PCIJ, Serie A, No 10, Lotus, 19.

29 ICJ Reports 1996, 226.

die Vermutung der Völkerrechtswidrigkeit staatlichen Verhaltens. Seitdem wird im Völkerrecht umgekehrt die allgemeine Einschränkung der staatlichen Handlungsmöglichkeiten vermutet.30

Infolgedessen wird auch für das Einmischungs- und Interventionsverbot der positive Nachweis einer Erlaubnisnorm verlangt.31 Dies bedeutet für das Strafanwendungsrecht, dass jede Strafgewalterstreckung hinsichtlich Sachverhalten mit Auslandsberührung als zunächst völkerrechtswidrig vermutet wird, es sei denn, die Existenz einer einschlägigen Erlaubnisnorm lässt sich nachweisen. Von der Reichweite des Einmischungsverbots werden tatbestandlich schon jene Fälle erfasst, in denen kein sinnvoller Anknüpfungspunkt32 (sogenannter „genuine link“) feststellbar ist.33

2.2.2.Die einzelnen Anknüpfungsmöglichkeiten

Insgesamt haben sich durch die Praxis der Staaten im Laufe der Jahrhunderte folgende Anknüpfungspunkte herausgebildet, weswegen es sich korrekterweise um völkergewohnheitsrechtlich entwickelte Prinzipien handelt:

 das Territorialitätsprinzip,

 das aktive Personalitätsprinzip,

 das passive Personalitätsprinzip,

 das Staatsschutzprinzip,

 das Universalitätsprinzip und

 der Grundsatz der stellvertretenden Strafrechtspflege.

2.2.2.1.Territorialitätsprinzip

Das Territorialitätsprinzip ist das grundlegendste Merkmal zur Anknüpfung der nationalen Strafgewalt und mithin zur Begründung der Strafgewalterstreckung. Nach diesem Prinzip unterliegen all jene Handlungen der inländischen Gerichtsbarkeit, die auf dem eigenen staatlichen Territorium begangen wurden.34 Also alles, was

30 In diesem Fall konnte nicht festgestellt werden, ob die Anwendung oder Androhung des Einsatzes von Nuklearwaffen durch das Völkergewohnheits- und Völkervertragsrecht umfassend und unter allen Umständen verboten ist. Eine konsequente Anwendung der bis dahin noch praktizierten Lotus-Doktrin würde bedeuten, dass der Einsatz legal wäre, da sie von der Völkerrechtskonformität staatlichen Handelns ausging. Eine solche Verbotsnorm ließ sich nicht mit Sicherheit nachweisen. Die Völkerrechtskonformität wollten jedoch die Richter gerade vermeiden. Es wäre schwer nachvollziehbar, die Zulässigkeit des Nuklearwaffeneinsatzes in dieser Konstellation zu bejahen. Ob die Argumentation in allen Punkten überzeugend war, wurde allerdings durch das Schrifttum zu Recht in Frage gestellt; vgl Paech, Nuklearwaffen vor dem Internationalen Gerichtshof, Kritische Justiz 1997, 345.

31 Siehe repräsentativ Böse in NK dStGB6, Vor § 3 Rz 13; Jeßberger, Transnationaler Geltungsbereich, 212 ff mwN.

32 Die völkerrechtlich anerkannten Anknüpfungspunkte wurden etwa durch § 402 Restatement of the Law (Third) Foreign Relations Law of the U.S. wiedergegeben.

33 Grundlegend dazu und locus classicus ist das Urteil des IGH vom 6. 4. 1955, CIJ Recueil 1955, Nottebohm, 4.

34 Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht9, § 4 Rz 6.

sich auf dem eigenen Territorium ereignet, unterliegt der nationalen Strafgerichtsbarkeit. Anders als heute war es früher sehr umstritten, welche Orte genau dem Territorialitätsprinzip unterfallen. Die Frage war, ob nur der Ort von Interesse sein sollte, an dem die Handlung begangen wurde (Handlungsort)35 oder noch jener Ort eine Rolle spiele, an dem der Erfolg eintritt (Erfolgsort). Am Beispiel des Mordes nach §75 StGB: Der Ort der Handlung kann sehr wohl ein anderer sein als der Ort des Erfolgs. Der Täter befindet sich zB auf österreichischem Territorium direkt an der Grenze zu Deutschland und will nun auf eine Person schießen, die sich ihrerseits direkt an der Grenze zu Österreich befindet. Dieses Beispiel schildert anschaulich, worum es dabei geht: Der Handlungsort liegt dort, wo die Waffe eingesetzt wird. Der Erfolgsort liegt hingegen an jenem Ort, an dem der Tod des Opfers eintritt. Die Orte liegen in unterschiedlichen Hoheitsgebieten, sie divergieren. Ganz herrschend ist heutzutage in den meisten Ländern die sogenannte Einheitstheorie, auch Ubiquitätstheorie genannt. Die Einheit von Handlung und Erfolg bedeutet, dass der Tatort und somit die Grundlage und legitimierende Basis der Strafgerechtigkeit sowohl der Ort der Handlung als auch der Ort des Erfolgs sein kann.36 Das Territorialitätsprinzip wird teilweise auch im Rahmen des Auswirkungsprinzips weiter verstanden. Dabei geht es darum, neben dem tatbestandlichen Erfolg noch eine direkte oder indirekte Auswirkung des Delikts zur Strafgewalterstreckung zu berücksichtigen.37 Im französischen Sprachgebrauch spricht man vom „effet utile“, dh von einem wichtigen, notwendigen bzw nützlichen Aspekt, einem weiteren Aspekt des Delikts. Mit diesem Gedanken soll vor allem die Ausdehnung der Gebietshoheit hinsichtlich abstrakter Gefährdungsdelikte gerechtfertigt werden. Eine Auswirkung kann jedoch sehr weit entfernt sein; so ist nämlich unbestimmt, welche Auswirkungen tatsächlich die Qualität haben, einen Tatort zu begründen. Gerade bei Fragestellungen im Bereich der Internetkriminalität38 wird dies anhand einiger Beispielfragen anschaulich: Wo stand der Server, den der Täter verwendet hat? Wo war der Täter mit seinem Rechner und wo wurden Internetseiten aufgerufen? Wo wurden Daten eventuell noch zugänglich gemacht? Auf das Auswirkungsprinzip nehmen heute vor allem nationale Gesetzgeber im Bereich des internationalen Wirtschafts- und Unternehmensrechts Bezug.39 Eine Übertragung auf das Strafrecht sollte mit höchster Vorsicht eruiert werden.

35 So das vorherrschende Verständnis in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts; vgl von Rohland, Das internationale Strafrecht (1877) 30.

36 Näher Oehler, Internationales Strafrecht2, Rz 252 ff.

37 Vgl von Arnauld, Völkerrecht3 (2016) § 4 Rz 339.

38 Vgl Reindl-Krauskopf, Cyberstrafrecht im Wandel, ÖJZ 2015, 112.

39 Doehring, Völkerrecht2 (2004) Rz 823 mwN.

Eine weitere notwendige Erweiterung des Territoriums erfolgt fiktiv: Der staatsrechtliche Inlandsbegriff wird durch den völkerrechtlichen Flaggengrundsatz erweitert. Dabei geht es um ein fiktives Territorium. Das Flaggenprinzip kommt im Bereich von Handlungen an Bord eines Schiffs oder Luftfahrzeugs mit der nationalen Flagge zur Anwendung.

2.2.2.2.Aktives Personalitätsprinzip

Das Vorliegen der inländischen Staatsbürgerschaft ist für das aktive Personalitätsprinzip entscheidend. Dieses erweitert das Geltungsgebiet der Strafgesetze dahingehend, dass alle Orte erfasst werden, an denen sich Inländer, also Staatsbürger, aufhalten.40 Anknüpfungspunkt ist die Person des Täters; insofern geht es darum, wer aktiv im Geschehen (im Sachverhalt mit Auslandsbezug) agiert hat. In seiner ursprünglichen strengen Fassung ging das aktive Personalitätsprinzip von der unbedingten Treuepflicht des Staatsbürgers gegenüber der inländischen Rechtsordnung aus.41 Streng bedeutet in diesem Zusammenhang „unabhängig davon, ob die Tat auch am Tatort strafbar war“. Mittlerweile wird aber in den meisten Fällen zusätzlich das Erfordernis der doppelten Strafbarkeit verlangt. Dies hat zur Folge, dass Taten, die aufgrund des aktiven Personalitätsprinzips auch innerstaatlich bestraft werden sollten, auch am Tatort selbst unter Strafe stehen müssen.

Eine moderne Erweiterung des aktiven Personalitätsprinzips geht davon aus, dass die Strafgewalterstreckung sogar dadurch legitimiert werden kann, dass der Täter nicht schon die Staatsbürgerschaft, sondern seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat. Es geht um das Domizilprinzip, das gerade in völkerrechtlichen Verträgen häufig vorkommt.42

2.2.2.3.Passives Personalitätsprinzip

Die nächste Anknüpfungsmöglichkeit stellt ebenfalls auf die Staatsbürgerschaft ab, allerdings dahingehend, dass die Strafgewalterstreckung aufgrund der Staatsbürgerschaft des Opfers legitimiert wird. Es geht um das passive Personalitätsprinzip, auch Individualschutzprinzip genannt.43 Mit Recht stößt dieses Prinzip auf heftige Kritik. Denn zunächst einmal ist es für den Täter unbillig und unzumutbar, mit einer aus seiner Sicht beliebigen Rechtsordnung in Kontakt zu kommen, die er unter Umständen nicht einmal kennen konnte. Ein Täter wird im Regelfall nicht wissen, welche Staatsbürgerschaft sein Opfer hat.44 Noch maßgeblicher ist aber das Argument, das die begrenzte Praktikabilität aus verfahrensrechtlicher Perspektive moniert. So ist

40 Von Rohland, Internationales Strafrecht, 102.

41 Von Rohland, Internationales Strafrecht, 96 ff.

42 Für Österreich vgl Salimi in Höpfel/Ratz, WK StGB2, Vor §§ 62–67 Rz 13.

43 Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht9, §§ 4 Rz 12, 5 Rz 87.

44 Oehler, Internationales Strafrecht2, Rz 681.

das Verhören von Zeugen oder das Sammeln von Beweisen nicht unerheblich komplizierter, sofern nicht der Staat des entsprechenden Tatorts den Prozess führt.45 Und gerade angesichts der heftigen Kritik, die sowohl völkerrechtlich als auch strafrechtlich geübt wird, wird davon ausgegangen, dass das passive Personalitätsprinzip keinesfalls in seiner strengen Fassung angewendet werden soll, sondern eingeschränkt, dh sofern gefordert wird, dass der Sachverhalt auch eine Straftat nach dem Tatortrecht ist (Erfordernis der doppelten Strafbarkeit).46 Die Anwendung des passiven Persönlichkeitsprinzips ist ansonsten völkerrechtswidrig. ME wäre es sogar am besten, würde das passive Personalitätsprinzip eigentlich nur im Ausnahmefall zur Anwendung kommen, in dem weder der Tatortstaat noch der Heimatstaat, also der Staat der Staatsangehörigkeit des Täters, ihre Strafbefugnisse beanspruchen wollen.

2.2.2.4.Staatsschutzprinzip

Vorab sei angemerkt, dass das passive Personalitätsprinzip ideengeschichtlich auf dem Boden des sogenannten Real- bzw Schutzprinzips entwickelt wurde, das die Strafgewalt auf alle Handlungen erstrecken wollte, durch die inländische Rechtsgüter gefährdet oder verletzt wurden.47 In seiner ursprünglichen Fassung im Sinn des Staatsschutzprinzips waren nur jene Rechtsgüter relevant, die den Selbstschutz des Staats und seiner Institutionen betrafen, wie beim Delikt des Hochverrats.48 Das ist der Grund, warum der Begriff des Staatsschutzprinzips als Synonym für das Schutzprinzip verwendet wurde bzw wird. Erst später gab es die Entwicklung dahingehend, dass noch Individualrechtsgüter der eigenen Staatsbürger geschützt werden sollten. Nach diesem Perspektivenwechsel konnte nämlich vom Individualschutzprinzip im Sinn des passiven Personalitätsprinzips die Rede sein. Nach heutigem Verständnis betrifft das Staatsschutzprinzip wichtige staatliche Belange. Es inkludiert damit in erster Linie Fälle, in denen der Staat sich in seinen vitalen Interessen, wie Souveränität, Sicherheit oder wichtigen Regierungsfunktionen, tangiert oder gefährdet fühlt.49 Deswegen wird bei der Regelung des Staatsschutzprinzips auf etwaige zusätzliche Tatbestandsvoraussetzungen einer doppelten Straf-

45 Watson, The Passive Personality Principle, TILJ 1993, 1 (25 f).

46 Von Arnauld, Völkerrecht3, § 4 Rz 1300; Jescheck/ Weigend, Strafrecht AT5, 170; Jeßberger, Transnationaler Geltungsbereich, 263.

47 Nicht selten wird der Terminus Schutzgrundsatz als Oberbegriff verwendet, unter den das Staatschutzprinzip (im Sinn des Realprinzips) und das Individualschutzprinzip (im Sinn des passiven Personalitätsprinzips) fallen; siehe etwa Salimi in Höpfel/Ratz , WK StGB 2 , Vor §§62–67 Rz 9 f mwN; ähnlich Fabrizy/ Michel-Kwapinski/Oshidari, StGB14 (2022) § 62 Rz 4.

48 Vgl Jeßberger, Transnationaler Geltungsbereich, 256.

49 Comité européen pour les problèmes criminels, Competence extraterritoriale en matiè?re pé?nale (1990) 13 f; Lombois, Droit pénal international (1971) 326.

barkeit verzichtet.50 Problematisch ist bei diesem Anknüpfungspunkt, dass er im Ergebnis zur Legitimation extraterritorialer Anwendung in Bezug auf Straftaten aller Art herangezogen werden könnte. Im Ergebnis könnten daher auch Straftaten, die gerade keine besonders wichtigen staatlichen Belange betreffen und somit dem Grunde nach nicht unter das Territorialitätsprinzip zu subsumieren wären, die aber dennoch für zB das Eigenbild des Staats misslich sind, auf diese Weise legitimiert werden. Eklatante Beispiele hierfür sind politisch motivierte Straftaten (wie zB in der DDR51) oder Verstöße gegen die wirtschaftlichen Interessen des Staats.52 Vor diesem Hintergrund ist eine Reduktion des Auslegungsbereichs erforderlich. Sollten jedoch durch die Verletzung von Wirtschaftsinteressen zugleich Strukturen des Staats tangiert werden, erscheint eine andere Bewertung durchaus möglich.

2.2.2.5.Universalitätsprinzip

Noch kritischer fällt die Beurteilung für das Universalitätsprinzip, auch Weltrechtsprinzip oder Weltrechtspflege genannt, aus. Das Universalitätsprinzip ist grundsätzlich für das Völkerstrafrecht relevant, da jeglicher „genuine link“ fehlt: Dem Staat wird die universelle Expansion seines innerstaatlichen Strafrechts in der Art gestattet, dass unter seine Strafkompetenz auch im Ausland begangene Delikte durch Ausländer gegen ausländische Rechtsgüter fielen.53 Historisch betrachtet entstand das Universalitätsprinzip als logische Konsequenz der einst vorherrschenden Auffassung, dass die Entscheidung über die Strafgewalterstreckung eine einseitige war: Jeder Staat bestimmte eigenständig und ohne Rücksicht auf andere Staaten, wie das eigene Strafrecht gestaltet und auf welche Sachverhalte es angewendet werden sollte. In seiner praktischen Umsetzung besagte das Universalitätsprinzip somit, dass alle Staaten gleichermaßen befugt waren, ein und dasselbe Delikt zu bestrafen.54

Bereits Anfang des 17. Jahrhunderts bestand nach Hugo Grotius (1583–1654) eine Verpflichtung der Staaten entweder zur Auslieferung oder zur Bestrafung: „Aut dedere aut punire.“55 In freier Übersetzung bedeutet das: Entweder du, Staat, sollst den Täter ausliefern, der sich gerade auf deinem Territorium aufhält, oder du sollst ein Verfahren gegen ihn in Gang setzen. Die moderne Terminologie bevorzugt die Verwendung des Begriffs Strafverfolgung anstelle von Bestrafung als Alternative zur Auslieferung. Diese Än-

50 Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht9, §4 Rz 11.

51 Vgl Vormbaum, Das Strafrecht der Deutschen Demokratischen Republik (2015) 335 f.

52 Zu diesem Monitum siehe bereits Cameron, The Protective Principle of International Criminal Jurisdiction (1994) 34.

53 Vgl von Rohland, Internationales Strafrecht, 14.

54 Von Rohland, Internationales Strafrecht, 7.

55 Grotius, Drei Bücher über das Recht des Krieges und Friedens II (1869) 112.

derung zielt darauf ab, dass ein mutmaßlicher Straftäter für nicht schuldig befunden werden könnte. Somit ist heute die lateinische Redewendung geläufig: „Aut dedere aut judicare.“56

Wie bereits erwähnt, ist eine Strafgewalterstreckung ohne einen „genuine link“ völkerrechtswidrig. Es soll irgendeinen bestimmten Bezug zu einer Rechtsordnung geben. Es gibt zwar eine bestimmte Liste von Delikten, die tatsächlich auf Grundlage des Universalitätsprinzips auch innerstaatlich ohne jeglichen Inlandsbezug bestraft werden können; bei ihnen geht es aber eindeutig um die Materie des Völkerstrafrechts, dh um völkerrechtlich anerkannte schwerstwiegende Verbrechen. Denn die Legitimität des Universalitätsprinzips liegt in der Repräsentation der Menschheit.57

2.2.2.6.Grundsatz der stellvertretenden Strafrechtspflege

Abschließend sei noch eine Anknüpfungsmöglichkeit genannt, die aber keine wirkliche im Sinn der originären Strafgewaltbegründung ist: der Grundsatz der stellvertretenden Strafrechtspflege. Dieser stellt insofern eine Form der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen dar, als das nationale Strafrecht nur hilfsweise eingreift, solange die ausländische Strafjustiz aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen an der Durchsetzung ihres Strafanspruchs gehindert ist.58 Die stellvertretende Strafrechtspflege ist somit subsidiär.59 Sie ist ferner akzessorisch, dh in ihrem Umfang bedingt durch die originäre Strafgewalt des Staats, in dem die Tat begangen wurde. Deswegen wird nach hM neben dem Erfordernis der doppelten Strafbarkeit auch die Verfolgbarkeit der Tat nach dem Tatortrecht verlangt.60

2.3.Zwischenfazit

Originäre sinnvolle Anknüpfungspunkte für die Anwendung des jeweiligen nationalen Strafrechts sind das Territorialitätsprinzip, das aktive und passive Personalitätsprinzip, der Schutzgrundsatz und das unter Umständen völkerrechtmäßig angewandte Universalitätsprinzip. Nur diese aufgeführten Anknüpfungsmöglichkeiten legitimieren originär eine Strafgewalterstreckung. Der Grundsatz der stellvertretenden Strafrechtspflege ist nur für den Bereich der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen relevant und weist deshalb keinen materiell-rechtlichen Charakter auf. Den Anforderungen des Gesetzlichkeitsprinzips müssen aufgrund des materiell-rechtlichen Charakters begriffsnot-

56 Hierzu ausführlich Bassiouni/Wise, Aut Dedere Aut Judicare: The Duty to Extradite or Prosecute in International Law (1995) passim.

57 Henzelin, Le principe de l’universalité en droit pénal international (2000) 81.

58 Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht9, §4 Rz 16.

59 Vgl für Österreich Schwaighofer, Auslieferung und Internationales Strafrecht (1988) 63.

60 Böse in NK dStGB6, Vor § 3 Rz 29.

wendig nur die eine originäre Strafgewalt begründenden Anknüpfungspunkte genügen.

3.Straftatsystematische Einordnung

Nach der Darstellung der einzelnen Anknüpfungsmöglichkeiten ist in der Folge jene Frage in Bezug auf den materiell-rechtlichen Charakter des Strafanwendungsrechts zu erörtern, welche die straftatsystematische Einordnung der Regelungen des Strafanwendungsrechts betrifft. Mit anderen Worten: Auf welcher Ebene des Verbrechensaufbaus ist das Strafanwendungsrecht zu verorten?

Nach hM in Österreich stellt die inländische Gerichtsbarkeit/das Strafanwendungsrecht (§§62ff StGB) eine reine und unrechtsneutrale objektive Bedingung der Strafbarkeit dar, die vom Tätervorsatz nicht umfasst sein muss.61 Das entspricht auch der mehrheitlich vertretenen Auffassung in Deutschland. 62 Diese Auffassung hält die Autorin jedoch für unzutreffend. Aufgrund einer normentheoretischen Analyse des Strafrechts vertritt sie seit dem Jahr 2018 63 eine in Deutschland ebenfalls verbreitete Auffassung, welche die Regelungen des Strafanwendungsrechts als objektive Tatbestandsmerkmale an sieht. Besagte normentheoretische Analyse lässt sich wie folgt durchführen:

In seinem Werk „Die Normen und ihre Übertretung“ formuliert Binding seine Grundannahme, dass der „Strafrechtssatz, nach welchem der Verbrecher beurteilt wird“, strikt vom „Rechtssatze, den er übertritt“, zu trennen sei.64 Der Rechtssatz gehe dem Strafrechtssatz „begrifflich und regelmässig, aber nicht notwendig auch zeitlich“ voraus.65 Die verbindliche Richtschnur des Handelns, die der Verbrecher überschreite, sei „das rechtliche Verbot oder Gebot als solches ohne irgend welche Hinweisung des Handelnden auf die Rechtsfolgen, welche an die Handlung als an deren Bedingung geknüpft sind. Dieses Gebot finden wir im Wesentlichen durch

61 Grundlegend hierzu OGH 12. 3. 1981, 12 Os 11/81; siehe auch OGH 16. 5. 2013, 13 Os 4/13g, JBl 2014, 401; Glaser , Strafanwendungsrecht, 32; Kienapfel/Höpfel/ Kert, Strafrecht. Allgemeiner Teil16 (2020) 361; Salimi in Höpfel/Ratz , WK StGB 2 , Vor §§ 62–67 Rz 17; Schwaighofer, SbgK StGB, Vor §§ 62 ff Rz 65; Tipold in Leukauf/Steininger, StGB4 (2020) Vor §§ 62–66 Rz 1a.

