NATÜRLICH. TECHNISCH.
Begleitheft zur Ausstellung 4. bis 12. M채rz 2017 Immatrikulationshalle der Technischen Universit채t M체nchen
25. September bis 31. Oktober 2017 Foyer der Bibliothek im Deutschen Museum M체nchen
Biofakte sind natürlich und technisch zugleich. Der Begriff setzt sich zusammen aus „Bios“, griechisch für das Leben, und „Artefakt“, lateinisch für das vom Menschen Gemachte. Was zunächst fremd und vielleicht rätselhaft klingt, bezeichnet ein ganz alltägliches Phänomen: Pflanzen, die wir für unsere Ernährung nutzen, sind natürliche Gewächse; gleichzeitig sind sie aber auch vom Menschen technisch aufgerüstet. Sie werden seit Jahrhunderten selektiert, gezüchtet und mit Hilfe von technischen Hilfsmitteln angebaut, gepflegt und geerntet. Diese Ausstellung handelt von den Nutzpflanzen des Ernährungssektors. Es geht beispielsweise um Kakao, Mais und Tomaten. Was an ihnen ist natürlich? Was ist technisch verändert? Und wie greifen beide Aspekte ineinander? Wir laden ein, den Biofakten an verschiedene Orte zu folgen, an denen sie auftreten. Biofakte werden im Labor erforscht und manipuliert; sie wachsen auf dem Feld und im Gewächshaus; sie werden im Supermarkt präsentiert und verkauft. In Samen- und Genbanken werden sie gesammelt und archiviert und im Patentamt wird über geistiges Eigentum an ihnen verhandelt und entschieden. Die Ausstellung wurde von Studierenden am Lehrstuhl für Industrial Design an der Technischen Universität München entwickelt. Sie entstand im Rahmen eines Entwurfsprojektes im Wintersemester 2016/17.
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GESCHICHTE DER BIOFAKTE 1877
ERSTES DEUTSCHES PATENTGESETZ
1500
BAU ERSTER GEWÄCHSHÄUSER (ORANGERIEN)
An europäischen Fürstenhöfen entstehen Sammlungen von Zitruspflanzen.
11.000 v.Chr
ANFÄNGE DER LANDWIRTSCHAFT
In Deutschland tritt 1877 das erste einheitliche deutsche Patentgesetz in Kraft. Geschützt werden Verfahren. Das ist besonders im Interesse der chemischen Industrie.
1873
TOMATE ALS NAHRUNGSMITTEL
Menschen werden u.a. in Mesopotamien erstmals sesshaft und beginnen Ackerbau zu betreiben.
Die vorher nur als Zierpflanze bekannte Tomate wird auf der Weltausstellung in Wien erstmals als Nahrungsmittel vorgestellt.
NACH 1500
MAIS IN EUROPA
1492
ENTDECKUNG AMERIKAS
Nachdem Christoph Kolumbus die Pflanze in der Karibik entdeckt und mit nach Europa bringt, wird Mais in Europa kultiviert.
Beginn des weltweiten Austausches von Pflanzen und Tieren.
1840
AGRIKULTURCHEMIE
Justus von Liebig begründet die Agrikulturchemie. Er weist eine deutliche Wachstumssteigerung bei Pflanzen durch den Einsatz von Mineraldünger nach.
1500
AB 1800 n. Chr. v. Chr.
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1700
NUTZUNG DER DAMPFMASCHINE IN DER LANDWIRTSCHAFT
Die Dampfkraft wird vor allem für die Verarbeitung von Agrarprodukten eingesetzt, in Zuckerfabriken, Brauereien, aber auch zum Getreidedreschen.
1900
1990
GENMAIS WIRD KOMMERZIELL ANGEBAUT
Gentechnisch veränderter Mais wird vorrangig in den USA als Nahrungsmittel angebaut.
1943
GRÜNDUNG DES INSTITUTS FÜR PFLANZENGENETIK UND KULTURPFLANZENFORSCHUNG
1980
GANZJÄHRIGE VERSORGUNG
Das IPK in Gatersleben wird eröffnet und später durch eine Samenbank erweitert.
