Dezember 2016
FRAUEN. LEBEN. LINKS!
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Sexismus die Rote Karte zeigen
Worüber reden wir, wenn wir von Sexismus reden? Von dummen Sprüchen, ungleicher Bezahlung, Attacken im Netz, Gewalt im Alltag und Armut im Alter. Unser Thema! Lotta: Frauen am Pranger. Das rassistische »Umgangsverbot« der NS-Zeit S. 26
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Liebe Leserin, lieber Leser, as Jahr 2016 war ein Jahr, in dem uns viel bewegt und in dem sich frauenpolitisch viel getan hat. Nach den Übergriffen auf Frauen in Köln und anderen Städten in der Silvesternacht wurden Frauenrechte leider umgehend dazu genutzt, rassistische Vorurteile zu schüren und menschenrechtlich umstrittene Asylrechtsverschärfungen festzuschreiben. Aber es gab auch eine Frauenbewegung, die hörund sichtbar widersprach und das Thema sexualisierte Gewalt gegen Frauen auf die Tagesordnung setzte. Ihr Einsatz hat eine nicht zu unterschätzende Rolle dabei gespielt, dass wir im Juli 2016 die gesetzliche Verankerung des Grundsatzes »Nein heißt Nein« einstimmig im Bundestag verabschieden konnten. Dieser Erfolg ist gut und wichtig, aber er reicht noch nicht.
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s war auch ein Jahr, in dem wir nach zahlreichen Vorfällen über sexistische Anfeindungen im Netz wie auch im richtigen Leben diskutiert haben und ja, auch immer und immer wieder darüber, was überhaupt Sexismus heißt. Als Bundestagsfraktion haben wir einen Antrag für einen bundesweiten Aktionsplan gegen Sexismus eingebracht, um diese Diskussion aufrechtzuerhalten und mitzugestalten. Denn obwohl die Debatte häufig an einzelnen Fällen entbrennt, handelt es sich nicht um Einzelfälle. Es ist deshalb notwendig, die dahinterliegenden Strukturen offenzulegen und Sexismus in all seinen Erscheinungsformen die Rote Karte zu zeigen – ob als Diskriminierung im Arbeitsleben, in sexistischer Werbung oder als sexualisierte Gewalt.
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Cornelia Möhring ist stellvertretende Fraktionsvorsitzende und leitet den Bereich Feministische Politik in der Fraktion DIE LINKE
nseren Antrag haben wir von Anfang an als eine Einladung an die Verbände verstanden, sich mit uns und anderen noch besser zu vernetzen, auszutauschen und gemeinsame Schritte zu überlegen, um dem Sexismus in unserer Gesellschaft und seinen vielfältigen Ursachen und Folgen wirksam zu begegnen. Auch diese Ausgabe der Lotta soll dazu beitragen. So versammelt sie Stimmen von Frauen aus Politik und Verbänden, Hintergründe zu aktuellen Entwicklungen und Debatten, ein leidenschaftliches Plädoyer für eine solidarische Rentenversicherung und Informationen zu Präventionsmaßnahmen und Schutz vor Gewalt bis hin zu sexueller Selbstbestimmung und reproduktiven Rechten.
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ir haben ein kämpferisches und erfolgreiches Jahr 2016 hinter uns. So wie sich die gesellschaftliche Dynamik um uns herum darstellt, hoffe ich, dass auch das Jahr 2017 ein gutes Jahr für Frauen wird. Mit der Kraft, die sich hier in der Lotta sammelt, bin ich sehr zuversichtlich.
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Ich wünsche Ihnen viel Spaß beim Lesen und Kraftschöpfen. Ihre
Cornelia Möhring
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Foto: Uwe Steinert
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EDITORIAL
Foto: Uwe Steinert
Inhaltsverzeichnis
14 Auf der Kippe
Kluger Feminismus
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Editorial Rote Karte gegen Sexismus – immer und überall!
Essay Worüber reden wir, wenn wir von Sexismus reden?
Antrag Ein bundesweiter Aktionsplan gegen Sexismus
Historischer Beschluss
Vor 40 Jahren gründeten sich erste Frauenhäuser. Was fehlt, ist eine bundeseinheitliche Finanzierung und der Rechtsanspruch auf Schutz vor Gewalt.
Wie komplex ist Sexismus? Von Verschränkungen, Fallstricken und Formen des Sexismus im Alltag.
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Foto: Karsten Artus
Foto: ullstein
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Anmache Sexismus im Netz und in der Politik
Stalking Kein Kavaliersdelikt. Rechte und Schutz von Stalkingopfern
Jubiläum 40 Jahre Frauenhäuser in der Bundesrepublik
Foto: Jörg Farys/die projektoren
DEZEMBER 2016
Noch nie gab es über alle Fraktionen ein einstimmiges JA zum NEIN. Der neue Wert im Sexualstrafrecht.
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Vertrauen Beratung und Begleitung für von Gewalt betroffene Frauen
Prävention Petzen erwünscht. Ein Präventionsprojekt in Kiel Einstimmig Nein heißt Nein. Wie weiter nach der historischen Bundestagsentscheidung?
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... auf keinem Plakat und in keiner Werbung. Der Verein Pinkstinks rührt an rosahellblauen Stereotypen und Sexismus in der Werbung.
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Was ist männlich? Wie gehen Frauen und Männer miteinander um? Ein Dialog für das Ankommen in der Fremde.
Lebensleistung von Frauen
Im Alter zählt sie nicht. Millionen Frauen droht mit der Rente ein Leben auf Hartz-IV-Niveau.
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Gespräch Dumme Sprüche und schlechtere Bezahlung. Sexismus am Arbeitsplatz
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Workshop Feminismus in der Ukraine – zwischen Krieg und Zurückdrängen von Frauenrechten
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Provokanter Protest Pinkstinks dreht an der Werbung
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Frag mich was
No Sexism ...
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Am Pranger Kriminalisierung und Verfolgung von Frauen in der NS-Zeit
Männerdialoge Vom Ankommen und Eingewöhnen im neuen Land
Foto: Uwe Steinert
Foto: Pinkstinks
Foto: Julia Nowak
Alles drin? Alles toll? lotta@linksfraktion.de
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Schwarzer Protest Polnische Frauen kippen Abtreibungsverbot Rentendrama Plädoyer für faire Renten für Frauen
Gegenwehr Antifeminismus darf nicht salonfähig werden
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In schlechter Gesellschaft THEMA: SEXISMUS DIE ROTE KARTE ZEIGEN
Sexismus und andere Formen der Unterdrückung exismus ist allgegenwärtig. Das zeigt nicht nur ein Blick auf die Repräsentation von Frauen in fast allen Bereichen des öffentlichen Lebens, sondern auch Social-Media-Kampagnen wie #aufschrei, #notokay und jüngst #sexismusinparteien, die alltägliche Sexismuserfahrungen thematisieren zeugen davon.
rung beschränken darf. Er muss vielmehr andere Formen der Unterdrückung wie Rassismus stets mit im Blick haben und sich der – zum Teil herausfordernden – wechselseitigen Bezüge bewusst sein.
Illustration: Kristina Heldmann für ZITRUSBLAU
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Ziel der emanzipatorischen Linken ist es seit jeher, sexistische Strukturen wirksam zu bekämpfen. Gerade angesichts gesellschaftlicher Prozesse, wie zuletzt der Verschärfung des Aufenthaltsrechts nach den sexuellen Übergriffen in der Silvesternacht in Köln, wird jedoch deutlich, dass ein kluger Feminismus sich nicht auf sexistische Diskriminie-
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12 Parallele Machtverhältnisse? exismus und Rassismus werden immer wieder als parallele Phänomene begriffen – schließlich differenzieren beide aufgrund vermeintlich naturgegebener Merkmale zwischen Untergruppen von Menschen. Beide sind Ungleichheitsideologien, die bestehende gesellschaftliche Machtverhältnisse legitimieren und reproduzieren. Sie marginalisieren betroffene Menschen und hindern sie an chancengleichem Leben und gleichberechtigter Teilhabe. Daraus zu schließen, dass Sexismus und Rassismus voneinander unabhängig sind, wäre jedoch fahrlässig.
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Kopplungen erkennen
um einen treten Rassismus und Sexismus vielfach gekoppelt auf. So korrelieren in Zeiten problematischer demografischer Faktoren häufig Maßnahmen, die auf die Geburtensteigerung von Inländer*innen abzielen, mit einer restriktiven Einwanderungspolitik. Die rassistische »Sorge« um Homogenität spielt hier mit der sexistischen »Sorge« um Reproduktion zusammen. Institutioneller Rassismus und Sexismus verbinden sich zu einer komplexen Bevölkerungspolitik.
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Die Frage nach den Sprecher*innen
chon in den 1980er Jahren fragten Schwarze Frauen, Jüdinnen und Migrantinnen, wer mit »den Frauen«, für die der Feminismus spricht, gemeint ist. Frauen mit Behin-
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derung machten darauf aufmerksam, dass das Klischee vom sexualisierten weiblichen Körper sowie der fürsorglichen Mutter auf sie nicht projiziert werde. Das Problem der (Nicht-)Repräsentation lässt sich an der zentralen feministischen Forderung nach gleichberechtigter Teilhabe am Erwerbsleben verdeutlichen: Erste Schritte in diese Richtung konnten weiße Frauen in den letzten Jahren nur gehen, indem Migrantinnen gleichzeitig die Hausarbeit übernahmen. Die Hausarbeit wurde so ethnisiert, prekarisiert – und Migrantinnen bei der »Emanzipation« ganz offensichtlich nicht mitgedacht.
Intersektionale Perspektiven
ie Parallelisierung von Sexismus und Rassismus verstellt aber auch den Blick auf Mehrfachdiskriminierung. Am Beispiel der spezifischen Diskriminierungserfahrungen von Schwarzen Frauen entwickelte Kimberlé W. Crenshaw Ende der 1980er Jahre den Begriff der Intersektionalität. Sie arbeitete heraus, dass bestimmte Diskriminierungen erst unter Einbeziehung mehrerer Diskriminierungsmerkmale (hier: Race und Gender) sichtbar werden. In einem der von ihr herausgestellten Fälle ging es um eine Klage einer Gruppe Schwarzer Frauen wegen systematischer Verweigerung besserer Vergütung im Betrieb. Die Klage blieb vor Gericht erfolglos, da der Arbeitgeber nachweisen konnte, dass er sowohl Frauen als auch Schwarze in den angestrebten Vergütungspositionen beschäftigte – weiße Frauen und Schwarze Männer. Die Klägerinnen waren also weder allein aufgrund ihres Geschlechts noch aufgrund ihrer Hautfarbe diskriminiert worden, sondern in ihrem Zusammenspiel.
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Tückische Allianzen verhindern esonders komplexe Verschränkungen kommen zum Tragen, wenn sich rassistische Diskurse in feministische Anliegen einschreiben oder umgekehrt. Die diskursive Entwicklung »nach Köln« offenbarte diese unheilige Strategie des Othering von Sexismus, indem feministische Rhetorik für rassistische Argumentation missbraucht wurde. Sexismus wird hier ethnisiert, um ihn außerhalb der Mehrheitsgesellschaft zu verorten. Die Folge ist mehrfach problematisch: Einerseits wird so »weißer Sexismus« relativiert, andererseits werden rassistische Grenzen zwischen einem vermeintlichen innen und außen gezogen.