62 Siehe etwa Ambos in MünchKomm dStGB3, Vor § 3 Rz3; Baumann/Weber/Mitsch/Eisele, Strafrecht. Allgemeiner Teil12 (2016) § 5 Rz 24; Eser/Weißer in Schönke/ Schröder , dStGB30, Vor § 3 Rz 6; Lackner/Kühl/Heger, dStGB30 (2023) Vor § 3 Rz 10, jeweils mwN; Jescheck/ Weigend, Strafrecht AT5, 180; Henrich, Das passive Personalitätsprinzip im deutschen Strafrecht (1994) 156 ff; Schneider , Die Verhaltensnorm im Internationalen Strafrecht (2011) 274; Walter, Einführung in das Internationale Strafrecht, JuS 2006, 870 (871).

63 Papathanasiou, Das Bindingsche Modell der „Kompetenz-Kompetenz“ – die Normentheorie an der Kreuzung vom sog. internationalen Strafrecht und Völkerrecht, in Schneider/Wagner, Normentheorie und Strafrecht (2018) 245 ff.

64 Binding, Die Normen und ihre Übertretung I (1965) 3.

65 Binding, Normen I, 4.

Umwandlung des ersten Teils unsrer Strafrechtssätze in einen Befehl: nicht zu handeln, wie es daselbst bezeichnet, oder zu handeln, wie es dort gefordert ist. Dieser gesetzliche Befehl ist es, den ich die Norm nenne.“66

Die Norm sage insofern „nichts über die Rechtsfolgen des Delikts. Wie weit dasselbe strafbar sein soll, bestimmt vielmehr eine Gruppe von Rechtssätzen ganz anderer Art, die der ungenau sog. Strafgesetze.“67 Die Norm sei nie Teil des Strafgesetzes und nie Satz des Strafrechts.68 Sie gehe deswegen begrifflich dem Strafgesetz voraus, weil dieses eine Normübertretung mit einer Straffolge bedrohe oder sie für straffrei erkläre.69 Es sei der Strafgesetzgeber, der das Verbrechen erzeuge, gefasst als Verbrechensbegriff.70

In Anlehnung an Binding unterscheidet die tradierte deutschsprachige Dogmatik zwischen Verhaltensnormen (sogenannten primären Normen) und Sanktionsnormen (sogenannten sekundären Normen).71 Während Verhaltensnormen eine Handlung als rechtswidrig klassifizieren, bestimmen Sanktionsnormen die rechtlichen Reaktionen auf die Verletzung einer aus der Verhaltensnorm resultierenden Verhaltenspflicht.

Würde das Universalitätsprinzip bei einer einschlägigen normtheoretischen Konzeption des Strafanwendungsrechts zugrunde gelegt, würde das nationale (etwa: österreichische) Strafrecht als Verhaltensnorm universell gelten,72 und die §§ 62 ff StGB würden ausschließlich den Geltungsbereich der Sanktionsnormen betreffen.73 Der Geltungsbereich der Verhaltensnormen wäre daher unbegrenzt, der Geltungsbereich der Strafgesetze (in der heutigen Terminologie: der Sanktionsnormen) hingegen begrenzt.

Die Auffassung, dass Strafrechtsnormen als Verhaltensnormen universell gelten, war und ist heute noch weit verbreitet.74 Der Denkfehler dieser Anschauung liegt jedoch darin, „dass sie von der Möglichkeit der isolierten Betrachtung eines Staates und seiner Funktionen ausgeht. In ihren Prämissen liegt nicht nur eine Leugnung des überstaatlichen Rechts, der Völkerrechtsordnung, sondern sie übersieht auch die Koexistenz

66 Binding, Normen I, 45 (sic).

67 Binding, Handbuch des Strafrechts I (1885) 175.

68 Binding, HB Strafrecht I, 162.

69 Binding, Normen I, 45.

70 Binding, Normen I, 133 f.

71 Vgl Frisch, Vorsatz und Risiko (1983) 59 ff, 75 ff, 118 ff; Freund, Strafrecht. Allgemeiner Teil2 (2009) § 2 Rz 12 ff, 72 ff; Neumann in Guido Britz et al, FS Müller-Dietz, 589 (603).

72 So als erster Schröder, Die Teilnahme im internationalen Strafrecht, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 61/1942, 57 (94).

73 Vgl Schroeder, Der „räumliche Geltungsbereich“ der Strafgesetze, GA 1968, 353.

74 Siehe aus der aktuellen Literatur ua Ambos in MünchKomm dStGB3, Vor § 3 Rz 9 mwN, der meint, dass sich der Nichteinmischungsgrundsatz nur auf die Ausübung von Hoheitsgewalt im engeren Sinn beschränkt, ohne dass dies die bloße Auslandsgeltung des nationalen Rechts und nationaler Gerichtsbarkeit betrifft.

einer Vielzahl von Staaten als tatsächliche Gegebenheit.“75 Es besteht keine Konformität mit dem Nichteinmischungsgebot, denn fremde Normen dürfen keine Geltung im staatlichen Hoheitsgebiet entfalten.

Nun entspricht die hM, welche die Geltung des österreichischen Strafrechts iSd §§ 62 ff StGB als unrechtsneutrale objektive Strafbarkeitsbedingung versteht, diesem Verständnis von der universellen Geltung der Verhaltensnormen. Das hat besonders anschaulich und prägnant der deutsche Strafrechtler und Rechtsphilosoph Ulfrid Neumann mit seinem Gedanken von der Relativität des Unrechts gezeigt. Diesem Gedanken liegt insbesondere folgendes Zitat von Jakobs zugrunde: „Es geht um Strafgewalt und Normanwendung dahingehend, als spezifiziert wird, was Unrecht ist.“76 Das Unrecht einer Handlung nach Neumann ist infolgedessen nichts der Normenordnung Vorgegebenes. Es wird durch den normverletzenden Charakter dieser Handlung und damit durch die Normen des jeweiligen Rechtssystems konstituiert. Unrecht ist daher keine Eigenschaft von Handlungen, sondern eine Relation zwischen einer Handlung und einem bestimmten Normensystem.77

Wenn nun eine Verhaltensnorm als eine Norm wahrgenommen wird, die eine Handlung als rechtswidrig klassifiziert, dann findet diese Klassifizierung in der Tat notwendigerweise relativ zu einem bestimmten Rechtssystem statt. Wird dieser Gedanke auf die hM angewandt, ergibt sich Folgendes: Werden die §§62 ff StGB als unrechtsindifferente objektive Strafbarkeitsbedingungen betrachtet, gibt es keine zwingende Relation mehr zum österreichischen Rechtssystem, und eine solche wäre auch nicht notwendig. Somit „bleibt jenseits der Möglichkeit eines Rückgriffs auf naturrechtliche oder supranationale Normenordnungen nur die Möglichkeit, den das Unrecht konstituierenden Bewertungs- und Verhaltensnormen des nationalen Strafrechts universale Verbindlichkeit zuzuerkennen“. 78

Eine universelle Verbindlichkeit der Verhaltensnormen ist aber abzulehnen. Ein derartiges Verständnis kann aufgrund der Entwicklung des Völkerrechts in Verbindung mit den verfassungsrechtlichen Standards nicht überzeugen. Das Einmischungsverbot ist als allgemeine Regel des Völkerrechts nach Art 9 Abs 1 B-VG ein Bestandteil des Bundesrechts, weswegen die jeweils gesetzlich ausgewählten Anknüpfungsprinzipien mit den völkerrechtlich anerkannten

75 Bruns, Das Völkerrecht als Rechtsordnung, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 1929, 1 (55).

76 So Jakobs, Strafrecht. Allgemeiner Teil2 (1991) 5/12.

77 Neumann in Guido Britz et al, FS Müller-Dietz, 589 (601). Ihm folgend ua Jeßberger, Transnationaler Geltungsbereich, 151.

78 Neumann in Guido Britz et al, FS Müller-Dietz, 589 (602).

Anknüpfungsmöglichkeiten im Einklang stehen müssen. Solange zum innerstaatlichen Recht nicht nur die Sanktions-, sondern auch die Verhaltensnormen gehören, werden beide vom grenzziehenden völkerrechtlichen Rahmen eingeschränkt. Das Universalitätsprinzip sollte nur in Bezug auf bestimmte, völkerrechtlich anerkannte schwerwiegende Verbrechen anerkannt werden. Außerdem verstößt eine universelle Verbindlichkeit der Verhaltensnormen gegen das Rechtsstaatsprinzip, wonach keine Strafrechtsfolge eintreten darf, wenn der Täter sie nicht erwarten konnte.79

So gesehen lässt sich festhalten, dass die §§62ff StGB weder eine ausdehnende noch eine einschränkende, sondern erst eine festlegende Wirkung in Bezug auf die Tatbestände und Zurechnungsregeln der Strafrechtsordnung entfalten.80 Insofern bestimmt das Strafanwendungsrecht sowohl den Anwendungsbereich der Sanktionsnormen als auch den Anwendungsbereich der Verhaltensnormen, und die verschiedenen Anknüpfungspunkte beziehen sich gleichermaßen auf sekundäre wie auch primäre Normen.

Daraus folgt, wie Neumann ausführt, dass die §§ 62 ff StGB als „vor die Klammer gezogene Bestandteile der strafrechtlichen Verhaltensnormen“ zu betrachten sind.81 Die Anknüpfungsmöglichkeiten sind insofern nicht nur für die Sekundärnormen relevant, sondern zugleich „konstitutiver Teil der primären Strafrechtsnormen, indem sie den Bereich beschreiben, für den sich das deutsche Strafrecht einen ‚Bewertungsanspruch‘ zuerkennt“ 82 Daraus folgt außerdem, dass die Frage der Geltung des inländischen Strafrechts keine Vorfrage ist, sondern gleichzeitig mit der Frage der Reichweite des tatbestandlichen Schutzbereichs gestellt wird,83 beide betreffen nämlich die Reichweite der Verhaltensnorm. Die praktische Bedeutung dieser Frage ist jedenfalls sehr gering.84

79 Vgl Oehler, Internationales Strafrecht2, Rz 124.

80 Dazu siehe nur Neumann in Guido Britz et al, FS MüllerDietz, 589 (603).

81 So Neumann in Guido Britz et al, FS Müller-Dietz, 589 (604); zustimmend ua Böse in NK dStGB6, Vor § 3 Rz 9; Jeßberger , Transnationaler Geltungsbereich, 126, jeweils mwN.

82 Ambos in MünchKomm dStGB3, Vor § 3 Rz 3 mwN. Ähnlich Böse in NK dStGB6, Vor § 3 Rz 9; Burchard, Intertemporales Strafanwendungsrecht: Zur Anwendbarkeit deutschen Strafrechts im Demjanjuk-Verfahren, HRRS 2010, 132 (136); Eser/Weißer in Schönke/Schröder, dStGB30, Vor § 3 Rz 6.

83 Wie hier bereits Böse in NK dStGB6, Vor § 3 Rz 9; Jeßberger , Transnationaler Geltungsbereich, 127 FN 90. Anders Satzger , Internationales und Europäisches Strafrecht9, § 3 Rz 13 mwN; Stricker, Strafverfolgung von Verbänden bei In- und bei Auslandstaten, ÖJZ 2019, 859 (861; „objektive Vorbedingung der Strafbarkeit“). Vgl Schmoller, Schutz des „öffentlichen Friedens im Ausland“? in Joerden et al , Vergleichende Strafrechtswissenschaft – Festschrift für Andrzej J. Szwarc zum 70. Geburtstag (2009) 387 (389).

84 Siehe bereits Ambos in MünchKomm dStGB3, Vor § 3 Rz 88 f mwN.

Das hingegen wichtigste Ergebnis dieses neuen Verständnisses ist in der Irrtumslehre zu sehen. Sofern die Voraussetzungen der Anwendung des Strafrechts nach §§ 62 ff StGB Tatbestandsmerkmale sind, besteht die Möglichkeit, den Weg für vorsatzausschließende Tatbestandsirrtümer zu ebnen: Ein Täter, der eine Tatsache nicht kennt, die nach §§ 62 ff StGB die Geltung des österreichischen Strafrechts begründet, unterliegt einem Tatbestandsirrtum und hat diesbezüglich keinen Vorsatz. Er irrt sich über einen Umstand, von dem es abhängt, ob seine Handlung in den Anwendungsbereich der strafrechtlich sanktionierten Verhaltensnorm fällt.85 Wenn allerdings ein Täter weiß, dass seine Handlung nach dem Recht des Tatorts nicht rechtswidrig ist, und er auch nicht auf den Gedanken kommt, dass eine andere Strafrechtsordnung hinsichtlich seines Verhaltens einen Geltungsanspruch erheben könnte, unterliegt er einem Verbotsirrtum hinsichtlich dieser Rechtsordnung.86

Anders verhält es sich bei Anwendung der hM: Der Anwendungsbereich des Tatbestandsirrtums bleibt vollständig gesperrt,87 sofern die Geltung des österreichischen Strafrechts iSd §§62 ff StGB für eine objektive Strafbarkeitsbedingung gehalten wird. Infolgedessen stellen die Unkenntnis der Reichweite dieser Geltung und selbst der Irrtum über den Handlungs- oder den Erfolgsort (!) in erster Linie einen unbeachtlichen Irrtum über den Umfang der österreichischen Gerichtsbarkeit dar. Unter Umständen könnte jedenfalls ein Verbotsirrtum nach § 9 StGB vorliegen.88

4.Zum österreichischen

Strafanwendungsrecht

Das österreichische Strafanwendungsrecht ist in den §§ 62 bis 66 und 67 Abs 2 StGB verankert und gestaltet unter Heranziehung aller oben genannten Anknüpfungsmöglichkeiten den räumlichen wie auch personellen Geltungsbereich der österreichischen Strafgesetze.89 Nachfolgend wird diese konkrete gesetzliche Gestaltung in ihren wesentlichen Zügen näher erläutert, um ein umfassendes Verständnis für deren Anwendungsbereiche und Auswirkungen zu vermitteln. Das Strafanwendungsrecht gilt gleichermaßen für Verbände.

85 Neumann in Guido Britz et al, FS Müller-Dietz, 589 (605).

86 Neumann in Guido Britz et al, FS Müller-Dietz, 589 (606); Oehler, Internationales Strafrecht2, Rz 128. Zustimmend Böse, in Bloy et al, Gerechte Strafe und legitimes Strafrecht – Festschrift für Manfred Maiwald zum 75. Geburtstag (2010) 61 (73).

87 Vgl bereits Granitza, Die Dogmengeschichte des internationalen Strafrechts seit Beginn des 19. Jahrhunderts (1961) 109.

88 Glaser, Strafanwendungsrecht, 33.

89 Statt vieler Miklau, Der zeitliche und räumliche Geltungsbereich des österreichischen Strafrechtes, Zum neuen Strafrecht I – Referate bei der Österreichischen Richterwoche (1973) 111.

4.1.Anwendung des österreichischen Strafrechts auf Inlandstaten

Für Inlandstaten kommt das Territorialitätsprinzip in vollem Umfang zur Anwendung. Nach § 62 StGB gelten die österreichischen Strafgesetze zunächst für alle Straftaten, die im Inland von wem auch immer begangen wurden. Normiert wird also die uneingeschränkte Geltung des Territorialitätsprinzips. Im StGB wird der Inlandsbegriff nicht genau definiert. Dies ist nachvollziehbar, zumal solche Begriffe durch das Völkerrecht und das Staatsrecht konturiert werden. Ausland ist hingegen jeder Ort, der nicht als Inland zu qualifizieren ist. Somit sind Ausland neben den Gebieten anderer Staaten alle hoheitsfreien Räume (wie zB die Hohe See, die Arktis, die Antarktis, der Mond oder der Weltraum) sowie sonstige Orte, die keiner Strafgewalt unterliegen, weil eine einheitliche Staatsgewalt nicht oder nicht mehr ausgeübt wird. Ein Beispiel für Letzteres sind die sogenannten „failed states“ 90 Nach § 63 StGB gelten die österreichischen Strafgesetze ferner, wenn die Tat im fiktiven österreichischen Territorium begangen wurde, dh zwar nicht in Österreich selbst, aber an Bord eines österreichischen Schiffs oder Luftfahrzeugs.

Die immanente Frage, wo eine Tat begangen wurde, wird in § 67 Abs 2 StGB beantwortet.91 Demnach ist es nicht notwendig, dass die gesamte oder auch nur der überwiegende Teil der Tat in Österreich bzw im fiktiven österreichischen Territorium begangen wird. Vielmehr wird die Einheitstheorie92 zugrunde gelegt:93 „Eine mit Strafe bedrohte Handlung hat der Täter an jedem Ort begangen, an dem er gehandelt hat oder hätte handeln sollen oder ein dem Tatbild entsprechender Erfolg ganz oder zum Teil eingetreten ist oder nach der Vorstellung des Täters hätte eintreten sollen.“ Sowohl der Handlungsort94 als auch der – vom Täter auch nur vorgestellte – Erfolgsort können die Strafbefugnis von Österreich begründen.95 Als Erfolg wird zunächst der tatbildmäßige Erfolg gemeint (zB der Vermögensschaden bei

90 Siehe nur OGH 11. 10. 2016, 11 Os 69/16f (wird die Tat außerhalb des Hoheitsgebiets eines Küstenstaats in „internationalen Gewässern“ verübt, besteht am Tatort keine Strafgewalt). Da die Tat als Auslandstat gilt, kommt § 65 Abs1 Abs3 StGB in Betracht.

91 Für die strafprozessuale örtliche Zuständigkeit ist nach § 36 Abs 3 StPO der Handlungsort vorzugswürdig.

92 Anders als in Deutschland und anderen Ländern wird in Österreich der Begriff Ubiquitätstheorie nicht als Synonym für die Einheitstheorie verwendet, sondern eigenständig verstanden. Sie erfasst jeden Anhaltspunkt mit Inlandsbezug. Gegen die Ubiquitätstheorie explizit bereits ErlRV 1971, 180.

93 So explizit bereits ErlRV 1971, 180. Vgl in Deutschland BVerfGE 113, 273 = NJW 2005, 2289 (Verletzung des Auslieferungsverbots durch das Europäische Haftbefehlsgesetz).

94 Etwa die telefonische Bestellung von Suchtgift durch Anruf aus Österreich nach Holland (OGH 23. 4. 1996, 11 Os 38/96; selbst wenn das Suchtgift nach der Absicht des Täters nie nach Österreich gebracht werden sollte).

95 Leicht abweichend der Wortlaut in § 2 Abs 2 VStGB.

der Untreue nach § 153 StGB96). Als Erfolg gelten ferner sowohl die Erfolgsqualifikation nach § 7 Abs 2 StGB97 als auch jeder noch tatbestandlich erfasste Zwischenerfolg der Tat.98 Letzteres ist gerade für Delikte wie den Betrug nach § 146 StGB von hoher Relevanz, da nicht nur der Ort der Täuschungshandlung oder des Vermögensschadens,99 sondern auch der Ort der Irrtumserregung und der Vermögensverfügung gleichermaßen die inländische Strafgerichtsbarkeit begründen.100 Keinen Gerichtsstand begründen hingegen vermeintliche Zwischenerfolge einer Tat, wenn sie keine Tatbestandsmerkmale sind, mithin beliebige Anhaltspunkte mit Inlandsbezug (iSd Ubiquitätstheorie). Dies ist bei sogenannten Transitdelikten der Fall, wenn also das Inland nur eine Durchgangsstation darstellt, während Handlungs- und Erfolgsort im Ausland liegen. In diesen Konstellationen durchläuft das Inland nur die Kausalkette des Geschehens (zB wenn ein geschlossener Brief mit erpresserischem Inhalt von Tschechien durch Österreich nach Slowenien versendet wird).101 Ein Transitort kommt daher nicht als Tatort in Betracht.102 Etwas anders gilt jedoch, wenn der Transport per se die Tathandlung ausmacht (zB das Verbringen von Abfällen nach § 181b Abs 3 StGB).103

Ebenso wenig relevant ist die Erstreckung einer abstrakten Gefahr auf das Inland: Abstrakte Gefährdungsdelikte umschreiben keinen zum Tatbestand gehörenden Erfolg.104 Dies hat der OGH in Bezug auf Internetdelikte ebenfalls

96 Kienapfel/Schmoller, Strafrecht. Besonderer Teil2 (2017) §153 Rz 81. Zum Nichtvorliegen inländischer Untreuehandlung und inländischen Erfolgs siehe OGH 9. 6. 2016, 13 Os 105/15p (13 Os 106/15k). Zu inländischen Untreuehandlungen siehe OGH 7. 11. 2001, 13 Os 138/01: Eine beträchtliche Anzahl der Untreuehandlungen wurde nur in Österreich begangen (möge der Schaden auch im Ausland eingetreten sein). Daher sind die österreichischen Strafgesetze uneingeschränkt anzuwenden.

97 Vgl Salimi in Höpfel/Ratz, WK StGB2, § 67 Rz 33.

98 ErlRV 1971, 180; aus der ständigen Rechtsprechung siehe etwa OGH 9. 3. 2022, 15 Os 147/21p; 18. 2. 2021 , 14 Os 111/20k; 27. 4. 2021, 14 Os 119/20m; 10. 11. 2006, 12 Os 111/06z.

99 Aus der Judikatur interessant OGH 20. 12. 2011, 15 Os 106/11v (Verwendung einer österreichischen Kreditkarte im Ausland).

100 Siehe nur OGH 30. 1. 2002, 13 Os 104/01.

101 Fuchs/Zerbes, Strafrecht. Allgemeiner Teil I11 (2021) Kap 10 Rz 40; Kienapfel/Höpfel/Kert, AT16, 358; Salimi in Höpfel/Ratz, WK StGB2, § 67 Rz 25; Tipold in Leukauf/Steininger , StGB4 , § 67 Rz 8; Liebscher, Die neue Struktur des Internationa len Strafrechtes (§§ 62–67 StGB), JBl 1974, 393 (399). Vgl auch Basak in Matt/ Renzikowski , dStGB 2 (2020) § 9 Rz12; Böse in NK dStGB 6 , § 9 Rz 8; Eser/Weißer in Schönke/Schröder , dStGB30, § 9 Rz 6d.