Durch Gewächshäuser kann man in Europa erstmals die wichtigsten Obst- und Gemüsesorten ganzjährig anbieten.
1973
1945
MAIS WIRD ZUM FUTTER- UND NAHRUNGSMITTEL
Nach Kriegsende forcieren USA und Sowjetunion den Maisanbau in Deutschland, wodurch Mais vom Nischen- zum Massenprodukt wird.
1953
2008
REKOMBINANTE DNA-TECHNIK
Meilenstein für die grüne Gentechnik; ermöglicht neue, artüberschreitende Züchtungen.
ENTSTEHUNG DER GRÖSSTEN SAMENBANK DER WELT
Gründung der Global Seed Vault Samenbank in Spitzbergen, Norwegen.
AB 1955
EINSATZ VON RADIOISOTOPEN IN DER LANDWIRTSCHAFT
Mit der Freigabe der Kernforschung werden Radioisotope und Strahlung in der deutschen Agrarforschung eingesetzt. Im internationalen Rahmen fördert die IAEA diese Entwicklung ab 1957.
2015
ENTSCHEIDUNG DES EUROPÄISCHEN PATENTAMTES ZUM TOMATEN- UND BROKKOLI PATENT
2000
Das Patentieren von konventionell gezüchteten Pflanzen und Tieren wird endgültig erlaubt – was äußerst kontrovers diskutiert wird.
EINFÜHRUNG DES SORTENSCHUTZES
2000
Mit diesem Gesetz wird erstmals in Deutschland ein dem Patent ähnliches Schutzrecht für Pflanzenzüchtungen geschaffen.
Die Europäische Kommission führt ein Logo zur Kennzeichnung von Produkten aus biologischem Anbau ein.
BIOSIEGEL
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Im Labor Wie entstehen Biofakte? Seit der Industrialisierung hat die Entwicklung von Biofakten eine immense Beschleunigung erfahren. Wissenschaft und Technik haben die Möglichkeiten der technischen Zurichtung von Pflanzen stetig erweitert, zum Beispiel durch Züchtungstechniken wie die Hybrid- oder Mutationszüchtung und die Gentechnik. Mit der Verwissenschaftlichung der Pflanzenzüchtung erlangt das Labor eine immer größere Bedeutung.
Wie entstehen Biofakte?
IM LABOR
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Wie entstehen Biofakte?
IM LABOR
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Auch, wenn die Erfolge der Anwendung der Kerntechnik im Bereich der Landwirtschaft eher gering waren, so haben die mit ihr im Laboratorium eingeführten Experimentalsysteme die Gentechnik maßgeblich vorbereitet.
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Prof. Dr. Karin Zachmann und Dr. Lukas Breitwieser
Prof. Dr. Karin Zachmann und Dr. Lukas Breitwieser arbeiten an der Professur für Technikgeschichte der Technischen Universität München. Ihr Teilprojekt beschäftigt sich mit den Biofakten des Atomzeitalters.