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Um nicht in solche Fallen zu tappen, ist es unbedingt notwendig, die verschiedenen Systeme der Unterdrückung stets zusammenzudenken und in ihrer Komplexität zu adressieren. Dabei wurde hier Rassismus nur exemplarisch herausgegriffen, um im Verhältnis zu Sexismus diese komplexen Verflechtungen anzureißen. Andere Ideologien der Ungleichheit wie Klassismus, Antisemitismus oder Ableism – also die Beurteilung von Menschen anhand ihrer Fähigkeiten – dürfen im kritischen Mitdenken nicht vergessen werden. Selma Gather ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Juristischen Fakultät an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder), Mitglied bei den Feministischen Juristinnen
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THEMA: SEXISMUS DIE ROTE KARTE ZEIGEN
Foto: Frank Schwarz
Sexismus die Rote Karte zeigen Die Fraktion DIE LINKE will einen bundesweiten Aktionsplan gegen Sexismus m April 2016 konnten wir eine ungemein aufgeregte und hitzige Debatte in den Medien verfolgen, in der alle möglichen Vorurteile und Ängste wild durcheinandergewürfelt wurden. Anlass war ein mögliches Verbot sexistischer Werbung. Dabei wurde in der Öffentlichkeit nicht nur vor »Geschmacksvorschriften für Werbeplakate« und vor »staatlich verordneter Verklemmtheit« gewarnt, sondern sogar eine »Geste der kulturellen Unterwerfung« erkannt, die in der Einführung der Burka enden könne. Warum aber wird der Kampf gegen Sexismus so oft mit Bevormundung und Unfreiheit gleichgesetzt? Warum gibt es kein klares Einvernehmen in unserer Gesellschaft darüber, dass Sexismus, die Abwertung von Menschen aufgrund ihres Ge-
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schlechts in jeglicher Form, nicht in Ordnung ist und so schnell wie möglich abgeschafft gehört?
ie beispielhaften Einwürfe aus der Debatte über sexistische Werbung legen meiner Meinung nach bereits eine Antwort nahe: Es wird einerseits nicht unterschieden zwischen Identität, zu der auch das Geschlecht und seine Ausdrucksweise gehören, und andererseits dem Sexismus, also der Zuweisung und hierarchischen Anordnung von bestimmten Geschlechterrollen. Konkret möchte doch niemand Frauen verbieten, sich aufreizend anzuziehen, so sie das wollen. Aber warum sollte es zu den Grundfreiheiten gehören, dass Frauen als aufreizendes Beiwerk neben Autos gestellt werden
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dürfen, damit Männer es kaufen? Wer so argumentiert, klammert aus, dass es nicht um ein einzelnes Werbeplakat geht, sondern um dessen Ursprünge und die Folgen für das Leben von Frauen ganz allgemein. Die auf bestimmte Zuschreibungen reduzierte Darstellung von Frauen in der Werbung ist eng mit anderen Erscheinungsformen von Sexismus verbunden, die letztendlich ihre finanzielle Absicherung und körperliche Unversehrtheit angreifen. Auf diesen Zusammenhang kommt es aber an.
Wenn Mädchen etwa schon von früh auf beigebracht bekommen, dass es nur auf ein ganz bestimmtes Aussehen ankommt und sie daher mehr ein Objekt sind, das anderen gefallen soll, dann hat das nicht nur Folgen für das Selbstbe-
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12 wusstsein, sondern auch was die Vorurteile in der Gesellschaft angeht. Dass es beispielsweise so wenig Frauen auf Führungsetagen gibt, hängt unter anderem damit zusammen, dass ihnen Durchsetzungsfähigkeit auf dieser Ebene nicht zugetraut oder angenommen wird, so eine Eigenschaft schickte sich nicht für eine Frau.
egen sexistische Werbung vorzugehen, heißt eben auch, solche geschlechtliche Rollenbilder aufzubrechen, die Frauen, ihre Arbeiten und Tätigkeiten gegenüber Männern abwerten. Die auch dazu führen, Frauen zum größWaschtagdass für 31 Frauen, 27 Mänten und Teil 20 immer noch die unbener Kinder. zahlte Haus- und Erziehungsarbeit übernehmen und im Erwerbsleben schlechter bezahlt werden. So erhalten Frauen rund 21 Prozent weniger Lohn als Männer. Das wiederum hat zur Folge, dass Frauen keine ökonomische Unabhängigkeit von ihrem Ehepartner oder einer staatlichen Institution erreichen. Ihre Möglichkeiten, sich gegen Gewalt in der Beziehungen zu wehren, was auch überwiegend Frauen trifft, werden dadurch massiv eingeschränkt. Eine von ihrem Partner materiell abhängige Frau wird sich aus einer gewalttätigen Beziehung sehr viel schwerer lösen können.
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exismus ist ein komplexes und vielschichtiges Problem, das einen ebensolchen Lösungsansatz erfordert. Als Fraktion haben wir daher einen Antrag für einen bundesweiten Aktionsplan gegen Sexismus in den Bundestag eingebracht. Unsere Idee ist, zunächst einen runden Tisch einzurichten, an dem sich Expert*innen
aus Theorie und Praxis sowie aus der Politik zusammenfinden, die dann die verschiedenen Bereiche und ihre Wechselwirkungen behandeln und konkrete Maßnahmen zur Prävention und zur Minderung der Folgen von Sexismus und Gewalt ausarbeiten. Dazu gehören Angebote der geschlechtersensiblen Pädagogik ebenso wie eine Geschlechterquot ierung bei der öffentlichen Filmförderung und die Einrichtung einer wirksamen unabhängigen Kontrolle zur Unterbindung sexistischer Werbung.
azu gehören weiter: ein wirksames Gesetz zur Entgeltgleichheit, verbindliche Frauenquoten und die Aufwertung sozialer und personenbezogener Dienstleistungen. Und schließlich der Ausbau und die bedarfsgerechte Finanzierung des gesamten Hilfe- und Schutzsystems für von Gewalt betroffene Frauen, gleichgültig welchen Aufenthaltsstatus sie haben. Gebündelt werden diese Maßnahmen in einem bundesweiten Aktionsplan gegen Sexismus, der alle staatlichen Ebenen in die Pflicht nimmt und vor allem auch zivilgesellschaftliche Akteure einbezieht. Denn für den Erfolg solcher Maßnahmen ist es von zentraler Bedeutung, dass sie begleitet werden von einem gesellschaftlichen Diskurs, der Sexismus als strukturelles Problem wahr- und vor allem ernst nimmt.
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Cornelia Möhring ist stellvertretende Vorsitzende und frauenpolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE
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Sexismus in der Politik und im Netz
Foto: Stock photo © SIphotography
THEMA: SEXISMUS DIE ROTE KARTE ZEIGEN
Lügengeschichten und Verzerrungen verdrängen zunehmend sachliche Wortmeldungen im Netz.
Hass, Respektlosigkeit, verbale Drohungen – für in der Öffentlichkeit stehende Frauen ist das ein Dauerzustand. Aber es ist nicht hinnehmbar, meint Anke Domscheit-Berg.
ls bekannt wurde, dass ich für DIE LINKE bei der Bundestagswahl 2017 kandidieren möchte, wurde es für mich in den sozialen Netzen sehr unangenehm.
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Vor allem aus meinem früheren Piraten-Umfeld gab es Äußerungen, die jeden sachlichen Rahmen verließen. Ich sei eine »minderbemittelte, unterfickte Häßlette« hieß es unter anderem. Es gab auch Vorwürfe wie sie wohl alle Frauen kennen, die in der Öffentlichkeit wahrnehmbar ihre Meinung äußern: Ich sei »aufmerksamkeitsgeil«, »Karrieristin«, »hässlich«, »dumm« und »eine Frau, die kein Mann mit der Kneifzange anfassen würde«.
Das Ganze paarte sich mit rassistischer Hetze, wenn ich mich zu Flüchtlingsthemen äußerte. Die einen schrieben, mich würden ja nicht mal Muslime vergewaltigen wollen, die anderen, dass mich hoffentlich bald eine »Horde Neger tot fickt«. »Nimm das nicht ernst, das sind nur Trolle«, wird mir geraten. »Gewöhn dich dran, als politische Frau in der Öffentlichkeit musst du das abkönnen.«
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Aber wenn man nach einem Talkshowauftritt auf allen Kanälen von Facebook über Twitter bis zum E-MailPostfach und den Kommentarseiten der eigenen Homepage tagelang Unmengen an Hassnachrichten erhält, kann man nicht so tun, als wäre das irrelevant. Diese Angriffe in geballter Form lähmen, machen Angst, fressen alle Energie wie die Dementoren in »Harry Potter«. Ja, vielleicht braucht man eine undurchdringliche Schutzschicht, um das auf Dauer auszuhalten. Aber ich will, dass es auch anders geht. Die Wurzel des Übels muss weg, der Sexismus in der Gesellschaft. Ich möchte kein harter Mensch werden, an dem jede noch so krasse Äußerung abperlt. Ich möchte auch den Schmerz spüren und aushalten können.
ber nicht nur im Internet, auch im politischen Alltag trifft man häufig auf Sexismus. Nicht nur, wenn man Hillary Clinton heißt und gegen Donald »grab her by the pussy« Trump in einen Präsidentschaftswahlkampf zieht. Sexismus in der Politik gibt es überall. Ich selbst habe vor allem bei den Piraten viele finstere Erfahrungen gesammelt. Sprach ich mich für die Frauenquote bei Aufsichtsräten aus, hieß es, ich wolle ja nur vom »Tittenbonus« profitieren. Habe ich mich »Piratin« genannt, hielt man mir satzungswidriges Verhalten vor. Denn in der Satzung stand, Mitglieder der Piratenpartei heißen »Piraten«. Wurde eine Mailingliste
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für weibliche Mitglieder eingerichtet, rollte ein heftiger Shitstorm über die Initiatorin hinweg, weil sie Männer ausgrenze. In der Partei mit 85 Prozent Männeranteil wurde jede Feministin nicht nur einmal als »Feminazi« bezeichnet. Vermutlich gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Männeranteil in einer Partei – von der Basis bis zur Führungsspitze – und dem dortigen Grad an Sexismus. Frauen sind zwar auch nicht frei von sexistischem Verhalten – immerhin werden wir alle in einer patriarchalen Gesellschaft sozialisiert –, aber im Durchschnitt sind sie sensibler, was Geschlechtergerechtigkeit angeht und finden es eher problematisch, was viele Männer als »Ironie« oder »Witz« ansehen. Der Grund dafür: Die meisten Frauen erfahren diese sogenannten Witze häufig in ihrem realen Leben.
um Sexismus in der Politik gehören aber auch die Klassiker der Benachteiligung. Dazu zählen die notorische Unterschätzung der Kompetenzen von Frauen und Doppelmoral, wonach Ehrgeiz bei Frauen unweiblich wirkt. Als salonfähig gilt dagegen der schlüpfrige Blick in den Ausschnitt und die Pflege der Old Boys Networks. Männer schlagen immer noch lieber Männer für Ämter, aber auch für Ehrungen vor. Diese Praxis macht es unter anderem dem Bundespräsidialamt schwer die selbst gesetzte (informelle) Quote von 30 Prozent Frauenanteil bei der Bun-
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desverdienstkreuzverleihung zu erreichen. Es gibt nicht genügend Vorschläge für Frauen, während bei Männern die Praxis »Ich schlag dich vor, du schlägst mich vor« nach wie vor nicht selten ist.
ch wünschte, es gäbe eine jährliche Offensive, verdienstvolle Frauen für solche Anerkennungen vorzuschlagen. Es ist ja nicht so, dass es sie nicht gibt. Das gleiche Spiel gilt hier wie überall: Da, wo es keine Quotierung bei der Aufstellung von Kandidat*innenlisten gibt, stellt sich stets magisch eine Männermehrheit ein, mit besonders vielen Männern auf den vorderen Listenplätzen. Und so führen Stereotype, Ausgrenzung und Sexismus dazu, dass Frauen in allen Parlamenten Deutschlands immer noch unterrepräsentiert sind, ganz besonders jedoch in der Kommunalpolitik. Ihr Anteil an Bürgermeisterposten ist kleiner als der weiblicher Vorstände in DAX-30-Unternehmen. Es ist an der Zeit, das zu ändern.
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Anke Domscheit-Berg ist Unternehmerin, Publizistin, Aktivistin. Engagiert sich für Geschlechtergerechtigkeit
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THEMA: SEXISMUS DIE ROTE KARTE ZEIGEN
Stalking ist kein Kavaliersdelikt Etwa 15 Prozent der Bevölkerung sind einmal in ihrem Leben von Stalking betroffen. Wie können die Opfer geschützt werden? Antworten von Halina Wawzyniak.
ange Zeit gehörte der Begriff »Stalking« zur Jagd. Er beschrieb das Anschleichen oder Anpirschen an ein Tier. Seit mehr als zwanzig Jahren ist Stalking aber auch ein Wort, das Forensiker benutzen, wenn ein Mensch von einem anderen Menschen verfolgt und belästigt wird. Die Folgen für die so Verfolgten sind häufig verheerend, manchmal sogar tödlich.