102 Vgl OGH 19. 3. 1974, 12 Os 14/74, ZfRV 1974, 307 (Liebscher)

103 Ambos in MünchKomm dStGB3, § 9 Rz 23 f; Basak in Matt/Renzikowski, dStGB2, § 9 Rz12; Satzger in Satzger/ Schluckebier/Werner, dStGB6 (2024) § 9 Rz 2; Schwaighofer, SbgK StGB, § 62 Rz 18.

104 OGH 10. 10. 2018, 13 Os 105/18t, JBl 2019, 187 (Tipold); Fuchs/Zerbes, AT I11, Kap 10 Rz 43; Kienapfel/ Höpfel/Kert , AT 16 , 45; Salimi in Höpfel/Ratz , WK StGB2, § 67 Rz 78. Siehe auch Ambos in MünchKomm dStGB3, § 9 Rz 19; Böse in NK dStGB6, § 9 Rz 15; Basak in Matt/Renzikowski, dStGB2, § 9 Rz9, jeweils mwN.

bestätigt: „Mit dem Empfang und dem Lesen der E-Mails in Österreich verbundene Wirkungen sind für das – wie dargelegt – bereits in Spanien vollendete Delikt nicht von Bedeutung. Ein inländischer Tatort liegt somit nicht vor.“105 Angesichts des erheblichen Anstiegs der Internetkriminalität ist es von großer Bedeutung, sicherzustellen, dass bei den Bemühungen zur Kriminalitätsbekämpfung keine rechtlich unzulässigen Gesetzesanwendungen vorkommen. Die Lösung liegt stattdessen in verstärkter internationaler Zusammenarbeit. Nichts anderes soll nach richtiger hA auch für potenzielle Gefährdungsdelikte gelten.106

Bei schlichten Tätigkeitsdelikten beschränkt sich die Auswahl begriffsnotwendig auf den Handlungsort (zB bei Beleidigung nach § 115 StGB).107 Im Rahmen echter Unterlassungsdelikte kommt es nach ständiger Rechtsprechung auf den Unterlassungsort an, dh auf jenen Ort, an dem sich der Täter beim erforderlichen Setzen des deliktischen Verhaltens physisch befindet108 – genauer beschrieben: auf jenen Ort, an dem das aktive Handeln, mithin die gebotene und zumutbare Handlung realisiert werden sollte. Bei unechten Unterlassungsdelikten kommt – wie bei den Erfolgsdelikten – der eingetretene oder vorgestellte Erfolgsort hinzu. Bei mehraktigen Delikten (zB bei Vergewaltigung nach § 201 StGB) genügt es, wenn nur der eine Teilakt im Inland durchgeführt wurde.109 Im Fall der tatbestandlichen Handlungseinheit110 oder bei Dauerdelikten (zB bei Entführung nach § 102 StGB) ist die Tat schon dann im Inland begangen, wenn nur eine der zur Einheit zusammengesetzten Handlungen oder eine Phase des Geschehens auf österreichischem (selbst nur fiktivem) Territorium stattfand.111 Zusätzlich begründen objektive Bedingungen der Strafbarkeit die Zuständigkeit der inländischen Gerichtsbarkeit. Unbeachtlich bleibt hingegen der Ort, an dem der – nur auf subjektiver Seite verlangte – erweiterte Vorsatz realisiert wurde (zB wenn im Inland nur die Vermögens-

105 OGH 10. 10. 2018, 13 Os 105/18t, JSt 2019, 154 (157; Schwaighofer). Vgl für Deutschland BGH NStZ 2015, 81 (82).

106 Fuchs/Zerbes, AT I11, Kap 10 Rz 44; Kienapfel/Höpfel/ Kert, AT16, 46; Salimi in Höpfel/Ratz, WK StGB2, § 67 Rz 78. So auch Basak in Matt/Renzikowski, dStGB2, § 9 Rz10; Morozinis, Die Strafbarkeit der „Auschwitzlüge“ im Internet, insbesondere im Hinblick auf „StreamingVideos“, Goltdammer’s Archiv für Strafrecht 2011, 475. Anders Murschetz , Auslieferung und Europäischer Haftbefehl (2007) 22.

107 Aus der Judikatur interessant OGH 16. 5. 2013, 13 Os 4/13g (Schlepperei); 2. 3. 2010, 14 Os 160/09z (Vergehen der kriminellen Vereinigung nach § 278 Abs 1 Fall 2 iVm Abs 3 Fall 1 StGB). Vgl auch Zerbes, Tatort Internet: Zuständigkeit bei virtuellen Äußerungsdelikten, ÖJZ 2017, 856.

108 Siehe repräsentativ OGH 19. 12. 2018, 13 Os 130/18v; 10. 10. 2018 13 Os 105/18t.

109 Vgl Salimi in Höpfel/Ratz, WK StGB2, § 67 Rz 22.

110 Zum Begriff siehe RIS-Justiz RS0122006.

111 Vgl OGH 27. 4. 2021, 14 Os 119/20m; 20. 12. 2011, 15 Os 106/11v; Salimi in Höpfel/Ratz, WK StGB2, § 67 Rz 23 f.

bereicherung iSd § 127 StGB eintritt).112 Im Fall der Beteiligung mehrerer Täter an der Tat begründet schließlich – unter Heranziehung von §12 StGB – der Beitrag aller Täter die österreichische Gerichtsbarkeit, dh nicht nur der unmittelbare Täter begeht die strafbare Handlung, sondern auch jeder, der einen anderen dazu bestimmt, diese auszuführen, oder der sonst zu deren Ausführung beiträgt.113 Stiftet zB ein Engländer einen Schweden zu einem Mord gegen einen Spanier an, wobei der tatbestandliche Erfolg (Tod) in Österreich eintrat oder eintreten soll, ist die österreichische Gerichtsbarkeit begründet.114

Für die Bejahung der inländischen Strafgewalt genügt somit zusammenfassend, ähnlich wie in vielen anderen Ländern, selbst ein noch so geringer in Österreich gesetzter Tatbeitrag oder Teil des strafrechtlichen Geschehens, um die Anwendbarkeit der österreichischen Strafgesetze zu begründen.115

4.2.Anwendung des österreichischen Strafrechts auf Auslandstaten

Die §§ 64 f StGB betreffen Sachverhalte, in denen überhaupt kein Teil des Geschehens in Österreich stattfindet, die Tatbegehung also zur Gänze außerhalb Österreichs erfolgt (Auslandstaten). Bei Auslandstaten ist zu unterscheiden, ob sie unter den Voraussetzungen des § 64 StGB unabhängig von den Gesetzen des Tatorts nach österreichischem Strafrecht zu ahnden sind116 oder ob im Rahmen des § 65 StGB die Anwendbarkeit der österreichischen Strafgesetze davon abhängt, dass die Tat auch nach den Gesetzen des Tatorts mit Strafe bedroht ist, wobei in diesem Fall (nur) bei Erledigung des Strafanspruchs im Ausland auch der inländische Strafanspruch erlischt.117

Für Auslandstaten müssten begriffsnotwendig zunächst alle anderen „genuine links“ bis auf das Territorialitätsprinzip zur Anwendung kommen, nämlich: das aktive und das passive Personalitätsprinzip, das Staatsschutzprinzip, das Universalitätsprinzip und das subsidiär angewandte Prinzip der stellvertretenden Strafrechtspflege. Es gibt jedoch auch eine Bestimmung, die das Territorialitätsprinzip betrifft.

In § 64 Abs 1 Z 1 bis 11 StGB werden alle Auslandstaten taxativ aufgelistet, die unabhängig vom Tatortrecht nach österreichischen Strafgesetzen bestraft werden. In Anlehnung an die unter Pkt 2.2.2. vorgenommene Reihenfolge

112 ErlRV 1971, 180.

113 ErlRV 1981, 181.

114 Aus der Judikatur interessant OGH 15. 10. 1986, 9 Os 141/86 (9 Os 146/86).

115 Vgl OGH 24. 3. 1987, 11 Os 176/86.

116 OGH 19. 9. 2017, 15 Os 86/17m: Bei echter Idealkonkurrenz ist zusätzlich zu jener Subsumtionsbestimmung, die die Voraussetzungen des § 64 StGB erfüllt, eine weitere unabhängig davon anwendbar, ob sie selbst diesen Kriterien entspricht oder nicht.

117 Ständige Rechtsprechung; vgl nur OGH 10. 11. 2006, 12 Os 111/06z.

lassen sich die einzelnen Anknüpfungsmöglichkeiten in § 64 Abs 1 StGB wie folgt einordnen:

 Mit § 64 Abs 1 Z 8 StGB erfolgt eine Ausweitung des Territorialitätsprinzips bei Beteiligung.118

 Aktives Personalitätsprinzip: § 64 Abs 1 Z 2 Fall 2, 2a lit a, 4a lit a Fall 1 Alternative 1, 4b, 4c lit a Alternative 1 und 9 lit a Fall 1 StGB.

 Passives Personalitätsprinzip: § 64 Abs 1 Z 2 Fall 1, 2a lit b, 4a lit a Fall 1 Alternative 2 und 4v lit a Alternative 2 StGB.

 Aktives Domizilprinzip:119 § 64 Abs 1 Z 4a lita Fall2 , 4c lit c Fall 1, 5 lit c und 9 lit b StGB. Insbesondere in Z 9 lit c und Z 11 legt cit geht es um die speziellere Konstellation, dass im Inland der Sitz der juristischen Person und des Verbands ist.

 Passives Domizilprinzip: § 64 Abs 1 Z 4a lit a Fall 2 StGB.

 Eine interessante Kombination des aktiven und passiven Personalitätsprinzips mit dem aktiven und passiven Domizilprinzip ist in §64 Abs 1 Z 7 StGB vorgesehen.

 Eine Umsetzung des Staatsschutzprinzips erfolgt in § 64 Abs 1 Z 1, 3 und 4 Fall 1 („österreichische Interessen“120; unter Umständen kombiniert hier mit dem passiven Personalitätsprinzip), 4a lit b, 4c lit b, 5 lit a und b sowie 9 lit d StGB. Die besondere Konstellation des Unionsprinzips ist in Z 9 lit e leg cit vorgesehen.

 Unter das Universalitätsprinzip fallen Handlungen nach § 64 Abs 1 Z 6 StGB.

 Steht in einer Bestimmung der Nebensatz „wenn der Täter nicht ausgeliefert werden kann“, handelt es sich um den Anwendungsbereich der stellvertretenden Strafrechtspflege. Dies ist der Fall in § 64 Abs 1 Z 4

118 Aus der Judikatur interessant OGH 7. 10. 2019,14 Os 91/19t (14 Os 92/19i); 29. 1. 2013, 14 Os 99/12h; 11. 10. 2016, 11 Os 94/16g.

119 Definitorisches aus der einschlägigen Judikatur: Der gewöhnliche Aufenthalt einer Person bestimmt sich ausschließlich nach tatsäc hlichen Umständen, ungeachtet seiner Erlaubtheit oder Freiwilligkeit. Hierfür ist der tatsächliche Schwerpunkt der Lebensführung einer Person maßgebend, nicht aber der Wille, an einem bestimmten Ort Aufenthalt zu nehmen. Bei Ausländern, die in Österreich nicht integriert sind, ist der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts extensiv zu interpretieren. Die Zuständigkeit iSd § 29 JGG ist schon dann anzunehmen, wenn ein Jugendlicher, der sonst keinen Bezugspunkt im Inland hat, sich wenigstens eine gewisse Zeit hindurch an einem bestimmten Ort aufgehalten hat (OGH 21. 10. 2008, 11 Ns 69/08y; 20. 6. 2000, 14 Nds 24/00). Die tatsächlichen Umstände müssen bei objektiver Ex-ante-Betrachtung darauf hindeuten, dass die Person nicht bloß vorübergehend (etwa nur zur Durchreise, zu Urlaubszwecken, für eine Operation oder zu einem kurzen Besuch bei Freunden oder Verwandten), sondern längere Ze it am betreffenden Ort bleiben wird, wofür eine Aufenthaltsdauer von rund sechs Monaten als Orientierungshilfe gilt (OGH 12. 12. 2017, 11 Ns 75/17v).

120 Österreichische Interessen werden schon durch die beabsichtigte Verbringung von (aus den Niederlanden ausgeführtem und nach Belgien eingeführtem) Suchtgift nach Österreich verletzt; siehe OGH 7. 10. 2019, 14 Os 91/19t (14 Os 92/19i).

Fall2, 4a lit c, 4c lit c Fall 2, 5 lit d und 9 lit f StGB. Eine weitere Konstellation der stellvertretenden Strafrechtspflege stellt die sogenannte Neubürgerklausel in Z 9 lit a Fall 2 leg cit dar.121

§ 65 StGB ergänzt die Fälle von Strafgewalterstreckung hinsichtlich Auslandstaten. Die inländische Gerichtsbarkeit wird demnach nur dann begründet, wenn die konkreten Taten auch nach den Gesetzen des (jeweils festgestellten) Tatorts mit Strafe bedroht sind, dh wenn sämtliche (objektive und subjektive) Tatbestandsmerkmale einer in Betracht kommenden ausländischen Strafnorm erfüllt sind und darüber hinaus die Strafbarkeit der Auslandstat auch nach den Gesetzen des Tatorts noch nicht erloschen ist.122 Die Bestimmungen des § 65 Abs 1 StGB kommen nur auf andere als die in §§ 63 f StGB bezeichneten Auslandstaten zur Anwendung.123 Insbesondere geht es dabei

 zum einen um das aktive Personalitätsprinzip (§ 65 Abs 1 Z 1 Fall 1 StGB) und

 zum anderen um das Prinzip der stellvertretenden Strafrechtspflege (bei Neubürgerklausel nach § 65 Abs 1 Z 1 Fall 2 StGB; bei Nichtauslieferung nach § 65 Abs 1 Z 2 StGB124; bei fehlender Strafgewalt am Tatort nach § 65 Abs 1 Abs 3 StGB).

Gleichzeitig sollte beachtet werden, dass kein Strafaufhebungsgrund nach § 65 Abs 4 StGB vorliegt, der dazu führen würde, dass die inländische Gerichtsbarkeit entfällt. Hier wird insbesondere der Grundsatz ne bis in idem verankert.125

4.3.Prozessuale Relevanz

In prozessualer Hinsicht kann nach §§ 190, 192 Abs 1 Z 2 StPO unter den dort genannten Voraussetzungen und mithin auf Grundlage des Opportunitätsprinzips von der Verfolgung abgesehen werden. Weiters liegt bei einem Mangel inländischer Gerichtsbarkeit der Nichtigkeitsgrund nach § 281 Abs 1 Z 9 lit a StPO (bei Ge-

121 So auch Fabrizy/Michel-Kwapinski/Oshidari, StGB14 (2022) § 65 Rz 1. Vgl auch Böse in NK dStGB 6 , § 7 Rz12.

122 So OGH 18. 2. 2021, 14 Os 111/20k.

123 OGH 13. 10. 1994, 12 Os 97/94; 21. 9. 1995, 15 Os 117/ 95; 19. 11. 1997, 13 Os 164/97.

124 Dies ist dann der Fall, wenn entweder die Auslieferung unzulässig ist oder vom in Betracht kommenden Staat ein Auslieferungsersuchen nicht gestellt wird, die Bemühungen um die Auslieferung also erfolglos geblieben sind (OGH 21. 8. 2008, 15 Os 108/08h). Es genügt hingegen nicht, dass die Auslieferung bloß deshalb nicht erfolgte, weil es die dafür zuständigen Stellen, insbesondere die Staatsanwaltschaft, an der nötigen Initiative haben fehlen lassen (OGH 10. 11. 2006, 12 Os 111/06z). Vgl auch Glaser, Die Betretung im Inland: Zur Auslegung der stellvertretenden Strafrechtspflege nach § 65 Abs 1 Z 2 StGB, ÖJZ 2015, 1026 (1028).

125 Hinsichtlich des Anwendungsbereichs des SDÜ kommt Art 54 SDÜ in Betracht (zum Vorbehalt Österreichs siehe Salimi in Höpfel/Ratz, WK StGB2, Vor §§ 62–67 Rz25); für den Bereich der GRC ist Art 50 GRC relevant.

schworenenverfahren nach § 345 Abs1 Z11 StPO) vor.126

4.4.Strafgerichtsbarkeit für juristische Personen

Das österreichische Verbandsstrafrecht erfasst nach § 1 Abs 2 VbVG juristische Personen, eingetragene Personengesellschaften und Europäische wirtschaftliche Interessenvereinigungen.127 Nach §3 Abs 1 VbVG wird für die Zurechnung vorausgesetzt, dass die Tat zugunsten des Verbands begangen wurde oder durch die Tat Pflichten verletzt worden sind, die den Verband treffen. Als Anlasstat kommt sowohl die Tat des Entscheidungsträgers nach § 3 Abs 2 VbVG als auch die Tat von Mitarbeitern nach §3 Abs 3 VbVG in Betracht. Nach § 12 Abs 1 VbVG gelten die allgemeinen Strafgesetze auch für Verbände, soweit sie nicht ausschließlich auf natürliche Personen anwendbar sind. Das Strafanwendungsrecht gilt somit gleichermaßen für Verbände und kommt grundsätzlich zur Erweiterung der Strafbefugnis gegen Verbände zur Anwendung. Gelten also die österreichischen Strafgesetze für die Anlasstat, sollte auch die österreichische Gerichtsbarkeit für Verbände vorliegen.128 Die Sonderregelung in § 12 Abs 2 VbvG will die inländische Gerichtsbarkeit präziser gestalten: „Macht das Gesetz die Geltung österreichischer Strafgesetze für im Ausland begangene Taten vom Wohnsitz oder Aufenthalt des Täters im Inland oder von dessen österreichischer Staatsbürgerschaft abhängig, so ist für Verbände der Sitz des Verbandes oder der Ort des Betriebes oder der Niederlassung maßgebend.“ Dies bezieht sich auf Anlasstaten, die im Ausland begangen wurden. Adressaten sind nicht nur inländische, sondern auch ausländische Verbände, wobei die Anerkennung als juristische Person von der österreichischen Rechtsordnung selbst abhängt.129

Der Wohnsitz etc des Anlasstäters selbst ist unbeachtlich. Dies kann argumentativ dafür sprechen, dass die inländische Gerichtsbarkeit nach § 12 Abs 2 VbvG für den Verband eigenständig geprüft werden sollte. Hintergrund ist, dass diese in keinem direkten Zusammenhang mit der inländischen Gerichtsbarkeit für die natürliche Person des Anlasstäters steht. Dass die inländische Gerichtsbarkeit für die natürliche Person bejaht wird, bedeutet nicht automatisch, dass auch die inländische Gerichtsbarkeit für die juristische Person vorliegt.130 Mit Blick auf den stark grenzüberschreitenden Charakter von Wirtschaftskriminalität sei noch darauf hinge-

126 OGH 8. 1. 2021, 11 Os 49/20w; 23. 7. 2019, 11 Os 41/ 19t; 17. 9. 2013, 11 Os 73/13i; 19. 3. 2014, 15 Os 47/13w; 20. 12. 2011, 15 Os 106/11v; Salimi in Höpfel/Ratz, WK StGB2, Vor §§ 62–67 Rz 32.

127 Ausführlich Hilf/Urtz/Handstanger, Verbandsverantwortlichkeit aus strafrechtlicher, abgabenrechtlicher und verwaltungsstrafrechtlicher Sicht , Gutachten 20. ÖJT III/1 (2018) 71 ff.

128 So bereits die Erläut zum VbVG, ErlRV 994 BlgNR 22. GP, 31.

129 Näher hierzu Hilf/Urtz/Handstanger, Verbandsverantwortlichkeit, 119 ff.

130 Vgl Stricker, ÖJZ 2019, 859 (860).

wiesen, dass die Anwendbarkeit des § 65 StGB zu verneinen ist, wenn die Rechtsordnung des Tatorts kein Unternehmensstrafrecht eingeführt und anerkannt hat (wie dies zB in Griechenland der Fall ist).131

5.Ausblick

Der Bereich des Strafanwendungsrechts bildet ein äußerst interessantes Terrain an der Schnittstelle von Strafrechtsdogmatik und Völkerrecht. Angesichts des häufig grenzüberschreitenden Charakters der Wirtschaftskriminalität entfalten sich hier zunehmend bedeutende Sachverhalte. Aktuell wird intensiv über die mögliche Gestaltung eines Klimastrafrechts diskutiert bzw über den Umfang strafrechtlicher Interventionen in Bezug auf klimabezogene Sachverhalte nachgedacht. In dieser Diskussion tauchen altbekannte, jedoch weiterhin relevante Fragen in neuem Kontext auf, wie zB im Hinblick auf eine mögliche Anwendung des Universalitätsprinzips.132 Das Strafanwendungsrecht erfährt bereits jetzt eine faktische Renaissance aufgrund signifikanter Veränderungen, die einerseits durch die disruptive Blockchain-Technologie133 und andererseits durch jüngste Entwicklungen im Bereich der künstlichen Intelligenz bedingt sind.

131 So bereits auch Stricker, ÖJZ 2019, 859 (864 f); Glaser, Strafanwendungsrecht, 181 f. Zur Rechtslage in 30 verschiedenen Ländern siehe den Sammelband Papathanasiou (Hrsg), Unternehmensstrafrecht und Criminal Compliance (2023).

132 Hierzu Papathanasiou, Lässt sich das Klimastrafrecht dem Universalitätsprinzip zuordnen? in Satzger/von Maltitz, Klimastrafrecht (2024) 421. Siehe aber bereits Rainer, Grenzüberschreitender Umweltschutz und Kostenfaktor Umweltschutz im Strafrecht, RZ 1988, 266.