Technische Einflussnahme Kerntechnik in der Landwirtschaft Die Möglichkeiten, Pflanzen im Labor technisch zu manipulieren, sind vielfältig. Ihnen gemeinsam ist, dass die aus dem technischen Eingriff resultierenden Pflanzen Biofakte sind – Pflanzen, die zwar selbst wachsen, aber deren Wachstum technisch gesteuert wird. Ziel der technischen Einflussnahme ist es, das Wachstum der Pflanze zu lenken, um es auf diese Weise zu befördern, also Erträge zu steigern, oder um unerwünschtes Wachstum und Mindererträge zu vermeiden. Dies kann durch den Einsatz unterschiedlicher Techniken umgesetzt werden, z.B. durch Gentechnik, Strahlenbehandlung und reproduktives Klonen. Die Ausstellungsinsel zeigt am Beispiel der Strahlenbehandlungverfahren, wie die Kerntechnik im Bereich der Landwirtschaft als Wachstumsregulator im Labor eingesetzt wurde und noch immer eingesetzt wird. In seiner Rede zur friedlichen Nutzung der Kerntechnik vor der Generalversammlung der UN erwähnt US Präsident Eisenhower 1953 die Landwirtschaft als einen potentiellen Anwendungsbereich der Technik. Dies forciert die Etablierung nationaler und transnationaler Atomprogramme für die Land- und Ernährungswirtschaft. Die Welternährungsorganisation gründet 1955 eine Arbeitsgruppe zur Kerntechnik in der Landwirtschaft und bildet seit 1964 eine Joint Division mit der 1957 gegründeten Internationalen Atomenergiebehörde. Die Hoffnungen, die in der Atomeuphorie der 1950er- und 1960er-Jahre an die Verbindung von Kerntechnik und Landwirtschaft gebunden werden, sind vielfältig: Die Kerntechnik soll das Wachstum von Pflanzen beeinflussen, indem sie erwünschte Wachstumsprozesse beschleunigt, die Keimung und den Reifeprozess verlangsamt, die Haltbarkeit von Lebensmitteln erhöht, Mindererträge durch die Bekämpfung von Insekten und Mikroorganismen verhindert. Weiter werden Gammastrahlen genutzt, um Mutationen in Pflanzen auszulösen und so gewünschte Eigenschaften technisch herbeizuführen.
Wie entstehen Biofakte?
IM LABOR
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Unerwünschte Mutation
Radioaktive Strahlen lösen Mutationen aus
Erwünschte Mutation
Neue Kultursorte
Unerwünschte Mutation
Mutationszüchtung Radioaktive Strahlen lösen Mutationen aus. Potentiell interessante Mutationen werden mit vorhanden Sorten rückgekreuzt, sodass neue Kultursorten entstehen.
Verfahren der Einflussnahme Ein Verfahren, das angewendet wird, ist das der direkten Bestrahlung der Pflanzen und ihrer Samen. Um landwirtschaftliche Erträge zu erhöhen, indem der Verlust nach der Ernte verringert werden soll, wird im Bestrahlungsverfahren die Eigenschaft radioaktiver Strahlung genutzt, um chemische, biologische oder physikalische Veränderungen in organischen Zellen hervorzurufen. Das ermöglicht nicht nur die Mutationszüchtung, sondern ebenso die Vernichtung von Schimmel, Mikroorganismen und Schädlingen, oder die Verzögerung der Reifung der jeweiligen Früchte und Samen und damit die Verlängerung ihrer Haltbarkeit. Das Ziel ist es, auf diese Weise unerwünschtes Wachstum wie Fäulnisprozesse in den Samen oder Ertragsverluste durch Krankheiten, die letztlich zum Absterben der Pflanzen führen würden, zu verhindern. Von einer strahleninduzierten Mutationszüchtung spricht man, wenn Saatgut gezielt mutagener Strahlung, Gamma- oder Neutronenstrahlen, ausgesetzt wird, um neue positive Eigenschaften durch Mutationen im Erbgut der Pflanzen hervorzurufen. Durch die unkontrolliert erfolgenden, technisch ausgelösten Mutationen entstehen neuen Genvarianten, die positive Eigenschaften für die weitere Züchtung aufweisen können. Die neuen Mutanten müssen auf potentiell interessante Gene und Eigenschaften untersucht werden, die dann in vorhandene Sorten eingekreuzt werden. Ein großer Teil der entstehenden Mutationen weist unerwünschte Veränderungen auf oder ist aufgrund von Gendefekten, die die Lebensfähigkeit der Pflanzen vermindern, unbrauchbar. Das Verfahren der durch atomare Strahlung ausgelösten Mutagenese wurde seit den 1960er-Jahren systematisch in der Pflanzenzüchtung eingesetzt und brachte laut einer Datenbank der Internationalen Atomenergiebehörde ca. 1800 neue Pflanzensorten hervor. Im Gegensatz zur Gentechnik gelten für die Mutationszüchtung keine besonderen gesetzlichen Regulierungen. Rechtlich ist die Mutationszüchtung damit der Kreuzungszüchtung und anderen „natürlichen“ Verfahren gleichgestellt. Das wird damit begründet, dass die Mutationszüchtung eine technische Steigerung der biologischen Mutationsfrequenz darstellen würde. Der technische Eingriff, so die Argumentation, beschleunige lediglich die natürliche Mutationsfähigkeit der pflanzlichen Organismen. Wie entstehen Biofakte?