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Rund 15 Prozent der Bevölkerung in Deutschland – so fanden Wissenschaftler im vergangenen Jahr heraus – sind mindestens einmal in ihrem Leben von Stalking betroffen. Zwei Drittel der
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Opfer sind weiblich. Besonders häufig werden Menschen gestalkt, die getrennt, geschieden oder verwitwet sind. In 40 Prozent der Fälle ist der Stalker ein ehemaliger Partner oder eine ehemalige Partnerin oder jemand, mit dem man einige Dates hatte. In 14 Prozent der Fälle werden die Opfer von einem völlig fremden Menschen gestalkt. Zwei Drittel der Täter*innen sind männlich. Diese Zahlen stellen sich in anderen Teilen der Welt ähnlich dar, Stalking ist ein internationaler Tatbestand. Geprägt wurde der Begriff in den USA, nachdem Prominente verfolgt, belästigt oder vom Verfolger getötet worden waren.
Seit 2007 ist das Verfolgen und Belästigen von Menschen gegen deren Willen als Tatbestand »Nachstellung« im deutschen Strafgesetzbuch verankert. Im Oktober dieses Jahres wurde im Deutschen Bundestag in erster Lesung der vom Bundesrat beschlossene »Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung des Schutzes von Nachstellungen« debattiert. Die Rufe nach einer Neuregelung waren immer lauter geworden, da viele Stalkingopfer sich nur schwer vor dem Psychoterror schützen konnten. Das Ansinnen, Stalkingbetroffene besser zu schützen, findet ungeteilte Zustimmung.
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12 gesamte Strafgesetzbuch entrümpelt, wovon wir weit entfernt sind.
u bezweifeln ist jedoch, ob die beschlossene Neuregelung Stalkingopfer wirklich besser schützt. Mit dem nun verabschiedeten Gesetz wurde der Straftatbestand Stalking von einem Erfolgsdelikt in ein sogenanntes Eignungsdelikt umgewandelt. Bei einem Erfolgsdelikt reicht es nicht aus, dass der Täter etwas tut, er macht sich erst strafbar, wenn das Opfer nachweisen kann, dass es in seiner Lebensführung schwer beeinträchtigt ist. Bei einem Eignungsdelikt hingegen muss es nicht mehr zu einer tatsächlichen Beeinträchtigung der Handlungs- und Entschließungsfreiheit kommen. Hier setzt meine Kritik an: Der individuelle Lebensbereich in Form der Handlungs- und Entschließungsfreiheit ist das schützende Rechtsgut. Und der muss nach meinem Dafürhalten tatsächlich beeinträchtigt sein. Ein Nachweis der Beeinträchtigung zum Beispiel durch ein ärztliches Attest oder die Bescheinigung einer Stalkingberatungsstelle sollte dafür genügen. Ich sage auch: Stalkingopfer sollen nicht aus der Wohnung ausziehen oder den Arbeitsplatz wechseln müssen, damit der Straftatbestand als erfüllt gilt. Aber es muss eine Beeinträchtigung der Lebensführung vorliegen. Um das abzubilden, hätte im existierenden Paragrafen 238 Strafgesetzbuch tatsächlich nur das Wort »schwerwiegend« gestrichen werden.
Foto: Stock photo © MrKornFlakes
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un gibt es das Gewaltschutzgesetz. Es ermöglicht, gerichtlich ein Betretungs-, Näherungs-, Aufenthalts- und Kontaktverbot sowie ein Abstandsgebot anzuordnen. Wenn eine Person vorsätzlich und widerrechtlich den Körper, die Gesundheit oder die Freiheit einer anderen Person verletzt, kann das Gericht zur Abwendung weiterer Verletzungen Anordnungen erteilen. Beispielweise dass der Stalker oder die Stalkerin es unterlässt, die Wohnung zu betreten, sich im näheren Umkreis der Wohnung aufzuhalten oder Verbindung zu der Person aufzunehmen.
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In der Parlamentsdebatte über den besseren Schutz vor Nachstellungen ging es auch um eine Verschärfung des Strafrechts. Darum, ob das die beste aller Lösungen ist und wenn ja, wie eine solche Verschärfung aussehen muss. Das Strafrecht zu verschärfen, sollte immer abgewogen werden: Es ist die letzte und nie die beste aller Möglichkeiten, ein Problem zu lösen. DIE LINKE hatte deshalb in der 16. Wahlperiode mit Verweis auf das Gewaltschutzgesetz die Einführung des Stalkingparagrafen abgelehnt. Heute plädieren wir nicht für dessen Abschaffung, wäre dies doch nur dann sinnvoll, würde das
Halina Wawzyniak ist rechtspolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE
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In 16 Tagen durch 16 Bundesländer. Eine Bustour, um auf Straßen und Plätzen auf die Gewalt gegen Frauen aufmerksam zu machen. Cornelia Möhring von der Fraktion DIE LINKE war in Kiel mit dabei.
Unter dem Dach der Frauenhäuser
Foto: Kersten Artus
THEMA: SEXISMUS DIE ROTE KARTE ZEIGEN
Seit vier Jahrzehnten gibt es in der Bundesrepublik Frauenhäuser. Sie sind Schutzraum, Ort für ein neues Selbstverständnis und stehen doch immer wieder auf der Kippe. ine Frau sagt aus: »Ich war im neunten Monat schwanger, als ich mit einem zerplatzten Trommelfell beim Ohrenarzt saß …« Er fragte: »War das der Vater?« Und dann: »Sie schlagen alle immer auf das linke Ohr. Wenn es das linke Ohr ist, dann war es immer der Mann.« »Es war nicht das erste Mal, dass er mich schlug. Und trotzdem sollte es zwei Jahre dauern, bis
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ich in der Lage war zu gehen. Darüber schäme ich mich am meisten. Bis heute so sehr, dass ich diesen Text nur anonym schreiben will … Ich blieb lange, weil er, wie jeder Mann, der seine Partnerin schlägt, nicht in jeder Minute der schlagende Partner ist. Weil es Momente gab, in denen ich wieder und wieder Hoffnung schöpfte, dass wir ein Familienleben haben können – ohne
brutale Aussetzer. Die meisten Frauen brauchen Jahre, um sich von ihrem gewalttätigen Partner zu trennen – falls sie es überhaupt schaffen.« ie Frau, die sich traute und ihre Geschichte öffentlich machte, brauchte – wie sie sagt – zwei lange Jahre, bis sie endlich ging. Sie wollte nicht, dass ihre Tochter lernt,
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12 dass der Vater die Mutter immer wieder schlägt und sie trotzdem bleibt. Ihre Geschichte ist kein Einzelfall. Vierzig Prozent der Frauen in Deutschland erleben seit ihrem 16. Lebensjahr körperliche und/oder sexuelle Gewalt. Gewalt gegen Frauen geht quer durch alle Schichten der Gesellschaft. Um Frauen davor zu schützen, gründeten vor 40 Jahren Frauen, die sich der Frauenbewegung verbunden fühlten, erste Frauenhäuser. Im Jahr 1976 entstanden die ersten Schutzeinrichtungen in Berlin und Köln. Das Kölner Frauenhaus initiierten Studentinnen und ihre Professorin. Der Name: Frauen helfen Frauen.
Aus diesen zarten Anfängen entstand eine richtige Bewegung. Sie setzte und setzt auf Solidarität und Parteilichkeit und lässt sich von feministischen und antirassistischen Grundsätzen leiten. Von den heute existierenden rund 350 Frauenhäusern in der Bundesrepublik bezeichnen sich etwa 130 als Autonome Frauenhäuser. Im Oktober 2016 kamen ihre Vertreter*innen nach Bonn, um das runde Jubiläum zu begehen. Es war ein Tag der Bilanz, mit durchaus kritischen Tönen, vor allem aber mit Forderungen für das Hier und Jetzt. Denn gab es am Anfang der Bewegung eine starke Identifizierung mit den Opfern vonseiten der Mitarbeiter*innen in den Frauenhäusern, wurde diese mit zunehmender Institutionalisierung der Bewegung und Professionalisierung der Arbeit schrittweise abgelöst. Im Mittelpinkt des Interesses steht heute mehr und mehr die Erforschung struktureller und hierarchischer Ursachen der Gewalt gegen Frauen. Es ist aber der Frauenhausbewegung zu verdanken, dass das Thema Gewalt gegen Frauen öffentlich und ein Teil des gesellschaftlichen Diskurses wurde.
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nsgesamt lassen sich vier Entwicklungsphasen in der Geschichte der Autonomen Frauenhäuser ausma-
chen. Die Gründungsphase in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre, da standen Selbstverwaltungs- und Selbstermächtigungsprogramme auf der Tagesordnung. Der nächste Schritt umfasste die Zeit Mitte der 1980er bis Mitte der 1990er Jahre. Sie war bereits von einer zunehmenden Institutionalisierung und wachsenden Professionalität geprägt. Daran schlossen sich ein erweitertes Hilfeangebot und eine stärkere Spezialisierung an. Und schließlich folgte Phase vier. Damit wurden auch andere soziale Gruppen erfasst – beispielsweise die Polizei mit dem Einsatzbefehl »häusliche Gewalt« und eine entsprechende Schulung und Sensibilisierung. Nunmehr gab es nicht mehr nur Schutzeinrichtungen für Frauen, sondern auch für Kinder und Männer.
der Frauenhäuser und des Hilfesystems basiert auf freiwilligen Leistungen der Länder und Kommunen. DIE LINKE fordert seit Jahren nicht nur einen Rechtsanspruch auf Schutz für von Gewalt betroffene Frauen und Kinder, sondern ebenso eine bundeseinheitliche Finanzierung. Es muss Schluss sein mit der sogenannten Tagessatzfinanzierung, bei der berechtigte Frauen für den Aufenthalt im Frauenhaus auch Hartz IV beantragen müssen. Die Finanzierung gehört in staatliche Hände, so wie auch der Schutz von Leib und Leben laut Grundgesetz die Pflicht des Staates ist. Irina Modrow ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich feministische Politik der Fraktion DIE LINKE
ie zukünftige Entwicklung bleibt allerdings weiterhin mit einem grundsätzlichen Problem behaftet: dem Geldmangel. Die Finanzierung
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Gewalt gegen Frauen in Zahlen und Fakten
° Bundesweit wurden im Jahr 2015 mehr als 127 000 Fälle häuslicher Gewalt registriert ° 82 Prozent der Opfer waren Frauen, in ganz Deutschland sind das mehr als 104 290 weibliche Opfer pro Jahr
° Seit 2012 registriert die Polizei einen Anstieg der Gewalttaten in Partnerschaften von 5,5 Prozent ° Mit 63,9 Prozent ist vorsätzliche Körperverletzung die häufigste Straftat ° Die Beratungen am bundesweiten Hilfetelefon »Gewalt gegen Frauen« sind im Vergleich zum Vorjahr um 25 Prozent gestiegen ° Jährlich suchen 15 000 bis 17 000 Frauen Zuflucht in Frauenhäusern oder Schutzwohnungen, zusammen mit den betrof-
fenen Kindern sind es 30 000 bis 34 000 Personen ° Nach Auskunft der Bundesregierung gibt es rund 350 Frauenhäuser und 40 Schutzwohnungen in Deutschland ° Die angebotenen Plätze reichen nicht aus, jedes Jahr müssen einige Tausend Frauen abgewiesen werden, da die Einrichtungen voll belegt waren ° Laut Empfehlung des Europarats sollte auf 7 500 Einwohner ein Frauenhausplatz bereitgestellt werden; demnach fehlen in Deutschland rund 4 000 Frauenhausplätze ° Die Mehrheit der Frauenhäuser ist nicht barrierefrei, der Zugang von Frauen mit Behinderung ist damit erschwert oder unmöglich
Foto: istock © shapecharge
THEMA: SEXISMUS DIE ROTE KARTE ZEIGEN
Wieder selbstbestimmt leben
Angebote von Stop-Stalking und dem bundesweiten Hilfetelefon
ach jahrelangem Streit beschloss der Bundesrat Ende 2016, dass hartnäckiges Nachstellen, permanente Telefonanrufe, die Flut von E-Mails oder andere Belästigungen von Menschen eine Straftat darstellen. Doch bis es zur Anzeige kommt, kann viel Zeit vergehehen. Denn Stalking verunsichert zunächst, schränkt extrem die Lebensqualität ein und geht bis dahin, dass viele Frauen sich kaum oder gar nicht mehr aus dem Haus trauen. 80 Prozent der Verfolgten sind weiblich, und schon lange ist Stalking kein soge-
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nanntes Prominentenproblem mehr, sondern alltäglich. Hilfe für Betroffene bietet bespielweise der Verein Stop-Stalking in Berlin an. Das Credo: »Niemand muss sich alles gefallen lassen!« Kontakt kann entweder telefonisch oder per E-Mail aufgenommen werden. Das Angebot ist kostenfrei, die Beratungen vertraulich und auf Wunsch werden weiterführende Hilfen empfohlen. Ein Rat beispielsweise ist, Öffentlichkeit herzustellen. Freunde, Nachbarn, die Familie oder Kollegen zu informieren. Das Wichtigste aber: Stop-Stalking begleitet und unterstützt Stalkingopfer. Wenn nötig wird engmaschig mit der Polizei und der Amtsanwaltschaft kooperiert. Denn der Schutz und die Stabilität der Betroffenen stehen an erster Stelle.