133 Hierzu Papathanasiou, Blockchain und Strafrecht –Herausforderungen und Chancen, ZWF 2022, 178.

Aus der aktuellen Rechtsprechung

Mario Schmieder / Norbert Wess

Verständigung; Schutzzweck der Norm; Reflexwirkung

ZWF 2024/1 § 194 StPO

OGH 13. 7. 2023, 1 Ob 20/23g (= RIS-Justiz RS0134027 [T2])

Die Verständigung nach § 194 Abs 1 StPO hat nicht den Zweck, das Opfer einer Straftat davor zu schützen, dass ihm durch künftige Straftaten des Beschuldigten ein weiterer Vermögensschaden entsteht. Zweck der Verständigung ist, dem Opfer die Möglichkeit zu eröffnen, die Fortführung des Ermittlungsverfahrens zu bereits verwirklichten Delikten zu beantragen. Die Verpflichtung zur Verständigung von der Einstellung des Verfahrens schützt daher die verfahrensrechtliche Stellung einer Person als Opfer

Auf den Punkt gebracht

Eine Strafgewalterstreckung ist völkerrechtswidrig, wenn sich die Existenz einer einschlägigen Erlaubnisnorm nicht nachweisen lässt. Von der Reichweite des Einmischungsverbots werden somit tatbestandlich schon jene Fälle erfasst, in denen kein sinnvoller Anknüpfungspunkt (sogenannter „genuine link“) feststellbar ist. Originäre sinnvolle Anknüpfungspunkte für die Anwendung des jeweiligen nationalen Strafrechts sind das Territorialitätsprinzip, das aktive und passive Personalitätsprinzip, der Schutzgrundsatz und das unter Umständen völkerrechtmäßig angewandte Universalitätsprinzip. Der Grundsatz der stellvertretenden Strafrechtspflege ist nur für den Bereich der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen relevant und weist deshalb keinen materiell-rechtlichen Charakter auf. Den Anforderungen des Gesetzlichkeitsprinzips müssen aufgrund des materiell-rechtlichen Charakters begriffsnotwendig nur die eine originäre Strafgewalt begründenden Anknüpfungspunkte genügen. Entgegen der hM sind die Regelungen des Strafanwendungsrechts keine objektiven Strafbarkeitsbedingungen, sondern Tatbestandsmerkmale, die vom Vorsatz umfasst werden müssen. Das österreichische Strafanwendungsrecht ist in den §§ 62 bis 66 und 67 Abs 2 StGB verankert und gilt iVm § 12 Abs 1 VbVG auch für Verbände; die Anwendbarkeit des § 65 StGB ist allerdings zu verneinen, wenn die Rechtsordnung des Tatorts kein Unternehmensstrafrecht eingeführt und anerkannt hat.

einer bereits verwirklichten Straftat. Dass das Opfer durch die Verständigung in die Lage versetzt worden wäre, dem Beschuldigten keine (weiteren) finanziellen Mittel mehr anzuvertrauen, stellt eine bloße Reflexwirkung des pflichtgemäßen Verhaltens dar, die vom Schutzzweck der Norm nicht erfasst ist.

Vereinfachte Auslieferung; Spezialitätsgrundsatz

ZWF 2024/2

§§ 23 Abs 1, 31 f ARHG; Art 14 EU-Auslieferungsübereinkommen

OGH 4. 10. 2023, 15 Os 98/23k (= RIS-Justiz RS0134532) Erklärt sich die von einem ausländischen Ersuchen um Auslieferung (oder um Verhängung

der Auslieferungshaft) betroffene Person mit der Auslieferung einverstanden und willigt sie ein, ohne Durchführung eines förmlichen Auslieferungsverfahrens übergeben zu werden, hat das Gericht – mangels diesfalls vorgesehener Beschlussfassung über die Zulässigkeit der Auslieferung – die Akten unmittelbar dem BMJ vorzulegen. Wird trotz Zustimmung zur vereinfachten Auslieferung ein Beschluss nach § 31 Abs 1 ARHG gefällt, ist die Auslieferung dennoch nur unter Spezialitätsvorbehalt für zulässig zu erklären.

Diversion durch das Gericht; Begründungserfordernisse

ZWF 2024/3

§§ 86, 198 f, 200 Abs 5 StPO

OGH 8. 11. 2023, 15 Os 116/23g

Ein Beschluss, mit dem ein Verfahren diversionell eingestellt wird, hat neben Spruch und Rechtsmittelbelehrung eine Begründung zu enthalten, in der die tatsächlichen Feststellungen und die rechtlichen Überlegungen auszuführen sind, die der Entscheidung zugrunde gelegt werden. Demnach ist insbesondere darzulegen, warum das Gericht das Vorliegen der Voraussetzungen des § 198 Abs 1 und 2 Z 2 StPO angenommen hat. Indem das Gericht seine Entscheidung – überdies unter gänzlicher Ausklammerung der Opferinteressen – ausschließlich auf die Leistung des Geldbetrags und des Beitrags zu den Pauschalkosten durch den Angeklagten gründet, wird den Begründungserfordernissen diversioneller Einstellungsbeschlüsse nicht entsprochen.

Vergabeverfahren; Auftraggeber

ZWF 2024/4

§ 168b Abs 1 StGB; § 1 Z 1 und 2 BVergG OGH 21. 11. 2023, 11 Os 112/23i

Die Wortlautgrenze des § 168b Abs 1 StGB wird weder durch dessen Anwendung auf nicht dem BVergG unterliegende „Vergabeverfahren“ noch durch die Annahme überschritten, die Strafnorm erfasse auch private „Auftraggeber“. Vergabeverfahren iSd § 168b Abs 1 StGB können „Verfahren zur Beschaffung von Leistungen“ (vgl § 1 Z 1 und 2 BVergG) auch dann sein, wenn sie weder den „öffentlichen Bereich“ noch den „Sektorenbereich“ iSd BVergG betreffen. Als Auftraggeber iSd § 168b Abs 1 StGB wiederum ist „jeder Rechtsträger, der vertraglich an einen Auftragnehmer einen Auftrag zur Erbringung von Leistungen gegen Entgelt erteilt oder zu erteilen beabsichtigt“ (§ 2 Z 5 BVergG), auch dann zu verstehen, wenn er nicht „öffentlicher Auftraggeber oder Sektorenauftraggeber“ iSd BVergG ist. Demzufolge meint § 168b Abs 1 StGB auch Vergabeverfahren, die private Auftraggeber außerhalb des sachlichen Geltungsbereichs des BVergG durchführen.

Abschlussbericht der Kriminalpolizei; Recht auf Einhaltung des Objektivitätsgebots; Recht auf Ablehnung eines Organs der Kriminalpolizei/Staatsanwaltschaft

ZWF 2024/5

§§ 1, 3, 47, 100, 106 f StPO

OLG Wien 16. 12. 2023, 20 Bs 189/22y

Gemäß § 106 Abs 1 Z 1 und 2 StPO idgF iVm §107 Abs 1 StPO sind Rechtsmittel/Rechtsbehelfe, die sich gegen selbständige Akte der Kriminalpolizei wenden, als unzulässig zurückzuweisen. § 3 Abs 2 StPO verleiht dem Beschuldigten weder ein konkretes subjektives Recht dahingehend, dass kein parteiliches oder voreingenommenes Organ der Kriminalpolizei an den Ermittlungen beteiligt ist, noch auf Ablehnung eines befangenen Organs der Kriminalpolizei von der Tätigkeit im Ermittlungsverfahren. Auch aus der Formulierung des §1 StPO (iVm § 100 StPO) ist kein subjektives Recht abzuleiten, das im Weg des § 106 StPO relevierbar wäre. Ein Recht auf Einspruch wegen Rechtsverletzung steht nicht zu, wenn das Gesetz – wie in § 47 Abs 3 StPO – ein eigenes Prozedere zur Effektuierung einer Vorschrift vorsieht. § 47 StPO sieht die Ablehnung eines Staatsanwalts oder eines Organs der Kriminalpolizei nicht vor. Vielmehr hat der jeweilige Behördenleiter aufgrund einer bestehenden Befangenheit im Dienstaufsichtsweg das Erforderliche zu veranlassen (§ 47 Abs 3 StPO). Eine Entscheidungskompetenz des Gerichts über die Befangenheit ist dem Gesetz nicht zu entnehmen.

Sicherstellung von Datenträgern; unverhältnismäßiger Grundrechtseingriff; richterliche Bewilligung

ZWF 2024/6

§§ 110 Abs 1 Z 1 und Abs 4, 111 Abs 2 StPO; § 1 DSG; Art 8 EMRK

VfGH 14. 12. 2023, G 352/2021-46

Die bisherige gesetzliche Ausgestaltung der Sicherstellung von Mobiltelefonen (mobilen Datenträgern) in Strafverfahren ist verfassungswidrig. Grundrechtseingriffe müssen verhältnismäßig sein. Die Schwere des Eingriffs darf nicht größer sein als die Bedeutung des Ziels, das erreicht werden soll. Zwar ist es ein legitimes Ziel, Datenträger sicherzustellen und auszuwerten, um Straftaten zu verfolgen, doch entsprechen die angefochtenen Bestimmungen der StPO nicht den Anforderungen von § 1 DSG und Art 8 EMRK. Eine so weitgehende Maßnahme wie eine Sicherstellung von Datenträgern erfordert, dass ein Richter sie genehmigt. Nur so kann überprüft werden, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für die Sicherstellung und Auswertung vorliegen und ob die Sicherheitsbehörden ihre Befugnisse überschreiten. Das Gericht hat im Fall der Bewilligung der Sicherstellung auch festzulegen, welche Datenkategorien und Dateninhalte aus welchem Zeitraum zu welchen Ermittlungszwecken ausgewertet werden dürfen.

Literaturrundschau

Mario Schmieder / Norbert Wess

Litigation-PR; Strafbemessung; Milderungsgrund; Unschuldsvermutung; Nichtöffentlichkeit des Ermittlungsverfahrens; Zitierverbot; Meinungsfreiheit

§ 34 Abs 1 Z 19 StGB; § 12 Abs 1 Satz 2 StPO; Art 8 EMRK

Loksa, Mediale Berichterstattung und deren Berücksichtigung als Milderungsgrund für Verurteilte, ecolex 2023, 670

Beschuldigte in Strafverfahren sehen sich – vielfach mit extensiver – medialer Berichterstattung konfrontiert. Nach einem jüngsten Urteil des OGH stellt die Berichterstattung für die Strafbemessung keinen Milderungsgrund dar. Bei genauer Analyse der Rechtslage und Judikatur offenbart sich jedoch, dass dies keineswegs zwingend der Fall ist, sondern Wortlaut und Intention des Gesetzgebers für das Vorliegen eines Milderungsgrunds sprechen.

Rechtsschutz; Einstellung des Ermittlungsverfahrens; Anfangsverdacht; Durchsuchung; Sicherstellung

§§ 1 Abs 2 und 3, 91 Abs 1, 108, 110, 117 Z 2, 119 StPO

Paulitsch, Rechtsschutz nach Hausdurchsuchung und Sicherstellung: Auswirkungen auf Ermittlungsverfahren, ecolex 2023, 566

Der Beitrag beschäftigt sich auch aus Anlass aktueller Causen (Baukartellverfahren; Miklautz) mit dem Rechtsschutz für Beschuldigte gegen die Hausdurchsuchung und die Sicherstellung. Fällt der Anfangsverdacht infolge einer materiell-rechtlichen Überprüfung der Voraussetzungen einer Zwangsmaßnahme durch das Gericht weg, ist das Ermittlungsverfahren einzustellen. Beschuldigte können das Ziel der Einstellung eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens trotz bzw gerade wegen gegen sie vollzogener Hausdurchsuchung und Sicherstellung erreichen.

Hasskriminalität; Hassrede; Hassposting; verbale und visuelle Angriffe im Netz §§ 105, 107, 107c, 111, 115, 152, 282 f StGB

Fellmann, Strafrechtliche Verantwortlichkeit für verbale und visuelle Angriffe im Netz (2023)

Dieses Werk befasst sich schwerpunktmäßig damit, ob und inwiefern Mechanismen des materiellen Strafrechts auf das Verhalten der Urheber, Host-Provider und User im Zusammenhang mit Hass im Netz anwendbar sind. Berücksichtigung finden dabei auch digitale Anwendungen, die sich erst jüngst etabliert haben. Zudem wird die Frage der Verantwortlichkeit der HostProvider als Verbände iSd VbVG für die verbalen und visuellen Angriffe im Netz thematisiert.

Wirtschaftsstrafrecht; Vermögensdelikte; Korruptionsdelikte; White Collar Crimes; Cybercrime

§§ 19a ff, 118a ff, 146ff, 302ff StGB; BörseG; MarkSchG; PatG; UrhG; UWG; VbVG; InvKG Wess (Hrsg), Praktikerkommentar Wirtschaftsstrafrecht2 (2023)

Das Werk wurde in seiner zweiten Auflage umfassend erweitert und bietet einen kompletten Überblick über die aktuellen wirtschaftsstrafrechtlichen Bestimmungen des StGB sowie zahlreiche Sondergesetze wie BörseG, MarkSchG, PatG, UrhG, UWG, VbVG, InvKG uvm in einem Band. Die einzelnen Straftatbestände sind von Expertinnen und Experten aus Rechtsanwaltschaft und Justiz umfassend sowie stets mit Blick auf deren Praxisrelevanz kommentiert. Ganz neu hinzugekommen sind ein Einführungskapitel, die Kommentierungen zu §§ 168f und 168g StGB (Delikte zum Nachteil der finanziellen Interessen der EU), § 288 StGB (falsche Beweisaussage), §297 StGB (Verleumdung), § 310 StGB (Verletzung des Amtsgeheimnisses) und § 25 InvKG. Seit Inkrafttreten des KMG 2019 (BGBl I 2019/ 62) ist § 15 KMG eine reine Verwaltungsstrafbestimmung und daher in der nunmehrigen Auflage nicht länger enthalten. Die jüngsten Novellierungen der Cybercrime-Delikte und des UWG (BGBl I 2023/99) sowie die Neuerungen durch das KorrStrÄG 2023 (BGBl I 2023/100) sind in der Kommentierung bereits berücksichtigt.

Betrug zum Nachteil der EU; MissingTrader-Betrug; Umsatzsteuerkarussell § 168f StGB; § 40 FinStrG; Art 3 RL (EU) 2017/1371 Flörl, Betrug zum Nachteil der finanziellen Interessen der Europäischen Union (2023)

Die EU erleidet durch Betrügereien zulasten ihres Haushalts jährlich einen Schaden in Milliardenhöhe. Zum strafrechtlichen Schutz ihrer finanziellen Interessen wurde die Richtlinie (EU) 2017/1371 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. 7. 2017 über die strafrechtliche Bekämpfung von gegen die finanziellen Interessen der Union gerichtetem Betrug (PIF-RL) erlassen. Art 3 PIF-RL regelt den Betrug zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union. Zur Umsetzung von Art 3 PIF-RL wurden im StGB der Tatbestand des ausgabenseitigen Betrugs zum Nachteil der finanziellen Interessen der EU (§ 168f StGB) und im FinStrG der Tatbestand des grenzüberschreitenden Umsatzsteuerbetrugs (§ 40 FinStrG) geschaffen. Der Autor untersucht die Umsetzung der PIF-RL in das nationale Recht. Nach der umfassenden Analyse beider Tatbestände (§ 168f StGB; § 40 FinStrG) zeigt er auch einige Umsetzungsdefizite auf.

Rezension

Soyer (Hrsg), Unternehmensstrafrecht, Wettbewerb und Menschenrechtsschutz, Nomos Verlag, 2023, 928 Seiten, 249 €

Der Herausgeber und Leiter des Projekts „Unternehmensstrafrecht im globalen Wettbewerb und Menschenrechtsschutz“ (UWM), das von der B&C Privatstiftung drittmittelfinanziert wird, beschreitet mit diesem voluminösen Buch neue, bislang weitgehend unerforschte Wege der Strafrechtswissenschaft. Es handelt sich dabei um den ersten Projektband, zwei weitere Bände sollen folgen.

Thematisch geht es im Buch um die Verantwortlichkeit grenzüberschreitend tätiger transnationaler Unternehmen für Menschenrechtsverletzungen: Gedacht ist etwa an die Fertigung von Waren in Billiglohnländern des „globalen Südens“, wo es mitunter zur Ausbeutung von Arbeitskräften, Zwangsarbeit, Kinderarbeit, Arbeit unter menschenunwürdigen und/oder lebensgefährlichen Bedingungen oder zur Vertreibung ganzer Bevölkerungsgruppen aus ihrer Heimat kommt, weil das Gebiet für die Gewinnung von Rohstoffen benötigt wird.

Die Autoren Richard Soyer, Stefan Schumann, Sergio Pollak, Nikolai Schäffler, Nihad Amara und Christoph Kathollnig gehen in dem Projekt der Frage nach, unter welchen Voraussetzungen eine völkerstrafrechtliche Unternehmensverantwortlichkeit bestehen und wie diese ausgestaltet werden könnte. Dabei steht das Strafrecht vor neuen und großen Herausforderungen.

Im ersten Kapitel des Buchs beschreibt Soyer die Eckpunkte des Projekts und gibt einen Überblick über die weiteren Kapitel. In einem sogenannten „Werkstattbericht“ (zweites Kapitel) beschreibt der Herausgeber gemeinsam mit Schumann die Überlegungen, die von den Projektmitarbeitern angestellt wurden: Zahlreiche geortete Regelungslücken und Durchsetzungsdefizite sowohl im Völker(straf)recht als auch im nationalen Strafrecht hinsichtlich der Verfolgung derartiger Menschenrechtsverletzungen im Ausland bilden die Basis für die Themen (Werkstücke), die im Buch bearbeitet wurden.

Auf der Grundlage seiner Dissertation stellt Pollak im dritten Kapitel auf beinahe 400 Druckseiten, angereichert mit nicht weniger als 3226 Fußnoten, Überlegungen an, wie ein originäres supranationales Verbandsstrafrecht aussehen könnte. Er untersucht zunächst, ob und wie sich ein supranationales Verbandsstrafrecht in das Völkerstrafrecht einordnen lässt (Kap B, S99ff). Nach eingehenden rechtsphilosophischen und -theoretischen Ausführungen zu Rechtsträgern und Verbänden geht der Verfasser der Frage nach, wie transnationale Unternehmen Subjekte einer neuen völkerstrafrechtli-

chen Verbandsstrafordnung werden könnten, weil derzeit auf völkerstrafrechtlicher Ebene nur ein Individualstrafrecht und keine Verbandsstrafbarkeit existiert und es auch keine Zuständigkeit eines internationalen Strafgerichts gibt. Pollak widmet sich intensiv dem Schuldbegriff in allen Verästelungen und diskutiert dafür ausgiebig die Grundfragen des (In-)Determinismus unter Einbeziehung des philosophischen Schrifttums und der modernen Hirnforschung sowie Neurobiologie, ehe er zum Ergebnis kommt, dass die Schuld von der Willensfreiheit entkoppelt werden muss (S 359).

Anschließend entwickelt der Verfasser ein System einer supranationalen verbandsstrafrechtlichen Haftung mit spezifischen Voraussetzungen für Verbandsunrecht und Verbandsschuld: Schuldfähig sei nur ein „Verband mit hinreichender Selbstreferenzialität im Sinne von Eigen- bzw Binnenkomplexität“ (S 389). Pollak überlegt zudem, wie eine Verbandsstrafe ausgestaltet werden könnte (es sollte eine Geldstrafe im Sinne von „Entzug flüssiger Freiheit“ sein), ehe er abschließend die Straftheorien (insbesondere die positive Generalprävention) auf sein System anwendet.

Gegenstand des vierten Kapitels von Schäffler ist – im ebenfalls beeindruckenden Umfang von 320 Druckseiten mit 1715 Fußnoten – die Rolle bzw individuelle Verantwortlichkeit von Unternehmensangehörigen im Völkerstrafrecht. Auch dieser Teil des Buchs beruht auf einer an der Universität Linz approbierten Dissertationsschrift.

Naturgemäß ist die Zurechnung von Menschenrechtsverletzungen, die am Anfang einer Lieferkette (Tausende Kilometer entfernt) geschehen, zu Unternehmensangehörigen, die am Ende der Lieferkette stehen, schwierig. Im Zentrum der Ausführungen steht die (letztlich bejahte) Frage, ob bzw unter welchen Voraussetzungen sich Unternehmensangehörige als Beteiligte an Menschenrechtsverletzungen in Produktionsländern strafbar machen können. Nach eingehenden rechtstheoretischen Ausführungen zu den verschiedenen Täterschaftssystemen kommt der Verfasser zum Ergebnis, dass Art 25 Abs 3 IStGH-Statut ein eigenständiges völkerrechtliches Beteiligungssystem im Sinn eines funktionalen Einheitstätersystems normiert (S537). Anschließend untersucht er dann aufwändig, wie die Täterschaftsformen in Art 25 Abs 3 IStGH-Statut konkret ausgestaltet sind und in der Rechtsprechung des IStGH gehandhabt werden. Qualitative Akzessorietät ist für die Beitragstäterschaft nicht vorausgesetzt, wohl aber quantitative Akzessorietät. Der Autor stellt klar, dass „neutrale Unternehmensaktivitäten“ nicht zur individuellen Strafbarkeit

wegen Beihilfe zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit führen können.

In einem umfangreichen Teil gegen Ende seiner Arbeit prüft Schäffler noch, ob bzw welche Handlungen unter Straftatbestände des IStGH-Statuts (Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen) subsumiert werden könnten. Er bildet dafür Fallgruppen, zB den Erwerb von Waren, die unter Einsatz von Zwangsarbeit hergestellt wurden (S 688 ff), oder unternehmerische Aktivitäten, die Bevölkerungsgruppen zum Verlassen ihrer Heimat zwingen (S 697 ff). Schäffler bemängelt abschließend, dass in Österreich noch kein verbindliches Lieferkettengesetz existiert. Weiters sollte die EU rechtlich verbindliche Sorgfaltspflichten erlassen (S 764).

Im eher kurzen fünften Kapitel (31 Druckseiten ab S 767) untersucht Amara das Verhältnis der Corporate Social Responsibility (CSR) zum Strafrecht. Bei CSR handelt es sich zwar um (nicht verpflichtendes) Soft Law, mit aber doch gewisser Verbindlichkeit und Steuerungsfunktion, damit (globale) Unternehmen ihre gesellschaftliche Verantwortung in Richtung Verhinderung von Menschenrechtsverletzungen, Schutz der Umwelt und dergleichen wahrnehmen.

Für Österreich kann sich der Verfasser vorstellen, das Bilanzstrafrecht (§ 163a StGB) zu aktivieren, wenn wesentliche Informationen über den Umgang mit Menschenrechten, Umwelt und Ressourcen, die sich auf den Unternehmenswert auswirken, unvertretbar dargestellt werden (S 789). CSR könnte sich auch als internationale Verkehrsnorm für den im Fahrlässigkeitsstrafrecht geforderten Sorgfaltsmaßstab etablieren.

