Lotta: Linker Feminismus

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Dezember 2015

FRAUEN. LEBEN. LINKS!

Linker Feminismus

Das ist mehr als Gleichstellung. Politik und Projekte. Netzwerke und Genossenschaften. Ein anderes Miteinander ist mรถglich. Unser Thema! Lotta: Frauen auf der Flucht! Wo bleiben sie? S. 26


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Sanktionsfreie Mindestsicherung statt Hartz IV!


11 Foto: Uwe Steinert

EDITORIAL

Cornelia Möhring im Fraktionssaal. Sie ist stellvertretende Fraktionsvorsitzende und leitet den Bereich Feministische Politik in der Fraktion DIE LINKE

Liebe Leserin, lieber Leser, ls Feminist_innen sind wir viel zu oft in der Verteidigungshaltung. Selbst unter jenen, die den Feminismus nicht grundsätzlich ablehnen, wird er abwechselnd für noch nicht oder nicht mehr aktuell zur Seite gelegt. Die einen argumentieren mit scheinbar drängenderen Problemen, die anderen mit den Erfolgen bei der rechtlichen Gleichstellung von Frauen. Beides ist falsch. Denn eine Linke, die nicht feministisch ist, ist nicht links. Viel zu eng sind Sexismus und Kapitalismus verwoben, aufeinander verwiesen. Zu sehen an der geschlechtlichen Arbeitsteilung und der Abwertung typischer Frauenberufe. Und ein Feminismus, der nicht links ist, drückt Frauen bloß in jene männliche Form, die unserer Gesellschaft als Norm gilt. Verhandelt werden dann etwa Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie, die jedoch an der Arbeitswelt nichts grundsätzlich ändern.

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n dieser Lotta möchten wir zu einem neuen, einem erneuerten Projekt eines Linken Feminismus aufrufen, das beide Perspektiven von Anfang an und konsequent zusammendenkt. Denn wir wollen mehr als Gleichstellung, wir wollen tatsächliche Emanzipation. Unsere Kämpfe sind deshalb heutzutage oft ein entschiedenes Dagegen, aber sie sind mindestens genauso oft ein kräftiges Dafür. Die vielfältigen Beiträge in dieser Ausgabe erzählen davon.

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Vieles bündelt sich im Thema Zeitsouveränität. Dahinter steht die Forderung nach einer grundlegenden Umverteilung von Arbeit und Zeit, die nicht auf Vereinbarkeit von Unvereinbarem zielt, sondern auf eine autonome Perspektive. Auf Zeit

zur eigenen Entfaltung, in- und außerhalb der Erwerbsarbeit. Auf Zeit für das ganze Leben. Heute machen wir uns deshalb Gedanken über neue Arbeitszeitmodelle als erstem Baustein einer gerechteren Organisation der unbezahlten Arbeit. Eng damit verbunden ist eine eigenständige Existenzsicherung von Frauen – auch im Alter. Der Verein der in der DDR geschiedenen Frauen berichtet von ihrem Jahrzehnte andauernden Kampf darum.

ouveränität über das eigene Leben bedeutet auch immer Selbstbestimmung über den eigenen Körper. Ein Linker Feminismus tritt daher weiterhin für legale und sichere Schwangerschaftsabbrüche ein und stellt sich ganz aktuell gegen die Neuregelung des Prostitutionsgesetzes, das weibliche Sexualität unter Generalverdacht stellt.

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Bei all dem sind Frauennetzwerke und Frauenräume eine zentrale Brutstätte für neue feministische Ideen und Initiativen. Diese Lotta stellt Beispiele aus Kultur und Wirtschaft vor, und versteht sich selbst als Beispiel und Teil davon. Ich hoffe, auch diese Ausgabe regt an, weiterzudenken, weiterzukämpfen, sich weiter einzumischen. Ihre

Cornelia Möhring

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Foto: Uwe Steinert

Inhalt 3-2015

Alles drin? Alles toll? lotta@linksfraktion.de

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Linker Feminismus – eine Marke, ein Projekt, eine Zukunft! Von Cornelia Möhring

Queer und Feminismus – Queere Seiten

Nebeneinander oder Miteinander? RotZSchwul – Anfänge einer Bewegung Refugees welcome: Aids-Hilfe vor Ort

Frauen im Senegal Weltfrauen

Von der Analphabetin zur selbstständigen Bäuerin

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Feminismus: links und sozialistisch! Titelthema

Gleichstellung reicht nicht. Erfolgreiche WeiberWirtschaft. Schöne digitale Arbeitswelt? Wahlarbeitszeit und Zeitsouveränität. Eigene Landwirtschaft, eigener Verdienst: Frauen im Senegal auf dem Weg in die Selbstständigkeit.

Foto: Aktionsgemeinschaft Solidarische Welt

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Lotta Editorial

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Foto: Julia Nowak

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Kriminalisierung oder Selbstbestimmung! Prostitution

Das Prostitutionsgesetz unter die Lupe genommen

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Foto: Alexandra Wischnewski

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Frauen in der DDR geschieden Vergessene Frauen

Eine Wanderausstellung

Foto: istock © EOPITZ

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Angekommen Frauen auf der Flucht

Die erste linke Landesgleichstellungsbeauftragte Brandenburgs über Fürsorge für Frauen und Kinder

Weibliche Flüchtlinge –

Die Hälfte aller Flüchtlinge weltweit ist weiblich. Wo sind sie?

Oktober 2015, vor dem Bundesfamilienministerium in Berlin demonstrieren Sexarbeiter*innen und Unterstützer*innen gegen das geplante „Protituiertenschutzgesetz“.

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Eigene Entscheidung Weg mit § 218

Nur Frauen selbst können über sich und ihren Körper entscheiden

Tipps im Telegrammstil Dies & Das

Ad acta: Kein verbesserter Mutterschutz Anfrage: Rente und Minijob Ansehen: Ohne Rast. Ohne Eile Annehmen: Studie zum Outing Aufnehmen: Gekommen sind Menschen

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Gleichstellung macht n SCHWERPUNKT: LINKER FEMINISMUS

DIE LINKE streitet für einen linken sozi

ie Forderungen der feministischen Aktivistin Laurien Penny, die mit ihrem jüngsten Buch „Unsagbare Dinge. Sex, Lügen und Revolution“ erneut von sich reden machte, haben bei ihrer LeserInnenschaft großen Anklang gefunden. Penny vertritt einen Feminismus, der über eine Gleichstellungspolitik mit den üblichen Quoten und Entgeltgleichheitsforderungen hinausgeht und nichts Geringeres als einen radikalen Systemwechsel fordert. Einen Wandel, der sich nicht in der Formel „He for she“ erschöpft – wie von der Schauspielerin Emma Watson und der UN gefordert – sondern der wirklich an die Wurzel des Übels will: Eine radikale Kritik am Patriarchat und am Kapitalismus, die beide oft Hand in Hand gehen. Die Zeit ist reif für einen neuen, radikalen, linken Feminismus!

Foto: Frank Schwarz

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Jana Hoffmann gehört zum Redaktionsteam der Lotta.

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Wir haben die Quote, das Elterngeld und die jährliche Mahnung „gleicher Lohn für gleiche und gleichwertige Arbeit“ am Equal Pay Day. Aber das reicht nicht. Es reicht nicht, eine Quote von 30 Prozent Frauenanteil in den Führungsetagen zu haben. Es reicht nicht, dass mittlerweile die Vereinbarkeit von Beruf und Familie als wichtig angesehen wird oder die „Pille danach“ endlich rezeptfrei in den Apotheken abgegeben wird. Wir freuen uns über diese Errungenschaften. Sie sind hart erkämpft. Aber sie reichen nicht. Sie sind am Ende nur Ausdruck einer Politik, die Frauen

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och keinen Feminismus alistischen Feminismus. Was will er? Warum brauchen wir ihn? den Männern gleichstellen will. Das Idealbild eines linken Feminismus ist aber nicht der Mann. Frauen sollen nicht als halbfertige Kopien des Mannes verstanden werden. Um es deutlich zu sagen: Die erreichten gleichstellungspolitischen Maßnahmen sind richtig und wichtig, aber sie gehen über den Gleichstellungsgedanken eben auch nicht hinaus.

enn wir über die Vereinbarkeit von Beruf und Familie sprechen, reden wir aus der Perspektive, aus der heraus Frauen alles schaffen: Kinderbetreuung, Haushalt, Job. Wir sprechen nicht davon, ob der Mann das auch alles schafft. Denn automatisch wird immer noch davon ausgegangen, dass die Frau „natürlicherweise“ für Kinderbetreuung und Haushalt zuständig ist. Wir fragen auch nicht, ob ein Vollzeitjob für das Leben überhaupt sinnvoll ist. Geschweige denn, warum der Mann – statt über 40 Stunden in der Woche zu arbeiten – nicht bei seinen kleinen Kindern zu Hause bleibt oder in Teilzeit arbeitet. Und wir fragen zu selten, ob ein gelingendes Leben nicht mehr ist, als das Jonglieren zwischen arbeiten in Vollzeit, Haushalt, Kinderbetreuung oder Pflege von Angehörigen. Der Slogan „Die Arbeitszeit muss sich mehr um das Leben drehen und das Leben weniger um die Arbeit“ wäre für solch ein Nachdenken ein guter Anfang.

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Dass gleichstellungspolitische Forderungen allein nicht ausreichen, zeigt

auch die Quote für Frauen in Führungspositionen. In jedem Unternehmen, das mitbestimmungspflichtig und börsennotiert ist, gilt seit Mai diesen Jahres eine Dreißig-Prozent-Quote zur Gleichstellung von Frauen und Männern in den oberen Strukturen. Unternehmen, die entweder börsennotiert oder mitbestimmungspflichtig sind, sind an keine feste Quote gebunden, sondern dürfen sich eine selbstgewählte Zielquote setzen. Das ist Gleichstellungspolitik par excellence: nicht ganz falsch, aber eben auch nicht weltverändernd. Wirklich gerecht wäre eine Quote, die die tatsächlichen Verhältnisse widerspiegelt. Also eine Quote von 50 Prozent, auch um dem strukturellen Sexismus in der Gesellschaft, in Wirtschaft und Politik entgegenzutreten. Nur so lassen sich Strukturen aufweichen, durch die Frauen immer noch an die gläserne Decke stoßen. Es geht aber nicht nur um Aufstiegschancen, um Karriere, sondern auch um die Wahl von Berufen. Um die Wahl von sogenannten typischen Frauen- und Männerberufen. Warum werden Frauen selten Kfz-Mechatronikerinnen und Männer ebenso selten Kitaerzieher oder Pfleger? Ursachen liegen in den Betriebs- und Branchenkulturen und in der öffentlichen Präsentation der Berufsbilder: Es gibt kaum Vorbilder und Berufsfelder werden Auszubildenden von Berufsberaterinnen und Beratern in der Regel „geschlechterpassend“ präsentiert. Die Zeit ist also reif für einen anderen Blick, für einen Wandel für die und in der Arbeitswelt.

ir verstehen einen linken Feminismus als Weg und Ziel, hin zu einem schönen Leben. Denn linker Feminismus hinterfragt bestehende Herrschaftssysteme, kämpft entschlossen gegen Sexismus, Rassismus, Heteronormativität und Klassismus, also gegen die Abwertung von Menschen allein aufgrund ihrer sozialen Stellung und Herkunft.

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Feminismus, wie wir ihn verstehen, öffnet Räume für eine Vielfalt der Lebens-, Liebes-, Arbeits- und Zeitkonzepte. Er lässt Platz für ehrenamtliches Engagement, für Spiel und Spaß und Muße. Linker Feminismus ermöglicht emanzipatorische Konzepte von Familie in nicht normierten Rollenmustern. Und er will den mündigen, emanzipierten Menschen, der sich frei von Zwängen entfalten kann.

er Satz von Peter Weiss gilt immer noch: „Wenn wir uns nicht selbst befreien, bleibt es für uns ohne Folgen.“ Der Feminismus, für den wir kämpfen, ist der Stachel im Fleisch des Establishments. Er steht für die Freiheit von Frauen, für die Freiheit aller Geschlechter!

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Jana Hoffmann ist Referentin für feministische Politik der Fraktion DIE LINKE

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SCHWERPUNKT: LINKER FEMINISMUS

Vom Frauenprojekt zur W Juni 2014, Genossenschafterinnen und Mieterinnen der WeiberWirtschaft treffen sich zu ihrer alljährlichen Hauptversammlung.

Foto: WeiberWirtschaft

Seit 25 Jahren gibt es in Berlin die WeiberWirtschaft: Eine Frauengenossenschaft, Europas größtes Gründerinnenzentrum und eine Erfolgsgeschichte.