ine weitere Hilfe ist das seit 2013 eingerichtete bundesweite Hilfetelefon für Frauen in Not. Das Hilfetelefon »Gewalt gegen Frauen« steht 365 Tage im Jahr, rund um die Uhr und kostenfrei zur Verfügung. Es bietet Frauen, die Gewalt erfahren, die Möglichkeit, »sich zu jeder Zeit anonym, kompetent, sicher und barrierefrei bera-
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Stop-Stalking bietet Hilfe für Menschen die gestalkt werden, aber auch für Stalker*innen.
ten zu lassen«. Beraten wird in 15 Sprachen, Frauen aller Nationalitäten, mit oder ohne Behinderung können das Angebot nutzen. Ebenso Angehörige, Freundinnen und Freunde. Unter der Nummer 08 000 116 016 sind Beraterinnen kostenfrei zu erreichen, sie nehmen sich Zeit, hören zu und ermitteln gemeinsam mit den Ratsuchenden Frauen, was das konkrete Anliegen ist und wie sie bestmöglich unterstützt werden können. Die Beratung ist freiwillig und ergebnisoffen. Denn Gewalt gegen Frauen hat viele Facetten und betrifft Frauen in allen sozialen Schichten und allen Altersgruppen, aber »Gewalt ist nie in Ordnung!«. Darum wird den Frauen zunächst und zuallererst vermittelt, »dass es ist nicht ihr Fehler oder ihre Schuld ist, wenn sie Opfer von Gewalt werden. Und dass es Auswege aus der Gewalt gibt«.
Gisela Zimmer
Mehr unter: www.stop-stalking-berlin.de www.hilfetelefon.de
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Petzen erlaubt
Der Verein PETZE macht Mädchen und Jungen frühzeitig Mut, Nein zu sagen. Ihre Präventionsarbeit soll Kinder stärken, sich selbst vor Missbrauch und Gewalt zu schützen.
ETZE e. V. hat seinen Sitz in Kiel und gehört zu den ersten deutschlandweit agierenden Projekten, die sich dem besonderen Schutz von Kindern vor sexuellem Missbrauch und Gewalt verschrieben haben. Gegründet wurde das Präventionsbüro bereits 1992. Der Name ist bewusst provokant, denn das Petzen an sich ist bei Kindern zunächst etwas Alltägliches, aber es wird auch als Verrat oder zumindest als negatives Verhalten angesehen. Dabei – so die PETZE-Macherinnen – ist es »meist ein Hilferuf«, und als solcher ist Petzen gewollt, erwünscht. Mädchen und Jungen sollen geradezu ermutigt werden zum Petzen. Doch wie und wann erkennen Kinder unerlaubte Übergriffe? Wie lernen sie, NEIN zu sagen und sich Hilfe zu holen? Das PETZE Präventionsbüro und das gleichnamige Institut entwickelten dazu über Jahre hinweg spielerische Angebote. Die reichen von Büchern über Ausstellungen bis hin zu »Schatzkisten« und Filmen, und
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sie wenden sich an Kinder in der Kita, in den Grundschulen und an Jugendliche. In Mitmachaktionen lernen die Jüngsten, aber auch die Schülerinnen und Schüler, dass sie ihren eigenen Gefühlen trauen dürfen, dass es »gute und schlechte Geheimnisse« wie auch »angenehme und unangenehme Berührungen« gibt und dass sie »NEIN sagen« und sich »Hilfe holen« dürfen. Eben Petzen, um sich selbst zu schützen. Die Programme von PETZE richten sich einerseits an die Kinder und Jugendlichen, aber auch an Lehrkräfte, Erzieherinnen und Erzieher und Eltern. Die ECHT-Reihe von PETZE bietet beispielsweise das Handbuch »Wir sind ECHT KLASSE« für Schulen an, »ECHTE SCHÄTZE« ist geeignet für Vorschulkinder und »ECHT FAIR« oder »ECHT KRASS« spricht Kinder und Jugendliche ab Klasse 5 bzw. 8 und darüber an. Prävention soll Spaß machen, sagt das PETZE-Team, und die vielen Rückmeldungen erzählen davon, dass ihr Konzept aufgeht. Bü-
cher, Filme, Ausstellungen – das alles kann bei PETZE angefordert werden, genauso wie eine begleitende Lehrkräftefortbildung oder die Ausrichtung von Informationsabenden für Eltern. Dabei geht es um Erscheinungsformen und Auswirkung sexualisierter Gewalt und des Missbrauchs und man bekommt Tipps, was in der alltäglichen Erziehung präventiv gegen sexuellen Missbrauch wirkt. Kaja Kröger
Mehr unter: www.petze-kiel.de
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Einstimmiges Ja zu »Nein heißt Nein«
In einer historischen Abstimmung hatte der Deutsche Bundestag im Juli 2016 einstimmig eine grundlegende Reform des Sexualstrafrechts beschlossen. Im November letzten Jahres trat die Neuregelung in Kraft.
ieses Datum, Donnerstag, der 7. Juli 2016, wird in die Geschichte eingehen. Auf jeden Fall in die der Frauenbewegung. Das ist keine Übertreibung. An diesem Tag stimmte der Deutsche Bundestag der gesetzlichen Verankerung des Grund-
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satzes »Nein heißt Nein« einstimmig über alle Fraktionsgrenzen hinweg zu. So wie es die Istanbul-Konvention vorsieht und auch zahlreiche Frauen, ihre Verbände und Organisationen seit vielen Jahren gefordert hatten. »Nein heißt Nein« bedeutet ab sofort, dass nun nicht mehr mit Zwang ein entgegenstehender Wille gebrochen werden muss, damit ein Übergriff unter den Straftatbestand der Vergewaltigung fällt, sondern die Äußerung des entgegenstehenden Willens – in welcher Form auch immer – dafür ausreicht.
Foto: Christian Mang
THEMA: SEXISMUS DIE ROTE KARTE ZEIGEN
IE LINKE tritt nicht häufig für eine Verschärfung des Strafrechts ein, da dies immer nur das letzte mögliche Mittel sein darf. In diesem Fall aber handelt es sich bei der Gesetzesänderung um einen Paradigmenwechsel, um einen wichtigen Fortschritt. Der Grundsatz – das sexuelle Selbstbestimmungsrecht als solches – wird als Wert anerkannt und entscheidend ist nicht mehr die Intensität der Gewalt, mit der dieses Recht gebrochen wird. Es muss dadurch nicht automatisch zu mehr Verurteilungen kommen,
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Nein heißt Nein! denn die meisten Vergewaltigungen haben keine Zeug*innen und noch immer gilt das rechtsstaatliche Prinzip »im Zweifel für den Angeklagten«. Daran möchte niemand drehen und das ist auch gut so. Aber der neue Paragraf 177 des Strafgesetzbuches enthält eine Aussage darüber, was in unserer Gesellschaft in Ordnung ist und was nicht. Das hat Strahlkraft.
ehr als ein Wermutstropfen ist jedoch, dass die Große Koalition die breit gestützte Gesetzesnovelle mit populistischen Forderungen verbunden hat. So wurden auch sexualisierte Übergriffe aus Gruppen heraus gesondert unter Strafe gestellt, obwohl gemeinschaftliche Handlungen und Mittäterschaft bereits zuvor erfasst wurden. Zuletzt wurde die Änderung des Sexualstrafrechts im letzten Moment mit einer erneuten Verschärfung des Aufenthaltsrechts verknüpft. Der Blick wird damit erneut vom Selbstbestimmungsrecht der Frau, Nein zu sagen, auf den potenziellen Täter gelenkt oder genauer gesagt, einen bestimmten potenziellen Täter. Damit werden nicht nur die fremdenfeindlichen Stimmungen im Nachgang der Silvesternacht in Köln bedient, sondern dieser hart erkämpfte Sieg der Frauenbewegung wird für andere Zwecke instrumentalisiert.
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DIE LINKE im Bundestag
Der Paradigmenwechsel im Sexualstrafrecht ist geschafft. Reicht das?
Seit dem 10. November 2016 erfüllt das deutsche Sexualstrafrecht die menschenrechtlichen Anforderungen der Istanbul-Konvention, wonach nicht einverständliche sexuelle Handlungen unter Strafe stehen sollen. Jetzt ist ein sexueller Übergriff auch schon dann strafbar, wenn er gegen den erkennbaren Willen ausgeführt wird. Es kommt nicht mehr darauf an, ob eine betroffene Person sich gewehrt hat oder warum ihr dies nicht gelungen ist. Auch die bislang völlig straffreie sexuelle Belästigung wurde unter Strafe gestellt. Die Reform stellt einen Meilenstein für den Schutz der sexuellen Selbstbestimmung in Deutschland dar. Steht damit nun alles zum Besten? Nein. Wenn sich an der Anzeigenquote – bislang etwa zehn Prozent – etwas ändern soll, muss sich die Ausgestaltung dieser Verfahren verändern. Immer noch wird Betroffenen mit Misstrauen begegnet oder sie werden vor Gericht nach intimen Details ihres vorherigen Sexuallebens befragt. Die Dauer der Verfahren ist nicht selten skandalös – zuletzt wandte sich eine Betroffene an die Öffentlichkeit, die seit nunmehr drei Jahren auf den Beginn des Prozesses wartet. Und immer noch werden Betroffene – auch in ihrem sozialen Umfeld – mit den weitverbreiteten Vergewaltigungsmythen konfrontiert, wenn sie sich offenbaren. Ihnen wird eine Mitschuld gegeben, etwa wenn es heißt: »Hattest du zu viel getrunken?« Der politische und mediale Umgang mit den sexuellen Übergriffen nach der Silvesternacht 2015/16 hat gezeigt, dass Betroffene viel Solidarität erfahren können – wenn die mutmaßlichen Täter »fremde« Männer sind. Die rassistische Komponente der Debatte hat sicher dazu beigetragen, dass auch eine Verschärfung des Ausweisungsrechts beschlossen wurde, dies aber im Gegensatz zur Nein-heißt-Nein-Regelung zum Glück nicht einstimmig. So bleibt auch nach der Reform noch viel zu tun, bis sexuelle Übergriffe als gesamtgesellschaftliches Problem ernst genommen und dort bekämpft werden, wo sie entstehen: in der Mitte der Gesellschaft. Katja Grieger ist Leiterin des Bundesverbands Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe (bff)
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THEMA: SEXISMUS DIE ROTE KARTE ZEIGEN
Alles, was (un)recht ist am Arbeitsplatz Christine Lüders, die Leiterin der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, über dumme Sprüche und ungleiche Bezahlung. In welchen offenen oder versteckten Formen zeigt sich Sexismus im Arbeitsalltag?
Christine Lüders: Das können dumme Sprüche im Büro sein, das kann physische Belästigung sein, aber auch der Ausschluss von Frauen, wenn es um die Karriere geht. Ganz egal in welcher Form: Sexismus hat immer die gleichen Folgen – da werden
Rollen und Strukturen gefestigt, in denen Frauen das Nachsehen haben. Damit muss Schluss sein. Wie können Sie helfen, wenn sich etwa eine betroffene Frau an Sie wendet?
Diskriminierung ist in Deutschland verboten, dazu zählt auch sexuelle Belästigung oder ganz allgemein eine Dis-
Foto: Bundesantidiskriminierungsstelle
Christine Lüders leitet seit Februar 2010 die Antidiskriminierungsstelle des Bundes. Sie studierte Pädagogik, war unter anderem Vorstandsreferentin bei Lufthansa und Kommunikationschefin im Ministerium für Generationen, Familie, Frauen und Integration in Nordrhein-Westfalen.