Das sechste und letzte Kapitel ist der Nachhaltigkeit gewidmet: Kathollnig stellt in sehr ansprechender Weise die verschiedenen Initiativen, Instrumente und Rechtsakte der Europäischen Union zur Verhinderung von Greenwashing von Finanzprodukten vor, zB die Offenlegungsverordnung und die EU-Taxonomie-Verordnung, und untersucht, ob der nationale Betrugstatbestand im Kampf gegen derartige Handlungen anwendbar ist (S 847 ff). Denn Finanzprodukte werden gerne als umweltfreundlich, grün und nachhaltig beworben, ohne aber diesen Standards zu entsprechen.

Das Erfordernis der Täuschung bereitet keine allzu großen Probleme, wenn Nachhaltigkeitsinformationen entgegen der Offenlegungsoder der EU-Taxonomie-Verordnung unzutreffend oder irreführend dargestellt werden (S 859). Deutlich schwieriger ist hingegen die Feststellung eines wirtschaftlichen Schadens, selbst wenn man – wie das auch der OGH judiziert –auf opferbezogene Kriterien (individuelle Interessenlagen) Bedacht nimmt (S 864 ff).

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Kapitel drei und vier von Umfang und Tiefgang her eigentlich selbständige Monografien wären, die aber wegen der zusammenhängenden Thematik in einem Band vereinigt wurden. Alle Beiträge sind innovativ und könnten durchaus die Basis für zukünftige bedeutungsvolle Rechtsakte liefern.

Streckenweise ist das Buch allerdings auch für einen Strafrechtler, der kein begeisterter Rechtstheoretiker ist (was auf den Verfasser der Rezension zutrifft), eine schwierige Lektüre. Der Leser muss sich viel Zeit nehmen, das Buch enthält einige Längen. Vor allem Pollak pflegt sich eher kompliziert auszudrücken und verwendet gerne (aus Sicht des Rezensenten nicht notwendige) Fremdwörter, die zum Teil nicht einmal dem Duden bekannt sind und das Lesen zu einer Herausforderung machen. Er holt mitunter sehr weit aus (etwa bei den rechtstheoretischen Ausführungen zu Organisationen und Verbänden mithilfe verschiedenster Systemtheorien oder bei der Erörterung des Problems von Schuld und Willensfreiheit auf S 337 ff) und bedient sich sogar mathematischer Formeln, um das Wesen von Verbänden und Ganzheiten zu erklären (S 108).

Auf die geplanten beiden weiteren Bände darf man gespannt sein: Es wird um die strafrechtliche Haftung politischen Handelns, die Bilanzstrafbarkeit unternehmerischer Nachhaltigkeitsberichte, das Strafanwendungsrecht für Auslandstaten transnationaler Unternehmen mit Sitz in Österreich und um Probleme des Strafverfahrens gegen internationale Unternehmen gehen. Dem Leser käme es entgegen, würden die einzelnen Beiträge den Umfang von 100 Druckseiten nicht überschreiten. Klaus Schwaighofer Univ.-Prof. Dr. Klaus Schwaighofer lehrt am Institut für Strafrecht, Strafprozessrecht und Kriminologie der Universität Innsbruck

EuGH: Grenzüberschreitende Ermittlungen der Europäischen Staatsanwaltschaft

Severin Glaser / Robert Kert

Im Dezember 2023 entschied der EuGH im ersten Vorabentscheidungsverfahren zur Auslegung der Verordnung (EU) 2017/1939 des Rates zur Durchführung einer Verstärkten Zusammenarbeit zur Errichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft (EUStA-VO),1 dem ein Vorabentscheidungsersuchen des OLG Wien zugrunde lag.2 Es ging um die Frage, in welchem Staat bei grenzüberschreitenden Ermittlungsmaßnahmen innerhalb der an der EUStA beteiligten Mitgliedstaaten eine gerichtliche Bewilligung einzuholen ist, sofern für die Maßnahme eine solche erforderlich ist, und in welchem Umfang das Gericht die Maßnahmen zu prüfen hat.

Dem Vorabentscheidungsersuchen lag ein Ermittlungsverfahren wegen Betrugs in Bezug auf den Import von Biodiesel in die EU zugrunde, das die EUStA durch ihre in Deutschland betraute Delegierte Europäische Staatsanwältin (DEStA) führt. Für die Zwecke der Ermittlung wurden Durchsuchungen von Wohn- und Geschäftsräumen sowie die Sicherstellung von Vermögenswerten ua in Österreich angeordnet. Entsprechend der EUStA-VO wies die deutsche betraute DEStA die Vollstreckung dieser Maßnahmen einer unterstützenden österreichischen DEStA zu. Die unterstützende DEStA beantragte die nach österreichischem Recht erforderliche gerichtliche Bewilligung, die auch erteilt wurde. Die betroffenen Personen erhoben dagegen Beschwerde und machten geltend, dass der Tatverdacht nicht gegeben bzw grob mangelhaft begründet sei, die Sicherstellungen zeitlich überschießend genehmigt worden seien und diese gegen Art 8 Abs 1 EMRK (Verletzung des Vertrauensverhältnisses zwischen Rechtsanwalt und Klient) verstießen.

Das über die Beschwerde entscheidende OLG Wien legte dem EuGH drei Fragen zur Vorabentscheidung vor:

1.Hat bei grenzüberschreitenden Ermittlungen im Fall notwendiger gerichtlicher Genehmigung einer im Mitgliedstaat des unterstützenden DEStAs durchzuführenden Ermittlungsmaßnahme eine Prüfung sämtlicher materiellen Gesichtspunkte, wie gerichtliche Strafbarkeit, Tatverdacht, Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit, stattzufinden?

2.Ist bei der Prüfung zu berücksichtigen, ob die Zulässigkeit der Maßnahme bereits im Mitgliedstaat des betrauten DEStAs von einem Gericht nach dem Recht dieses Mitgliedstaats geprüft wurde?

3.Für den Fall, dass die erste Frage verneint bzw die zweite Frage bejaht wird: In welchem Umfang hat eine gerichtliche Prüfung im Mitgliedstaat des unterstützenden DEStAs stattzufinden?

1 ABl L 283 vom 31. 10. 2017, S 1.

2 EuGH 21. 12. 2023, G. K. ua, C-281/22.

Aufgrund dieser Fragen hatte sich der EuGH mit der Auslegung der – von den Regelungen der Europäischen Ermittlungsanordnung abweichenden – Bestimmungen über grenzüberschreitende Ermittlungsmaßnahmen in Art 31 f EUStA-VO auseinanderzusetzen, nachdem diese schon seit Beginn der operativen Arbeit der EUStA für Unklarheiten gesorgt hatten.3

Geregelt sind grenzüberschreitende Ermittlungen in Art 31 EUStA-VO. Demnach hat, wenn in einem anderen Mitgliedstaat als jenem des betrauten DEStAs eine Ermittlungsmaßnahme durchgeführt werden muss, der betraute DEStA über die Anordnung zu entscheiden und sie einem DEStA zuzuweisen, der in dem Mitgliedstaat angesiedelt ist, in dem die Maßnahme durchgeführt werden muss (Abs 1 leg cit). Gemäß Art 31 Abs 2 EUStA-VO ist für die Begründung und Anordnung derartiger Maßnahmen das Recht des Mitgliedstaats des betrauten DEStAs maßgeblich.

Allerdings ist nach Art 31 Abs 3 EUStA-VO, wenn nach dem Recht des Mitgliedstaats des unterstützenden DEStAs eine richterliche Genehmigung für die Maßnahme erforderlich ist, diese vom unterstützenden DEStA nach dem Recht seines Mitgliedstaats einzuholen. Nur wenn nach dem Recht des Mitgliedstaats des unterstützenden DEStAs eine solche richterliche Genehmigung nicht erforderlich ist, das Recht des Mitgliedstaats des betrauten DEStAs eine solche aber verlangt, ist sie vom betrauten DEStA einzuholen und zusammen mit der Zuweisung zu übermitteln.

In seinem Urteil betont der EuGH, dass der Unionsgesetzgeber mit der Festlegung der in der EUStA-VO vorgesehenen Verfahren einen Mechanismus für grenzüberschreitende Ermittlungen der EUStA schaffen habe wollen, der mindestens ebenso effizient ist wie das System, das bei Verfahren der gegenseitigen Anerkennung, insbesondere der Europäischen Ermittlungsanordnung, zur Anwendung kommt. Nach An-

3 Vgl dazu ausführlich J. Herrnfeld, Grenzüberschreitende Zusammenarbeit in der Europäischen Staatsanwaltschaft, ZWF 2022, 233.

Univ.-Prof. Dr. Severin Glaser ist Professor für Finanz- und Wirtschaftsstrafrecht am Institut für Strafrecht, Strafprozessrecht und Kriminologie der Universität Innsbruck.

Univ.-Prof. Dr. Robert Kert ist Vorstand des Instituts für Österreichisches und Europäisches Wirtschaftsstrafrecht der Wirtschaftsuniversität Wien.

sicht des EuGH würde es allerdings in der Praxis zu einem weniger effizienten System als jenem der Instrumente der gegenseitigen Anerkennung führen, wenn die Art 31 f EUStA-VO dahin ausgelegt würden, dass die Erteilung der richterlichen Genehmigung im Mitgliedstaat des unterstützenden DEStAs von einer Prüfung von Gesichtspunkten der Begründung und der Anordnung der betreffenden zugewiesenen Ermittlungsmaßnahme durch die zuständige Behörde des Mitgliedstaats des unterstützenden DEStA abhängig gemacht werden kann. Denn zum einen müsste die zuständige Behörde des Mitgliedstaats des unterstützenden DEStA für eine solche Prüfung ua die gesamte Verfahrensakte eingehend prüfen, die ihr zu übermitteln und allenfalls zu übersetzen wäre. Zum anderen müsste diese Behörde bei der Prüfung dieser Gesichtspunkte das Recht des Mitgliedstaats des betrauten DEStAs anwenden, weil Begründung und Anordnung einer zugewiesenen Ermittlungsmaßnahme diesem Recht unterliegen. Die EUStA-VO unterscheide für die Zwecke der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit der DEStAs vielmehr zwischen der Begründung und der Anordnung der zugewiesenen Maßnahme, für die der betraute DEStA zuständig ist, und der Vollstreckung dieser Maßnahme, für die der unterstützende DEStA verantwortlich zeichnet. Daher könne sich die Kontrolle im Zusammenhang mit einer gegebenenfalls nach dem Recht des Mitgliedstaats des unterstützenden DEStAs erforderlichen richterlichen Genehmigung nur auf Gesichtspunkte der Vollstreckung beziehen. Es sei daher Sache des Mitgliedstaats des betrauten DEStAs, eine vorherige gerichtliche

Überprüfung der Voraussetzungen für die Begründung und die Anordnung einer zugewiesenen Ermittlungsmaßnahme vorzusehen. Bei Ermittlungsmaßnahmen, die mit schwerwiegenden Grundrechtseingriffen verbunden sind (etwa Hausdurchsuchungen, Sicherstellung von persönlichen Gegenständen), obliege es dem Mitgliedstaat des betrauten DEStAs, im nationalen Recht angemessene und ausreichende Garantien wie eine vorherige gerichtliche Kontrolle vorzusehen, um die Rechtmäßigkeit und Erforderlichkeit dieser Maßnahmen sicherzustellen. Außerdem hätten zum einen die DEStAs bei ihrer Tätigkeit die Grundrechte zu beachten. Wenn der unterstützende DEStA der Auffassung ist, dass sich mit einer alternativen, weniger eingreifenden Maßnahme dieselben Ergebnisse wie mit der zugewiesenen Maßnahme erreichen ließen, so habe zum anderen dieser den die Aufsicht führenden EUStA davon in Kenntnis zu setzen und sich mit dem betrauten DEStA zu beraten, um die Angelegenheit in beiderseitigem Einvernehmen zu regeln.

Im Ergebnis sind nach Ansicht des EuGH Art 31 f EUStA-VO so auszulegen, dass sich die gerichtliche Kontrolle im Mitgliedstaat des unterstützenden DEStAs nur auf Gesichtspunkte der Vollstreckung dieser Maßnahme, nicht aber auf materielle Gesichtspunkte der Begründung und der Anordnung der Maßnahme beziehen dürfe. Wenn Maßnahmen mit einem schwerwiegenden Eingriff in die durch die GRC garantierten Rechte der betroffenen Person einhergehen, müssten diese einer vorherigen gerichtlichen Kontrolle im Mitgliedstaat des mit den Ermittlungen betrauten DEStAs unterliegen.

Steuerbetrugsbekämpfung und Strafverfolgung –internationale Entwicklungen

Elisabeth Köck

Dr. Elisabeth Köck ist Fachexpertin im Bereich Steuerfahndung im Amt für Betrugsbekämpfung (ABB).

Dieser Beitrag liefert einen Überblick über aktuelle europäische Entwicklungen auf den Gebieten der Steuerbetrugsbekämpfung und Strafverfolgung im Hinblick auf Finanzvergehen.1

1.Grundlegendes

Die zunehmende Globalisierung und Digitalisierung stellt die Steuerbetrugsbekämpfung und die Strafverfolgung vor neue Herausforderungen. Steuerbetrug zum Schaden der nationalen und europäischen finanziellen Interessen macht vor Staatsgrenzen nicht Halt. Zur Gewährleistung einer wirksamen Betrugsbekämpfung und Strafverfolgung sind zeitgemäße Formen der Zusammenarbeit und des Informationsaustausches

1 Die Ausführungen geben ausdrücklich nur die persönliche Auffassung der Autorin wieder.

notwendig. In der Folge werden einige aktuelle Rechtsakte zur Bekämpfung von Praktiken des Steuerbetrugs sowie zur Gewährleistung einer effektiven Betrugsbekämpfung und Strafverfolgung vorgestellt.

2.Aktuelle Entwicklungen

2.1.Richtlinie zur Förderung der Zusammenarbeit zwischen nationalen Steuerbehörden (DAC 8)

Am 17. 10. 2023 hat der Rat der Europäischen Union die Richtlinie zur Änderung der Richt-

linie 2011/16/EU über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung angenommen (Directive on Administrative Cooperation – DAC 8). Neben der Stärkung des bestehenden Rechtsrahmens des Informationsaustausches in Steuersachen bezweckt die Richtlinie auch die Bekämpfung von Praktiken des Steuerbetrugs, der Steuerhinterziehung und der Steuervermeidung – vor allem mit Kryptowerten. Da sich Kryptowerte problemlos grenzüberschreitend handeln lassen, fehlten den Steuerbehörden bislang die Instrumente zur Erlangung der benötigten Informationen aus dem Ausland, um jene Erlöse zu überwachen, die mithilfe von Kryptowerten erzielbar sind. Die dezentrale Natur der Kryptowerte erschwerte es den Steuerbehörden der Mitgliedstaaten, die Einhaltung der Steuervorschriften sicherzustellen.2

Kernstücke der DAC 8 sind die neuen Sorgfalts- und Meldepflichten für Anbieter von Krypto-Dienstleistungen sowie die Ausweitung des Informationsaustausches über Einnahmen aus Geschäften mit Kryptowerten (zwecks direkter Besteuerung). Auch über Vorbescheide für die wohlhabendsten Einzelpersonen sieht die DAC 8 einen automatischen Informationsaustausch vor. Gestützt auf die Verordnung über Märkte für Kryptowerte (MiCA-Verordnung)3 deckt die DAC 8 ein breites Spektrum an Kryptowerten ab. Es sind auch dezentral ausgegebene Kryptowerte und Stablecoins, einschließlich E-Geld-Tokens, sowie bestimmte nicht fungible Token (NFT) eingeschlossen.4 Mit der DAC 8 wird das „Crypto-Asset Reporting Framework“ (CARF) der OECD auf Unionsebene implementiert. Ein Großteil5 der DAC 8 ist bis 31. 12. 2025 in nationales Recht umzusetzen. Der automatische Informationsaustausch bezüglich Kryptowerten soll ab 1. 1. 2026 gelten.

2.2.CESOP-Umsetzungsgesetz 2023 Um den Mehrwertsteuerbetrug im elektronischen Geschäftsverkehr zu bekämpfen, wurde mit der Richtlinie (EU) 2020/2846 des Rates die Mehr-

2 Europäischer Rat, Rat verabschiedet Richtlinie zur Förderung der Zusammenarbeit zwischen nationalen Steuerbehörden (DAC 8), Pressemitteilung vom 17. 10. 2023, abrufbar unter https://www.consilium.europa.eu/de/press/press-releases/2023/10/17/counciladopts-di rective-to-boost-cooperation-between-national-taxa tion-authorities-dac8/ (Zugriff am 19. 12. 2023).

3 Verordnung (EU) 2023/1114 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. 5. 2023 über Märkte für Kryptowerte und zur Änderung der Verordnungen (EU) 1093/2010 und (EU) 1095/2010 sowie der Richtlinien 2013/36/EU und (EU) 2019/1937, ABl L 150 vom 9. 6. 2023, S 40.

4 Vgl Europäischer Rat, Pressemitteilung vom 17. 10. 2023.

5 Mit Ausnahme der Steueridentifikationsnummernbezogenen Bestimmungen.

6 Richtlinie (EU) 2020/284 des Rates vom 18. 2. 2020 zur Änderung der Richtlinie 2006/112/EG im Hinblick auf die Einführung bestimmter Anforderungen für Zahlungsdienstleister, ABl L 62 vom 2. 3. 2020, S 7.

wertsteuer-Systemrichtlinie7 geändert. Zahlungsdienstleister sind nun verpflichtet, Aufzeichnungen über bestimmte grenzüberschreitende Zahlungen zu führen und diese an die Verwaltungen der Mitgliedstaaten zu melden. Die Informationen werden in ein von der Kommission entwickeltes grenzüberschreitendes elektronisches Zahlungsverkehrssystem (kurz: CESOP) übermittelt, wo diese zentralisiert gespeichert, aggregiert und mit anderen europäischen Datenbanken abgeglichen werden. Die Informationen im CESOP werden den nationalen Betrugsbekämpfungsexperten über das Eurofisc-Netzwerk zur Verfügung gestellt.8

Im Rahmen des CESOP-Umsetzungsgesetzes 20239 erfolgte – mit § 18a UStG 1994 – die Umsetzung der Richtlinie (EU) 2020/284 in nationales Recht. Mit 1. 1. 2024 sind alle Zahlungsdienstleister verpflichtet, in Bezug auf grenzüberschreitende Zahlungen hinreichend detaillierte Aufzeichnungen über Zahlungsempfänger und Zahlungen in Bezug auf die von ihnen in jedem Kalendervierteljahr erbrachten Zahlungsdienste zu führen, aufzubewahren und zu übermitteln (§18a Abs 1 UStG 1994).

Die erste Meldung an das CESOP-Portal hat bis zum 30. 4. 2024 zu erfolgen. In den ErlRV wird ausgeführt, dass diese Maßnahme der Bekämpfung des Mehrwertsteuerbetrugs dienen soll. Die Verwendung von Zahlungsdaten beruhe auf der Notwendigkeit, die Bekämpfung des Mehrwertsteuerbetrugs im elektronischen Geschäftsverkehr zu verbessern, was aufgrund der mangelnden physischen Präsenz von Unternehmern in den Verbrauchsmitgliedstaaten besonders schwer sei.10

2.3.Richtlinie über den Informationsaustausch zwischen den Strafverfolgungsbehörden

Zur Optimierung der Zusammenarbeit zwischen den Strafverfolgungsbehörden wurde am 10. 5. 2023 die Richtlinie (EU) 2023/977 über den Informationsaustausch zwischen den Strafverfolgungsbehörden der Mitgliedstaaten11 beschlossen. Die Richtlinie geht vom Grundsatz der Verfügbarkeit aus. Verfügbare Informationen sind anderen Mitgliedstaaten zur Verfügung zu stellen. Eine wesentliche Neuerung besteht darin, dass in den EU-Mitgliedstaaten zentrale Kontaktstellen einzurichten und zu benennen sind, die für die Koordinierung und Erleichterung des Kontaktaustausches zuständig sind. Die Kon-

7 Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. 11. 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem, ABl L 347 vom 11. 12. 2006, S 1.

8 Vgl ErlRV BlgNR 27. GP, 1.

9 BGBl I 2023/106.

10 ErlRV BlgNR 27. GP, 1.

11 Richtlinie (EU) 2023/977 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 10. 5. 2023 über den Informationsaustausch zwischen den Strafverfolgungsbehörden der Mitgliedstaaten und zur Aufhebung des Rahmenbeschlusses 2006/960/JI des Rates, ABl L 134 vom 22. 5. 2023, S 1.

taktstellen sollen ein einheitliches elektronisches Fallbearbeitungssystem betreiben, das (ua) einund ausgehende Informationsersuchen sowie die Kommunikation zwischen der zentralen Kontaktstelle und den zuständigen Strafverfolgungsbehörden erfasst.12

Zur Gewährleistung einer raschen Bearbeitung werden Fristen festgelegt. Für die Übermittlung und Bereitstellung von Informationen soll die Netzanwendung für sicheren Datenaustausch (SIENA) von Europol genutzt werden.13

Die Richtlinie über den Informationsaustausch ersetzt den Rahmenbeschluss 2006/960/JI. Die Mitgliedstaaten haben die Richtlinie (EU) 2023/ 977 bis 12. 12. 2024 in nationales Recht umzusetzen. Dies bedeutet Anpassungen im EU-JZG und im FinStrZG.14

3.Aktuelle europäische Entwicklungen auf dem Gebiet der Strafverfolgung

3.1.Verordnung und Richtlinie zur Europäischen Herausgabeanordnung und Sicherungsanordnung

In Anpassung der Kooperationsformen an das digitale Zeitalter und um einen raschen grenzüberschreitenden Zugang zu elektronischen Beweismitteln zu ermöglichen, wurde auf Unionsebene am 22. 7. 2023 ein E-Evidence-Legistikpaket15 beschlossen. Dieses Legistikpaket setzt sich aus einer Verordnung16 und einer Richtlinie17 zusammen. Geregelt werden die Voraussetzungen, gemäß denen Justizbehörden in der EU länderübergreifende Herausgabe- und Sicherungsanordnungen unmittelbar an Provider erlassen können.