Die WeiberWirtschaft in der Anklamer Straße, Berlin-Mitte von oben

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ie WeiberWirtschaft fällt ins Auge. In großen, weithin lesbaren Buchstaben steht der Namenszug am straßenseitigen Gebäude des Gewerbehofes. Darunter ein Torbogen, breit genug für die Pferdefuhrwerke früher, und heute das Eingangstor zum „Standort der Chefinnen“ – zu einem Gewerbehof, der aus insgesamt drei Höfen besteht, und den Charme alter Industriearchitektur des 19. Jahrhunderts verströmt. Hier residiert die Frauengenossenschaft WeiberWirtschaft, die in ihrer Größe und Zusammensetzung nach wie vor einmalig ist. Nicht nur in Deutschland, sondern europaweit.

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WeiberWirtschaft – das sind über 7.000 Quadratmeter Nutzfläche, mehr als 1.700 Genossenschafterinnen, Büros, Ateliers, Läden, zwei Restaurants beziehungsweise Cafés, eine Kantine, Praxisräume, Werkstätten, Konferenz- und Beratungsangebote, Wohnungen, eine Kindertagesstätte, Unternehmerinnen aus unterschiedlichsten Branchen, dazu Frauenvereine und -verbände. Alles und alle unter einem Dach, und alles in Frauenhand. Katja von der Bey lächelt ihr ansteckendes Lächeln bei der Aufzählung. Sie ist seit 1999 die Geschäftsführerin der WeiberWirtschaft. Aber dabei ist sie

schon von Anfang an. Zunächst als Studentin in den 1980er Jahren, als die ersten Ideen für einen Arbeits- und Lebensort nur für Frauen entstanden. Ein Ort, an dem Frauen nach eigenen Regeln arbeiten und leben, selbstbestimmt und unabhängig, für sich und andere Frauen Jobs schaffen. Die promovierte Kunsthistorikerin erinnert sich daran, dass „Fetzen flogen“, damals Ende der 1980er Jahre, als eine Gruppe von Feministinnen sich durchsetzte und aus dem überschaubaren Frauenprojekt eine Genossenschaft in Gründung wurde, wenig später Unternehmerin, Bauherrin, ja sogar eine „Kapitalistin“. Nicht alles gleichzeitig und doch vieles parallel. Die Frauen ahnten, wenn sie ihre Ideen vom Wirtschaften gekoppelt an das Gemeinwohl, von Solidarität, von Geschlechtergerechtigkeit in die Praxis umsetzen wollten, dann brauchten sie selbst „Grundeigentum“.

eine allein hätte so viel Geld zum Kauf einer Immobilie gehabt. Also setzten die Genossenschaftsgründerinnen einen „feministischen Geldkreislauf“ in Gang. „Viele Frauen legen kleine Beträge zusammen, kaufen damit eine große Immobilie.“ Im Dezember 1989 wird die Genossen-

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Foto: Heidi Scherm

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eiberWirtschaft Im Jahr 2014 feierte die Frauengenossenschaft ihr 25-jähriges Jubiläum.

steht leer. Die ehemals großen Flächen wurde in kleinere eingeteilt, es gibt Bürogemeinschaften, faire Mietpreise, gegenseitige Unterstützung, viel Miteinanderreden – nicht selten auf dem Treppenabsatz oder in einem der Höfe, weil man sich ohnehin tagsüber über den Weg läuft. 300 Gründungen gab es seit der Gesamteröffnung im Jahr 1996, 70 Prozent davon überstanden die ersten drei schwierigen Geschäftsjahre. Inzwischen ist die WeiberWirtschaft die Adresse schlechthin für Berliner Existenzgründerinnen, sie ist bundesweit vernetzt und eine gefragte Partnerin bei politischen Entscheidungen.

Die WeiberWirtschaft ist damit nicht nur eine Genossenschaft, sondern sie hat endlich „ihren eigenen Gewerbehof“, dazu viele Millionen Kauf- und Sanierungsschulden. Die Genossenschafterinnen werden Bauherrinnen, schlagen sich mit den Tücken der Altbausanierung herum, müssen Fördergeldauflagen akzeptieren oder abwehren, sammeln Spendengelder für den geplanten Kindergarten und halten mit unzähligen „selbstgebackenen Kuchen“ die Bauarbeiter bei Laune. Knappe zwei Jahre später beginnt die erste Vermietung. Heute gibt es eine Warteliste. Kein einziger Quadratmeter WeiberWirtschaft

er im Netz nach dem Begriff Weiberwirtschaft sucht, bekommt zu lesen, er stünde für „Abwertung“, auch für „Eigenschaften, die für einen Mann als nicht charakteristisch erachtet werden“. Katja von der Bey schmunzelt, spricht von „Spaß“ l. und „Ironie“ und „goldrichtiger Wahl“. uf Denn eines will die WeiberWirtschaft auf keinen Fall sein: „typisch Mann“.

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Gisela Zimmer

° 2004 Anerkennungspreis des Naturschutzbundes Deutschland (NABU) für das ökologische Gesamtkonzept ° 2005 Landespreis Berlin „Mutmacher der Nation“ ° 2006 Einer der prämierten Orte im „Land der Ideen“

° 2007 Auszeichnung „Familienfreundlicher Betrieb Berlin-Mitte“

° 2008 „Preis der Regionen“ vom Kongress der Gemeinden und Regionen des Europarats ° 2013 Katja von der Bey, Geschäftsführererin der WeiberWirtschaft, erhält den Berliner Frauenpreis

Mehr unter www.weiberwirtschaft.de

Foto: Hoffotografen

schaft WeiberWirtschaft aus der Taufe gehoben. Die Mindestbeteiligung pro Genossenschaftsfrau beträgt zu dem Zeitpunkt 200 D-Mark, heute sind es 103 Euro. Aber nicht nur die Mitgliedsfrauen zeichnen Anteile, es sind auch viele Sympathisantinnen und Unterstützerinnen dabei. Ein erster Kauf scheitert. Der zweite gelingt. Der ehemalige DDR-Großbetrieb VEB Kosmetik in Berlin-Mitte kommt unter den Hammer. Die Treuhand will 20 Millionen D-Mark, die WeiberWirtschafts-Frauen unterschreiben im Oktober 1992 einen Kaufvertrag in Höhe von 12,3 Millionen D-Mark.

Waschtag für 31 Frauen, 27 Männer und 20 Kinder.

Ausgezeichnete WeiberWirtschaft

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Feminismus: Modern. Links. Sozialisti SCHWERPUNKT: LINKER FEMINISMUS

Friedlich, feministisch, frech – so muss Sozialismus im 21. Jahrhundert sein. Krieg, Machismo und Kapitalismus gemeinsam überwinden! #Frauen #Männer. Kathrin Vogler, Sprecherin für Arzneimittelpolitik und Patientenrechte

Wie kann ein solcher Feminismus aussehen? Ideen, Anregungen, Wünsche von den weiblichen Abgeordneten der Fraktion DIE LINKE, die die Gesellschaft verändern würden

August Bebel würde heute sagen: Patriarchat und Sozialismus sind wie Feuer und Wasser. Deshalb brauchen wir linken Feminismus auch in der Fraktion! Annette Groth, Sprecherin für Menschenrechte

Linker Feminismus ist inklusiv! Er schließt alle ein, auch Menschen mit Behinderung!“ Sabine Zimmermann, Leiterin des Arbeitskreises Soziales, Gesundheit und Rente Moderner linker Feminismus ist frech & radikal, selbstbewusst & freiheitsliebend, lustvoll & queer. Caren Lay, Verbraucherpolitische Sprecherin

Nicht nur prekäre Arbeit – auch die kämpferische neue Streikbewegung ist weiblich! Gemeinsamer Kampf nützt allen!

Christine Buchholz, Religionspolitische Sprecherin

Nicht nur gute Arbeit, sondern auch das gute Leben fair verteilen!“ Petra Sitte, Parlamentarische Geschäftsführerin

Katrin Werner, Behindertenpolitische Sprecherin Selbstbestimmte Frauen bereichern Acker und Stall. Auch hier ist Frauenarbeit mehr wert.“ Kirsten Tackmann, Agrarpolitische Sprecherin

Lin mus kämpf der Arbeit m Erziehung haben

Sahra Vorsitze

Sozialistisch muss der Feminismus sein, damit es nicht bei der Verengung der Diskussion auf Quoten in Aufsichtsräten und Führungsetagen bleibt und die Lebensrealität der vielen in den Blick genommen wird.“ Nicole Gohlke, Hochschul- und wissenschaftspolitische Sprecherin

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sch.

Sabine Leidig, Verkehrspolitische Sprecherin

Sigrid Hupach, Kulturpolitische Sprecherin

Feminismus der Moderne benötigt keine Quoten. Denn Frauen der Moderne sind nicht bereit, von vornherein potenzielle Machtpositionen zu teilen. Der Feminismus der Moderne setzt auf argumentationsstarke und selbstbewusste Frauen.

Ich kämpfe für einen modernen Feminismus, damit es selbstverständlich wird, dass Männer auch Elternzeit nehmen. Denn Familienarbeit ist ebenso Männersache.

Halina Wawzyniak, Rechts- und Netzpolitische Sprecherin

Susanna Karawanskij, Sprecherin für Kommunalfinanzen

Die Unkontrollierbarkeit von BND und Verfassungsschutz hat auch etwas mit männerbündischen Machtmechanismen zu tun: Deshalb wäre Aufklärung von Geheimdienstskandalen in Frauenhand linke feministische Politik.“ Martina Renner, Obfrau im NSA-Untersuchungsausschuss und Sprecherin für antifaschistische Politik

nker Feminisft um die Aufwertung mit und für Menschen. gs- und Pflegekräfte n mehr verdient!

Wagenknecht, ende der Fraktion

Als Sozialistin kämpfe ich für Gleichheit, als Feministin gegen die Frauenunterdrückung, die auch vor den Toren einer Partei nicht stoppt.“ Ulla Jelpke, Innenpolitische Sprecherin

Linker Feminismus kann ein Hebel sein zur Durchsetzung sozialer Menschenrechte für alle.“

Azize Tank, Sprecherin für soziale Menschenrechte

Katja Kipping, Sozialpolitische Sprecherin

Pia Zimmermann, Pflegepolitische Sprecherin

Cornelia Möhring, Frauenpolitische Sprecherin

Kerstin Kassner, Kommunalpolitische Sprecherin

Um die Welt auf den Kopf zu stellen, müssen wir sie von allen Seiten packen. We start from a women's perspective. We change the world.

Wir brauchen einen modernen, linken, sozialistischen Feminismus, damit unbezahlte Arbeit sichtbar, gesellschaftlich anerkannt und umverteilt wird.“

Linker Feminismus, weil wir alle Verhältnisse zum Tanzen bringen wollen.

Frauen sind stark, auch weil sie auf ihr Gefühl hören!“

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Mobilität für alle – mit weniger (Straßen-) Verkehr! Genug für alle – nicht zu wenig, nicht zu viel! Fähigkeiten entfalten – statt Wachstumswahn!“

Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist nicht nur Frauensache. Emanzipierte Männer zum Mitmachen gesucht.“ Karin Binder, Ernährungspolitische Sprecherin Linker Feminismus macht für mich dann Sinn, wenn wir es schaffen, eine Doppelspitze für die FIFA zu installieren. Katrin Kunert, Mitglied im Sportausschuss

Frauenrechte sollten kein Privileg weißer, europäischer Frauen sein. Bieten wir auch denen Schutz, die ihn bei uns suchen!“ Heidrun Bluhm, Wohnungspolitische Sprecherin Feminismus heißt für mich, immer wieder auf eine weibliche Sichtweise hinzuweisen. Dazu gehört für mich auch, in Reden, Artikeln und Gesprächen Frauen explizit zu nennen.

Foto: istock © beakraus

Linker Feminismus ist mehr als Gleichstellungspolitik, er ist Gesellschafts- und Kapitalismuskritik und ist für die Veränderung unserer gesellschaftlichen Verhältnisse unabdingbar.“

Eva Bulling-Schröter, Energie- und klimapolitische Sprecherin

Jutta Krellmann, Sprecherin für Arbeits- und Mitbestimmungspolitik

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SCHWERPUNKT: WANDEL IN DER ARBEITSWELT

Schöne neue Geschlechtergerechtigke

Chancen und Risiken für Frauen in der digitalen Arbeitswelt

ie Industrialisierung des 18. und 19. Jahrhunderts wird wegen ihrer radikalen Gesellschaftsumwälzung zu Recht als Revolution bezeichnet. Zwei Jahrhunderte später stehen wir wieder mitten in der nächsten Revolution, diesmal ist es eine digitale. Der prognostizierte „Tsunami auf dem Arbeitsmarkt“ wird dabei mitnichten nur Jobs in der Produktion vernichten, in der schon bisher viele Menschen durch Automatisierung und Roboter ersetzt wurden. Gerade auch in Berufen, die analytisches Denken voraussetzen, hat der Computer den

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Menschen inzwischen überholt. Etwa bei Sachbearbeitern oder zum Teil sogar bei der Rechtsanwältin. Nach derzeitigen Spekulationen sind in Deutschland zwei von drei Arbeitsplätzen bedroht.