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kriminierung wegen des Geschlechts. Das allgemeine Gleichbehandlungsgesetz spricht hier konkret von »unerwünschten und würdeverletzenden Handlungen mit sexuellem Bezug«. Wir als Antidiskriminierungsstelle des Bundes bieten eine juristische Erstberatung an. Das heißt, wir schätzen einen Fall ein und empfehlen weitere Schritte. Auf Wunsch können wir uns auch um eine Einigung bemühen, etwa indem wir den Arbeitgeber anschreiben. DIE LINKE fordert zur Durchsetzung des Antidiskriminierungsrechts ein echtes Verbandsklagerecht – wie stehen Sie dazu?
Ein Verbandsklagerecht ist dringend nötig, damit Betroffene in Fällen von Diskriminierung den Weg vor Gericht nicht allein gehen müssen. In anderen Bereichen wie dem Verbraucherschutz gibt es hier längst vergleichbare Möglichkeiten. Im Sommer haben wir eine Evaluation des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes vorgelegt. Die Autorinnen und Autoren machen einen sehr guten Vorschlag: Entsprechend qualifizierte Antidiskriminierungsverbände sollen die Möglichkeit zu einer Prozessstandschaft und ein Verbandsklagerecht erhalten. Die Antidiskriminierungsstelle selbst könnte ein sogenanntes altruistisches Klagerecht bekommen. Das bedeutet, in Fällen von grundlegender Bedeutung könnte sie tätig werden.
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12 »Ganz egal in welcher Form: Sexismus hat immer die gleichen Folgen – da werden Rollen und Strukturen gefestigt, in denen Frauen das Nachsehen haben. Damit muss Schluss sein.«
Christine Lüders
In welchem Fall würden Sie als Behördenleiterin gerne einmal klagen?
Oh, da gehen uns die Themen sicher nicht aus. (lacht) Ob es nun um ungleiche Bezahlung von Frauen geht, um Racial Profiling, um den Ausschluss von Menschen mit Behinderung oder von Geflüchteten um Möglichkeiten der Teilhabe oder die immer noch nicht vollständige rechtliche Gleichstellung Homosexueller – wir haben in Deutschland in puncto Diskriminierung noch einige Baustellen.
Frauen werden in Deutschland um 21 Prozent schlechter bezahlt als Männer. Der größte Teil dieser Lücke ist individuell »erklärbar«. Liegt damit keine Diskriminierung vor?
Einspruch! Erklärbarkeit bedeutet doch nicht, dass hier kein Diskriminierungspotenzial besteht. Nehmen Sie zum Beispiel die ungleiche Bewertung von typischen Frauen- und Männerberufen. Hier reicht es nicht zu sagen, sucht euch halt einen anderen Beruf, hier geht es um tiefgreifende Ungerechtigkeiten. Auch darf Teilzeitarbeit kein Vorwand sein, Frauen schlechter zu bezahlen, oder die Elternzeit, sie von weiteren Karriereschritten auszu-
schließen. Genau das kommt aber immer wieder vor.
Könnte ein Verbandsklagerecht auch für die Durchsetzung einer fairen Bezahlung unabhängig vom Geschlecht helfen?
Klar. Wenn Verbände, Gewerkschaften und andere stellvertretend für betroffene Frauen vor Gericht ziehen, dann stärkt das auch ihre Position. Vermutlich würden dann auch mehr Frauen ermutigt, ihre Rechte durchzusetzen. Und es würde deutlich, dass es sich hier nicht um ein individuelles, sondern ein grundsätzliches Problem handelt.
Frau Lüders, im nächsten Jahr endet Ihre Amtszeit als Bundesbeauftragte. Worauf sind Sie persönlich besonders stolz?
Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes hat in meiner Zeit einiges erfolgreich angestoßen, worauf ich gemeinsam mit meinem Team sehr stolz bin. Zuletzt war es die »Geburtshilfe« für die Rehabilitierung der Opfer des Paragrafen 175 Strafgesetzbuch. Ohne das von uns in Auftrag gegebene verfassungsrechtliche Gutachten hätte es hier wohl nicht so schnell Bewegung gegeben. Ein anderes Beispiel war das
Zahlen und Fakten
° Die Lohnlücke beim Brutto-
stundenlohn zwischen Frauen und Männern beträgt in Deutschland 21 Prozent (EU: 16 Prozent)
° Etwa die Hälfte der Frauen arbeitet in Teilzeit. Im Schnitt sind das 19 Stunden, sie würden aber lieber 32 Stunden arbeiten.
° Laut Statistischem Bundesamt
arbeitete Im Jahr 2015 nur 9 Prozent der erwerbsfähigen Männer zwischen 20 und 64 Jahren in Teilzeit. Damit ist Deutschland im europäischen Vergleich an achter Stelle. Spitzenreiter sind die Niederlande mit 22 Prozent, gefolgt von Schweden und Dänemark mit je 12 Prozent.
° 79 Prozent der 160 größten bör-
sennotierten Unternehmen in Deutschland haben kein einziges weibliches Vorstandsmitglied.
° 19 Prozent der Frauen gaben in
einer repräsentativen Studie an, am Arbeitsplatz gegen ihren Willen sexuell berührt worden zu sein.
Pilotprojekt zu den anonymisierten Bewerbungsverfahren, das deutschlandweit große Beachtung fand und mittlerweile viele Nachahmer hat. Durch solche Projekte haben wir es geschafft, das Thema Diskriminierung auf die öffentliche Agenda zu setzen, Probleme anzusprechen und auch noch Lösungswege vorzuschlagen. Das Gespräch führte Geraldine Carrara
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Schluss mit Sexismus in THEMA: SEXISMUS DIE ROTE KARTE ZEIGEN
Foto: pinkstinks
Mit provokanten und provozierenden Aktionen geht der Verein Pinkstinks gegen Sexismus in der Werbung vor. Und er ist erfolgreich damit. exismus ist in aller Munde, aber niemand scheint so richtig zu wissen, was genau das sein soll. Seitdem Pinkstinks im Jahr 2012 von ein paar Aktivist*innen mit viel Herzblut und ohne finanzielle Mittel an den Start gebracht wurde, stehen wir immer wieder vor diesem Phänomen. Die Bild-Zeitung wirft uns vor, Nacktheit verbieten zu wollen. Der Chef der FDP, Christian Lindner, nennt uns prüde. Beides trifft nicht zu und beides hat nicht unmittelbar etwas mit Sexismus zu tun. Eigentlich ist die Definition ganz einfach: Sexismus ist die Diskriminierung aufgrund von Geschlecht. Und als solche ist er schlicht und ergreifend nicht hinnehmbar. Weil man irgendwo anfangen muss – und weil wir weder die Zwangseinteilung von Kindern in rosa-hellblaue Stereotypwelten noch das permanente Bombardement mit sexistischen Motiven in diversen Medien länger hinnehmen wollten –, stinken wir gegen Werbung als Teil der alltagssexistischen Gesellschaft an.
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en Plakaten s? Mit augenauffällig Hoppla, was ist da ten ins Stolpern. en um kstinks Kons bringt der Verein Pin
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der Werbung unächst haben wir das mit sehr überschaubaren Mitteln gemacht. Mit Straßentheater, ein paar Leuten, die uns in den sozialen Netzwerken gefolgt sind und jeder Menge Wut im Bauch. Gegen die Sendung Germany’s Next Topmodel, bei der junge Frauen und Mädchen buchstäblich bis zum Erbrechen zu normierter Schönheit und überschlanken Körpern angehalten werden. Gegen Werbeplakate von Axe, auf denen Männer Astronauten sein durften und Frauen nur halbnackter Zierrat. Und immer wieder gegen das, was wir Pinkifizierung nennen. Sie wissen schon: Wenn Spielzeugabteilungen zweigeteilt sind und man Sie in Verkaufsgesprächen immer wieder fragt, ob Sie nun ein Junge oder ein Mädchen haben. Wenn sich die Industrie die Hände reibt, weil Sie das funktionstüchtige Fahrrad ihrer ältesten Tochter nicht ihrem Sohn vermachen können – es ist nämlich rosa und rosa geht für Jungen gar nicht.
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Nur in diesem Zusammenhang stinkt uns pink. Nicht als Farbe oder als Lust an Verschönerung und klassischer Femininität. Sondern als übergriffiger Imperativ, der Menschen dazu auffordert, ihre Geschlechtsidentität gefälligst durch stereotype Verhaltensweisen zu belegen.
nzwischen hat sich einiges getan. Das anfängliche Interesse der Presse an unserem »verrückten Protest« hat sich verstetigt. Pinkstinks hat sich zu einer kleinen, aber schlagkräftigen Nichtregierungsorganisation entwickelt, die mittels Spenden Kampagnen entwickelt, Lobbyarbeit betreibt, mit Theaterstücken und Aufklärungsmaterialien an die Schule geht, Protest auf die Straße bringt und versucht, Gegenbilder zu entwickeln. Wütend sind wir immer noch. Frauen werden nach wie vor dazu benutzt, ohne jeden Produktbezug in diskriminierender Weise Waren aufzuwerten. Aber wir finden immer mehr Mittel und Wege, dagegen vorzugehen. Zum Beispiel mit dem Vorschlag zu einer Gesetzesnorm, die die krassesten Formen von sexistischer Werbung verbieten soll und die in einem ersten Teilerfolg dafür sorgen wird, dass die Politik den deutschen Werberat dazu anhält, deutlich härter gegen derartige Motive vorzugehen. Und auch bei den erwähnten Gegenbildern tut sich was.
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Dass Sie im Katalog von Tchibo Jungen und Mädchen sehen, die die gleichen Sachen tragen und mit den gleichen Sachen spielen dürfen, ist das Ergebnis monatelanger Überzeugungsarbeit unsererseits. Wenn Sie im vorweihnachtlichen Berlin spazieren waren, werden Sie Plakate von
uns gesehen haben, die sehr deutlich machen, dass sexy und sexistisch nicht das Gleiche ist.
er sexistischen Einfalt Vielfalt entgegensetzen und sie überall da stoppen, wo wir sie aufhalten können – das ist seit vier Jahren der Plan. Für die Umsetzung dieses Plans werden wir weiter um politische und zivilgesellschaftliche Unterstützung werben. Denn das, was viele als feministisches, humorbefreites Nischenthema abtun, brennt tatsächlich an allen Ecken und Enden. Es bleibt viel zu tun.
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Nils Pickert ist Chefredakteur bei Pinkstinks
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Linker Feminismus in Europa THEMA: SEXISMUS DIE ROTE KARTE ZEIGEN
Frauen in der kriegsgeschüttelten und zerrissenen Ukraine – wer vertritt sie, wie sind sie organisiert, mit wem arbeiten sie zusammen? Fragen an Nelia Vakhovska, Projektkoordinatorin der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Kiew. Die Ukraine gilt als ein zwischen Osten und Westen zerrissenes Land. Was bedeutet das für die Situation von Frauen?
Mit welchen Folgen?
Die sozialistische Gesellschaft war sicher frauenfreundlicher. Es gab gläserne Decken, die waren wahrscheinlich auch höher als im Westen, aber es
gab Gesundheitsvorsorge, Kinderbetreuung und Geschlechterquoten. Die Frauenemanzipation in den 1920er Jahren entstand aus dem Arbeitskräftemangel für die Industrialisierung. Der Staat brauchte Frauen und Männer als Arbeitskräfte. Der Feminismus wurde somit von oben nach unten verordnet, ohne wirklich verankert zu sein. Frauen wurden nicht von ihren traditionellen
Fotos: Roman Klymenko
Nelia Vakhovska: Noch mehr Schwierigkeiten. In der vertieften Wirtschaftsund Sozialkrise werden Frauen mehrfach benachteiligt. Die Reste der Sozialversorgung, die die Ukraine von der
Sowjetunion geerbt hatte, werden gelöscht, als Neues kommen die neoliberale Agenda und Arbeitslosigkeit.
Gedankenaustausch in Kiew. Dabei auch die Leiterin der Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin, Dagmar Enkelmann (l. stehend am Plakat), und Cornelia Möhring von der Fraktion DIE LINKE (r. stehend am Plakat).