IM LABOR
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Im Gewächshaus Wie werden Biofakte gestaltet? Im Gewächshaus wachsen optimierte Nutzpflanzen unter höchster Kontrolle: Temperatur, Licht, Wasser- und Nährstoffzufuhr werden technisch geregelt und überwacht. Äußere Faktoren wie Temperaturschwankungen, Niederschläge, Schädlinge und Pflanzenkrankheiten werden ausgeschlossen. Dieses komplexe technische System ermöglicht eine hohe Effizienz: Hohe Erträge in vorhersehbarer Qualität auf kleiner Fläche.
Wie werden Biofakte gestaltet?
IM GEWÄCHSHAUS
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Wie werden Biofakte gestaltet?
IM GEWÄCHSHAUS
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Wie werden Biofakte gestaltet?
IM GEWÄCHSHAUS
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Die Geschichte der Tomate Woher sie kommt und ihr großer Aufstieg Als die Tomate im frühen 16. Jahrhundert nach Europa kam, wusste man noch nicht über ihre Verwendung Bescheid. Sie ähnelte der giftigen Schwarzen Tollkirsche und wurde deshalb als „Hexengewächs“ abgestempelt. Tomaten galten daher als schöne, aber gefährliche Früchte. Man sah die Frucht im 17. und 18. Jahrhundert wegen ihrer prallen Form und intensiven Farbe zunächst vor allem als Zierpflanze an. Wenige medizinische Anwendungen waren bekannt. Die kulinarische Nutzung der Tomate verbreitete sich zuerst in den südlichen Ländern Europas, auch bedingt durch das dort günstige Klima. Besonders in Italien wurden die Früchte schon früh in der Küche eingesetzt. Im 19. Jahrhundert war die Tomate auch in Deutschland als Lebensmittel angesehen und wurde überwiegend in Soßen, Suppen und Salaten verwendet. Bei der Wiener Weltausstellung 1873 wurde die rote Frucht öffentlich in Szene gesetzt. Daraufhin gelang ihr großer Durchbruch in der Lebensmittelwirtschaft. Durch die Verbreitung von Supermärkten nach 1945 wurde die Verfügbarkeit von frischen Tomaten an fast jedem Ort Europas zur Normalität. Die Vielfalt des Angebots der Tomate hat sich im Lauf der Jahrzehnte stark verändert. Wurden anfangs fast ausschließlich lose runde Tomaten verkauft, dominieren heutzutage Rispentomaten das Angebot im Einzelhandel. Eine große Vielfalt an weiteren Formen wie Kirsch- und Cocktailtomaten, Pflaumen-, Eier- und San Marzano-Tomaten in vielfältigen Farben wie gelb, orange oder braun hat im Supermarktsortiment Einzug gehalten. Mit einem Pro-Kopf-Verbrauch von 8,5kg frischen Tomaten pro Jahr ist die Tomate das populärste Gemüse der Deutschen. Nur 12% der in Deutschland konsumierten frischen Tomaten werden auch hier angebaut. Zudem nimmt der Gewächshausanbau nur 1,1 Prozent der Gemüseanbaufläche in Deutschland ein. Der Großteil der Früchte wird importiert. Die größten Lieferländer sind mit Abstand die Niederlande und Spanien. Im 21. Jahrhundert gehört die Tomate in Deutschland zu den beliebtesten Nahrungsmitteln überhaupt und ist als Basis für Salate, als Beilage zu Hauptgerichten oder in verarbeiteter Form, etwa als Soße oder Ketchup, überall zu finden. Obwohl sie früher nur als Zierpflanze angesehen wurde und man nicht wusste wie man sie verarbeiten soll, spielt die Tomate heutzutage eine zentrale Rolle in Speiseplänen auf der ganzen Welt.