Die wirklich radikalen Veränderungen basieren diesmal jedoch nicht allein auf einem technischen Fortschritt, der die Produktivität steigert, sondern auf der neuen Qualität von Kommunikation und Vernetzung von Menschen. In einem globalen „Informationsraum“ agieren sie miteinander über kultu-

relle Grenzen wie Sprachen hinweg. Durch Cloudworking werden Arbeitsprozesse aus Betrieben und Standorten an Freiberufler auf der ganzen Welt ausgelagert. Die Verdopplung der weltweiten Datenmenge alle zwei Jahre macht sich Big Data zunutze, indem es durch die statistische Auswertung von Massendaten neue Erkenntnisse generiert. Im Internet der Dinge versorgen sich die Drucker mit neuem Toner und die Wohnungen heizen sich effektiv nach Bedarf selbstständig auf, die Gegenstände bedürfen keiner menschlichen Steuerung mehr.

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Foto: istock © sturti

eit? icht zuletzt dürften auch die Geschlechterverhältnisse durch die Digitalisierung der Arbeitswelt in Bewegung geraten. So bringen die digitalisierten Arbeitsformen mehr Flexibilität, was Ort und Zeit der Arbeit angeht. Dank mobiler Endgeräte kann nicht nur im Büro oder im Homeoffice, sondern überall gearbeitet werden. Wer Kinder in die Kita oder pflegebedürftige Eltern zur Ärztin begleiten muss, ist dadurch nicht mehr per se von der Übernahme beruflicher Verantwortung ausgeschlossen. Davon könnten besonders Frauen profi-

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11 tieren, die immer noch die Hauptlast unbezahlter Sorgearbeit zu Hause tragen. Hier gilt unbedingt, die Möglichkeiten der Digitalisierung tatsächlich für eine bessere Arbeitszeitautonomie der Beschäftigten zu nutzen, gleichzeitig aber eine totale Entgrenzung und ständige Verfügbarkeit zu verhindern.

Eine große Herausforderung ist der Erhalt und die Stabilisierung der sozialen Sicherungssysteme. Werden Menschen massenweise durch Maschinen ersetzt, zahlen die Unternehmen für diese keine Sozialabgaben mehr. Gleichzeitig müssen auch die – oft prekär – selbstständigen „Clickworker“ sozial abgesichert werden. Menschen also, die für Honorare weit unter Mindestlohn über Internetplattformen Aufgaben wie Datenrecherche oder Informationsverifizierung übernehmen. Die Reduzierung sowie die globale Umverteilung von Arbeitsvolumina bieten aber auch die einzigartige Gelegenheit zu einer gesellschaftlichen Neuaushandlung von Arbeit. Dabei können die Zeiten für Erwerbsarbeit und für unbezahlte Arbeit neu verteilt und somit kann auch mehr Geschlechtergerechtigkeit erreicht werden. Dies geht natürlich mit der Frage nach einer Umverteilung von oben nach unten einher, die sich angesichts der Erosion von Arbeitsplätzen in einer bisher auf Erwerbsarbeit fußenden Marktwirtschaft ohnehin stellt.

eben einer besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie könnten Frauen auch davon profitieren, dass in der künftigen Arbeitswelt vernetztes Arbeiten und Kommunikation an Bedeutung gewinnen. Technologiesoziologinnen und -soziologen erwarten, dass die immer mehr von ihrer Software bestimmte Hardware die Arbeitskultur und Berufsbilder verändern und für Frauen at-

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traktiver machen wird. Außerdem würden Berufsfelder mit einem höheren Frauenanteil – beispielsweise Wirtschaftsinformatik, Betriebswirtschaft oder das Wirtschaftsingenieurswesen – immer wichtiger.

Eine große Hürde für die geschlechtergerechte Gestaltung der „Arbeit der Zukunft“ besteht jedoch darin, dass die Digitalisierung selbst ein männlich dominiertes Feld ist. Die Entwicklung der neuen Arbeits- und Führungskonzepte geht ja gerade von solchen Branchen aus, in denen Frauen nicht nur stark unterrepräsentiert sind, sondern zum Teil auch aktiv ausgegrenzt werden. Die von Sexismus geprägte ITBranche ist ein Beispiel dafür. Gerade hier sind Erniedrigung und sexuelle Belästigung von Frauen weit verbreitet, und deshalb verlassen mehr als die Hälfte der weiblichen Beschäftigten diesen Sektor bereits auf der Mitte der Karriereleiter. Ähnlich erleben es Netzfeministinnen. Die gegen sie erhobenen Mord- und Vergewaltigungsdrohungen sind mehr als nur Machogehabe innerhalb der Homogenität von Boy's Clubs, hier geht es auch um gesellschaftliche Macht.

ie Verwirklichung von Digitalisierungschancen ist kein Selbstläufer. Sie erfordert die aktive Gestaltung – vor allem und besonders durch Frauen – und sie erfordert eine politische Auseinandersetzung darüber, wie wir in und mit dieser digitalisierten Welt leben wollen.

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Geraldine Carrara ist Referentin für Gleichstellungspolitik der Fraktion DIE LINKE

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Plädoyer für Wahlarbeitszeiten

SCHWERPUNKT: ZEITSOUVERÄNITÄT

Der Deutsche Juristinnenbund entwickelte ein Konzept für ein Wahlarbeitszeitgesetz. Unter diesem Schirm könnten Unternehmen selbstverantwortlich handeln. rwerbsarbeit und ihre zeitlichen Anforderungen an Beschäftigte sind je nach Lebensphase nicht einfach miteinander zu vereinbaren. Vor allem Frauen, die in Paarbeziehungen und als Mütter zusätzlich zum Beruf den ganz überwiegenden Teil der Haus- und Sorgearbeit leisten, weichen darum oft in Teilzeit und geringfügige Arbeitsverhältnisse aus. Die verstetigen sich im Lebensverlauf, während erwerbstätige Männer fast immer Vollzeit arbeiten. Das hat fatale Folgen für die eigenständige Existenzsicherung und für die Altersvorsorge von Frauen, begünstigt das Machtgefälle in der Partnerschaft und verfestigt so Rollenstereotype.

Illustration: Franziska Thiel für ZITRUSBLAU

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Vor diesem Hintergrund hat der Erste Gleichstellungsbericht der Bundesregierung die essenzielle Bedeutung von Arbeitszeitflexibilität und Zeitverwendung für die Gleichstellung betont und ein Wahlarbeitszeitgesetz angeregt. Der Gesetzgeber ist gefragt, mit einem zeitgemäßen Arbeits- und Sozialrecht steuernd einzugreifen. Der Deutsche Juristinnenbund mit seiner Kommission Arbeits-, Gleichstellungs- und Wirtschaftsrecht unter Vorsitz von Professorin Dr. Heide Pfarr entwickelte ein Konzept für ein Wahlarbeitszeitgesetz, das beim 41. Bundeskongress des Juristinnenbundes im September 2015 in Münster vorgestellt wurde.

ahlarbeitszeitkonzepte für alle Betriebe kann der Gesetzgeber nicht vorgeben. Die gestalterischen Möglichkeiten der Unternehmen sind ganz unterschiedlich. Ein Wahlarbeitszeitgesetz muss alle Betriebe aller Branchen und aller Größen erfassen und überall differenzierte Lösungen zulassen.

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Ein Wahlarbeitszeitgesetz, das dem Konzept einer regulierten Selbstregulierung folgt, kann dies auch leisten. Es nennt Zielsetzungen und Rahmenbedingungen, gibt Formen und Fristen, Verfahren und Beteiligungsrechte vor und zählt Themenkomplexe auf, die für ein betriebliches Wahlarbeitszeitkonzept geprüft werden müssen. Selbstverantwortliches Handeln unter dem Schirm des Gesetzes also.

Unverzichtbar sind flankierende Regelungen im Sozial- und Steuerrecht. Ein Wahlarbeitszeitgesetz darf nicht nur ein Angebot an diejenigen enthalten, die sich eine Verminderung ihres Erwerbseinkommens durch eine Reduzierung der Arbeitszeit leisten können. Der Gesetzgeber muss entscheiden, wie und welche Einkommensausfälle finanziell abgesichert werden. Ramona Pisal ist Präsidentin des Deutschen Juristinnenbundes

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Wer verfügt über unsere Zeit?

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Warum brauchen wir selbst die Souveränität über unsere Lebens- und Arbeitszeit? Wie kann sie geschlechtergerecht und sozialistisch gestaltet werden? edes Leben ist endlich, begrenzt. Wenn wir also über Zeitsouveränität reden, reden wir über die Verfügungsgewalt über die eigne, begrenzte Lebenszeit. Die Medaille „Verfügung über Zeit“ hat zwei Seiten. Die eine: Was und wie mache ich etwas in einer bestimmten Zeit? Wer verfügt darüber? Die andere ist: Wie viel Zeit nehme ich mir für dies oder das? Wer verfügt darüber?

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Die Feministin Joan Tronto schrieb einmal von der Demokratie als fürsorgliche Praxis. Sie meinte eine Demokratie, in der die Akzeptanz gegenseitiger Abhängigkeit der Menschen voneinander mit der Akzeptanz der Autonomie aller Beteiligten Hand in Hand gehen sollte. Ziel dieser guten fürsorglichen Praxis sei die

Entwicklung der Individuen. Eine freie Entwicklung der Individuen als Bedingung für die freie Entwicklung aller, wäre meine Ergänzung.

Sozialismus heißt, Demokratie in der Ökonomie ganz großzuschreiben, ob nun in einer bezahlten oder unbezahlten Arbeit. Geschlechtergerechtigkeit hieße dabei: Gleichberechtigtes Aushandeln, Befriedigung der Bedürfnisse der Menschen als Ziel, Anerkennung und Respekt vor der Eigenart des/der anderen. Wenn dies ein kulturell-politisches Leitbild wäre, könnten Arbeitsinhalte und Zeitarrangements entlang der Bedürfnisse und der Fähigkeiten der Menschen orientiert sein, statt an der Ausbeutung der Natur und der Lohnarbeitenden und an der doppelten Ausbeutung der Frauen.

emokratie, Fähigkeiten entwickeln, Bedürfnisse befriedigen – all das braucht seine Zeit. Jede und jeder muss ausreichend Zeit haben: für das demokratische Engagement und für Bildung, für Pflege eines Angehörigen, für ein gutes Buch, für die Auszeit für sich selbst. Meine These ist, dass eine Entschleunigung uns allen gut tun würde – weil sie auf das Wesentliche konzentriert. Den Rhythmus des guten Lebens bestimmt nicht der Takt der Kapitalmaschine.

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Das Zeithaben muss auch materiell abgesichert werden. Ich plädiere beispielsweise für ein Grundeinkommen, über das DIE LINKE kontrovers diskutiert, für eine öffentliche, gebührenfreie Infrastruktur und Dienstleistungsangebote, für ordentliche Löhne und eine kulturelle und materielle Aufwertung der „frauentypischen“ Erwerbsarbeit. Alles Bedingungen für eine fürsorgliche Ökonomie, die selbst Gegenstand demokratischer Gestaltungsprozesse sind. Der gesellschaftliche Reichtum, um das alles zu ermöglichen, ist vorhanden.

brigens: Joan Tronto war der Auffassung, dass Menschen, die sich viel mit der Sorge um und Pflege von Menschen beschäftigen, gute Demokrat*innen abgeben könnten. Weil sie die fürsorgliche Praxis täglich umsetzen, die für die gute Demokratie nötig wäre. Dazu müssten sie aber die Zeit haben. Womit wir wieder bei den kulturell-politischen und materiellen Bedingungen der Zeitsouveränität wären.

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Katja Kipping ist Vorsitzende der Partei DIE LINKE und sozialpolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE

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Queer

Queer und Feminismus – (K)eine Liebesheirat Ein Nachdenken über offene Fragen

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Nebeneinander, Miteinander? Am 19. September 2015 gingen Queer-Menschen und Feministinnen gemeinsam für sexuelle Selbstbestimmung auf die Straße.