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12 Rollen befreit und hatten die doppelte Belastung von Arbeit und Haushalt. Deshalb bestand bisher ein Konsens darüber, dass die sowjetische Politik keine feministische war. Aber jetzt fällt es noch weiter dahinter zurück. Das Assoziierungsabkommen der Ukraine mit dem Westen fordert massive Sparmaßnahmen. Das führt zu schweren Einschränkungen. Wenn das Kindergeld gekürzt wird oder es an Kinderbetreuung und Pflegediensten fehlt, dann geht das natürlich hauptsächlich auf Kosten der Frauen. Es ist also wichtig, die soziale Frage mit dem Feminismus zu verbinden. Gibt es Frauenorganisationen, die das thematisieren?
Feminismus ist in der Ukraine eher urban und intellektuell geprägt, inspiriert vom Westen. Es gibt einzelne Gruppen, mit denen wir zusammenarbeiten, aber es bleibt vorrangig im intellektuellen Bereich. In Kiew gab es 2011 einen Zusammenschluss mit dem Namen Feministische Offensive. Sie hatte eine Demonstration zum 8. März organisiert. Etwa 200 bis 300 Menschen waren da, was schon ein großer Erfolg war. Aber diese Feministische Offensive gibt es nicht mehr, sie hat sich wegen Streitigkeiten aufgelöst. Und danach?
Danach hatten wir die Hoffnung, dass die Friedensbewegung hauptsächlich von Müttern getragen wird. So wie in den 1970er Jahren während des Afghanistankriegs. Zu Beginn des Kriegs im Donbass hatten einige Frauen im ukrainischen Westen Straßen, die für die Verbindung nach Russland sehr wichtig waren, blockiert. Aber nach zwei Wochen war schon wieder alles vorbei. Die Kriegspropaganda erklärte die Frauen zu »Verräterinnen der Nation« und brachte sie damit zum Schweigen.
Heute gibt es keine Frauenbewegung mehr, keine, die sich starkmacht für Forderungen der Frauen.
Nelia Vatkovska – eine Kämpferin für Frauenrechte vor Ort.
Das hört sich sehr pessimistisch an. Wo sehen Sie trotzdem eine Perspektive?
Eine Chance liegt in den Frauengruppen der Gewerkschaften. Da gibt es schon einige aktive, aber die Gewerkschaften insgesamt sind selbst noch sehr schwach. In einer lokal organisierenden Gewerkschaft können diese Frauengruppen jedoch ein wichtiger Teil sein. Zum Beispiel in Krywyj Rih, das ist eine Großstadt in der südlichen Ukraine, gab es kürzlich eine Arbeiterschule zum Thema Gleichstellung. Die Veranstalter hätten nicht erwartet, dass das so gut ankommt. Besonders junge Arbeiterinnen und Arbeiter waren sehr aufgeschlossen. Die Women’s International League for Peace and Freedom, eine international arbeitende Nichtregierungs-
organisation, entwickelt gerade eine Idee, wie Praktiken solidarischer Ökonomie in das Kriegsgebiet gebracht werden können, um Frauen vor Ort zu stärken. Und natürlich gibt es kleine Gruppen an Hochschulen, auch engagierte Künstlerinnen und Künstler, selbst wenn sie im intellektuellen Bereich bleiben. Das Gespräch führte Alexandra Wischnewski
LINKER FEMINISMUS Der Linke Feminismus in Europa – wie kann er gestärkt werden? Dazu gab es im November 2016 in Kiew einen Workshop, zu dem die Rosa-Luxemburg-Stiftung eingeladen hatte. Zu den Teilnehmerinnen gehörten Vertreterinnen der Auslandsbüros in Polen, Serbien, Russland, der Ukraine und der Stiftung in Berlin. Ebenfalls dabei war die frauenpolitische Sprecherin CORNELIA MÖHRING. Immer wieder aufs Neue wird mir klar, wie wichtig Aufbau und Pflege von Netzwerken von Frauen und ihren Organisationen ist. Um sich gegenseitig zu stärken, aber auch und vor allem, um gemeinsam nach vorne gehen zu können. Der gemeinsame Workshop hat noch einmal gezeigt, dass das auch für die europäische, ja, internationale Ebene gilt. Bei allen Unterschieden sehen wir ähnliche Entwicklungen bei Angriffen auf Frauenrechte durch rechte Parteien. Und wir sehen, wie die neoliberale Sparpolitik in Europa immer zuerst Frauen trifft. In Osteuropa ist das bisher stärker zu sehen, aber auch in Deutschland gewinnen diese Fragen neue Dynamik . Umso wichtiger ist es, dass wir uns austauschen, die Besonderheiten der einzelnen Länder verstehen lernen und darüber unsere Kämpfe dennoch als gemeinsame begreifen und führen.
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Die vergessenen Frauen
Tausende Frauen wurden während der Naziherrschaft öffentlich geschoren, an den Pranger gestellt, ins Zuchthaus oder ins Konzentrationslager gesteckt. Ihr Verbrechen: Kontakt mit »Fremdvölkischen«. Ihre Geschichten sind vergessen oder kaum bekannt. an spürt die Angst der Frau auf den Fotos. Ihr Name: Martha Wölkert. Sie wird von der Staatsmacht in Uniform in ihrem Heimatort Arendsee, einer Stadt in der Altmark, vorgeführt. Ein Pappschild brandmarkt sie: »Ich bin eine Sau, war eine deutsche Frau. Ich verkehre mit Polen.« Kinder, Frauen, Männer begaffen sie, es heißt, auch ein Spielmannzug sei bei der öffentlichen Demütigung dabei gewesen. Zuvor waren der 35-jährigen Landarbeiterin auf dem Marktplatz die Haare geschoren worden. Passiert unter den Augen der Bevölkerung ist das am 16. Juni 1941. Martha Wölkert kommt ins Gefängnis in Arendsee, danach in Magdeburg und im März 1943 – also fast zwei Jahre später – wird sie in das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück deportiert. Dort wird sie weitere eineinhalb Jahre für ihr »Vergehen«, nämlich für den »Verkehr mit Polen«, büßen.
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m ehemaligen Konzentrationslager Ravensbrück lassen sich etwa 3 500 Frauenschicksale dieser Art rekonstruieren. Frauen in unterschiedlichem Alter und unterschiedlicher sozialer Herkunft, deren einziges Vergehen darin bestand, dass sie sich menschlich verhalten hatten – und zwar den »Fremden« gegenüber. Im Verlaufe
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des Zweiten Weltkriegs hatte das NSRegime etwa sieben Millionen Ausländerinnen und Ausländer, darunter knapp zwei Millionen Kriegsgefangene, verschleppt. Sie leisteten Zwangsarbeit in der Industrie, auf Bauernhöfen, als Dienstmägde in Haushalten, in Handwerksbetrieben. Wenn auch dringend gebraucht, fürchtete die NS-Führung doch gleichzeitig um die »Blutreinheit des deutschen Volkes«. Somit wurde der sexuelle Kontakt zu »Fremdvölkischen« unter Strafe gestellt. »Wer vorsätzlich gegen eine zur Regelung des Umgangs mit Kriegsgefangenen erlassene Vorschrift verstößt oder sonst mit Kriegsgefangenen in einer Weise Umgang pflegt, die das gesunde Volksempfinden gröblich verletzt, wird mit Gefängnis, in schweren Fällen mit Zuchthaus bestraft«, ist in einem Erlass vom November 1939 nachzulesen. Doch was bedeutete dieses »Umgangsverbot« genau? Wer prangerte die Frauen an? Was reichte aus, um sie zu bestrafen? Und warum wissen wir bis heute so wenig darüber?
»Der »verbotene Umgang«, so die Kulturwissenschaftlerin Laura Müller, »musste nicht gleich Geschlechtsverkehr bedeuten, schon ein Duzen, eine freundschaftliche Verabschiedung oder die Anrede beim Vornamen reichten aus, um die Gestapo aufmerksam zu
Fotos: Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten
IN MEMORIAM
machen.« Für Denunzianten war damit Tür und Tor geöffnet. Manchmal war es die Nachbarin, der eigene Vater, der Arbeitskollege, der Vorgesetzte, ein Polizist, in einem Fall sogar der Arzt. Bewiesen werden musste nichts, die Behauptung allein reichte aus. »Als Strafen kamen infrage: Gefängnis- oder Zuchthausstrafen, Geldstrafen, der Verlust der Bürgerrechte, die Veröffentlichung ihres Namens in der Lokalpresse und die öffentliche Demütigung durch die Haarschur mit anschließendem Vorführen vor der Dorf- und Stadtgemeinschaft.« Laura Müller hatte für ihre Masterarbeit Vernehmungsprotokolle, Gerichtsurteile, Anwaltsschreiben, manchmal waren es nur Transportzettel, ausgewertet und konnte für das Saarland 60 persönliche Geschichten von Frauen, die wegen des »verbotenen Umgangs« mit Kriegsgefangenen verurteilt wurden, ermitteln. Die regionale Aktenlage ist überall dünn. Das bestätigt auch Harry Stein, Historiker und Cokurator der historischen Dauerausstellung in der Gedenkstätte Buchenwald. Die Ausstellung »Ausgren-
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Juni 1941, eine Frau wird öffentlich geschoren und zur Schau gestellt. Ihr Verbrechen: Kontakt mit einem Kriegsgefangenen. Dafür wurden Frauen massenhaft mit Gefängnis und Deportation ins Konzentrationslager bestraft.
Lesetipp rstmals gab es nun in der Mahnund Gedenkstätte Ravensbrück eine Tagung zu dem »Verkehr mit Fremdvölkischen«. Historiker *innen, Wissenschaftler*innen, Publizist*innen und Filmemacher*innen, Gedenkstättenleiterinnen und -leiter trugen die Ergebnisse der mühsamen Spurensuche zusammen. Keine der verurteilten Frauen wurde bis heute rehabilitiert, keine einzige bekam eine Entschädigung. Kaum ein Täter wurde nach dem Krieg bestraft. Im Gegenteil: Diese Frauen sind fast vergessen. Viele der Betroffenen schweigen immer noch aus Scham. Es ist an der Zeit, ihre Geschichten zu erzählen und die Unrechtmäßigkeit der Urteile aufzuheben.
ISBN: 978-3-86331-216-9
Neue Beiträge zur Geschichte und Nachgeschichte
Insa Eschebach, die Gastgeberin und Mitinitiatorin der Tagung »Verkehr mit Fremdvölkischen« leitet die Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück. In dem oben genannten Buch veröffentlichte sie einen Beitrag zum Thema, in dem sie die »Haftgruppe der wegen verbotenen Umgangs im KZ Ravensbrück inhaftierten Frauen« näher beleuchtet. »Neben der großen Gruppe der deutschen Frauen gab es auch eine unbekannte Zahl polnischer Frauen, die wegen eines Verhältnisses zu einem deuttionslager Das Frauen-Konzentra Ravensbrück schen Mann nach Ravensbrück deportiert wurden.« Über diese Gruppe von Frauen sei »bislang kaum etwas bekannt«. te chte und Nachgeschich Neue Beiträge zur Geschi
Forschungsbeiträge und Materialien der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten Band 12
9 783863 312169
Das FrauenKonzentrationslager Ravensbrück
Insa Eschebach (Hrsg.)
Das Frauen-Konzentration
ionslagers Ravense des Frauen-Konzentrat Die Forschung zur Geschicht geradezu sprunghaft vergangenen zwei Dekaden brück hat sich in den zu einzelnen Häftlings versammelt neue Studien Beiträentwickelt. Dieser Band aus den USA. Weitere Osteuropa, aber auch innen“, „Geltungsgruppen aus West- und „Zigeuner als die von Frauen, en verfolgt wurden ge schildern das Schicksal “ oder britische Agentinn jüdinnen“, „Mischehefrauen vorwarf. mit Fremdvölkischen“ oder denen man „Verkehr die Alltag, die Kultur und sind darüber hinaus der Historische Quellen Gegenstand der Beiträge ationslager Ravensbrück. wie Fragen der Rereligiöse Praxis im Konzentr gen sind ebenso Thema wie Fotografien und Zeichnun Erinnerungsgeschichte. präsentation und der
t Neue Beiträge slager Ravensbrück
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Insa Eschebach (Hrsg.)
zung und Gewalt« erzählt unter anderem von den »Konsequenzen rassistischer Umgangsverbote«. In einem Zweitausendseelenort in Thüringen werden fünf Frauen angeprangert. In einem anderen Ort in Südthüringen lyncht die Polizei in aller Öffentlichkeit und zur Abschreckung 20 Polen. Kriegsgefangene, denen Beziehungen zu deutschen Frauen unterstellt oder nachgesagt wurden, überlebten nur selten. Die Gestapo ließ sie im Rahmen einer »Sonderbehandlung« ermorden. Inzwischen erhielt die Gedenkstätte Buchwald vom Internationalen Suchdienst einen digitalisierten Satz von einigen Hunderttausend Blatt, vor allem Personalakten. Damit, so Harry Stein, würden sich Fallbeispiele für den »verbotenen Umgang« auch in Ortschaften »im Rheinland, in Franken, Mecklenburg, Brandenburg, Sachsen, Ostpreußen, Schlesien, Hessen, Niedersachsen und der Provinz Sachsen« nachweisen lassen.