Mit einer Europäischen Herausgabeanordnung wird die Herausgabe elektronischer Beweismittel (grenzüberschreitend) von einer Justizbehörde eines Mitgliedstaats angeordnet, die sich direkt an den Diensteanbieter in einem anderen Mitgliedstaat richtet.18 Mit einer Europäischen Sicherungsanordnung wird eine Entscheidung, mit der die Sicherung elektronischer Beweismittel zum Zweck eines späteren Ersuchens um Herausgabe angeordnet wird, von einer Justizbe-

12 Vgl Art 15 Richtlinie (EU) 2023/977.

13 Vgl Art 13 Richtlinie (EU) 2023/977.

14 Vgl dazu ausführlich Köck, Der Informationsaustausch zwischen den Strafverfolgungsbehörden der EU-Mitgliedstaaten, ZWF 2023, 185.

15 Vgl dazu Glaser/Kert, E-Evidence-Gesetzespaket beschlossen, ZWF 2023, 211; Herrnfeld, Grenzüberschreitende Sammlung von elektronischen Beweismitteln –Europastrafrechtliche Entwicklungen, AnwBl 2023, 547.

16 Verordnung (EU) 2023/1543 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. 7. 2023 über Europäische Herausgabeanordnungen und Europäische Sicherungsanordnungen für elektronische Beweismittel in Strafverfahren und für die Vollstreckung von Freiheitsstrafen nach Strafverfahren, ABl L 191 vom 28. 7. 2023, S 118.

17 Richtlinie (EU) 2023/1544 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Juli 2023 zur Festlegung einheitlicher Regeln für die Benennung von benannten Niederlassungen und die Bestellung von Vertretern zu Zwecken der Erhebung elektronischer Beweismittel in Strafverfahren, ABl L 191 vom 28. 7. 2023, S 181.

18 Art 3 Z 1 Verordnung (EU) 2023/1543.

hörde eines Mitgliedstaats erlassen und direkt an den Diensteanbieter im anderen Mitgliedstaat gerichtet.19 In Bezug auf die Erlangung von Verkehrsdaten und zur Erlangung von Inhaltsdaten darf eine Europäische Herausgabeanordnung nur bei Straftaten erlassen werden, die im Anordnungsstaat mit einer Freiheitsstrafe im Höchstmaß von mindestens drei Jahren geahndet werden.20 Dazu gehören auch gerichtlich strafbare Finanzvergehen, zB Abgabenhinterziehung (§ 33 FinStrG), Schmuggel (§35 FinStrG), Abgabenhehlerei (§ 37 FinStrG), Abgabenbetrug (§ 39 FinStrG) und grenzüberschreitender Umsatzsteuerbetrug (§ 40 FinStrG).

Die Verordnung über Europäische Herausgabeanordnungen und Europäische Sicherungsanordnungen für elektronische Beweismittel in Strafverfahren soll ab 18. 8. 2026 gelten.

3.2.Vorschlag zur grenzüberschreitenden Übertragung von Strafverfahren Im Gefolge der zunehmenden grenzüberschreitenden (Steuer-)Kriminalität ist auch der Vorschlag der Kommission für eine Verordnung über die Übertragung von Verfahren in Strafsachen zwischen EU-Mitgliedstaaten21 zu erwähnen. Der Vorschlag verfolgt (ua) das Ziel der Vermeidung der mehrfachen (parallelen) Verfolgung ein und desselben Falls sowie der Vermeidung von Fällen der Straflosigkeit, bei denen die Übergabe auf der Grundlage des Europäischen Haftbefehls abgelehnt wird. Ein Strafverfahren soll in demjenigen Mitgliedstaat durchgeführt werden, der am besten dafür geeignet ist (zB weil der größte Teil der Straftat dort begangen wurde). So kann zB die Vorbereitung einer Straftat in einem Mitgliedstaat erfolgen, während die Straftat in einem anderen Mitgliedstaat begangen wird.22 Dies gilt etwa für Straftaten, die von organisierten kriminellen Gruppen begangen werden, zB für grenzüberschreitende Umsatzsteuerkriminalität, aber auch für bandenmäßig begangene Zollkriminalität.

Der Vorschlag der Kommission beinhaltet differenzierte Kriterien für ein Ersuchen um Übertragung eines Strafverfahrens,23 wobei auch die Rechte der verdächtigen oder beschuldigten Person und des Opfers entsprechend berücksichtigt werden.24 Die Verordnung soll für alle Straftaten gelten, somit auch für gerichtlich strafbare Finanzvergehen. Nicht umfasst sind Ersuchen um Übertragung von Verwaltungsverfahren. Der Begriff Strafverfahren erfasst alle Phasen des Strafverfahrens – inklusive des Ermittlungsverfahrens.25 Der Vorschlag legt das Verfahren für

19 Art 3 Z 2 Verordnung (EU) 2023/1543.

20 Art 5 Abs 4 lit a Verordnung (EU) 2023/1543.

21 Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Übertragung von Verfahren in Strafsachen vom 5. 4. 2023, KOM(2023)185 endg.

22 Vgl Verordnungsvorschlag, 1.

23 Siehe Art 5 Verordnungsvorschlag.

24 Art 6–8 Verordnungsvorschlag.

25 Siehe Kap 2 Verordnungsvorschlag.

das Ersuchen um Übertragung von Strafverfahren fest.26 Er listet (zwingende und fakultative) Gründe für die Ablehnung der Übertragung von Strafverfahren auf (zB wenn im ersuchten Staat kein Straftatbestand erfüllt ist).

Im Interesse eines effizienten grenzüberschreitenden Verfahrens wird für die Entscheidung über die Annahme der Übertragung eine Frist festgelegt.27 Es besteht die Möglichkeit, zentrale Behörden zum Zweck der Amtshilfe zu benennen.28 Geregelt sind auch die Wirkungen der Übertragung von Strafverfahren.29 Zur Kommunikation soll ein dezentrales IT-System mit einer Referenzimplementierungssoftware eingerichtet werden.30 Bevor die vorgeschlagene Verordnung in Kraft tritt, muss sie noch von Europäischem Parlament und Rat erörtert und beschlossen werden.31

4.Fazit und Vorschläge de lege ferenda Die Entwicklungen auf europäischer Ebene in Bezug auf Steuerbetrugsbekämpfung und Strafverfolgung sind als positiv zu bewerten, fördern sie doch die grenzüberschreitende Zusammenarbeit, befeuern sie eine effiziente und effektive grenzüberschreitende Ermittlungsarbeit und erleichtern sie den Strafverfolgungsbehörden die Arbeit bei der Aufklärung sowie Verfolgung von finanzstrafrechtlich relevanten Sachverhalten wesentlich.

De lege ferenda wäre es wünschenswert, dass auch für den Bereich der verwaltungsbehördlich strafbaren (mittelschweren) Abgabenkriminalität, Spruchsenaten gesetzlich die Befugnis eingeräumt wird, länderübergreifende Europäische Herausgabe- und Sicherungsanordnungen unmittelbar an Provider zu erlassen. Ebenso wünschenswert wäre die Möglichkeit der Übertragung von verwaltungsbehördlichen Finanzstrafverfahren (in Spruchsenatszuständigkeit) in einen anderen EU-Mitgliedstaat bei grenzüberschreitenden Sachverhaltskonstellationen, zB bei Mehrwertsteuerbetrug oder bandenmäßigen Zolldelikten. Um den Anforderungen der Ermittlungsarbeit im digitalen Zeitalter gerecht zu werden, wäre es zur Aufklärung schwerwiegender Finanzvergehen wohl auch erforderlich, über

26 Siehe Art 9 Verordnungsvorschlag.

27 Art 14 Verordnungsvorschlag.

28 Siehe Art 18 Verordnungsvorschlag.

29 Siehe Art 19–21 Verordnungsvorschlag.

30 Siehe Art 23 f Verordnungsvorschlag.

31 Europäischen Kommission, Pressemitteilung der vom 5.4. 2023. Ausführlich zum Vorschlag siehe Glaser/ Kert, Der Vorschlag für eine Verordnung zur Übertragung von Strafverfahren, ZWF 2023, 180.

eine (verfassungskonform32 ausgestaltete) Überwachung verschlüsselter Dienste nachzudenken, so wie sie in Deutschland bereits länger existiert.

▶ Auf den Punkt gebracht

Digitalisierung und Internationalisierung stellen die Steuerbetrugsbekämpfung und die Strafverfolgung vor neue Herausforderungen. Vor diesem Hintergrund hat die EU mehrere Rechtsakte gesetzt bzw vorgeschlagen, um eine effektive Betrugsbekämpfung und Strafverfolgung zu ermöglichen. Der Informationsaustausch im Regelwerk der DAC8 ist hinsichtlich der Bekämpfung von Steuerbetrug (insbesondere mit Blick auf Erlöse, die mithilfe von Kryptowerten erzielt wurden) förderlich. Das zentrale elektronische Zahlungsverkehrssystem (CESOP) liefert den Mitgliedstaaten umfangreiches Datenmaterial, dessen Auswertung die Aufdeckung von Mehrwertsteuerbetrug im grenzüberschreitenden elektronischen Geschäftsverkehr erleichtert. Die Richtlinie über den Informationsaustausch zwischen den Strafverfolgungsbehörden ersetzt den Rahmenbeschluss 2006/960/JI. Die Richtlinie entwickelt die polizeiliche/finanzstrafbehördliche Zusammenarbeit zum Austausch sachdienlicher Informationen weiter. Mit einer Europäischen Herausgabeanordnung kann die Herausgabe elektronischer Beweismittel einer Justizbehörde eines Mitgliedstaats angeordnet werden, die sich direkt an den Diensteanbieter in einem anderen Mitgliedstaat richtet. Der Vorschlag einer Verordnung über die Übertragung von Verfahren in Strafsachen zwischen den EUMitgliedstaaten soll ua parallele Verfahren in mehreren Mitgliedstaaten vermeiden sowie einer effizienten und geordneten Strafrechtspflege dienen. De lege ferenda wäre es wünschenswert, Europäische Herausgabe- und Sicherungsanordnungen auch im Bereich der (schwereren) verwaltungsbehördlichen Finanzstrafrechtspflege zu ermöglichen (zB bei Finanzvergehen mit Spruchsenatszuständigkeit). Dasselbe gilt hinsichtlich der Möglichkeit der Übertragung von Strafverfahren.

32 In den Grenzen, die der VfGH in seiner Judikatur gesetzt hat; vgl VfGH 11. 12. 2019, G 72-74/2019, G 181182/2019.

Verfehlungen und Sanierungsmöglichkeiten im Zusammenhang mit WiEReG-Meldungen

Mit der Einrichtung des Registers der wirtschaftlichen Eigentümer im Jahr 2018 und damit einhergehend dem Inkrafttreten des Wirtschaftliche Eigentümer Registergesetzes (WiEReG), das zuletzt 2023 geändert wurde, kam es auch zur Einführung zusätzlicher Meldeverpflichtungen, die bei Verletzung entsprechend unionsrechtlichen Vorgaben mit abschreckend hohen Geldstrafen sanktioniert werden. Dieser Beitrag gibt einen Überblick über die aktuellen Verfehlungen nach dem WiEReG und über Sanierungsmöglichkeiten in der Praxis, damit eine mögliche Strafdrohung doch noch erfolgreich abgewendet werden kann.

1.Strafbestimmungen nach dem WiEReG

Mit Umsetzung des EU-Finanz-Anpassungsgesetzes 2019 (EU-FinAnpG 2019), das im WiEReG für mehr und differenzierte Straftatbestände sorgt, wurde § 15 WiEReG, in dem die Vergehen normiert werden, im Aufbau grundlegend präzisiert und abgeändert. Aktuell wurden bereits Teilbereiche einer weiteren WiEReG-Novelle in Kraft gesetzt,1 sodass zusätzlich eine neue Strafbestimmung in Bestand getreten ist.2 Diese Neuerungen wurden am 20. 7. 2023 im BGBl kundgemacht.

In der Folge wird auf die aktuellen Strafbestimmungen im WiEReG eingegangen. § 15 WiEReG idgF unterteilt die normierten Straftatbestände sowohl in Finanzvergehen als auch bloße Finanzordnungswidrigkeiten. Die grundlegende Meldeverfehlung ist in § 15 Abs 1 Z 1 WiEReG dargestellt und legt fest, dass die Abgabe einer unrichtigen oder unvollständigen Meldung, sofern wirtschaftliche Eigentümer nicht offengelegt wurden, geahndet werden soll. Z 2 leg cit normiert, dass sich eines Finanzvergehens schuldig macht, wer trotz zweimaliger Aufforderung seiner Meldepflicht nach § 5 WiEReG nicht nachkommt, womit hier der Anwendungsbereich bei abgeschlossenem Zwangsstrafenverfahren geschaffen ist. Diese Bestimmung stellt aktuell den in der Praxis am häufigsten vorkommenden Tatbestand dar.3 Z 3 leg cit sieht vor, dass bei grundsätzlichem Wegfall einer Meldebefreiung oder in Fällen des § 3 Abs 8 WiEReG die Nichtabgabe, die unrichtige oder unvollständige Abgabe einer Meldung unter Strafe gestellt wird. Für unterlassene Änderungsmeldungen kommt zunächst der Anwendungsbereich von Z 4 legt cit zum Tragen, der Strafen vorsieht, wenn Änderungen der An-

1 BGBl I 2017/136, zuletzt geändert durch BGBl I 2023/97.

2 Siehe § 15 Abs 6a WiEReG (seit 1. 8. 2023 in Kraft) und ErlRV 2091 BlgNR 27. GP, 17: „Mit Abs. 6a soll eine weitere Finanzordnungswidrigkeit aufgenommen werden, wenn vorsätzlich ein Auszug abgerufen wird, obwohl kein berechtigtes Interesse vorliegt. Damit soll der Schutz der wirtschaftlichen Eigentümer gewährleistet werden.“

3 Vgl BMF, FAQs zum Register der wirtschaftlichen Eigentümer (2021) 36 zu Pkt 11.

gaben über wirtschaftliche Eigentümer nicht binnen vier Wochen nach Kenntnis der Änderungen vorgenommen werden und dadurch wirtschaftliche Eigentümer nicht offengelegt werden. Abschließend normieren Z 5 f leg cit Tatbestände für vorliegende Trusts oder trustähnliche Vereinbarungen bzw meldepflichtige ausländische Rechtsträger.

Neben Meldepflichten regelt das WiEReG mitunter auch gesetzliche Aufbewahrungspflichten. So macht sich eines Finanzvergehens nach § 15 Abs 2 WiEReG schuldig, wer die „erforderlichen Kopien der Dokumente und Informationen nicht bis mindestens fünf Jahre nach dem Ende des wirtschaftlichen Eigentums der natürlichen Person aufbewahrt“

Zudem regelt § 15 WiEReG für die freiwilligen Compliance-Packages,4 die seit 2020 in Anspruch genommen werden können,5 eigene Strafbestimmungen. Demnach normiert § 15 Abs 3 und 5 WiEReG Tatbestände bei vorsätzlicher Begehung, wenn Übermittlungsvoraussetzungen gemäß § 5a WiEReG für diese Pakete verletzt werden, wobei es sich beim Delikt nach Abs 5 leg cit um eine geringer zu bestrafende Finanzordnungswidrigkeit handelt.

Nach § 15 Abs 4 WiEReG begeht eine Finanzordnungswidrigkeit, wer vorsätzlich, ohne den Tatbestand des Abs 1 oder 3 leg cit zu erfüllen, eine unrichtige oder unvollständige Meldung abgibt und nunmehr seit der Novelle 2023 „Änderungen der Angaben über wirtschaftliche Eigentümer nicht binnen 4 Wochen nach Kenntnis der Änderung übermittelt“, sodass diese Bestimmung quasi als Auffangtatbestand angesehen werden kann. Der Nachsatz soll der Klarstellung dienen, dass Änderungen im Hinblick auf bereits gemeldete wirtschaftliche Eigentümer nur als Finanzordnungswidrigkeit nach

4 Zu den Compliance Packages siehe das Informationsschreiben des BMF vom 3. 10. 2019: „Beginnend mit 10.11.2020 können die Dokumente, die für die Feststellung und Überprüfung der wirtschaftlichen Eigentümer erforderlich sind, von berufsmäßigen Parteienvertreter für ihre Klienten an das Register als Compliance-Package übermittelt“ werden; vgl Trubrig/Peschetz, Neues aus der Gesetzgebung – finanzstrafrechtliche Änderungen im Überblick, ZWF 2019, 241 (225).

5 Vgl Trubrig/Peschetz, ZWF 2019, 241 (245).

Mag. Tanja Rösler ist Mitarbeiterin eines Strafsachenteams in Wien im Amt für Betrugsbekämpfung (ABB).

Abs 4 leg cit strafbar sein sollen. Damit ist gemeint, wenn sich zB eine Hauptwohnsitzanschrift oder Staatsbürgerschaft ändern sollte.6

Abschließend normiert § 15 Abs 6 WiEReG, dass sich strafbar macht, wer vorsätzlich Datensätze bzw Auszüge daraus, die einer Auskunftssperre bzw Einschränkung nach § 10a WiEReG unterliegen, an Dritte weitergibt. Gänzlich neu ist seit 1. 8. 2023 die Finanzordnungswidrigkeit nach § 15 Abs 6a WiEReG, die den vorsätzlichen Abruf eines Auszugs gemäß § 10 Abs 1 iVm § 9 Abs 2a WiEReG ohne berechtigtes Interesse zusätzlich unter Strafe stellt.

Sämtliche Vergehen nach § 15 Abs 1 und 2 WiEReG können sowohl vorsätzlich als auch in grob fahrlässiger Weise begangen werden, sodass je nach Tatbegehung eine der Höhe nach unterschiedliche Strafdrohung in Betracht kommt.

2.Strafbemessung

Die Tatbestände nach § 15 Abs 1 WiEReG werden mit Geldstrafe bis höchstens 200.000 € und bei grob fahrlässiger Begehung mit bis zu 100.000 € sanktioniert. Die Verletzung der Aufbewahrungspflicht wird gemäß § 15 Abs 2 WiEReG bei Vorsatz mit 75.000 € als oberste Grenze und bei grober Fahrlässigkeit mit bis zu 25.000 € geahndet, Compliance-Vergehen mit 75.000 € und Finanzordnungswidrigkeiten nach § 15 Abs 5 WiEReG mit maximal 10.000 €. Die allgemeinen Finanzordnungswidrigkeiten nach § 15 Abs 4 WiEReG können mit höchstens 25.000 € bestraft werden. In gleicher Höhe wird die neu eingeführte Finanzordnungswidrigkeit gemäß § 15 Abs 6a WiEReG mit maximal 25.000€ geahndet. Für die Weitergabe von Auszügen sieht § 15 Abs 6 WiEReG Geldstrafen bis zu 50.000 € vor.

Hieraus sind sehr weite Strafrahmen ersichtlich, denen sowohl der Beschuldigte als auch die tätige Behörde gegenübersehen. Das BFG hat sich in mehreren aktuellen Entscheidungen erstmals detailliert mit der Strafbemessung von WiEReG-Vergehen befasst. Hervorzuheben sind dabei die Entscheidungen des BFG vom 14.3. 2023, RV/7300011/2022, und vom 20. 4. 2023, RV/2300006/2022.7 In diesen wurden jeweils grob fahrlässige Meldepflichtverletzungen nach § 5 WiEReG als Dauerdelikte eingestuft und nach § 15 Abs 1 Z 2 WiEReG geahndet sowie entsprechend bestraft. Zudem wurde ein neuer Rechtssatz für die Strafbemessung geschaffen und festgestellt, dass „selbst bei Vorliegen wesentlicher Milderungsgründe und äußerst schlechter wirtschaftliche Verhältnisse des Beschuldigten und des belangten Verbandes […] bei Finanzvergehen nach § 15 Abs. 1 Z 2 WiEReG allein schon aus general- und spezialpräventiven Gründen von einer Bestrafung nicht abgesehen werden [kann], zumal die Integrität des Registers geschützt werden soll und das Gesetz sehr hohe

6 Siehe ErlRV 2091 BlgNR 27. GP, 17.

7 Vgl die ausführliche Kommentierung von Trettenhahn/ Zauner, BFG: Strafbemessung bei Meldepflichtverletzung gem § 15 Abs 1 Z 2 WiEReG, ZSS 2023, 86.

Strafen vorsieht, woraus ersichtlich ist, dass der Gesetzgeber diesen Meldeverpflichtungen ein hohes Maß an Wichtigkeit unterstellt hat“ 8 Zudem hält das BFG fest, dass bei einem durchschnittlichen Verschulden, den persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen und einer Ausgeglichenheit an Milderungs- und Erschwernisgründen eine Geldstrafe von 50.000 € bei grob fahrlässiger Begehung § 15 Abs 1 WiEReG als angemessen erscheint, womit hier erste offizielle Richtwerte in der Bemessung von Strafen festgehalten wurden.

3.Verfahrensrechtlicher Ablauf in der Finanzstrafbehörde Nunmehr stellt sich die Frage, wie solche Sachverhalte Eingang in die Finanzstrafbehörden finden bzw wie sich der prozessuale Ablauf in der Praxis gestaltet. Grundsätzlich langen WiEReGFälle in den Finanzstrafbehörden zunächst über Anzeigen der Registerbehörde ein, zu denen sie nach § 15 Abs 8 WiEReG bei begründetem Verdacht gesetzlich verpflichtet sind. Großteils geschieht der Falleingang jedoch auch über automatisierte Anzeigen bei Nichtmeldung an das Register, somit nach einem erfolgreich abgeschlossenen Zwangsstrafenverfahren.