Gemüseanbau im Gewächshaus Ein Überblick Die Nachfrage nach regionalem Gemüse wächst. Da viele Verbraucher auch in der kalten Jahreszeit nicht auf Gemüse wie Gurken oder Tomaten verzichten wollen, weiten viele Gärtner in Deutschland ihre Produktionsfläche von Unterglasgemüse aus. Gewächshäuser ermöglichen den Anbau von Gemüse und Obst in Gebieten, in denen er ansonsten durch die klimatischen Bedingungen unmöglich wäre. Im Gegensatz zum Freilandanbau können Pflanzen in Gewächshäusern unabhängig von Wetter und Klima angebaut werden, wodurch es fast das ganze Jahr über frisches, regionales Gemüse in den Supermärkten gibt. Traditionell werden Gewächshäuser mit Glas abgedeckt. Inzwischen gibt es aber auch viele Varianten mit Kunststoffplatten und Folien. Durch die transparente Abdeckung wird die Temperatur im Inneren erhöht – dies nennt man den „Glashauseffekt“. Das Klima kann in den Gewächshäusern durch das Regulieren und Kontrollieren von Faktoren wie Temperatur und Helligkeit an die Anforderungen des Gemüses angepasst werden. Durch die kontrollierten Bedingungen ist im Gewächshaus, verglichen mit dem Freilandanbau, mehr Ertrag auf kleineren Flächen möglich. Viele verschiedene Interessengruppen, wie Händler, Gärtner, Produzenten und Saatgutzüchter, stellen Anforderungen an das Gemüse. Die Gärtner setzen im Gewächshaus diverse Techniken – vom Einpflanzen bis zum Ernten – ein, um den Gemüseanbau optimal zu gestalten und das gewünschte Anbauziel zu erreichen. Durch die Technisierung des eigentlich natürlichen Wachstumsprozesses wird das Gemüse zu einem natürlich-technischen Produkt, einem Biofakt. Durch die gestiegene Nachfrage nach regionalem Gemüse wuchs die Anbaufläche vom Unterglasanbau in Deutschland zwischen 1997 und 2014 um insgesamt 22 %. Heute gibt es in Deutschland rund 330 Hektar Gewächshausfläche. Das entspricht etwa 460 Fußballfeldern. Beim gesamten Unterglasanbau ist die Tomate mit ungefähr 61.000 Tonnen und mit 26% der Anbaufläche das am meisten angebaute Gemüse. Im Gewächshaus können Tomaten von März bis November geerntet werden, beim Freilandanbau ist dies wegen der klimatischen Bedingungen in Deutschland nur ein paar Wochen lang möglich. Wie werden Biofakte gestaltet?
IM GEWÄCHSHAUS
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Obst und Gemüse sind vom Menschen gestaltet: Die Interessen der am Produktionsprozess beteiligten Akteure materialisieren sich im Produkt.
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Johanna Kleinert
Johanna Kleinert
ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Industrial Design an der Technischen Universität München und bearbeitet das Teilprojekt „Semantik der Biofakte“.