Der Sammelband erschien 2014 und kostet 24 Euro. 27
Neue Nachbarn – angekommen, aber noch nicht zu Hause THEMA: SEXISMUS DIE ROTE KARTE ZEIGEN
Wie lebt es sich im fremden Land? Welche Werte, welche Kultur gibt es? Was muss ich wissen? Scheinbar einfache Fragen, auf die das Sozialunternehmen Social Science Works im Dialog mit Geflüchteten nach Antworten sucht. Lotta stellt das neue Projekt vor.
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assim Al Ali ist erst seit einem Jahr in Potsdam. Bis September 2015 lebte er in Homs, in Syrien. Er ist im Gespräch »der Flüchtling« oder »der Geflüchtete«. Wassim allerdings will sich so nicht nennen lassen. Er findet, dass dieser Begriff ihn in seiner Identität reduziert. Er ist nicht nur der Flüchtling, sondern vor allem »ein Mensch, ein Potsdamer«, ein studierter Agraringenieur, ein Lebensmittelprüfer in Festanstellung. Er sagt, er sei »angekommen«. Wassim arbeitet für ein spanisch-deutsches Unternehmen,
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er reist dienstlich durch ganz Europa. Sein Deutsch ist nach ein paar Monaten schon so gut, dass er in diesem Workshop nicht nur ein Teilnehmer ist, sondern auch als Übersetzer arbeitet. Auf das Flüchtlingsein »möchte ich mich nicht festlegen lassen.«, sagt er. Zusammengebracht hat die beiden jungen Männer das Sozialunternehmen Social Science Works. Der niederländische Professor Hans Blokland und ein Team von Sozialwissenschaftlern der Humboldt-Universität hatten genug von der reinen Theorie. Sie wollten Theorie und Praxis verbinden, etwas tun für eine
bessere Integration. So ist Social Science Works entstanden. Die Sozialwissenschaftler gründeten ihr Unternehmen und starteten zwei Projekte für geflüchtete Männer. Das eine bringt Geflüchtete und Deutsche zusammen. Gemeinsam tauschen sie sich in Workshops über Werte und Regeln der europäischen Kultur und Tradition aus. Werte, die möglicherweise in den Herkunftsländern anders gelebt werden und tradiert sind. »In den Workshops diskutieren wir Themen wie Pluralismus, Humanismus, Demokratie, Religionsfreiheit, Gender, GleichberechOktay Tuncer ist Deutscher, weiß aber genau, wie es sich anfühlt, als Fremder wahrgenommen zu werden.
Fotos: Julia Nowak
n einem kalten Samstagvormittag sitzen sich Oktay Tuncer und Wassim Al Ali gegenüber. Sie sind zu einem Workshop in Potsdam gekommen, um über Identität zu sprechen, über Männerbilder und Maskulinität, über Demokratie. Oktay Tuncer ist in diesem Gespräch »der Deutsche«. Er ist in Süddeutschland geboren und aufgewachsen, hat das Abitur gemacht und studiert Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seine Sprache ist akademisch und geschliffen, er leitet den Workshop. Sein Name verrät allerdings: Er hat möglicherweise Wurzeln in einem anderen Land.
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12 tigung, Sexualität, Ängste von Migranten, aber auch Ängste vor Migranten in der deutschen Bevölkerung«, so beschreibt Hans Blokland das Anliegen der Workshops. Was gewichtig klingt, findet in lockeren Gesprächen statt. Wassim erzählt, dass er – neu in Deutschland – nicht wusste, wie er mit einer deutschen Frau sprechen sollte. Worüber darf überhaupt zwischen den Geschlechtern gesprochen werden? Heute schmunzelt er über diese Unsicherheit. Aber er weiß auch: Die sozialen Codes in seiner Heimat sind anders als die der Deutschen, und um zu lernen und zu verstehen, wo genau diese Unterschiede liegen, sind solche Workshops sehr hilfreich. Auf Augenhöhe wird über die einfachen Dinge des Lebens gesprochen, aber auch über schwierige und existenzielle Probleme. Kein Belehren, kein Fingerzeig, kein Besserwissen, sondern Zuhören und Austausch.
as zweite Projekt der Sozialwissenschaftler ist ein »Buddy«Programm. Dafür suchen die Wissenschaftler deutsche oder deutschsprachige Männer, die sich regelmäßig sechs Monate lang mit »Buddys« treffen, um »Einsichten und Verständnis, Kontakte und Wissen über die hiesige Gesellschaft zu bekommen«, so Blokland. Zugeordnet wird jeweils ein deutscher Mann einem geflüchteten Mann. Gefördert werden die Projekte von der rot-roten Landesregierung in Brandenburg. In ein Buddy-Team gehören jeweils zwei. Oktay Tuncer beispielsweise ist ein sogenannter deutscher Buddy.
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»Ich weiß, wie das ist, aus einem fremden Kulturkreis zu kommen. Meine Eltern kamen einst als Migranten aus der Türkei nach Deutschland.« Er kenne dieses Gefühl, mit Vorurteilen konfrontiert zu werden – in der Schule, in Institutionen, auf der Straße. Darum ist dieses Buddy-Programm, »Menschen im Einszu-eins-Kontakt kennenzulernen, genau hinzuhören, Feinheiten aus der Biografie zu erfahren«, ein guter Weg zur Sensibilisierung im Miteinanderumgehen. »Aber das geht nicht binnen eines Monats, dafür müssen wir uns Zeit nehmen.« Vertrauen, Freundschaft und ehrliche Gespräche bräuchten eben Geduld.
Wassim Al Ali lebt seit einem Jahr in Potsdam. Seine Heimat Syrien musste er verlassen.
Sophie Freikamp
Mehr unter: www.socialscienceworks.org
Professor Hans Blokland ist Niederländer, Sozialwissenschaftler an der Humboldt-Universität zu Berlin, er leitet das Unternehmen Social Science Works.
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THEMA: SEXISMUS DIE ROTE KARTE ZEIGEN
Wieder salonfähig? Antifeminismus in der Gesellschaft Eine emanzipierte Gesellschaft braucht emanzipierte Menschen. Und keine alten Rollen, neue Tabubrüche und vergangene Werte.
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Foto: Uwe Steinert
Jährlich gehen in Berlin im September Tausende Frauen gegen selbsternannte Lebensschützer und für ihre Selbstbestimmungsrechte auf die Straße. Kein Rückfall in alte Rollenklischees.
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12 m 9. November 2016 wurde mit Donald Trump ein Mann zum Präsidenten der USA gewählt, der offensichtlich sexistische Positionen vertritt. Der berühmt gewordene Mitschnitt seines Pausengesprächs mit einem Moderator – das versehentlich aufgezeichnet wurde – lässt sich nicht als Gerede in der Männerumkleide abtun. Wenn man verharmlosend davon spricht, bedient man einerseits selbst biologische Sexismen »Männer sind halt so ...« und andererseits nimmt man damit die Situation als gegeben, als normal und unveränderbar hin. Beides ist nicht förderlich für eine emanzipatorische Gesellschaft. Sexistische Tendenzen nehmen anscheinend in unserer Gesellschaft zu. Das zeigt nicht nur das Beispiel Trump, sondern beispielsweise auch die TVWerbung einer großen Supermarktkette zum Weihnachtsfest, die offensiv zum Verkauf ihrer Produkte mit der Angst vor dem Gesichtsverlust bei der Schwiegermutter wirbt. Als wäre es die naturgegebene Bestimmung der Ehefrau und Mutter (nicht nur an Weihnachten) allein zu putzen, zu kochen und für die Familie zu sorgen.
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Das altbackene und reaktionäre Weltbild, das hinter solchen Beispielen steht, scheint heutzutage eine Renaissance zu erfahren. Nicht nur Mann traut sich wieder, Dinge zu sagen, die ganz tief aus der Mottenkiste geholt werden und als Tabu galten.
s ist wahrscheinlich, dass sexistische Ressentiments schon immer da waren, mehr oder weniger geschlummert haben und in Zeiten von vermeintlicher oder realer Unsicherheit und Verunsicherung ans Tageslicht kommen und eine Auferstehung erfahren. Zusätzlich erfahren sie eine politisch-parlamentarische Legitimation durch den Einzug ins Weiße Haus oder in deutsche Landtage. Mit der sogenannten Alternative für Deutschland (AfD) ist der organisierte Antifeminismus im politischen System Deutschlands angekommen. Oder muss man vielleicht sagen, mit voller Wucht zurückgekehrt? Es gab immer schon explizit antifeministische und gleichstellungsfeindliche Tendenzen in den Landtagen oder im Bundestag. Abwehrkämpfe gegen gesellschaftliche Modernisierungsbestrebungen durchziehen die politische Agenda seit Jahrzehnten.
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Damit einhergehend werden bisherige Errungenschaften der Frauenbewegung(en) und der emanzipatorischen und freien Gesellschaft infrage gestellt. Zum einen verschärfen sich die Angriffe auf sexuelle und reproduktive Rechte der Frauen. Das Recht auf Schwangerschaftsabbruch wird nicht nur in unserem Nachbarland Polen angegriffen – auch in Deutschland gehen jedes Jahr etliche Tausend Menschen beim »Marsch für das Leben« auf die Straße und machen Frauen das Selbstbe-
stimmungsrecht über ihren Körper streitig. Zum anderen gab es spätestens mit der Einführung des Lebenspartnerschaftsgesetzes eine neue Idee von Paarbeziehungen und Familienformen. Die Abwehrkämpfe gegen die Gleichstellung der Lebenspartnerschaft mit der Ehe werden erbittert geführt. In Frankreich gehen Zehntausende unter dem Motto »La Manif pour tous« auf die Straße, um gegen alles zu protestieren, was nicht der Idee einer Kleinfamilie aus Vater, Mutter, Kind entspricht.
on der AfD und der extremen Rechten bis in die bürgerliche Mitte hinein gibt es das Streben nach alten konservativen Werten und der zu schützenden Kleinfamilie. Das ist Ausdruck einer gefühlten tiefen Verunsicherung. In einer Zeit des Aufbrechens vermeintlicher Gewissheiten wie der festen Arbeitsstelle und der Angst um deren Verlust, der Angst vor einem Abstieg auf der gesellschaftlichen Ansehensleiter, Angst vor Scheidung oder gesellschaftlichen Veränderungen in Zeiten von Umweltkatastrophen, Krisen und Kriegen ist das Eis der »zivilisatorischen« Schutzschicht besonders dünn. Dies bekommen nicht nur Frauen, sondern auch Schwarze Menschen, Nichtdeutsche und Marginalisierte und Prekarisierte in unterschiedlichem Ausmaß deutlich zu spüren.
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In diesen Zeiten werden erkämpfte Freiheiten und emanzipatorische Errungenschaften gern beschnitten. Die Uhr soll zurückgedreht werden, um den Weg zur homogenen (Volks-)Gemeinschaft zu ebnen und Statusängste zu lindern. Tradierte Vorstellungen sollen reaktiviert werden, um Verängstigten, die um ihren Platz und Status in der Gesellschaft bangen, Halt und Orientierung zu bieten: ein Festhalten an alten Privilegien als einzige Sicherheit in einer feindlichen Welt.
ür uns Linke ist es zwingend notwendig, sich gegen alle Formen von Menschenfeindlichkeit zu wehren. Wir müssen diesem Zeitgeist gemeinsam unsere Idee einer freiheitlichen, emanzipatorischen und solidarischen Gesellschaft entgegensetzen. Denn eine offene, tolerante Gesellschaft muss auch behütet und immer wieder neu verteidigt werden.