Bei Zwangsstrafverfahren ist vorgesehen, dass bei nicht entsprechend erfolgter Meldung an das Register zunächst eine Mahnung mit Androhung einer Zwangsstrafe sowie Setzung einer Frist von sechs Wochen zur Vornahme der unterlassenen Meldung versendet wird. Anschließend wird die erste Zwangsstrafe in Höhe von standardmäßig 1.000 € unter Androhung einer weiteren Zwangsstrafe bei fortgesetzter Nichtmeldung und Gewährung einer letzten Nachfrist von sechs Wochen festgesetzt. Danach folgt die Festsetzung und Versendung der zweiten Zwangsstrafe in Höhe von 4.000 €. Nach Abschluss dieses Schritts wird die automatisierte Anzeige an die Finanzstrafbehörde übermittelt. Auch interne Meldungen bzw Auffälligkeiten sowie eingereichte Selbstanzeigen ergeben neue Fallzugänge. Die Bearbeitung dieser Sachverhalte erfolgt in ausschließlich verwaltungsbehördlicher Zuständigkeit.9 Diese obliegt den Strafsachenteams nach der geltenden Geschäftsverteilung und wird in Einzelbeamtenzuständigkeit von der Finanzstrafbehörde wahrgenommen. Fallbezogen kann der jeweilige Strafreferent auch die Registerbehörde für technische Anfragen als Support kontaktieren und der Fachbereich im Bereich Finanzstrafsachen für rechtliche Auslegung zur Unterstützung herangezogen werden. Auch für die Fälle nach dem WiEReG besteht die Möglichkeit, den Spruchsenat mit der Erledigung der Entscheidung zu befassen, indem dies rechtzeitig vom Beschuldigten bzw dessen Verteidiger beantragt10 wird.

8 Siehe BFG 14. 3. 2023, RV/7300011/2022; vgl Trettenhahn/Zauner, ZSS 2023, 86 (86 ff).

9 Siehe § 15 Abs 7 WiEReG.

10 Siehe § 58 Abs 2 lit b FinStrG.

4.Sanierungsmöglichkeiten/ Strafaufhebung durch erfolgreiche Selbstanzeige

Grundsätzlich ratsam und sinnvoll ist bei Vornahme von Meldungen an das Register, präventiv rechtzeitig mit der Registerbehörde zu kommunizieren, sollte es zu technischen Fragestellungen kommen. Diese wird danach unterstützend tätig.11 Zudem können BMD-User für die jährliche Meldeverpflichtung den Service des eingerichteten WiEReG-Änderungsdienstes12 nutzen, um daran erinnert zu werden. Sollte dennoch ein finanzstrafrechtlicher Tatbestand eingetreten sein, und um vorweg die Gefahr einer strafrechtlichen Verfolgung abzuwenden, bleibt weiterhin die Möglichkeit bestehen, beim ABB als zuständige Finanzstrafbehörde oder der jeweiligen Dienststelle des FAÖ bzw FAG Selbstanzeige einzubringen.13 Ein Einreichen der Selbstanzeige bei der Registerbehörde ist dabei jedoch nicht vorgesehen. Wie nach § 29 FinStrG üblich, sind sämtliche Formerfordernisse der Selbstanzeige strengstens zu beachten.14 So ist neben einer entsprechenden Darlegung der Verfehlung, also der Beschreibung des eingetretenen Sachverhalts, insbeson-

11 Vgl die Kontaktadressen und fachlichen News unter https://www.bmf.gv.at/services/wiereg/kontakt-wie reg.html (Zugriff am 20. 12. 2023).

12 Siehe Fachliche News des BMF 2023/01 2023-0.585.461 vom 9. 8. 2023.

13 Vgl BMF, FAQs, 37 Pkt zu 12.

dere dem Nichtvorliegen eines Sperrgrunds nach § 29 Abs 3 FinStrG und der richtigen Täternennung (hier ausdrückliche Nennung der Verbände als auch sämtlicher Personen, die für die Erfüllung der WiEReG-Pflichten verantwortlich sind), zusätzlich der ordnungsgemäße Rechtszustand wiederherzustellen.

In der Praxis ist vorgesehen, dass bei Einbringung einer Selbstanzeige gleichzeitig die ordnungsgemäße Meldung über das Unternehmensserviceportal nachzuholen ist, sodass die strafbefreiende Wirkung eintreten kann.15 Mit verspäteter Absendung der Meldung droht die Sperrwirkung einer Tatentdeckung und somit ein Scheitern der Selbstanzeige mit nachfolgendem Finanzstrafverfahren. Sollte die Selbstanzeige aber scheitern, ist diese jedenfalls als Milderungsgrund bei einer etwaigen Strafbemessung zusätzlich zu berücksichtigen.

Mit einer primär richtigen Vorgehensweise in Bezug auf die jeweiligen Meldeverpflichtungen nach dem WiEReG und – sollte es dennoch zu einer Pflichtverletzung kommen – in weiterer Folge einer entsprechend ordnungsgemäß vorgenommenen Selbstanzeige kann der Strafaufhebungsgrund wirksam greifen.

14 Vgl Felice, Wirksame Selbstanzeigen, in Eberl/Leopold/ Huber (Hrsg), Brennpunkt Betriebsprüfung (2018) 31. 15 Vgl BMF, FAQs, 37 zu Pkt 12.

Ausgewählte Judikatur aus dem Bereich Finanzstrafsachen im Jahr 2023 (Teil I)

Martina Elisabeth Eber

Mag. Martina Elisabeth Eber ist im Fachbereich des Geschäftsbereichs Finanzstrafrecht des Amts für Betrugsbekämpfung für die Bearbeitung und Vertretung komplexer, gerichtlicher Finanzstrafverfahren sowie in der operativen Leitung/Koordination von Großfällen tätig.

Dieser Beitrag gibt einen Überblick über relevante Erkenntnisse aus dem Bereich Finanzstrafsachen im Jahr 2023. Dabei wurden schwerpunktmäßig vor allem Entscheidungen des BFG herangezogen.1

Aufhebung und Zurückverweisung wegen fehlender Feststellungen bei verbundenen Tatvorwürfen

§§ 135 Abs 1, 161 Abs 4 FinStrG

BFG 3. 1. 2023, RV/6300006/2021

Sachverhalt: Nach Abschluss der abgabenrechtlichen Prüfung für die Jahre 2014 bis 2016 und Einleitung eines Finanzstrafverfahrens aufgrund begangener Finanzordnungswidrigkeiten gemäß § 51 Abs 1 lit a FinStrG durch Verletzung der Bestimmung des § 119 BAO, indem keine Einkommensteuererklärungen für die Jahre 2015 und 2016 abgegeben wurden, sowie aufgrund des Verdachts der Abgabenhinterziehung gemäß § 33 Abs 1 FinStrG zufolge der Nichtabgabe der Umsatzsteuererklärungen für die Jahre 2015 und 2016 wurde die Entscheidung des Spruchsenats nach Abschluss der mündlichen Verhandlung mündlich verkündet, wobei hinsichtlich des Inhalts des Erkenntnisses nicht auf die Niederschrift, sondern auf das Beratungsprotokoll verwiesen wurde. Gegen die Entscheidung wurde sowohl seitens der beschuldigten Partei als auch seitens des Amtsbeauftragten (wegen des Vorwurfs gemäß § 34 Abs 1 FinStrG) Beschwerde erhoben. In der schriftlichen Ausfertigung der Spruchsenatsentscheidung wird nur über die Abgabenhinterziehung betreffend die Umsatzsteuer 2016 abgesprochen, obwohl sich die gegenständlichen Anlastungen bereits aus dem den über-

1 Die männliche Bezeichnung hier angeführter Begriffe, zB Bestrafter, Beschwerdeführer oder Einschreiter, ist grundsätzlich – mit Ausnahme der Sachverhaltsdarstellung – geschlechtsneutral zu verstehen.

▶ Auf den Punkt gebracht

mittelten Finanzstrafakten zugrunde liegenden festgestellten Sachverhalt ergeben.

In seiner Beweiswürdigung kommt das BFG zum Schluss, dass sich aus den vorgelegten Akten und Zeugenaussagen keine Bestätigung ableiten lässt, dass der Spruchsenat neben der Abgabenhinterziehung betreffend die Umsatzsteuer 2016 auch über die anderen Taten abgesprochen hat.

Rechtliche Beurteilung: In der Niederschrift über die mündliche Verhandlung sind vom Vorsitzenden des Spruchsenats der Spruch der Entscheidung und die tragenden Elemente der Begründung zu dokumentieren (vgl § 135 Abs 1 lit g FinStrG). Ein bloßer Verweis auf das Beratungsprotokoll, das nicht der Akteneinsicht der Verfahrensparteien unterliegt, verletzt rechtsstaatliche Grundsätze und ist daher rechtswidrig.

Gemäß § 97 Abs 1 lit b BAO iVm § 56 Abs 2 FinStrG erlangt die Entscheidung mit der mündlichen Verkündung Wirksamkeit (Ritz, BAO7 [2021] § 97 Rz 1 und 6). Die ab diesem Zeitpunkt erlangte materielle Rechtskraft bewirkt deren Unwiderrufbarkeit und Unwiederholbarkeit (Antoniolli/Koja, Allgemeines Verwaltungsrecht3 [1996] 579). Wesentlich ist dabei der Inhalt der mündlichen Verkündung und nicht der Inhalt des schriftlich ausgefertigten Bescheids (VwGH 18. 11. 1998, 98/03/207; OGH 30. 5. 1995, 14 Os 72). Für den Inhalt der mündlich verkündeten Entscheidung ist weiters nicht die Ausfertigung der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung, sondern jene Urkunde entscheidend, die über den Entscheidungsinhalt und die Tatsache der Verkündung angefertigt wurde (VwGH 26. 2. 2020, Ra 2019/09/0154, mwN), somit die Niederschrift über die mündliche Verhandlung.

Hat die Finanzstrafbehörde die Strafverfahren wegen aller Taten gemäß § 61 Abs 1 FinStrG verbunden, so ist vom Spruchsenat auch über alle Taten abzusprechen, sofern von diesem nicht einzelne Taten ausgeschieden wurden. Sollte in der Entscheidung des Spruchsenats über einzelne Taten nicht abgesprochen worden sein oder sollten Feststellungen zu diesen gänzlich fehlen, ist die Entscheidung gemäß § 161 Abs 4 FinStrG aufzuheben.

Mündlich verkündete Entscheidung versus schriftliche Ausfertigung

§ 135 FinStrG

BFG 10. 1. 2023, RV/7300045/2021

Sachverhalt: Nach erhobener Beschwerde gegen die Entscheidung des Spruchsenats, mit der der Erstbeschuldigte (Geschäftsführer) und die Zweitbeschuldigte (Verband) wegen § 49 Abs 1 lit a FinStrG schuldig gesprochen wurden, wurden Widersprüche zwischen der verkündeten und in der Niederschrift über die von der belangten Behörde durchgeführten mündlichen Verhandlung dokumentierten sowie der schriftlich ausgefertigten Entscheidung offenkundig, die im nachfolgenden Beschwerdeverfahren zu prüfen und zu beheben waren.

Nach Überprüfung der objektiven und subjektiven Tatseite kam das BFG zur Schlussfolgerung, dass der beschuldigte Geschäftsführer in Kenntnis der Verpflichtung zur fristgerechten Einreichung (bzw Entrichtung) von Umsatzsteuervoranmeldungen diese zum einen mangels steuerlicher Vertretung im Jahr 2017 nicht selbst gemeldet (bzw entrichtet) hat, obwohl er den gesetzlichen Fälligkeitstermin kannte. Zum anderen übergab er dem Steuerberater nach dessen Tätigwerden nicht alle Unterlagen (Ausgangsrechnungen) fristgerecht, sodass nicht alle Erlöse erfasst werden konnten und es zu Verkürzungen kam. Darüber hinaus konnten aufgrund der Höhe der verhängten Geldstrafe und der dieser zugrunde liegenden Bestimmung der Strafbemessung (§§ 33 Abs 5, 49 Abs2 FinStrG) weitere Rückschlüsse auf den ursprünglich gewählten Rechtsgrund der Abgabenhinterziehung nach § 33 Abs2 lit a FinStrG gezogen werden.

Rechtliche Beurteilung: Ein Bescheid wird bereits mit seiner mündlichen Verkündung rechtlich existent (vgl VwGH 27. 4. 1995, 95/17/0007; 26. 9. 1996, 95/09/0228; 6. 3. 1997, 95/09/0250; 18. 11. 1998, 98/03/0207). Dabei ist für die Frage, ob und mit welchem Inhalt ein mündlicher Bescheid erlassen wurde, nicht die schriftliche Bescheidausfertigung, sondern jene Urkunde entscheidend, die über den Bescheidinhalt und die Tatsache der Verkündung angefertigt wurde (vgl VwGH 18. 11. 1998, 98/03/0207).

Im Beschwerdefall wurde in der Niederschrift über die von der belangten Behörde durchgeführten mündlichen Verhandlungen der Spruch des angefochtenen Bescheids stichwortartig wiedergegeben. Diese Verkündung des Bescheids – und nicht die Zustellung seiner schriftlichen Ausfertigung – ist damit […] von entscheidender Bedeutung (VwGH 6. 3. 1997, 95/09/0250; 19. 12. 2002, 2002/16/0149).

Nimmt die belangte Behörde in der schriftlichen Ausfertigung des mündlich verkündeten Erkenntnisses eine wesentliche Änderung des Bescheidspruchs vor, kann die schriftlich ausgefertigte Entscheidung gemäß § 137 FinStrG aufgrund ihres gegenüber dem mündlich verkündeten Bescheid unterschiedlichen normativen Gehalts nicht mehr als schriftliche Ausfertigung dieses Bescheids gelten; sie ist vielmehr als selbständiger Bescheid anzusehen (vgl VwGH 17. 4. 1996, 95/03/0318). Als solcher verstößt er aber gegen das Prinzip der Unwiderrufbarkeit eines Bescheids und ist daher mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit behaftet (VwGH 18. 11. 1998, 98/03/ 0207).

Identität der Sache im Finanzstrafverfahren

§§ 33 Abs 2 lit a, 13 iVm 33 Abs 1 FinStrG BFG 12. 1. 2023, RV/3300003/2022; 1. 6. 2023, RV/ 7300032/2023

Sachverhalt 1: Aufgrund eingereichter Jahreserklärung ergab sich eine im Vergleich zu den übermittelten und dem nachfolgenden Umsatzsteuerbescheid zugrunde liegenden Umsatzsteuervoranmeldungen niedrigere Abgabengutschrift, wodurch es zu einer

Nachforderung kam. Die Finanzstrafbehörde nahm irrtümlicherweise eine Abgabenhinterziehung an.

Das BFG führt in seiner rechtlichen Beurteilung aus, dass es geradezu denkunmöglich sei, dass mit der Einreichung einer Erklärung, die zu einer Nachforderung führte, eine Hinterziehung gerade dieses Betrags in gleicher Höhe beabsichtigt gewesen ist. Der Beschwerde wurde stattgegeben und die Entscheidung aufgehoben.

Das beim Amt für Betrugsbekämpfung geführte Verfahren nach § 33 Abs 1 iVm § 13 FinStrG wurde eingestellt, sodass dieses in einem eigenen Verfahren darüber zu entscheiden hatte, ob dem Verband ein Finanzvergehen gemäß § 33 Abs 2 lit a FinStrG anzulasten sei und eine nachfolgende Umsatzsteuererklärung gegebenenfalls als Selbstanzeige strafbefreiende Wirkung entfalten könnte.

Sachverhalt 2: Nachdem die Frist zur Einreichung der Jahresumsatzsteuererklärungen zum Zeitpunkt des Beginns der Betriebsprüfung bereits abgelaufen war, wurden die Umsatzsteuervorauszahlungen der einzelnen Monate mit Bescheid festgesetzt und dem Beschuldigten eine Abgabenhinterziehung nach § 33 Abs 2 lit a FinStrG angelastet.

Seitens des Beschuldigten erfolgten weder Erklärungen noch sonstige Offenlegungen. Tatzeitpunkt einer Abgabenhinterziehung nach § 33 Abs 1 FinStrG ist in einem solchen Fall bei zu veranlagenden Abgaben der gesetzlich vorgesehene Endzeitpunkt (30. 4. bzw bei FinanzOnline-Teilnahme 30. 6. des Folgejahres). Das BFG ging demnach von einer versuchten Abgabenhinterziehung nach §§ 13 und 33 Abs 1 FinStrG aus und gab der Beschwerde statt.

Rechtliche Beurteilung: Im vorliegenden Fall hat sich das BFG mit der Abgrenzung des § 33 Abs 1 FinStrG zu § 33 Abs 2 lit a FinStrG auseinandergesetzt und festgehalten, dass unbeschadet des Umstands, dass es sich bei der Abgabenhinterziehung nach § 33 Abs 2 lit a FinStrG hinsichtlich der Umsatzsteuer bestimmter Voranmeldungszeiträume um eine mit der Abgabenhinterziehung nach § 33 Abs 1 FinStrG hinsichtlich der Umsatzsteuer eines diese Voranmeldungszeiträume (mit-)umfassenden Veranlagungszeitraums nachbestrafte Vortat handelt (VwGH 4. 2. 2009, 207/15/0142; 3. 9. 2008, 20008/13/0076; 30.1. 2001, 2000/14/ 0109), die beiden Taten durch zu unterschiedlichen Zeitpunkten verwirklichte unterschiedliche Sachverhalte begangen werden, wodurch die in § 33 Abs 1 und 2 lit a FinStrG umschriebenen Tatbestände erfüllt werden.

Die Unterschiedlichkeit dieser in Scheinkonkurrenz stehenden Taten zeigt sich nicht nur in den verschiedenen Tatbildern, sondern auch in der Qualifikation der unterschiedlichen subjektiven Tatbestände, weil für die Abgabenhinterziehung nach § 33 Abs 2 lit a FinStrG der qualifizierte Vorsatz der Wissentlichkeit (dolus principalis) erforderlich ist, während zur Abgabenhinterziehung nach § 33 Abs 1 FinStrG der bedingte Vorsatz (dolus eventualis) ausreicht. Solcherart kommt dem BFG in Ansehung dieser beiden Finanzvergehen keine Befugnis zur Auswechslung der „Sache“ iSd § 161 Abs 1 FinStrG zu (vgl VwGH 26. 7. 2005, 2003/14/0086).

Rechtzeitigkeit einer an das BFG adressierten, jedoch bei der Abgabenbehörde eingebrachten Beschwerde

§ 54a Abs 1 Z 1 BAO; § 150 Abs 3 FinStrG BFG 13. 1. 2023, RV/3300002/2022 (Zurückweisung; Revision zugelassen)

Sachverhalt: Mit Straferkenntnis vom 17. 11. 2021 des Amts für Betrugsbekämpfung als Finanzstrafbehörde wurde über den Beschwerdeführer wegen versuchter Abgabenverkürzung nach § 33 Abs 1 iVm §13 FinStrG eine Geldstrafe verhängt. Das Straferkenntnis wurde dem Beschwerdeführer nachweislich am 19. 11. 2021 zugestellt. Am 10. 12. 2021 legte dieser die Beschwerde in den Briefkasten des Finanzamts Österreich ein, wobei das Schreiben „An das Bundesfinanzgericht, Republik Österreich, Innrain 32, 6020 Innsbruck, Austria“ adressiert war und das Amt für Betrugsbekämpfung weder auf dem Umschlag noch an einer anderen Stelle im gegenständlichen Beschwerdeschreiben erwähnt wurde. Am 22. 12. 2021 wurden Umschlag und Schreiben von der Scanning-Stelle in Wien mit den Vermerken „Irrläufer“ und „Betrifft Bundesfinanzgericht“ an die Dienststelle Innsbruck weitergeleitet. Am 3. 1. 2022 langte die Sendung bei der Außenstelle Innsbruck des Bundesfinanzgerichts ein. Mit Schreiben vom 5. 1. 2022 wurden sämtliche Unterlagen vom BFG zwecks Durchführung des Vorverfahrens und Erstellung eines Vorlageberichts an das Amt für Betrugsbekämpfung übermittelt. Am 11. 1. 2022 erfolgte schließlich die Vorlage der Beschwerde und des Akts durch die belangte Behörde. Das BFG wies die Beschwerde gemäß § 156 Abs 4 FinStrG als verspätet zurück und lies eine Revision nach Art 133 Abs 4 iVm Abs 9 B-VG zu.

Rechtliche Beurteilung: Wird im Finanzstrafverfahren eine Eingabe an das BFG adressiert, aber beim Finanzamt Österreich eingebracht, so erfolgt deren Weiterleitung an das BFG auf Gefahr des Einschreiters, da es sich beim BFG nicht um eine Einrichtung der Bundesverwaltung iSd § 49 BAO handelt, weshalb einem Beschwerdeführer das Privileg des § 54a Abs 1 Z1 BAO nicht zugutekommen kann.

Anmerkung

Aufgrund der ausdrücklichen Aufzählung des Amts für Betrugsbekämpfung in § 54a Abs 1 Z 1 BAO soll diese Bestimmung offensichtlich der Intention des Gesetzgebers folgend auch im Finanzstrafverfahren zur Anwendung gelangen, obwohl diese von den Bestimmungen des 3. Abschnitts der BAO und des § 114 Abs3 BAO, auf die § 56 Abs 2 FinStrG ausdrücklich im Zusammenhang mit Anbringen verweist, nicht enthalten ist.Eine Aberkennung seiner Geltung im Finanzstrafverfahren würde den Zielsetzungen des Gesetzgebers widersprechen, zumal er sich ausdrücklich für die Schaffung einer „schlanken Struktur der Bundesfinanzverwaltung“2 mit einer Weiter-

2 Siehe ErlRV 110 BlgNR 27. GP, 1, zum 2. Finanz-Organisationsreformgesetz.

verarbeitung in elektronischer Form ausgesprochen hat.

Ob bei Bestehen einer gemeinsamen Einbringungsstelle die Privilegierung iSd § 54a Abs 1 BAO wieder zur Anwendung gebracht werden kann, ist noch nicht endgültig ausjudiziert. Eine Weiterleitung auf Gefahr des Einschreiters soll nach ständiger Rechtsprechung des VwGH3 dann nicht in Betracht kommen, wenn zwei Behörden über eine gemeinsame Einlaufstelle verfügen. Dabei darf aber nicht übersehen werden, dass sich die bis in das Jahr 1976 zurückgehende Judikatur in ihrer Rechtsansicht auf dem Wesen nach gleiche Einrichtungen stützt. So soll eine Weiterleitung eines Schriftstücks auf Gefahr des Einschreiters an die zuständige Stelle jedenfalls dann nicht in Betracht kommen, wenn zwei Behörden oder – der Auffassung des OGH aus dem Jahr 19644 folgend – ein Erstgericht und ein Rechtsmittelgericht über eine gemeinsame Einlaufstelle verfügen.