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Universität. Die Theorie ist mit der amerikanischen Philosophin Judith Butler verbunden. Queer stellt die Heterosexualität infrage und damit sämtliche kulturellen und gesellschaftlichen Normen, die eine andere Sexualität herabwürdigen.

ueer bestreitet, dass zwischen einem sozialen und einem biologischen Geschlecht unterschieden werden kann. Schon das biologische Geschlecht sei bereits eine Konstruktion, so die These.

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Foto: Uwe Steinert

ut ein Vierteljahrhundert nach der Begriffsentstehung Queer und der dazugehörigen Theorie und Praxis, ist beides in der Öffentlichkeit immer noch weitestgehend unbekannt. Queer kommt aus dem Elfenbeinturm der

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11 ie Unterscheidung zwischen einem biologischen und sozialen Geschlecht geht auf die französische Philosophin Simone de Beauvoir zurück. „Man wird nicht als Frau geboren, sondern zur Frau gemacht“, lautet ihr berühmter Satz. Nachzulesen in ihrem Buch „Das andere Geschlecht“, ein Werk, das für den westlichen Feminismus im Nachkriegseuropa prägend war.

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Queer grenzt sich davon ab, blickt radikaler auf Menschen als einzigartige Individuen. Sagt, es gebe weder Frauen noch Männer. Dann stellt sich jedoch die Frage, wenn es keine Frauen per se gibt, wie und warum sollte man sie befreien, so wie es sich der Feminismus vorgenommen hat? Entsprechend groß war der Aufschrei innerhalb der feministischen Bewegung. Die Feministin Frigga Haug bezichtigte die Queertheorie der Untergrabung der Frauenbefreiung. Doch auch die Queer-Ikone Judith Butler nimmt für sich in Anspruch, Feministin zu sein. Wie passt das zusammen?

ielleicht lässt sich dieses Paradoxon auflösen, wenn wir die unterschiedlichen Traditionslinien betrachten. Der wissenschaftliche Zugang vieler Feministinnen war historisch oder soziologisch geprägt. Sie schauten sich an, zu welchen Zeiten und auf welche Weise Frauen in der Geschichte unterdrückt wurden. Und sie betrachteten die Gegenwart. Sie wiesen Strukturen nach, über die Frauen benachteiligt werden. Beispielsweise durch die Entlohnung von Arbeit oder durch staatliche Strukturen wie Ehegattensplitting.

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Der Zugang von Queer ist ein um die Philosophie erweiterter Blick, zugleich auch ein Engagement für die Rechte von sexuellen und geschlechtlichen Minderheiten.

Die Queertheorie trat erst nach 1989 auf den Plan und bricht bewusst mit einer historischen Perspektive. Darum wird der Queertheorie – nicht zu Unrecht – ein ahistorischer Blick vorgeworfen. Queer möchte festgefügte Identitäten infrage stellen. Das „wir“ Frauen oder „wir“ Männer sei eine Konstruktion, die auch biologisch nicht beweisbar sei. Ein Punkt, der heute viel gelassener gesehen wird. Denn mit dem verstärkten Blick auf intersexuelle Menschen, also Menschen, die biologisch beide Geschlechter aufweisen, ist die damals noch gewagt klingende These mittlerweile durch den Gesetzgeber untermauert. Mit der Änderung des Personenstandsgesetzes im Jahr 2013 wurde festgelegt, dass bei der Geburt eines intersexuellen Kindes kein Geschlechtseintrag mehr vorzunehmen ist. Damit wurde anerkannt, dass es nicht nur eindeutig männlich oder weiblich gibt.

mensionen, die durch die Norm der Heterosexualität entstehen, berücksichtigte. Queer und Feminismus zu einem Ganzen zusammenzufügen, wie es der Begriff Queerfeminismus suggeriert, funktioniert nicht einfach so. Bei näherer Betrachtung allerdings ergeben sich viele Berührungspunkte. Sie zu suchen, würde sich lohnen. Für alle. Bodo Niendel ist queerpolitischer Referent der Fraktion DIE LINKE

ueer ist zudem ein Projekt, das versucht, Lesben, Schwulen, Transsexuellen, Transgender und Intersexuellen eine Stimme zu geben. Es entstanden neue Bündnisse, geschlechtliche und sexuelle Minderheiten erkannten das Verbindende, nachdem zuvor noch meist getrennte Wege beschritten wurden. Queer steht für einen geschlechtergerechten Sprachgebrauch, auch wenn es dabei manchmal zu Stilblüten kommt.

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Vereinfacht könnte man sagen, dass der ahistorische und philosophische Zugang von Queer die gesellschaftlichen Strukturen – gerade auch die Benachteiligung von Frauen – vernachlässigt hat und der Feminismus viel zu wenig die Ungleichheitsdi-

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RotZSchwul. Der Beginn einer Bewegung. 1971–1975

QUEER

Eine Leseempfehlung

or 40 Jahren endete das Treiben einer kleinen Schwulengruppe, die in und um Frankfurt am Main für viel Wirbel gesorgt hatte. Jannis Plastargias geht den Spuren von RotZSchwul nach, einer kleinen avantgardistischen Organisation, die zwischen den Jahren 1971 bis 1975 im Windschatten der Frankfurter Spontis (zu denen auch Joschka Fischer gehörte) agierte.

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RotZSchwul. Der Beginn einer Bewegung. 1971-1975 Jannis Plastargias Querverlag, 192 Seiten, 14,90 €

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RotZSchwul war eng mit dem universitären Leben in Frankfurt verbunden. Der Philosoph Theodor W. Adorno hatte hier gelehrt und das intellektuelle Klima übertrug sich auf die dortige Bewegung. Bei RotZSchwul wurden Freud, Marcuse und Marx gelesen. Sie veröffentlichten Flugblätter, zogen sich Frauenkleider an, organisierten selbst Demonstrationen oder beteiligten sich an anderen. Auf dem Buchcover ist Martin Dannecker, der theoretische Kopf der Gruppe, abgebildet. Eine Aufnahme von inzwischen historischem Wert, denn es war die erste Schwulendemonstration der Bundesrepublik überhaupt. Stattgefunden hat sie 1972 in Münster. Dannecker wurde später Professor und Vizedirektor des Instituts für Sexualwissenschaft in Frankfurt am Main.

RotZSchwul gelang es im Jahr 1974, der Stadt ein Kommunikationszentrum abzuringen. Doch der frühere Elan versiegte, die Gruppe löste sich in den Folgemonaten auf. Plastargias beschreibt spannend und stellt aktuelle Bezüge her, auch wenn manchmal etwas unvermittelt und bemüht. Denn vieles hat sich seither grundlegend verändert. Eine tiefere Beleuchtung von RotZSchwul wäre an einigen Punkten interessant gewesen. Beispielsweise, wie wirkten sich die Spätwehen der strafrechtlichen Verfolgung Homosexueller auf die Gründungsphase aus?

Warum organisierte sich RotZSchwul in Frankfurt am Main als reine Schwulengruppe, anders als in Westberlin, wo es in der Anfangsphase zumindest einen Versuch der gemeinsamen Organisierung von Lesben und Schwulen gab?

as rotzfreche Auftreten von RotZSchwul ist ja gerade deshalb so interessant, weil bis 1969 männliche Homosexualität per Gesetz in der Bundesrepublik verboten war. Verfolgt nach dem von den Nazis 1935 verschärften Paragrafen175 Strafgesetzbuch. Mehr als 50.000 Männer wurden noch im Nachkriegsdeutschland verurteilt, etliche zu vielen Jahren Zuchthaus. Weibliche Sexualität galt als unbedeutend, sie fiel in der Öffentlichkeit weniger auf, wurde auch juristisch nicht verfolgt. Das hätte der Autor stärker würdigen können, gerade für heutige, jüngere Leserinnen und Leser. Plastargias zitiert Dannecker mit denWorten: „Da, wo die Frauen am meisten entwertet werden, ist die Schwulenfeindlichkeit am größten.“ Hätte das nicht den Schulterschluss mit den Frauen nahegelegt? Doch der Autor geht dieser Frage nicht nach. Trotz der offenen Fragen ist sein Buch kurzweilig, informativ und eine spannende Lektüre über eine bislang wenig beleuchtete Aufbruchsära.

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Bodo Niendel

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Flucht und Asyl – ein Thema auch für die Aids-Hilfe

Foto: istock

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Ute Hiller, Geschäftsführerin der Berliner Aidshilfe, spricht über die problematische Situation am Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales und über den Zusammenhang zwischen Aids- und Flüchtlingshilfe.

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Leid der Menschen durch die katastrophalen Bedingungen in Deutschland verstärkt“, fügt Ute Hiller hinzu.

ier Monate später. Inzwischen ist es bitterkalt. Immer mehr Geflüchtete kommen in Berlin an. Die Berliner Aids-Hilfe weiß um Flucht und Asyl, denn seit ihren Anfängen in den 1980er Jahren betreut sie HIV-Positive mit Asylstatus. Abschiebung, Verhandlungen mit den Ämtern, medizinische Versorgung, Dolmetscher, Kontakte zu Kliniken und Ärzten – das sei Alltag für Ute Hiller wie für alle Beraterinnen und Berater.

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ngefähr dreimal so viele geflüchtete Menschen wie vorher betreut der Verein seit Sommer dieses Jahres. Die Arbeit hätte sich um vieles erweitert, erzählt Ute Hiller. Die Menschen bekämen keine Kostenübernahmen oder Wohnplätze mehr, kampieren irgendwo. Konnten die Experten der Aids-Hilfe noch in den Monaten zuvor Menschen relativ schnell durch den Bürokratiedschungel am LaGeSo lotsen, sei jetzt jeder Schritt zeitaufwendig und perso-

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nalintensiv. Trotzdem hat sich das Engagement gelohnt. Gemeinsam mit dem Lesben- und Schwulenverband der Stadt legte die Berliner Aids-Hilfe den Grundstein für eine medizinische Versorgung am LaGeSo. Inzwischen ist die Caritas vor Ort und koordiniert diese Arbeit. Sophie Freikamp

Foto: Aids-Hilfe

ugust 2015: Es ist drückend heiß, 40 Grad, pralle Sonne. Draußen vor dem Landesamt für Gesundheit und Soziales (LaGeSo) werden die Schlangen von wartenden Menschen immer länger, die Flüchtlinge sitzen in brütender Hitze auf der Wiese gegenüber. Kein Wasser, kein Schatten, stundenlanges Ausharren. Die Mitarbeiter des Amtes sind auf den Ansturm der Geflüchteten nicht vorbereitet und überfordert. Es gibt keine Notunterkünfte, keine Toiletten. Hilfeaufrufe von Privatpersonen gehen über die sozialen Netzwerke. Ute Hiller, Geschäftsführerin der Berliner Aids-Hilfe, sieht so einen Aufruf. Schon am nächsten Tag ist sie mit ihrem Verein vor Ort, bringt Wannen voller Hygieneartikel und rezeptfreie Medikamente. „Wir waren entsetzt, wie sichtbar die Strapazen der Flucht waren. Wir haben Kinder gesehen, die komplett ihre Zähne verloren hatten, Menschen mit einem starken Immundefekt oder chronischen Erkrankungen. Das muss nicht auf HIV hinweisen, sondern können auch andere schwere Krankheiten sein.“ Es sei entsetzlich, mit anschauen zu müssen, „wenn sich das

Ute Hiller ist seit Januar 2010 Geschäftsführerin der Berliner AidsHilfe.

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REPORTAGE: VERGESSENE FRAUEN

Zu früh geschieden, in der Rente bestraft

Das bundesdeutsche Rentenrecht benachteiligt geschiedene Ostfrauen. Dagegen stehen sie auf und zeigen „Gesicht“ in einer Wanderausstellung. ie waren in verschiedenen Berufen tätig, haben Kinder großgezogen, Familienarbeit geleistet, sich qualifiziert und sie haben darauf vertraut, dass ihre Lebensleistung sich später in der Rente niederschlägt. In der DDR galt nicht nur, dass Männer und Frauen gleichberechtigt sind, es galt auch, dass nur die letzten zwanzig Berufsjahre für die Berechnung der Rente herangezogen werden. Das war für fast alle Frauen ein unschätzbarer Vorteil. Denn in den Jahren, in denen die Kinder klein waren, arbeiteten viele dieser Frauen

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Rita S.

ganztags ins Berufsleben ein. So konnten sie in den letzten zwanzig Berufsjahren eine Rente erarbeiten, die ihnen auch im Alter eine ökonomische Unabhängigkeit ermöglichte.