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Jana Hoffmann ist Referentin für feministische Politik in der Fraktion DIE LINKE
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THEMA: SEXISMUS DIE ROTE KARTE ZEIGEN
Streik und Erfolg der polnischen Frauen
Fotos: picture alliance / NurPhoto
Frauenmacht in Schwarz. In Polen demonstrierten landesweit Frauen gegen ein noch schärferes Abtreibungsgesetz. Es hätte ungewollt Schwangere ins Gefängnis gebracht.
Polens Regierung wollte ein striktes Abtreibungsverbot durchsetzen. Nach landesweiten Frauenstreiks ist die Verschärfung vom Tisch – vorerst.
er polnischen Bevölkerung, besonders den Frauen, gelang im Herbst 2016 ein Novum. Zum ersten Mal beugten sich die Parlamentarier*innen im Sejm dem Druck der Straße. Zuvor war ihnen von der Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) nahegelegt worden, dem neuen Gesetzentwurf für ein völliges Abtreibungsverbot zu-
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zustimmen. Dieses geplante Gesetz war extrem radikal, besonders im Kontext europäischer Länder. Ein Schwangerschaftsabbruch wäre damit grundsätzlich verboten gewesen, Frauen wären bei einer Abtreibung mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft worden, ebenso Ärztinnen und Ärzte, die ihnen dabei helfen. Eine Abtreibung sollte selbst dann noch
unter Strafe gestellt werden, wenn die Schwangerschaft die Folge einer Vergewaltigung oder eines Inzests wäre.
Mehr als 100 000 Frauen, Männer, junge und ältere, auch ganze Familien gingen dagegen am Montag, dem 3. Oktober, im ganzen Land auf die Straße. Die Organisatorinnen der Kampagne »Rettet die Frauen« hatten
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»Sollen sie sich amüsieren«
Die abfällige Reaktion von Außenminister Witold Waszczykowski befragt nach den Massenprotesten der Frauen.
völliges Abtreibungsverbot die Frauen nur noch mehr in den Abtreibungsuntergrund und in die Nachbarländer drängt.
er Entwurf für ein völliges Abtreibungsverbot in Polen wurde dem Parlament von dem Verein Pro-life Ordo Iuris vorgelegt. Eine Vereinigung besonders radikaler und selbsternannter »Lebensschützer«. Dazu hatten sie dem polnischen Parlament 450 000 Unterschriften für das generelle Abtreibungsverbot übergeben. Viermal so viele wie nötig gewesen wären. Und sie wussten die Priester an ihrer Seite, die katholische Kirche hatte zuvor einen Hirtenbrief beim Gottesdienst verlesen lassen, worin ein vollständiges Abtreibungsverbot gefordert wurde.
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Nicht gefragt wurden die Frauen. Sie haben sich gewehrt und im Moment auch gewonnen. Aber wie lange? Denn es ist ungewiss, was die regierende PiS mit ihrem Vorhaben, den Frauen komplett ihr Selbstbestimmungsrecht zu nehmen, vorhat. Wird der Gesetzentwurf nur auf Eis gelegt? Wartet die Regierung darauf, dass sich die Frauen wieder »beruhigen«? Bauen sie darauf, dass die Familien in Polen die schnell verabreichte Pille »erhöhtes Kindergeld« schlucken? Erkaufen sich die Männer auf der Regierungsbank mit solchen Maßnahmen die Zustimmung? Die Frauen können sich nicht sicher sein. Jedenfalls so lange nicht, bis dieses harsche Gesetz endgültig vom Tisch ist. Gisela Zimmer/Kaja Kröger
Trommeln für das Recht auf eigene Entscheidung. Polen hat europaweit eines der regidesten Abtreibungsverbote.
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»Die verratenen Mütter« THEMA: SEXISMUS DIE ROTE KARTE ZEIGEN
Ein brilliantes Buch von Kristina Vaillant und ein leidenschaftliches Plädoyer für eine solidarische Rentenversicherung.
aber ausschließlich an der Höhe der Beiträge, die eingezahlt wurden. Bei Minijobs wird quasi gar kein Rentenanspruch erworben.
Kristina Vaillant: Als ich mit meiner Kollegin an einem Buch über die Frauen der geburtenstarken 1960er Jahrgänge arbeitete, stellte ich fest, dass diese Frauen viel Energie in ihre Ausbildung gesteckt, sich aufgerieben hatten, um trotz Kind im Beruf zu bleiben, und doch das Gefühl hatten, beruflich nicht da angekommen zu sein, wo sie sich mal gesehen haben. Dann erschien Anfang 2012 die erste Studie über die Rentenerwartungen dieser Frauengeneration. Die belegte, dass 40 Prozent der Frauen im Westen und 20 Prozent in den neuen Bundesländern eine Rente von maximal 600 Euro erwarten. Und das, obwohl sie gut ausgebildet und zu 80 Prozent berufstätig sind. Plötzlich standen hinter dem Gefühl der Ernüchterung diese konkreten, ganz realen Zahlen.
Warum gibt es so eine krasse Benachteiligung in der Rente für Frauen, selbst wenn sie lange gearbeitet haben?
Frauen haben seltener eine unbefristete Vollzeitbeschäftigung mit einem überdurchschnittlichen Lohn. Viele arbeiten in Berufen wie Erziehung und Pflege, die oft unterdurchschnittlich bezahlt werden. Oft sind es keine 30- oder 40-Stunden-Stellen, sondern Halbtagsstellen oder sogar Mi-
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Frauen arbeiten trotzdem nachweislich mehr. Kindererziehung, Pflege, Familienarbeit – allerdings fast ohne Anerkennung für die Rente. Foto: Christel Kuke
Das Thema Rente sei zu Ihnen gekommen, sagen Sie. Wie denn?
Buchautorin Kristina Vaillant wird selbst einmal von einer Mini-Rente betroffen sein.
nijobs. Diese »atypischen« Beschäftigungsformen haben in den letzten 20 Jahren enorm zugenommen. Mittlerweile ist jede fünfte Stelle ein Minijob, bei jedem vierten Arbeitsplatz werden Stundenlöhne von maximal 10 Euro gezahlt. Teilzeitbeschäftigung suchen Frauen sich nicht unbedingt aus. Sie finden häufig keine andere Stelle. Das liegt unter anderem daran, dass das Arbeitsvolumen, also die Summe der Stunden, die in Deutschland gearbeitet wird, über Jahrzehnte geschrumpft ist und heute noch nicht wieder den Stand der frühen 1990er Jahre erreicht hat. Es sind aber viel mehr Frauen, insbesondere Frauen mit Kindern, auf den Arbeitsmarkt geströmt. Das heißt, eine größere Anzahl von Erwerbstätigen teilt sich einen gleich großen Kuchen an Arbeitsstunden. Die Rentenhöhe bemisst sich in Deutschland
Es gibt Regelungen wie die »Mütterrente«, die Kindererziehungszeiten mit ein paar Punkten auf dem Rentenkonto honoriert. Das ist gut, aber das Wort »Mütterrente« ist irreführend. Denn natürlich kann von einer »Mütterrente« niemand leben. Eine Wissenschaftlerin hat ausgerechnet, dass Frauen der Babyboomer-Generation im Westen Deutschlands sieben Kinder bekommen müssten, um die 50-prozentige Rentenlücke gegenüber den gleichaltrigen Männern auszugleichen.
Es gibt immer wieder den Vorwurf, die Frauen suchen sich die falschen Jobs in den falschen Branchen. Sie seien also selbst schuld.
Man kann sich natürlich hinstellen und sagen, wir müssen das Problem niedriger Renten der Frauen am Arbeitsmarkt lösen, Frauen sollen in allen Branchen arbeiten. Ich bin auch dafür. Es löst das Problem der niedrigen Renten von Frauen heute aber nicht. In Frankreich gab es kürzlich einen Streikaufruf wegen der Einkommensunterschiede zwischen den Geschlechtern. Dort sind es übrigens nur 15 Prozent und nicht wie bei uns 21. Die Frauen begründeten ihren
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12 Streik damit, dass sie, wenn der Fortschritt so weitergeht, 170 Jahre warten müssten, bis sie das gleiche Einkommen wie Männer haben. So lange will niemand warten, deshalb sollte man in der Rente schon jetzt für einen Ausgleich sorgen.
Wie reagieren Frauen bei Ihren Lesungen auf das Thema Rente?
Die Stimmung ist überraschend kämpferisch quer durch alle Generationen. Das freut mich. Von Jüngeren höre ich allerdings auch oft, sie erwarteten sowieso nichts von der Rente. Das ist schade, aber auch ein
Ergebnis der Politik, die die gesetzliche Rentenversicherung zugunsten der privaten jahrelang schlechtgeredet hat – seit der Finanzkrise ist das vorbei. In meinem Buch werbe ich für die gesetzliche Rentenversicherung, ich halte sie für eine der größten zivilisatorischen Errungenschaften. Man kann sie verbessern, aber das Prinzip ist gut – nämlich das Risiko, im Alter nicht mehr selbst für seinen Lebensunterhalt sorgen zu können, auf viele Schultern zu verteilen und zu einer Gemeinschaftsaufgabe zu machen.
Die verratenen Mütter. Wie die Rentenpolitik Frauen in die Armut treibt
Kristina Vaillant, Knaur Taschenbuch, 12,- Euro
Das Gespräch führte Gisela Zimmer
Für höhere Frauenrenten
Laut Rentenversicherungsbericht 2016 lag am 1. Juli 2015 der durchschnittliche Gesamtrentenzahlbetrag der Männer bei 1034,27 Euro, der von Frauen bei 815,45 Euro. Das sind 21,2 Prozent weniger. Diese Rentenlücke ist viel zu groß! DIE LINKE im Bundestag hat gute Vorschläge, sie zu verkleinern.
Arbeitspolitisch gilt: Wir brauchen gleichen Lohn für gleiche und gleichwertige Arbeit und viele Maßnahmen gegen den Gender-Pay-Gap, also die Lohnlücke von Frauen gegenüber Männern.
Rentenpolitsch gilt: • Das Rentenniveau muss wieder auf 53 Prozent angehoben werden. Dann würden auch die Renten von Frauen sofort deutlich steigen. • Frauen, die Kinder nach 1992 geboren haben und dafür die sogenannte
Mütterrente erhalten, bekommen drei Entgeltpunkte auf ihrem Rentenkonto gutgeschrieben. Ihre Erziehungsleistung wird gesellschaftlich so bewertet, als wenn sie drei Jahre zum Durchschnittsverdienst gearbeitet hätten. Das sind 91,35 Euro im Westen und 85,98 Euro im Osten. Mütter von vor 1992 geborenen Kindern erhalten nur zwei Entgeltpunkte. Das ist ungerecht. DIE LINKE fordert drei Jahre Kindererziehungszeiten für jedes Kind. Egal, ob 1960 oder 2010, in Dresden oder in Köln geboren.
• Für jene, die lange Jahre zu niedrigen Löhnen arbeiten mussten, gibt es für die Zeit bis 1991 die Rente nach Mindestentgeltpunkten. Mit ihr werden die Renten dieser Niedrigverdienenden auf bis zu 75 Prozent des Durchschnitts angehoben. Davon profitieren zu 88 Prozent Frauen. Und darum sollte diese Rente auch für die Zeit von 1992 bis heute gelten.
• Wir fordern eine einkommens- und vermögensgeprüfte solidarische Mindestrente. Niemand soll im Alter von weniger als 1050 Euro netto leben müssen.
In Österreich haben Frauen durchschnittlich eine Rente von 1130 Euro und eine Mindestrente von 1030 Euro erhalten alle, die einen Rentenanspruch von mindestens 1 Cent erworben haben. Das geht auch bei uns! Matthias W. Birkwald ist rentenpolitischer Sprecher der Fraktion DIE LINKE
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FRAUEN. LEBEN. LINKS!
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Herausgeberin: Fraktion DIE LINKE. im Bundestag Platz der Republik 1, 11011 Berlin Telefon: 030 / 22 75 11 70 Fax: 030 / 22 75 61 28 fraktion@linksfraktion.de V. i. S. d. P: Heike Hänsel, MdB Jan Korte, MdB Redaktionsschluss: 20.12. 2016
Leitung: Cornelia Möhring Redaktion: Gisela Zimmer, Jana Hoffmann Titelfoto: Christian Mang Satz und Gestaltung: Zitrusblau GmbH, Berlin, www.zitrusblau.de
Kontakt: lotta@linksfraktion.de Dieses Material darf nicht zu Wahlkampfzwecken verwendet werden.
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