El Ejido – Das Plastikmeer Spaniens Die größte Gewächshausansammlung der Welt Wir befinden uns an der Küste Südspaniens, genauer gesagt im andalusischen Almeria. Almeria, einst eine sehr arme Provinz, kam durch die für den Gemüseanbau günstigen klimatischen Bedingungen zu großer wirtschaftlicher Bedeutung. Für die Spanier sind die geringen Lohnkosten ein klarer Standortvorteil auf dem europaweiten Gemüsemarkt. Schon lange bevor Gemüse europaweit transportiert werden konnte, haben Landwirte dort Gemüse angebaut. Doch mittlerweile gilt El Ejido als die größte Gewächshausansammlung der Welt. Auf einer Fläche von 29 000 Hektar reiht sich ein Gewächshaus ans andere, es gibt kaum eine Lücke zu erspähen. Die Gewächshäuser bilden das zweite Meer, das es hier gibt, das Mar de Plástico, Plastikmeer, wie es die Einheimischen nennen. Durch die große Fläche, den hohen Wasserverbrauch und die eingesetzten Pestizide ist das Grundwasser teilweise stark belastet. Hauptsächlich werden in Almeria Tomaten, Gurken und Paprika angebaut, um das ganze Jahr den Bedarf in europäischen Supermärkten zu decken. Jeder Europäer verzehrt im Jahr pro Kopf 10kg Treibhausgemüse aus Südspanien. Fast ein Drittel der Ernte (30,5 %) ging in der vergangenen Saison nach Deutschland; das sind insgesamt 582 491 Tonnen. Damit sind die Deutschen Almerias beste Kunden. Die Tomaten reisen quer durch Europa, sie haben eine Fahrtstrecke von über 2 200 Kilometern und eine reine Fahrtzeit von 20 Stunden hinter sich, bis sie zum Beispiel in München sind. Spanien ist in Europa mit großem Abstand das Land, das am stärksten auf Gewächshausanbau setzt. Insgesamt werden dort 52 170 Hektar unter Glas bewirtschaftet. 29 000 Hektar davon liegen allein in der Provinz Almeria. Und die Gemüseproduktion in der Region Almeria wächst weiter, Jahr um Jahr. Das in Almeria angebaute Gemüse geht zu fast drei Vierteln in den Export. Dabei liegt die Produktion in Almeria nicht in der Hand großer Agrarunternehmen: Es sind vielmehr 13 000 Gärtnereien, die im Schnitt nur 2,5 Hektar bewirtschaften. Viele sind in Kooperativen organisiert. Wie werden Biofakte gestaltet?
IM GEWÄCHSHAUS
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Auf dem Feld Wie wachsen Biofakte? Biofakte sind natürlich und technisch zugleich. Ein Ort, an dem das besonders sichtbar wird, ist beim landwirtschaftlichen Anbau auf dem Feld. Hier wachsen gezüchtete Sorten unter Einsatz von Düngung und Pflanzenschutz. Gleichzeitig sind die Pflanzen ihrer ‚natürlichen’ Umgebung mit Regen und Trockenheit, Insekten, Wühlmäusen und Pflanzenkrankheiten ausgesetzt. Ein besonders kontroverses Beispiel für Biofakte ist der Mais.
Wie wachsen Biofakte?
AUF DEM FELD
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Wie wachsen Biofakte?
AUF DEM FELD
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Wie wachsen Biofakte?
AUF DEM FELD
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Mais erscheint in der modernen Gesellschaft als Utopie und Dystopie: Nahrung für Mensch und Tier, Energielieferant, aber auch als Icon der Kritik gegen die Gentechnologie. Historisch lässt sich diese polarisierende Wirkung aus der Pflanzenbiografie des Maises im 20. Jahrhundert erklären.
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Franziska Torma
Franziska Torma
ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Technikgeschichte der Technischen Universität München. Sie leitet das Teilprojekt zum Thema „Wechselnde Objektsemantiken: vom Hybridmais zum transgenen Mais“.
Mais Wo kommt er her? Mais (Zea mays) ist ursprünglich eine Pflanze der Tropen. Heute wird er weltweit bis in die gemäßigten Klimaregionen angebaut: 2014 auf einer Fläche von 184 Millionen Hektar, wovon 30 Prozent mit genverändertem Mais bestellt wurden. Hauptanbauländer sind die USA, China, Brasilien, Indien, Mexiko, Indonesien, die Philippinen, Südafrika, Argentinien und Rumänien. In Deutschland wird Mais hauptsächlich als Futtermittel angebaut. Die Anbaufläche hat sich von 1960 mit ca. 60.000 ha bis heute auf ca. 2.700.000 ha um das 45-fache vergrößert.