Das war ein hohes Gut. In der DDR konnte sich eine Frau von ihrem Mann trennen, ohne befürchten zu müssen, danach in Armut zu fallen. Das Schei-

„Wenn Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht.“

Bertolt Brecht

Doro S.

Alwine W.

Fotos: Julia Nowak

Elisabeth L.

verkürzt oder blieben zu Hause, weil es in den 1950er und 1960er Jahren noch kaum Kitabetreuung gab. Die Frauen leisteten auch den allergrößten Teil der Familienarbeit: versorgten morgens die Kinder, gingen dann zur Arbeit, kümmerten sich nach der Arbeit um Familie und Haushalt. Waren die Kinder später dann aus dem Haus, stiegen viele dieser Frauen wieder

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11 dungsrecht der DDR kannte keinen Versorgungsausgleich, wie er in der BRD 1977 eingeführt worden war. Dieser Versorgungsausgleich zielte darauf, Frauen, die sich um Kinder und Haushalt gekümmert hatten, aber keiner bezahlten Erwerbstätigkeit nachgegangen waren, nach einer Scheidung Unterhaltsansprüche zu sichern und einen Ausgleich bei der Rente zu schaffen.

it dem Einigungsvertrag kam das bundesdeutsche Rentensystem. Für DDRFrauen, die noch zu DDR-Zeiten geschieden worden waren, entpuppte sich das als Katastrophe. Nun zählten nicht mehr nur die letzten zwanzig Berufsjahre zur Berechnung der Rente, stattdessen alle Jahre im erwerbsfähigen Alter. Pflegezeiten wurden aberkannt, das Rentenniveau vieler Frauen sank weit unter die tatsächlich erbrachte Lebensleistung. Auch konnten diese Frauen nicht nachträglich einen Versorgungsausgleich geltend machen, um von ihren geschiedenen Ehemännern – die mit ihrer Hilfe und oft auf ihre Kosten eine ungebrochene Berufs- und Karrierebiografie vorweisen konnten – zu bekommen, was ihnen zusteht.

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eit Beginn der 1990er Jahre streiten viele dieser Frauen für ihr Recht. Sie gründeten 1999 einen „Verein der in der DDR geschiedenen Frauen“, wandten sich an die Politik, protestierten, wurden immer wieder abgewiesen und vertröstet. Die folgenden Regierungen setzten auf eine „natürliche“ Lösung. Tatsächlich leben von den einst 800.000 betroffenen Frauen nur noch rund 300.000. Viele von ihnen sind arm, müssen aufstocken, können im Winter die Wohnung nicht ausreichend heizen, sparen am Essen und heulen manchmal, weil sie ihren Enkelkindern nichts zum Geburtstag schenken können.

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Das Verfassungsgericht bestätigte, dass die Ungleichbehandlung im Rentenrecht eine Diskriminierung ist, die beseitigt werden muss. Die Frauen haben sich inzwischen an die Vereinten Nationen gewandt, weil die Regierungen der Bundesrepublik mit ihrer Tatenlosigkeit gegen die von der BRD ratifizierte UN-Frauenkonvention CEDAW verstoßen. Im Jahr 2016 wird mit einer Entscheidung gerechnet. Die Frauen stehen auf für ihr Recht und zeigen mit einer Wanderausstellung Gesicht.

Kathrin Gerlof

Ausstellung „Frauen kämpfen für ihr Recht“ heißt eine Fotoausstellung, die mit Unterstützung der Fraktion DIE LINKE im Bundestag für einige Tage im Reichstagsgebäude zu sehen war und nun als Wanderausstellung tourt. Zu sehen sind 21 Fotoporträts und biografische Texte über Aktivistinnen, die gegen die Ungleichbehandlung im Rentenrecht kämpfen. Nähere Informatio-

nen, auch für die Ausleihe der Ausstellung, sind bei Marion Böker zu erhalten (www.boeker-consult.de), die als Beraterin für Menschenrechte und Genderfragen die Frauen in ihrem Anliegen unterstützt. Mehr Informationen unter: www.verein-ddr-geschiedenerfrauen.de

Elisabeth L.

1940 geboren, Kitaleiterin, 41 angerechnete Berufsjahre, zwei Kinder, 21 Ehejahre

„Nach der Wende haben wir gedacht: Die werden uns Frauen, die wir in der DDR verheiratet waren und geschieden wurden, schon gleichstellen mit denen, die in der Bundesrepublik gelebt haben. War aber nicht so. Es geht hier nicht um Mitleid, sondern um unser Recht.“

Rita S.

1941 geboren, Diplomfachlehrerin, 40 anerkannte Berufsjahre, zwei Kinder, 17 Ehejahre

„Wir Frauen sind bei dieser Rentenüberleitung niederträchtig behandelt worden. Ich bin empört über diese Nichtachtung unserer Arbeit.“

Doro S.

1940 geboren, Diplomwirtschaftsingenieurin, 41 anerkannte Berufsjahre, ein Kind, 19 Ehejahre

„Ich nage nicht am Hungertuch, aber die Hälfte meiner Rente geht für Miete drauf. Bekäme ich, was mir zusteht, müsste ich keine Angst vor der nächsten Mietsteigerung haben.“

Alwine W.

1937 geboren, Buchhalterin, 39 anerkannte Berufsjahre, drei Kinder, 23 Ehejahre

„Einmal in der Woche gehe ich einen Tag arbeiten, damit ich über die Runden komme. Bekäme ich ein wenig mehr Geld, müsste ich nicht mehr arbeiten gehen.“

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Musik auf Nähmaschinen KUNST & KULTUR

Foto: Künstlerin

nen-Netzwerk ff

Das Künstlerinnen-Netzwerk ƒƒ macht gemeinsam Kunst. Dabei darf gestritten, gelacht und experimentiert werden. ff ist eine Plattform für Vernetzung und Solidarität.

Temporär und sehr auf- und augenfällig – die Ausstellungsplakate der Künstlerinnen und Künstler aus dem Netzwerk ff

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lles begann im Jahr 2011, als eine kleine Gruppe von etablierten Künstlerinnen gemeinsam über die bestehenden Ungerechtigkeiten und die gendergebundene Ungleichverteilung in der Bildenden Kunst diskutierte. Wir beschlossen, dass wir unserem Unbehagen eine Öffentlichkeit geben und uns dafür solidarisch zusammenschließen wollten. Es ging vor allem um die Frage: Welche politischen und künstlerischen Strategien können von der Gruppe verfolgt werden, um gesellsc gesellschaftliche Veränderungen und ein Bew Bewusstsein für die bestehenden Missstän Missstände zu generieren?

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Schnell zzeichnete es sich ab, dass es nicht in eerster Linie um klassische Protestak Protestaktionen gehen sollte. Die Dichotomie der Opferrolle verweigernd, wollten w wir viel lieber selbstermächtigende Pa Parallelstrukturen und alternative Situ Situationen erschaffen, die die im Kunstmarkt vorherrschenden Strukturen ignorieren oder auch überschreiben sollten. Unser Netzwerk ƒƒ will eigene Werte formulieren, diese in reale Situationen umsetzen und Momente erzeugen, in denen wir die Realität leben, dir wir uns wirklich wünschen: also Temporäre Autonome Zonen, kurz T.A.Z. Die Kollaboration, das gemeinschaftliche Tun, wurde als eine zentrale Grundhaltung und als Gegenmodell zur klassischen Einzelkünstlerinnen und -künstlerposition angenommen. Musizieren auf Nähmaschinen, Symposien mit von uns verkörperten Charakteren aus feministischer Scifi-

Literatur, kollektive Ausstellungen unter dem Namen einer einzelnen fiktiven Künstlerin, Fuckparades und Göttinnenprozessionen, gemeinschaftliches Schlafen, erotische Träume, Kochen und Essen, Demonstrationen von verstorbenen Malerinnen, kollektive Zukunftsorakel – das sind seit 2012 nur einige der Aktionen von ƒƒ. In unseren Arbeitsprozessen wird diskutiert, gelacht, gestritten, geklaut, geschluckt und ausgespuckt. Das Resultat ist eine Arbeit, in der alle Autorinnen und Autoren sichtbar werden.

elegentliches Scheitern und das Widerspiegeln von patriarchalen Machtstrukturen innerhalb der Gruppe, aber auch das Erkennen beziehungsweise die Veränderung dessen, gehören ebenso zu unserer Entwicklung wie die Umdeutung unseres Erfolgsverständnisses. Es ist nicht einfach, als Gruppe oder Netzwerk zu funktionieren und den eigenen idealistischen Wertvorstellungen dabei gerecht zu werden. Dem klassischen Kunstverständnis zufolge arbeitet und steuert „der/die geniale KünstlerIn“ den gesamten Arbeitsprozess alleine. Zusammenarbeit braucht Übung und Vertrauen und ist ein bewusster Bruch mit der üblichen Ateliersituation. Nach einer Kommunikationskrise und einem teilweisen Zusammenbruch der Gruppe Ende 2014 wurde uns klar, dass wir vor allem an den inneren Strukturen arbeiten müssen, damit unsere idealistische Arbeitsweise einen guten Nährboden gewinnt, aus dem dann weitere Projekte organisch und kraftvoll herauswachsen können.

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Gleichstellung im Kulturbetrieb. Wunsch und Wirklichkeit. n unserer Gesellschaft wird Veränderung meist durch Problemlösung in externen oder materiellen Bereichen gesucht. Die feministische Arbeit aber muss die subtilen inneren und energetischen Prozesse miteinbeziehen. Denn genau an diesem Punkt besteht das größte Defizit in unserer Gesellschaft. Wir haben eine Vision!

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Künstlerinnenteam ff Magda Tothova, Janne Schäfer, Ulrika Segerberg, Mathilde ter Heijne

ff e.V. – Wer ist das?

° ein loser, feministisch organisierter Künstlerinnenverband ° gegründet 2011 ° die Mehrzahl der Mitglieder sind Frauen, alle Geschlechter und Menschen sind willkommen, Alter spielt keine Rolle, insgesamt beteiligten sich bislang rund 300 KünstlerInnen an den Projekten ° temporäre Ausstellungen und Aktionen fanden in Deutschland, Österreich, Polen und den USA statt ° es existiert kein fester Kunstort, getroffen wird sich in Ateliers, Cafés, in Ausstellungsräumen oder Online Mehr unter: http://fffffff.org

m Kultur- und Medienausschusses des Bundestags gab es im November 2015 eine Anhörung zu diesem Thema. Sie war ernüchternd. Die Publizistin Adrienne Goehler machte kein Hehl daraus, dass immer noch und immer wieder die meisten der öffentlich geförderten Kultureinrichtungen unter männlicher Leitung stehen. Beispiel: Das gerade neu besetzte Humboldtforum und die Volksbühne in Berlin. Sie zitierte die Journalistin Elke Schmitter: „Eine Quote nervt, ist lästig und antidemokratisch. Aber die Realistät nervt auch, ist lästig und antidemokratisch.“ Der Zusammenschluss Pro Quote Regie sprach von 42 Prozent Filmschulabsolventinnen, im öffentlichrechtlichen Fernsehen führen jedoch nur 11 Prozent Frauen Regie. Der Verein BücherFrauen sprach von 80 Prozent Frauen in ihrer Branche, in der Führungsebene finden sich nur 16 Prozent. Die Liste der Missverhältnisse ließe sich beliebig fortführen.

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a, die Quote nervt. Aber ohne verbindliche Regelungen und ohne spürbare Sanktionen wird es keine Veränderung geben. So das Fazit der Anhörung, so aber auch die Erfahrungen anderer Länder. In Schweden konnte der Frauenanteil im Bereich Regie dank gesetzlicher Vorgaben innerhalb von nur fünf Jahren von 17 auf 45 Prozent gesteigert werden. Darüber hinaus müssen die prekären Arbeitsverhältnisse im Kultur- und Kreativbereich beendet werden. Die Vergabe öffentlicher Mittel sollte nicht nur an die Gendergerechtigkeit gebunden werden, sondern auch an die Einhaltung von Tarifverträgen, an gemeinsame Vergütungsregeln oder Honorarempfehlungen. Das alles ginge. Man(n) muss es nur wollen. DIE LINKE will eine Gleichstellung im Kulturbetrieb.

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Sigrid Hupach ist kulturpolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE

MEHR ZUR ANHÖRUNG UNTER http://www.bundestag.de/ dokumente/textarchiv/2015/ kw46-pa-kultur-medien/394488

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„Analphabetin sein heißt nicht, keine intelligente Frau zu sein“ PORTRAIT: FEMINISTINNEN IN DER WELT

Foto: Frank Schwarz

Nafissatou Seck ist 77 Jahre alt, lebt im Senegal und kümmert sich um die Bildung von Mädchen und Frauen, damit sie ihr Leben in die eigenen Hände nehmen können.