Notwendigkeit der Bezeichnung der Behörde „als Finanzstrafbehörde“

§§ 58 Abs 1 lit b, 265 Abs 2 lit a FinStrG; § 96 BAO BFG 1. 3. 2023, RV/3300001/2023

Sachverhalt: Nach rechtskräftigem Abschluss des Strafverfahrens beantragte die Beschwerdeführerin Akteneinsicht bei der zuständigen Finanzstrafbehörde, die diese (teilweise) mit Bescheid abwies, wobei im Kopf dieses Bescheids die den Bescheid erlassende Behörde die Bezeichnung „Amt für Betrugsbekämpfung, Bereich Finanzstrafsachen, Standort Reichsstraße 154, 6800 Feldkirch“ ohne Bezeichnung „als Finanzstrafbehörde“ anführte. Das BFG hob im nachfolgenden Beschwerdeverfahren den angefochtenen Bescheid wegen Unzuständigkeit der Behörde auf. Die hierauf erhobene Amtsrevision ist gegenwärtig beim VwGH anhängig. Beantragt wird die Aufhebung des hier angeführten Erkenntnisses wegen der Verletzung von Verfahrensvorschriften bzw der Rechtswidrigkeit des Inhalts. Zur Begründung der Rechtswidrigkeit der Entscheidung wird in der Revision im Wesentlichen folgende Rechtsansicht vertreten:5

Aus dem Kontext von §§ 2 bis 4 ABBG sowie § 58 Abs 1 lit a und b FinStrG iVm §265 Abs 2 lit a FinStrG ergibt sich eine eindeutige Zuständigkeit des Geschäftsbereichs Finanzstrafsachen für die Durchführung von Finanzstrafsachen. Ein eigenständiges Tätigwerden des Geschäftsbereichs Finanzstrafsachen als Abgabenbehörde ist de lege lata ausgeschlossen. Einer gesetzlichen Abgrenzung des Tätigwerdens als Finanzstrafbehörde oder als Abgabenbehörde bedarf es seit der Neuorganisation des Amts für Betrugsbekämpfung und des Übergangs der finanzstrafrechtlichen Aufgaben der jeweiligen zuständigen Finanzämter auf den Geschäftsbereich Finanzstrafsachen nicht. Der Gesetzgeber sah hier offenbar auch keine Notwendigkeit zur Vornahme einer ge-

3 VwGH 30. 10. 2018, Ra 2018/05/0253; 15. 11. 1976, VwSlg 9181 A/1976, 0849/76.

4 Vgl VwGH 15. 11. 1976, VwSlg 9181 A/1976, 0849/76 mVa OGH 13. 7. 1964, Arb 7958; 5. 11. 1958, EvBl 1959/60; 28. 2. 1961, EvBl 1951/150.

5 Die Autorin war mitwirkende Sachbearbeiterin der Amtsrevision.

setzlichen Abgrenzung, da sich zum einen die Problemstellung bzw die Notwendigkeit einer Abgrenzung unterschiedlicher Tätigkeitsbereiche, nämlich der einer Finanzstrafbehörde und der einer Abgabenbehörde, dem Grunde nach nicht ergibt. Darüber hinaus hat der Gesetzgeber keine einzige der – in § 3 Z 1 lit a bis e ABBG – normierten Aufgaben des Geschäftsbereichs Finanzstrafsachen außerhalb einer finanzstrafrechtlichen Agenda aufgezählt und somit die Vollziehung dieser Aufgaben erkennbar mit einer finanzstrafbehördlichen Eigenschaft ausgestattet. Eine Lücke im Gesetz, bei der die verschiedensten Interpretationsmethoden (zB systematische oder teleologische Interpretation) zum Einsatz gelangen können, liegt hier nicht vor. Einer Bezeichnung des Bereichs bzw Geschäftsbereichs Finanzstrafsachen als Finanzstrafbehörde könnte bloß deklarative Bedeutung zugemessen werden.

Aufgabe des Bereichs bzw des Geschäftsbereichs Finanzstrafsachen ist es, das FinStrG (mVa die BAO und die StPO) zu vollziehen und in seinem Wirkungsbereich als Finanzstrafbehörde unmissverständlich nach außen aufzutreten. Diese Aufgabe hat der Geschäftsbereich Finanzstrafsachen im der gegenständlichen Revision zugrunde liegenden Finanzstrafverfahren erfüllt, indem er den Rechtsanspruch auf Akteneinsicht, der einem jeden Finanzstrafverfahren immanent ist, mit schriftlichem Bescheid unter Bezeichnung des zuständigen Geschäftsbereichs „Bereich Finanzstrafsachen“ abgewiesen hat.

Die Aufhebung des angefochtenen Bescheids durch das BFG erfolgte somit nach Auffassung des Amts für Betrugsbekämpfung zufolge einer unrichtigen rechtlichen Beurteilung der einschlägigen Gesetzesgrundlagen sowie aufgrund der Verletzung von Verfahrensvorschriften durch die nichterfolgte Zustellung an die Amtsbeauftragte rechtswidrig.

Rechtliche Beurteilung: Erlässt das Amt für Betrugsbekämpfung im Finanzstrafverfahren eine Entscheidung ohne Beifügung der Behördenbezeichnung „als Finanzstrafbehörde“, so wurde diese Entscheidung von einer unzuständigen Behörde erlassen und war daher aufzuheben.

Anmerkung

Der VwGH hat in seinem Erkenntnis vom 14.6. 2023, Ra 2020/16/0170, bezüglich § 96 BAO folgende Auffassung vertreten: „Ob und welcher Behörde eine Erledigung zuzurechnen ist, ist anhand ihres äußeren Erscheinungsbildes, also insbesondere anhand des Kopfes, des Spruches und seiner Einleitung, der Begründung, der Fertigungsklausel und der Rechtsmittelbelehrung zu beurteilen. Es ist demnach nicht von Bedeutung, an welcher Stelle der Erledigung die Behörde genannt ist. Fehlt die Bezeichnung der Behörde und enthält die Ausfertigung keinerlei Anhaltspunkte dafür, von welcher Behörde die Erledigung ausgeht, so liegt keine wirksame amtliche Erledigung vor (Hinweis E 29.1.1991, 90/14/00112 zu § 96 BAO).“

Das BFG führt in seiner der Revision zugrunde liegenden Entscheidung aus, es sei für jedermann erkennbar, welcher Behörde die angefochtenen Bescheide zuzurechnen seien. Dies ergebe sich aufgrund der vollständigen Bezeichnung des Zollamts im Kopf, der Un-

terfertigung durch den Vorstand des Zollamts und der Begründung der beiden Bescheide. Die zusätzliche Nennung der Außenstelle könne keine Zweifel an der erlassenden Behörde entstehen lassen. Dass diese Beurteilung unvertretbar wäre oder das BFG mit dieser Beurteilung von der dargestellten Rechtsprechung des VwGH abgewichen wäre, wurde in der Revision nicht aufgezeigt. Die Revision war daher zurückzuweisen.

Finanzvergehen gemäß § 15 Abs 1 Z 2 WiEReG – Voraussetzungen, Strafbemessung und Verbandsverantwortlichkeit

§ 15 WiEReG

BFG 14. 3. 2023, RV/7300011/2022

Sachverhalt: Trotz nachweislich zweimaliger Aufforderung kam der Beschwerdeführer seiner Meldepflicht hinsichtlich seines Verbands nicht nach, unternahm weder Erkundigungen noch beauftragte er einen Steuerberater mit der Vornahme seiner Verpflichtungen obwohl umfangreiche Informationskampagnen über Medien stattfanden und entsprechende Seviceangebote auf der Homepage des BMF (www.bmf.gv.at/services/wiereg) allgemein verfügbar sind.

Durch das Nichtüberprüfen des elektronischen FinanzOnline-Posteingangs kann ein Teilnehmer nicht die Zustellung verweigern und sich folglich der Kenntnis von in der DataBox zugestellten Erinnerungsschreiben der Finanzverwaltung entziehen. Gemäß § 98 Abs 2 BAO gelten elektronisch zugestellte Dokumente dann als zugestellt, sobald sie in den elektronischen Verfügungsbereich des Empfängers gelangt sind. Dies ist bei einem FinanzOnline-Zugang der Zeitpunkt der Einbringung der Daten in die DataBox, zu der der Empfänger tatsächlich Zugang hat. Auf das tatsächliche Einsehen durch den Teilnehmer zB durch Öffnen oder Lesen kommt es für die Bewirkung einer Zustellung nicht an.

Dass die Meldeverpflichtungen nach dem WiEReG mit entsprechender Sorgfalt wahrgenommen werden sollen, erkennt man am vom Gesetzgeber vorgegebenen Strafrahmen von bis zu 100.000 € bei grober Fahrlässigkeit und von bis zu 200.000 € bei vorsätzlicher Missachtung.

Rechtliche Beurteilung: Selbst bei Vorliegen wesentlicher Milderungsgründe sowie äußerst schlechter wirtschaftlicher Verhältnisse des Beschuldigten und des belangten Verbands kann bei Finanzvergehen nach § 15 Abs 1 Z 2 WiEReG allein schon aus general- und spezialpräventiven Gründen von einer Bestrafung nicht abgesehen werden, zumal die Integrität des Registers geschützt werden soll und das Gesetz sehr hohe Strafen vorsieht, woraus ersichtlich ist, dass der Gesetzgeber diesen Meldeverpflichtungen ein hohes Maß an Wichtigkeit unterstellt hat.

Berücksichtigung des mehrfachen Tatentschlusses als Erschwerungsgrund bei der Strafbemessung – Verstoß gegen das Doppelverwertungsverbot?

§§ 23 Abs 2, 49 Abs 2 FinStrG VwGH 3. 4. 2023, Ra 2023/16/0003-0004-6

Sachverhalt: Mit Entscheidung des Spruchsenats beim Amt für Betrugsbekämpfung als Finanzstrafbehörde wurde dem Erstrevisionswerber zur Last gelegt, er habe als Geschäftsführer und abgabenrechtlich Verantwortlicher der zweitrevisionswerbenden Partei vorsätzlich durch die Nichtabgabe von Umsatzsteuererklärungen für vier Monate mit jeweils einer bestimmten Höhe die Bestimmung des § 119 BAO (abgabenrechtrechtliche Offenlegungs- und Wahrheitspflicht) verletzt. Der Erstrevisionswerber habe hierdurch die Finanzordnungswidrigkeit gemäß § 51 Abs 1 lit a FinStrG begangen. Der Verband sei für die Verletzung der Bestimmung nach § 3 Abs 2 VbVG iVm § 28a FinStrG verantwortlich.

Gemäß § 23 Abs 1 FinStrG ist Grundlage für die Bemessung der Strafe die Schuld des Täters, wobei nach Abs 2 leg cit bei Bemessung der Strafe die Erschwerungs- und Milderungsgründe, soweit sie nicht schon die Strafdrohung bestimmen, gegeneinander abzuwägen sind und im Übrigen die §§ 32 bis 35 StGB sinngemäß gelten. § 23 Abs 3 FinStrG sieht vor, dass bei Bemessung der Geldstrafe auch die persönlichen Verhältnisse und die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Täters zu berücksichtigen sind. Bei Finanzvergehen, deren Strafdrohung sich nach einem Wertbetrag richtet, hat die Bemessung der Geldstrafe mit mindestens einem Zehntel des Höchstmaßes der angedrohten Geldstrafe zu erfolgen (§ 23 Abs 4 FinStrG). Der Strafrahmen hängt somit nicht davon ab, ob sich der Täter nur einmal oder mehrfach zur Begehung der Tat entschied. „Solcherart kann dem Bundesfinanzgericht nicht entgegengetreten werden, wenn es auf den im Revisionsfall gegebenen viermaligen Tatentschluss Bedacht nahm.“6 In seinem hier zitierten Erkenntnis führt der VwGH an, dass es sich nach ständiger Rechtsprechung des VwGH bei der Strafbemessung innerhalb des gesetzlichen Rahmens um eine Ermessensentscheidung handelt, die der VwGH nur im Hinblick auf deren Übereinstimmung mit dem Gesetz (Ermessensüberschreitung) überprüfen kann.

Rechtliche Beurteilung: § 49 Abs 2 FinStrG stellt bei der Ermittlung des Höchstmaßes der Strafe auf die Höhe des tatsächlich nicht oder verspätet entrichteten oder abgeführten Abgabenbetrags oder der geltend gemachten Abgabengutschrift und nicht auf einen mehrfachen Tatentschluss ab. Der Strafrahmen hängt somit nicht davon ab, ob sich der Täter nur einmal oder mehrfach zur Begehung der Tat entschied.

6 Siehe den gleichlautenden Wortlaut in Rz 15 des gegenständlichen Erkenntnisses des VwGH.

Aus der aktuellen Rechtsprechung

Abgabenbetrug wegen fingierter Eingangsrechnungen

ZWF 2024/7

§ 39 FinStrG

OGH 15. 11. 2023, 13 Os 50/23m

Werden durch fingierte Eingangsrechnungen Rechtsbeziehungen vorgetäuscht und solcherart erhöhte Aufwendungen verbucht, werden iSd §39 Abs 1 lit a FinStrG falsche Beweismittel verwendet. Die Rechnung wurde in die Buchhaltung aufgenommen, die die Grundlage der späteren Einkommensteuererklärung bildete und für eine allfällige Vorlage an die Behörden bereitgehalten.

Verjährungsbeginn beim Beitragstäter einer versuchten Abgabenhinterziehung

ZWF 2024/8

§ 31 FinStrG

OGH 15. 11. 2023, 13 Os 50/23m

Sofern nicht auf einen Erfolgseintritt abzustellen ist, beginnt die Verjährungsfrist gemäß § 31 Abs 1 Satz 2 FinStrG zu laufen, sobald die mit Strafe bedrohte Tätigkeit abgeschlossen ist oder das mit Strafe bedrohte Verhalten aufhört. Dies gilt auch, wenn ein Erfolgsdelikt im Versuchsstadium verbleibt. Folglich können somit im Fall der Beteiligung mehrerer Täter die Zeitpunkte des Beginns der Verjährungsfrist divergieren. Beim Beitragstäter kommt es für den Beginn der Verjährungsfrist auf dessen letzte kausale Beitragshandlung zur Ausführungshandlung des unmittelbaren Täters an. Konkret wurde der relevante Tatbeitrag im Sommer 2011 geleistet. Die Einkommensteuererklärung 2011 wurde vom unmittelbaren Täter am 30. 4. 2013 eingereicht, die Abgabenhinterziehung blieb aber in der Entwicklungsstufe des Versuchs. Aufgrund § 31 Abs 1 letzter Satz FinStrG hat die Verjährungsfrist für den Beitragstäter aber nicht bereits im Sommer 2011, sondern mit Ablauf des Kalenderjahres 2011 zu laufen begonnen.

Versagung des Vorsteuerabzugs bei Betrugsfällen beim zweiten Erwerber

ZWF 2024/9

§ 12 Abs 1 Z 1 UStG

EuGH 24. 11. 2022, A, C-596/21; SWK 12/2023, 595 Implizite materielle Voraussetzung für das Recht auf Vorsteuerabzug ist, dass der Steuerpflichtige trotz Vornahme der Überprüfungen, die vernünftigerweise von jedem Wirtschaftsteilnehmer verlangt werden können, keine Kenntnis vom Vorliegen einer Steuerhinterziehung hatte, die den besteuerten und zum Vorsteuerabzug berechtigenden Umsatz betraf. Einem Steuerpflichtigen, der diese Voraussetzung nicht erfüllt, muss daher die Ausübung seines Rechts auf

Vorsteuerabzug vollständig versagt werden. Wie aus der Rechtsprechung des EuGH hervorgeht, soll dieses Erfordernis die Steuerpflichtigen anhalten, die Sorgfalt walten zu lassen, die vernünftigerweise bei jedem wirtschaftlichen Vorgang verlangt werden kann, um sicherzustellen, dass die von ihnen bewirkten Umsätze nicht zu ihrer Beteiligung an einer Steuerhinterziehung führen.

Vorsteuerversagung wegen Beteiligung am Mehrwertsteuerbetrug

ZWF 2024/10

§ 12 Abs 1 Z 1 UStG

EuGH 14. 4. 2021, HR, C-108/20

Allein die Tatsache, dass der Steuerpflichtige Gegenstände oder Dienstleistungen erworben hat, obwohl er in irgendeiner Weise wusste, dass er mit diesem Erwerb an einem Umsatz teilnahm, der in eine auf einer vorhergehenden Umsatzstufe der Liefer- oder Leistungskette begangene Umsatzsteuerhinterziehung einbezogen war, gilt für die Zwecke der Mehrwertsteuer-Richtlinie als Beteiligung an dieser Steuerhinterziehung. Die einzige für die Versagung eines Abzugsrechts in einer solchen Situation entscheidende aktive Handlung besteht im Erwerb dieser Gegenstände oder Dienstleistungen. Somit bedarf es, um eine solche Versagung zu begründen, keines Nachweises dafür, dass dieser Steuerpflichtige in irgendeiner Form aktiv an der Steuerhinterziehung beteiligt gewesen ist, und sei es nur, indem er diese aktiv gefördert oder begünstigt hat. Ebenso wenig kommt es darauf an, dass er seine Lieferbeziehungen und Lieferer nicht verschleiert hat. Bereits die Missachtung bestimmter Sorgfaltspflichten kann dazu führen, dass das Recht auf Vorsteuerabzug versagt wird, wobei es wesentlich von den jeweiligen Umständen abhängt, welche Maßnahmen im konkreten Fall vernünftigerweise von einem Steuerpflichtigen, der sein Recht auf Vorsteuerabzug ausüben möchte, verlangt werden können, um sicherzustellen, dass dessen Umsätze nicht in einen von einem Wirtschaftsteilnehmer auf einer vorhergehenden Umsatzstufe begangenen Steuerhinterziehung einbezogen sind.

Für die Beurteilung der Frage, ob sich der Steuerpflichtige an einer Steuerhinterziehung beteiligt hat, ist es irrelevant, ob er durch diesen Umsatz einen Steuervorteil erlangt hat. Anders als bei den Entscheidungen zu missbräuchlichen Praktiken hängt die Feststellung der Beteiligung des Steuerpflichtigen an einer Umsatzsteuerhinterziehung nicht davon ab, dass er durch diesen Umsatz einen Steuervorteil erlangt hat, dessen Gewährung dem mit der Mehrwertsteuer-Richtlinie verfolgten Ziel zuwiderläuft. Daher ist es ebenso unerheblich, dass der Umsatz dem Steuerpflichtigen keinen wirtschaftlichen Vorteil verschafft hat.

Literaturrundschau

Rainer Brandl / Roman Leitner

Vorsatzfeststellung im deutschen Steuerstrafrecht

§ 8 FinStrG

Rolletschke, Vorsatzfeststellung im Steuerstrafrecht –das Legen eines Mosaiks, NZWiSt 2023, 368

Der Beitrag liefert eine gute Übersicht über die relevante Judikatur in Deutschland zum Thema Vorsatzbeurteilung sowie darüber, welche Feststellungen durch den Richter zu treffen sind, um den Vorsatz nachzuweisen.

Anmerkung

In der deutschen Rechtsprechung ergibt sich eine deutliche Härte dahingehend, dass eine Parallelwertung in der Laiensphäre konkret auf den Sachverhalt bezogen werden muss. Eine zu weit im fiktiven Bereich liegende Argumentation ist nicht ausreichend. Weiters wird die Nichteinholung von Rat durch den Steuerpflichtigen bereits als dolus eventualis gewertet.

Rainer Brandl / Roman Leitner

Haftung eines deutschen Steuerberaters und Wirtschaftsprüfers

§ 11 BAO

Schmittmann, Haftung eines Steuerberaters und Wirtschaftsprüfers, NZWiSt 2023, 371

Berufstypische Handlungen eines deutschen Steuerberaters bzw Wirtschaftsprüfers können dann eine strafbare Beihilfe zur Steuerhinterziehung darstellen, wenn das vom Hilfeleistenden erkannte Risiko strafbaren Verhaltens seines Mandanten als derart hoch anzusehen ist, dass seine Hilfeleistung als Förderung eines erkennbar tatgeneigten Täters beurteilt werden kann.

Das Finanzgericht darf im Rahmen seiner eigenen Überzeugungsbildung auch dann von einer Steuerstraftat ausgehen, wenn die Staatsanwaltschaft das diesbezügliche Strafverfahren nach § 170 Abs 2 dStPO eingestellt hat.

Anmerkung

§ 11 BAO im nationalen Recht fordert im Gegensatz zur deutschen Rechtslage eine rechtskräftige Verurteilung.

Rainer Brandl / Roman Leitner

Datenlöschung im gerichtlichen (Finanz-)Strafverfahren

§§ 57a–57c FinStrG

Stücklberger/Grill, Datenlöschung im gerichtlichen (Finanz-)Strafverfahren, ZSS 2023, 41

Die StPO und das FinStrG enthalten nur vereinzelt Regelungen zur Datenverarbeitung im Verfahren, die aufgrund ihres allgemeinen Charakters für Rechtsunsicherheit sorgen. Unstrittig und gelebte Praxis ist, dass sichergestellte Daten, die für das gerichtliche (Finanz-)Strafverfahren nicht erforderlich sind oder später an Relevanz verlieren, amtswegig zu löschen sind. Darüber hinaus besteht auch eine Löschungspflicht von bereits gesicherten Daten, die noch nicht auf ihre Erforderlichkeit überprüft wurden, allerdings bereits die Sicherstellung des Datenträgers als rechtswidrig festgestellt wurde. Da die Auswertung Teil der Sicherstellung ist, ist die Fortsetzung einer bereits rechtswidrigen Sicherstellung ebenfalls rechtswidrig.

Schließlich sind auch nach der Auswertung im Akt gespeicherte Daten zu löschen, wenn ihre Sicherstellung rechtswidrig erfolgt ist. Dies erfolgt derzeit praktisch nur sehr eingeschränkt, weil nach der Rechtsprechung des OGH eine ausdrücklich gesetzliche Vernichtungsanordnung fehlt. Dies widerspricht allerdings dem Wortlaut des § 75 Abs 1 StPO, weil durch eine rechtswidrige Sicherstellung Daten „entgegen den Bestimmungen dieses Gesetzes“ ermittelt wurden. Eine abweichende Auslegung ist auch aus grund- und unionsrechtlicher Sicht unzulässig. Im verwaltungsbehördlichen Finanzstrafverfahren sind hingegen die allgemeinen Regeln der BAO und der DSGVO anwendbar sowie die dortigen Löschungspflichten einzuhalten.

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