Im Oktober 2015 war Nafissatou Seck zu Gast in der Fraktion DIE LINKE.

afissatou Seck strahlt Ruhe und Zufriedenheit aus in ihrem Gewand aus bunten Farben, ein passendes Tuch um den Kopf geschlungen. Geboren wurde sie 1938 in Saint-Louis, der ursprünglichen Hauptstadt Senegals. Sie besuchte ein von französischen Lehrerinnen und Lehrern geleitetes Mädchengymnasium, machte eine Ausbildung in angewandter Wirtschaft in Dakar und studierte Lehrwissenschaften. Nafissatou Seck erlebte während ihrer 30-jährigen Arbeit im öffentlichen Dienst hautnah, mit welchen Problemen Frauen auf dem Land im Alltag kämpften. Die Frauen durften das Budget in den Gemeinden zwar mit aufstellen, sie selbst aber hatten kein Geld. Sie durften Räte mit aufstellen, konnten selbst aber nicht lesen und schreiben. Im Senegal spielen Frauen in der Landwirtschaft eine große Rolle. Doch der Zugang zu Boden ist ihnen verwehrt.

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Männer sind die Familienchefs, sie treffen die Entscheidungen. All diese Erfahrungen brachten Nafissatou Seck dazu, bei Eintritt in den Ruhestand im Alter von 55 Jahren die Organisation ASAFODEB zu gründen, die „Senegalesischen Vereinigung zur Unterstützung von Ausbildung zu basisorientierter Entwicklung.“ Ein Wortungetüm für mehr Eigenständigkeit und ökonomische Unabhängigkeit von Frauen. „Der erste

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s gibt in vielen Dörfern eine isierte Frauenvereiniselbstorganisierte gung, deren Mitglieder oft auch gemeinsam sparen für unterschiedliche Vorhaben der beteiligten Frauen. Die Ausbilderinnen beziehen die Männer in die Weiterbildung der Frauen mit ein, vor allen die Maribus: die Chefs und religiösen Anführer in den Dörfern. „Wir sagen nicht, dass die Frauen den Männern ihren Platz streitig machen. Sondern, dass es auch für sie angenehmer wird, wenn ihre Frauen und Kinder mehr Bildung haben. Das bringt mehr Wohlstand und Ansehen ins Haus. Wir sprechen auch darüber, dass es für die Familie sinnvoll ist, wenn die Frauen nicht jedes Jahr ein Kind bekommen. Die Frauen können sich eher erholen und auch den schon vorhandenen Kindern geht es besser“, beschreibt Nafissatou Seck ihr behutsames Vorgehen bei den Männern. Darüber hinaus publiziert die Organisation Broschüren in lokalen Sprachen. Etwa zur Rolle als Mutter und Erzieherin, zu Gesundheitsfragen,

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schickt. Die erste Tochter hat inzwischen das Abitur bestanden.

eit zwei Jahren ist Nafissatou Seck nun endgültig in Ruhestand. Ehrenpräsidentin ist sie geblieben. Ihr Wissen hat sie weitergegeben an ihre Nachfolgerinnen. Sie nennt sie liebevoll ihre „erweiterte Kinderschar“. Als die ASAFODEB in diesen Herbsttagen nach Deutschland eingeladen wurde, sagten die jungen Frauen zu ihr: „Mama Nafi, du musst fahren und von unseren Projekten erzählen.“ Sie hat’s getan, auch bei einem Besuch in der Fraktion DIE LINKE. Am Ende sagte sie: „Solange ich am Leben bin, kämpfe ich für die Frauen, für ihren Zugang zu Land und zu Bildung.“

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Foto: Aktionsgemeinschaft Solidarische Welt

Schritt zu eigenen Rechten ist die Alphabetisierung. Frauen, die rechnen, schreiben und lesen können, reflektieren stärker ihre Situation“, lächelt Nafissatou Seck. „So lernen sie auch mehr über andere Themen, über den Anbau von Pflanzen, über die Verarbeitung. Sie werden selbstbewusster“. Seit 1995 führt ASAFODEB Alphabetisierungsildet Multiplikatorinkurse durch und bildet rauen wird Lesen, nen aus. Den Frauen chnen in ihrer LokalSchreiben und Rechnen t. Frauen in jedem sprache vermittelt. on 20 bis 60 Jahren. Alter sind dabei, von en sie schon früh die In der Regel mussten Schule abbrechen.. Außerdem findet in chulen der Unterricht senegalesischen Schulen auf Französisch statt, selbst dann, wenn die Kinder nur lokale Sprachen ie neun anerkannten beherrschen. Für die Nationalsprachen gab es eine Kodifizierung, das heißt, für sie wurde eine wickelt. Schriftsprache entwickelt.

Eine der jungen Frauen im Senegal Senegal, die über die Förderprojekte eigenes Land bearbeiten kann.

Schwangerschaft und Impfen, Texte über Agrartechnik, Bodenbeschaffenheit, gutes Saatgut, und wie Obst, Gemüse und Fisch haltbar gemacht werden können.

Die Erfolge sprechen für sich. Frauen werden Kleinunternehmerinnen oder Mitglieder im Gemeinderat. Längst hören sie nicht mehr nur zu, sondern vertreten ihre eigenen Interessen. „Früher sind die Töchter zu Hause geblieben. Das Problem ist immer noch nicht endgültig gelöst“, erklärt Nafissatou Seck, „aber immer mehr Kinder, vor allem Töchter, werden in die Schule geschickt, nachdem die Mütter den Wert von Bildung schätzen gelernt haben.“ Sie erzählt von einer Nomadin, die an einem Ausbildungsprogramm teilnahm. Oft werden Mädchen der Nomaden schon mit elf Jahren verheiratet. Diese Frau hatte sich bei ihren eigenen Kindern dagegen gewehrt und alle in die Schule ge-

Kim Weidenberg ist Referentin für Menschenrechte der Fraktion DIE LINKE

ASW & ASAFODEB Die deutsche Nichtregierungsorganisation Aktionsgemeinschaft Solidarische Welt (ASW) unterstützt ASAFODEB seit Langem. Als ASW feststellte, dass mit dem Betrag von zwei Bürojahresmieten für das Frauenbildungsprojekt auch ein Haus gebaut werden könnte, taten sie es einfach. Auf diese Weise kam ASAFODEB zu eigenen Büroräumen und mehr Unabhängigkeit. Mehr unter: http://www.aswnet.de

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Die Frauen im Blick

FRAUEN AUF DER FLUCHT

Flüchtlingsfrauen brauchen besondere Hilfe und besonderen Schutz. Das Sozial- und Familienministerium Brandenburg schaute genau hin und reicht den Frauen aus der Ferne die Hand.

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Schon auf und während der Flucht sind Frauen besonderen Bedingungen aus-

gesetzt. Sehr viele seien Opfer von Gewalt, von Vergewaltigungen, psychischer Gewalt und Menschenhandel, so der Deutsche Frauenrat. Übergriffe gibt es nicht nur von Fremden, sondern auch von den eigenen Begleitern. Viel zu häufig gehen solche Übergriffe in den Not- und Gemeinschaftsunterkünften weiter. Eine Studie des Fachberatungsdienstes Zuwanderung, Integration und Toleranz im Land Brandenburg (Fazit) belegt, dass Gewalt gegen Frauen in allen brandenburgischen Unterkünften existiert. Als besonders dramatisch beschreibt Fazit die Situation für Frauen im Umfeld religiös fundamentalistisch eingestellter Männer. Unter ihnen gibt es nicht nur häufiger

Gewalt, sondern auch gegenüber fremden Frauen in den Unterkünften.

n der rot-roten Landesregierung Brandenburg gibt es eine hohe Sensibilität für die besonderen Belange der Flüchtlingsfrauen. Sozial- und Frauenministerin Diana Golze (DIE LINKE) hat in den letzten Monaten zahlreiche Unterkünfte besucht und mit Haupt- und Ehrenamtlichen gesprochen. Nach diesen Begegnungen wurden eine Reihe von Maßnahmen beschlossen, die auf dem Landesintegrationskonzept aufbauen. Der Leitgedanke: Die Ankommenden sollen möglichst schnell handlungsfähig gemacht werden. Sie sollen nicht passiv warten

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Fotos: Julia Nowak

en Schätzungen nach werden im Jahr 2015 etwa 50.000 Flüchtlinge neu nach Brandenburg gekommen sein. Wie viele davon Frauen sein werden, ist nicht genau zu beziffern. Woher sie kommen, in welchen Zusammenhängen sie vor der Flucht lebten, wer sie sind, ist nicht so einfach herauszufinden. Sicher ist jedoch, dass geflüchtete Frauen in mindestens dreierlei Hinsicht einen besonderen Bedarf haben: im Schutz vor Gewalt, in der besonderen medizinischen Behandlung und im gleichberechtigten Zugang zu Integrationsangeboten.

Tajna kam aus Mazedonien nach Potsdam. Sie lebt mit ihrer Tochter Sara in der speziell für Frauen und Kinder eingerichteten Flüchtlingsunterkunft.

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Monika von der Lippe (l.) im Gespräch mit der Sozialarbeiterin Rosie Ellis. Sie betreut die Flüchtlingsfrauen und deren Kinder.

müssen, sondern aus Versorgungsabhängigkeiten herauskommen und selbstständig werden. Um das zu beschleunigen, wurde im Sozialministerium eine Koordinierungsstelle eingerichtet. Landesweit wird in Willkommensinitiativen investiert, ebenso in die Fortbildung der Ehrenamtlichen. Ganz wichtig sind Sprachkurse, sie stehen ganz oben auf der Prioritätenliste. Auch weil die Integrationskurse des Bundes längst nicht für alle zugänglich und schon gar nicht bezahlbar sind. Viele Flüchtlinge fallen hier durch das Raster, weil die Unterrichtskosten auf das ohnehin schmale Taschengeld angerechnet werden. Brandenburg hingegen will Mittel bereitstellen, um jeder und jedem Geflüchteten einen Sprachkurs anzubieten. Es wird neue Stellen zur Anerkennung der Bildungs- und Berufsabschlüsse geben, und schon jetzt gibt es an allen brandenburgischen Hochschulen Beratungsstellen für studierwillige Flüchtlinge. Es wird neue Personalstellen für Migrationssozialarbeit geben und die Gesundheitskarte für Flüchtlinge wird eingeführt. Zur Gewaltprävention in Unterkünften entsteht ein mobiles Team, das vor Ort

berät und fortbildet. „Gewaltschutz für Frauen in Gemeinschaftsunterkünften“ wurde hier als konkreter Baustein festgeschrieben.

ie Integrationsbeauftragte und die Landesgleichstellungsbeauftragte haben eine gemeinsame Arbeitsgruppe eingerichtet, um so die Belange der Flüchtlingsfrauen auf lange Sicht im Blick zu behalten. Neben dem wirksamen Schutz vor Gewalt zählt die Arbeitsmarktintegration dazu. Migrantinnen dürfen nicht massenhaft in prekäre Arbeitsverhältnisse geraten. Benötigt werden Alphabetisierungskurse für Frauen, und besonders Schutzbedürftige müssen über ihre Rechte informiert werden oder über die Existenz von Gewaltschutzeinrichtungen. Es braucht vereinfachte Verfahren für Flüchtlingsfrauen, die in Frauenhäusern eines anderen Landkreises Schutz suchen. Eine der großen Herausforderungen ist auch das Leben in einer eigenen Wohnung. Flüchtlingsfrauen stehen dann nicht selten allein da, sind möglicherweise aufgrund fehlender Sprachkenntnisse sogar isoliert. Für die Kinder werden Kita-

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betreuungsplätze zur Verfügung gestellt, zuvor aber müssen sie geimpft werden und ein bestimmtes Alter erreicht haben.

Die rot-rote Landesregierung in Brandenburg hat Gutes auf den Weg gebracht. Sie wird weiter Druck auf den Bund ausüben, sowohl in der Außenund Flüchtlingspolitik als auch bei Regelungen zum Asylverfahren und der Anerkennung geschlechtsspezifischer Fluchtgründe. Die neuen Pläne der Bundesregierung lassen jedoch eher weitere Nachteile für Frauen erahnen. Sie werden besonders betroffen sein, wenn der Familiennachzug begrenzt oder ausgesetzt wird oder selbst Schwangere künftig ohne Vorwarnung auch nachts abgeschoben werden können.

Monika von der Lippe ist Landesgleichstellungsbeauftragte in Brandenburg. Sie ist bundesweit die erste LINKE in dieser Funktion und seit September 2015 im Amt.

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Sag mir, wo die Frauen sind FRAUEN AUF DER FLUCHT

Das UNO-Flüchtlingswerk schätzt, von den über 60 Millionen Flüchtlingen weltweit ist jede zweite eine Frau. Doch nur ein Bruchteil von ihnen erreicht Europa. Wo sind die anderen?

und die Hälfte aller Flüchtlinge weltweit ist weiblich. In Europa kommen die meisten von ihnen aber gar nicht an. Es sind vor allem Männer und halbwüchsige Jungen, die in der Europäischen Union einen Asylantrag stellen. Während im Jahr 2014 laut Statistischem Amt der Europäischen Union bei den unter 14-jährigen Asylsuchenden rund die Hälfte männlich war, lag der Anteil bei den 14- bis 17-Jährigen und den 18- bis 34-Jährigen mit 75 Prozent schon deutlich höher.

Was ist für weibliche Flüchtlinge anders? Zunächst einmal fliehen sie nicht nur vor Krieg, politischer Verfolgung oder rassistischer Diskriminierung, sie

fliehen auch vor sexueller Ausbeutung und geschlechtsspezifischer Gewalt oder Unterdrückung. Überwiegend aus sehr patriarchal geprägten Kulturkreisen stammend, sind sie in ihren Herkunftsländern stark in die sozialen Strukturen eingebunden. Es kostet sie viel Mut, sich daraus zu lösen. Ihre Kinder müssen sie entweder zurücklassen oder mit ihnen zusammen fliehen, wissend, dass sie allein reisend mit Kindern in vielen Situationen schutzlos sind und leicht zu Opfern sexueller

Foto: istock © IdealPhoto30

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Von den unbegleiteten Minderjährigen waren sogar rund 80 Prozent der Asylsuchenden männlich. Stärker vertreten sind asylsuchende Frauen nur in der Gruppe der über 65-Jährigen. Aber selbst dort machten sie im letzten Jahr weniger als ein Prozent aller Asylanträge aus.

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11 Übergriffe werden können. Häufig dürfen sie ohne Ehemann ja nicht einmal Pässe für sich oder ihre Kinder beantragen. Ohne eigenes Einkommen und mit nur spärlichen Ersparnissen fehlt es den Frauen in der Regel auch an finanziellen Mitteln, um Schleuser, Unterkünfte oder Transportmittel zu bezahlen und sich auf der Flucht zu versorgen. Die Gemeinden und Familien sammeln meistens nur Geld für die Flucht junger Männer. Von diesen erhofft man sich, dass sie nach Ankunft in Europa Geld nach Hause schicken.

inmal auf der Flucht, bleiben Frauen darum als Binnenflüchtlinge entweder in Lagern nahe ihrer Herkunftsregion oder laufen Gefahr, sich als Opfer von Menschenhandel die Flucht mit ihrem Körper erkaufen zu müssen. Viele Frauen haben weder schwimmen noch eine Fremdsprache gelernt. Allein auf sich gestellt müssen sie sich und ihre Kinder monate- oder jahrelang in behelfsmäßigen Lagern und auf illegalen Fluchtrouten durchbringen. Eine Beschränkung des Familiennachzugs, wie er von den Unionsparteien gerade für syrische Flüchtlinge diskutiert wird, würde diesen Frauen und Kindern die einzige Möglichkeit nehmen, legal nach Europa zu gelangen. Für sie bliebe der illegale und lebensgefährliche Weg über das Mittelmeer. Faktisch funktioniert der Familiennachzug bereits jetzt schon nicht. In der Türkei oder im Libanon müssen Familien monatelang, teilweise über ein Jahr lang auf Termine zur ersten Vorsprache im Visumverfahren warten.

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chaffen Frauen und Kinder es bis nach Europa, sehen sie sich häufig weiteren Belastungen ausgesetzt. In den Unterkünften gibt es kaum Privatsphäre und eine nur unzureichende Betreuung für Opfer körperlicher oder seelischer Gewalt. Die Lager

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sind darüber hinaus – in Bezug auf Bewohner und Personal – meist männerdominiert. Alleinstehende Frauen laufen Gefahr, erneut Opfer von Übergriffen zu werden. Viele geflohene Frauen sind es aus ihrem Kulturkreis heraus nicht gewohnt, aktiv Hilfe einzufordern, sie leiden im Stillen. An erster Stelle sollte daher die sorgfältige Bedürfnisanalyse weiblicher Flüchtlingen stehen. Vor Ort muss es besonders um den Schutz der Privatsphäre sowie um sensible Beratungs- und Integrationsstrukturen gehen. Sinnvolle Ansätze wären auch Unterbringungsmöglichkeiten nur für Frauen und Kinder und die Durchsetzung von Gewaltschutz- und entsprechenden Kontrollmechanismen in den Einrichtungen. Nicht vergessen werden

dürfen die Frauen, die noch in den Herkunftsländern oder unterwegs auf der Flucht sind. Hier gilt: Keine Einschränkung des Familiennachzugs, legale Einreisewege und humanitäre Hilfe für die vielen Frauen und Kinder, die als Binnenflüchtlinge im Elend leben und weder vor noch zurück können. Ulla Jelpke ist innenpolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE

Flucht von Frauen ist anders

° 50 Prozent der Flüchtlinge weltweit sind Frauen ° Laut Terre des Femmes sind die Mehrheit der Menschen, die aufgrund kriegerischer Auseinandersetzungen vertrieben werden, Frauen ° Frauen bleiben hinter den Männern zurück: entweder in den Krisenregionen selbst oder in Flüchtlingslagern angrenzender Länder ° Die meisten Frauen harren in sogenannten Informal Camps aus: in Abbruchhäusern oder selbstgezimmerten Hütten in der Türkei, im Libanon, in Jordanien, Kenia, Pakistan

GRÜNDE, WARUM FRAUEN ZURÜCKBLEIBEN:

° Armut. 70 Prozent der unter dem Existenzminimum lebenden Weltbevölkerung sind Frauen

° An Normen und patriarchale Strukturen gebunden, ist es für viele Frauen undenkbar, ohne Begleitung des Ehemannes oder Bruders loszuziehen ° Frauen tragen Verantwortung für die Kinder und für die Alten. Das schränkt ihre Mobilität ein

° Unterschätzt wird die sexualisierte Gewalt. Frauen fliehen vor Genitalverstümmlung, Zwangsheirat, Ehrenmord. Diese frauenspezifischen Fluchtgründe sind nicht in den Asylgesetzen verankert

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Prostitution und sexuelle Selbstbestimmung

Foto: Nicole-Babett Heroven

LOTTA AKTUELL

November 2015, der Bundesverband Sexuelle Dienstleistungen protestiert vor dem Parlament in Berlin.

Die Bundesregierung steht kurz vor einer Neuformulierung des Prostitutionsgesetzes. Nicht weniger als zwei Jahre wurde darüber diskutiert. Umso verwunderlicher ist es, dass neben einigen lautstarken Gegnerinnen und Gegnern von käuflichem Sex und Organisationen von Sexarbeiterinnen und -arbeitern die gesellschaftliche Debatte darüber nur verhältnismäßig kleine Kreise zieht. Dabei steht vieles auf dem Spiel. inter der jetzigen Ausgestaltung des Gesetzes steht eine sehr zweifelhafte Moralvorstellung, die die sexuelle Selbstbestimmung von Frauen – sie sind die immer noch größte Gruppe der in der Sexarbeit Tätigen – schlicht nicht anerkennt. Das Gesetz bildet damit nicht nur einen direkten Angriff auf Sexarbeiterinnen*, sondern setzt Maßstäbe, was weibliche Sexualität sein und wo sie stattfinden darf – gegen Bezahlung oder ohne.

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Ein genauer Blick auf den inneren Widerspruch des Gesetzes macht das deutlich: Schon die Bezeichnung „Prostituiertenschutzgesetz“ ist schlichtweg falsch. Prostituierte,

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als noch immer verbreitetes Synonym für Sexarbeiterinnen*, haben sich bewusst für diese Arbeit entschieden. Begründet wurde das Gesetz jedoch ursprünglich mit der Hilfe für Opfer von Menschenhandel und Zwangsprostitution – also gerade nicht für Prostituierte. Weil sexuelle Selbstbestimmung für die Regierungskoalitionäre jedoch starke Grenzen hat, können sie nicht recht zwischen beiden Gruppen unterscheiden. So stehen jetzt am Ende völlig unsinnige Regelungen, die Zwangsprostituierten nicht helfen, aber zahlreiche Sexarbeiterinnen* in Not bringen werden. Das zeigt sich beispielhaft an dem wohl zentralsten Bestandteil des neuen Gesetzes: dem Anmeldegebot.

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11 orgesehen ist, dass jede Person, die an einem Ort sexuelle Dienstleistungen anbieten will, sich bei einer Behörde anmeldet. Nach zwei Jahren oder mit jedem Ortswechsel wiederholt sich diese Pflichtanmeldung. Bei der Behörde werden die vollständigen persönlichen Daten inklusive gültiger Meldeanschrift hinterlegt, sodass auch die Möglichkeit einer Bescheinigung, die nur ein Pseudonym enthält, keinen Schutz bietet. Für viele Sexarbeiterinnen* stellt das ein großes Problem dar. Vorurteile und Verurteilungen sind nach wie vor verbreitet, die Stigmatisierung ist enorm. Weder ein Sorgerechtsstreit, ein Bewerbungsgespräch noch der Umgang im Tennisclub werden höchstwahrscheinlich durch ein solches Outing angenehmer. Der Schutz der sensiblen Daten, zu denen aufgrund der vorgesehenen Meldung bei jedem Ortswechsel auch ganze Bewegungsprofile zählen, ist aber mitnichten gesichert. Die Folge wird sein, dass sich zahlreiche Prostituierte erst gar nicht melden und so in die Illegalität gedrängt werden. Sie werden erpressbar und können nur unter Selbstanklage im Beruf erfahrene Gewalt anzeigen.

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Dieser Verlust von Sicherheit für Sexarbeiterinnen* wird nicht mit einem verbesserten Schutz von Zwangsprostituierten erkauft. Das Argument der Regierung, Freier und Behörden könnten mittels der Aliasbescheinigungen Zwangsprostitution herausfiltern und zur Anzeige bringen, entspricht nicht der Realität. Vielmehr zeigen Erfahrungen aus Wien, dass Opfer von Menschenhandel meist im Besitz einer Anmeldebescheinigung waren.

tatt Kontrolle und Schikane brauchen Sexarbeiterinnen*, aber auch Zwangsprostituierte, belastbare Rechte. Opfer von Menschenhandel können besser erreicht werden, wenn die derzeit bestehende Bindung ihres Bleiberechts in Deutschland an ihre Aussagebereitschaft aufgehoben werden würde. Bislang bekommen Menschenhandelsopfer nur dann eine vorübergehende Aufenthaltserlaubnis, wenn ihre Aussage im strafrechtlichen Verfahren benötigt wird. Das versetzt sie gleich aus zwei Richtungen in Unsicherheit: vonseiten der Kriminellen und jener der Behörden. Nur wenn sie ein bedingungsloses Bleiberecht garantiert bekommen, verlieren sie die Angst vor Beratungsstellen und Behörden.

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enschen in der Sexarbeit hingegen profitieren etwa von Bildungsangeboten, Beratungen, Bleiberechtsregelungen oder Antidiskriminierungsmaßnahmen. Nur wenn sie Rechte haben und diese auch kennen, keine Angst vor Stigmatisierung haben müssen, werden sie sich wirksam gegen Druck und Gewalt in ihrer

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WAS SAGEN DIE SEXARBEITERINNEN? Der Bundesverband Sexuelle Dienstleistungen e. V. (BSD) ist der Berufsverband für bodellartige Betriebe aller Art und für SexarbeiterInnen in Deutschland. Seit 2002 vertritt er die Interessen der Mitglieder. Der Verband lehnt den Gesetzesentwurf ab. Gründe: Das Gesetz wird „dem Schutz der Prostituierten“ nicht gerecht. Es ist ein rigides, bürokratisches und polizeiliches Kontrollgesetz. Es geht weit über die Prostitution und ihre Akteure hinaus. Es greift in das Persönlichkeitsrecht, den Datenschutz, die Grundrechte, Arbeitsrechte und in das Gewerberecht ein. Stigmatisierung, Kriminalisierung und Diskriminierung der SexarbeiterInnen werden mit dem Gesetz verstärkt. Forderung: Wir fordern Respekt, Rechte, Rechtssicherheit für alle Beteiligten in der Prostitutionbranche, deren Empowerment, Professionalisierung und einen offenen Umgang mit Sexualität, die dem Anspruch einer toleranten, freiheitlichen und rechtsstaatlichen Gesellschaft entspricht. Der BSD erarbeitete einen eigenen Gesetzentwurf. Mehr unter: www.bsd-ev.info/publikationen/index.php

Beschäftigung wehren können. Und nur Frauen, die gelernt haben, mit ihrer Sexualität souverän umzugehen, dabei nicht durch die Gesellschaft beschränkt und bevormundet werden, können ihre Geschäftsbeziehungen in der Sexarbeit selbstbewusst gestalten. Eine Stärkung des sexuellen Selbstbestimmungsrechts wäre ein „Prostituiertenschutzgesetz“, das diesen Namen auch wirklich verdient. Cornelia Möhring ist stellvertretende Vorsitzende und frauenpolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE

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September 2015, junge Frauen wollen selbst entscheiden. Mit Witz begegnen sie den selbsternannten Lebensschützern.

as Recht auf Schwangerschaftsabbruch bei ungewollten Schwangerschaften gehört zu den großen Forderungen der Frauenbewegung des letzten Jahrhunderts. Noch immer ist sie nicht eingelöst, nicht im Sinne der Frauen. Nach derzeitiger Rechtslage ist ein Schwangerschaftsabbruch grundsätzlich für alle Beteiligten – für Schwangere, Ärztinnen und Ärzte, Anstifter und Helfer – nach Paragraf 218 Strafgesetzbuch (StGB) rechtswidrig, unter bestimmten Bedingungen aber straffrei: wenn er innerhalb von zwölf Wochen nach Empfängnis durch einen Arzt vorgenommen wird, die Schwangere den Abbruch verlangt und dem Arzt eine Bescheinigung einer anerkannten Beratungsstelle über eine mindestens drei Tage zurückliegende Schwanger-

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schaftskonfliktberatung nach Paragraf 219 StGB nachgewiesen hat. Die Werbung für den Abbruch einer Schwangerschaft und das „Inverkehrbringen“ von Mitteln zum verbotenen Schwangerschaftsabbruch sind nach Paragraf 219 a und 219 b ebenfalls strafbar. Dies wird mit einer Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit einer Geldstrafe geahndet. Frauen und Mädchen, die ungewollt schwanger werden, kommen somit grundsätzlich mit dem Strafgesetzbuch in Kollision. Ärztinnen und Ärzte, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen, wie auch Beratungsstellenmitarbeiterinnen und -mitarbeiter müssen immer wieder mit Anzeigen selbsternannter „Lebensschützer* innen“ rechnen.

s stellt sich prinzipiell die Frage, warum ungewollt Schwangere überhaupt in eine Pflichtberatung müssen. Beratung setzt immer auch Freiwilligkeit voraus. Warum dürfen sie nicht eigenverantwortlich entscheiden? Sexualität gehört zu unserem Leben, und sie ist nicht mehr ausschließlich auf Nachwuchszeugung ausgerichtet. Eine altersgerechte und kulturell sensible Sexualerziehung, kostenfreie, leicht zugängliche Verhütungsmittel wären deshalb wichtige Voraussetzungen, um ungewollte Schwangerschaften zu verhindern. Doch selbst dann sind sie leider nie ganz auszuschließen. Wir brauchen endlich eine den Menschenund insbesondere den Frauenrechten entsprechende Gesetzgebung für den Schwangerschaftsabbruch. Das Straf-

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Fotos: Uwe Steinert

§ 218: Frauen wollen und brauchen ihn nicht!


11 recht wird dafür nicht benötigt. Zumal die Entscheidung für Kinder eine höchst private Angelegenheit ist. Je besser die gesellschaftlichen Bedingungen für ein Leben mit Kindern sind, desto mehr Frauen und Paare werden sich dafür entscheiden. Skandinavien beweist es, Frankreich ebenso, und die Frauen, die in der DDR sozialisiert wurden, werden sich an ihre Rechte und das Leben ohne Paragraf 218 erinnern.

Ich arbeite als Psychologin in einer Schwangerschaftskonfliktberatungsstelle in Berlin. Dort erfahre ich täglich, mit welchen Problemen Frauen und Mädchen, die ungewollt schwanger geworden sind, sich bei der Entscheidungsfindung auseinandersetzen und welche Rolle das veränderte gesellschaftliche Klima innerhalb dieser Auseinandersetzung spielt. Die zunächst nur in Nord- und Südamerika agierenden radikalen Gegnerinnen und Gegner des Schwangerschaftsabbruchs der weltweit organisierten „Pro-Life-Bewegung“ gewannen in den

letzten Jahren immer stärkeren Einfluss in Europa und Deutschland. Die Akzeptanz verschiedenster Formen des Zusammenlebens, unterschiedlicher sexueller Orientierung sowie individueller Lebensentwürfe hat abgenommen. Es gibt ein Aufleben traditionell-biologistischer Rollenerwartungen an Männer und Frauen, eine Zunahme von Homophobie und Sexismus, aber auch eine Stigmatisierung und Kriminalisierung von Frauen im Fall eines Schwangerschaftsabbruchs. Die von selbsternannten Lebensschützern organisierten „Märsche für das Leben“ haben in Berlin jährlich größeren Zuspruch. Schon lange agieren sie keineswegs mehr nur am Rand der Gesellschaft, sondern sie sind mitten unter uns, unterhalten eigene Beratungsstellen, haben Jurist*innenvereinigungen und beschäftigen „Ärzte für das Leben“.

egen diese Entwicklung gründete sich am 1. August 2013 das „Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung“, dem inzwi-

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schen 30 Organisationen, Vereine und Vereinigungen und über eintausend Einzelpersonen angehören. Ziel ist es, auch Gewerkschaften, Wohlfahrtsverbände und andere große und bundesweit agierende Organisationen für dieses Bündnis zu gewinnen. In diesem Jahr organisierten wir am 19. September einen Aktionstag gegen den „Marsch für das Leben“ in Berlin. Er begann am Brandenburger Tor, der fröhlich bunte Demonstrationszug zog zum Gendarmenmarkt und bei der Abschlusskundgebung dort ging es vor allem um internationale Erfahrungen mit dem Schwangerschaftsabbruch. Es gab doppelt so viele TeilnehmerInnen wie im Jahr zuvor. Wir werden nicht aufhören, gemeinsam auf die Straße zu gehen. Für unser Recht auf sexuelle Selbstbestimmung, für die Streichung des Paragrafen 218. Hier und weltweit. Ines P. Scheibe

Mehr unter: www.sexuelleselbstbestimmung.de/buendnis/

Fotos: Uwe Steinert

Ines P. Scheibe ist Psychologin, arbeitet in der Schwangerschafts(konflikt)beratung des Humanistischen Verbandes in Berlin und gehört dem Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung an.

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Foto: Frank Schwarz

DIES & DAS

Refugees welcome

Helferinnen und Helfer eingeladen

nde November trafen sich auf Einladung der Fraktion DIE LINKE 400 Frauen und Männer, Kommunalpolitikerinnen und -politiker zu einer Flüchtlingskonferenz im Bundestag.

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Studie

Das funktioniert privat und beruflich besser in Großkonzernen als in Kleinunternehmen. Das Karlsruher Institut für Technologie wies das in einer im November veröffentlichten Studie nach. Demnach outeten sich 72 Prozent der Befragten in Unternehmen mit mehr als 50.000 Mitarbeitern, in Betrieben mit unter 100 Angestellten dagegen nur 62 Prozent. Im Vergleich zu vor drei Jahren erleben LGBT-Arbeitskräfte (LGBT steht für Lesbian, Gay, Bisexual und Transgender) tendenziell auch weniger Diskriminierung. Dennoch sprach jede/r Dritte von konkreten

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Erfahrungen mit Mobbing und Belästigung, und ein Viertel aller Befragten sahen ihre Karrierechancen aufgrund ihrer sexuellen Identität „negativ“ oder „eher negativ“. Besonders betroffen sind Transpersonen. Foto: istock © Christine Glade

Outing im Büro

Dabei waren auch Lena Mevenkamp (l.) und Alina Weber, Flüchtlingshelferinnen aus Halle und Leipzig. Sie waren mit sieben Hilfskonvois an den Grenzen des Balkans unterwegs. Was sie erlebten, war unfassbare Not. Gefragt waren so einfache Dinge wie Wasser, warme Kleidung, warmes Essen, Medikamente. Die Botschaft der beiden Frauen: „Diese Menschen haben jede und jeder für sich gute Gründe, nach Europa zu kommen.“ Das ehrenamtliche Engagement sei keine Lösung, weder politisch noch humanitär. Ihre Bitte: „Stehen wir dafür ein, dass nicht jegliche Menschlichkeit aus der Politik und aus den europäischen Strukturen verschwindet.“

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Angefragt Ang nge ng gef efr fra rag agt

Rente reicht nur n mit Minijob

Abgelehnt!

Mutterschutz auf Eis gelegt

Besserer und einheitlicher Mutterschutz in der Europäischen Union – Fehlanzeige.

Foto: istock © pictafolio

Sabine Zimmermann, stellvertretende Vorsitzende und arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE, erfragte diese Fakten bei der Bundesregierung. Der „überwiegende Teil der älteren Menschen“, so Sabine Zimmermann, „dürfte nicht aus Spaß und Zeitvertreib weiterarbeiten“, sondern „um der Armut zu entfliehen“.

Immer mehr alte Menschen sind si auf ang staatliche Grundsicherung angewiesen. Die Zahl derer,r,r die jenseits de des Rentenbrauch stieg alters diese Sozialhilfe brauchen, von 257.734 im Jahr 2003 auf mehr als eine halbe Million Ende 2014. Ebenso Min rasant wuchs die Zahl von Minijobbern i S i l L Bundesagentur B d im Seniorenalter. Laut für Arbeit waren im Jahr 2003 bundesweit knapp 533.000 über 65-Jährige im Minijob, im März 2015 zählte man schon 904.000.

Was sah der Vorschlag vor? ° Mutterschaftsurlaub auf mindestens 18 Wochen verlängern, davon 6 Wochen obligatorisch nach der Entbindung, der Rest ist frei wählbar ° Zusätzlicher Mutterschaftsurlaub nach Frühgeburt, Krankenhausaufenthalt, bei Geburt eines Kindes mit Behinderungen oder bei Mehrlingsgeburten ° Einkommensersatz mindestens in Höhe der Bezüge bei Krankheit

Die Initiative scheiterte in der Bundesrepublik am Widerstand der Arbeitgeber und der Regierung. Schade, denn die Bundesrepublik liegt mit Malta auf dem letzten Platz beim gesetzlichen Mutterschutz, bei der Geburtenrate sogar auf dem letzten Platz in Europa.

Impressum

Herausgeberin: Fraktion DIE LINKE. im Bundestag Platz der Republik 1, 11011 Berlin Telefon: 030 / 22 75 11 70 Fax: 030 / 22 75 61 28 fraktion@linksfraktion.de V. i. S. d. P: Sahra Wagenknecht, MdB Dietmar Bartsch, MdB (Anschrift wie Herausgeberin)

Leitung: Cornelia Möhring Redaktion: Gisela Zimmer, Jana Hoffmann, Sophie Freikamp Titelfoto: Uwe Steinert Satz und Gestaltung: Zitrusblau GmbH, Berlin, www.zitrusblau.de Druck: MediaService GmbH, Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlin Redaktionsschluss: 30.11. 2015

Foto: istock © PIKSEL

11 Filmtipp

„Ohne Rast. Ohne Eile.“

So heißt ein neuer Dokumentarfilm der Kameradistinnen. Er erzählt von Bäuerinnen und Bauern Tausende Kilometer weit weg von Europa. Es geht um Land, um Boden, um Heimat, um ein selbstbestimmtes Leben der Ureinwohnerfamilien im Norden Argentiniens. Die Schwachen treffen auf die Starken – auf den Staat und die Großkonzerne. Und sie gewinnen – ganz „Ohne Rast. Ohne Eile“. Der Film verzichtet auf Kommentare, die Kamera begleitet und beobachtet die Menschen: bei der Arbeit, auf ihren Feldern und Märkten, in der ersten eigenen Universität, in den Schulen für ihre Kinder. Es ist der Stolz, die Würde, ihre Gesichter, und die Geschichten, die berühren. Ein stiller Film, der staunen und manchmal weinen lässt. „Ohne Rast. Ohne Eile.“ wird im Schwarmverleih vertrieben und in Kinos gezeigt, die von Menschen vor Ort empfohlen wurden. Sehr sehenswert.

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