Wie wachsen Biofakte?
AUF DEM FELD
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4,4 Milliarden Wie viele Menschen könnte man mit dem 2015 angebauten Mais für ein Jahr ernähren? 2015 wurden weltweit 1.008.994.000 Tonnen Mais geerntet.(1) 100 g Mais hat 365 Kalorien. Wenn man mit einem durschnittlichen Kalorienverbrauch von 2300 kcal pro Kopf rechnet, könnte man davon theoretisch 4,4 Milliarden Menschen ein Jahr lang ernähren.
365 kcal x 10000 x 1008994000 t 365 Tage x 2300 kcal
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AUF DEM FELD
Wie wachsen Biofakte?
= 4.400.000.000 Menschen
(1) Quelle: www.statista.com Global corn production in 2015, by country
Mais Steckbriefe Golden Bantam – Kreuzung aus Zuckermaissorten Züchtungsjahr: 1902 Hersteller: Burpee Sorte: Zuckermais (Zea mays convar. sacharata) Saatgut: Samenfest, kann weiterverwendet werden Verwendbare Teile: Kolben Herkunft: USA Geeignet für: Gemüsemais Farmgigant – Hybridmais Hersteller: FarmSaat AG Hybridform: Einfach-Hybride Saatgut: Muss für jede Aussaat neu gekauft werden Verwendbare Teile: Ganze Pflanze Herkunft: Deutschland Geeignet für: Gemüsemais, Futtermais, Energiemais MON 88017 – Genmais Zulassungen weltweit: USA (2005), Kanada (2006), Brasilien (2010), Argentinien (2010) Hersteller: Monsanto Name: YieldGard VT Rootworm Saatgut: Muss für jede Aussaat neu gekauft werden Verwendbare Teile: Ganze Pflanze Herkunft: USA Geeignet für: Gemüsemais, Futtermais Eigenschaften: Herbizidtoleranz (unempflindlich gegen Glyphosat), enthält Insektengift (BT-Toxine) In der EU zum Kauf zugelassen seit 30.10.2009 Wie wachsen Biofakte?
AUF DEM FELD
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Im Patentamt Wem gehören Biofakte? Niemandem, sollte man meinen. Pflanzen und ihr Genom sind Allgemeingut. Dennoch streitet man sich seit mehreren Jahren um den Einsatz von Biopatenten, die Rechte auf veränderte Gensequenzen oder bestimmte Produktionsverfahren im Bereich der Pflanzenzüchtung versprechen: Ein für die meisten undurchsichtiges Gebiet.
Wem gehören Biofakte?
IM PATENTAMT
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Wem gehรถren Biofakte?
IM PATENTAMT
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Wem gehรถren Biofakte?
IM PATENTAMT
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Überblick Sortenschutz Pflanzensamen können durch Vermehrung sehr leicht kopiert werden. Damit Sortenzüchtung sich lohnen kann, bedarf es eines Schutzrechtssystems in der Pflanzenzüchtung. Eine Rechtsgrundlage bietet in Deutschland seit 1953 der Sortenschutz. Dieser sichert das geistige Eigentum des Züchters an der von ihm entwickelten Sorte und räumt ihm bestimmte Nutzungsrechte für einen Zeitraum von 25 bis 30 Jahren ein. Der Sortenschutz ermöglicht außerdem einen Züchtungsfortschritt, denn andere Züchter dürfen eine geschützte Sorte auch ohne Zustimmung des Eigentümers nutzen und die daraus entstehenden Sorten vermarkten. Dieses sogenannte „Züchterprivileg“ sichert allen Züchtern einen freien Zugang zu dem jeweils neuesten genetischen Material. Es bietet die Voraussetzung für eine stetige Optimierung der züchterischen Leistung und die Entwicklung einer Vielfalt an leistungsfähigen Sorten. Entlohnt wird die züchterische Leistung über eine im Saatgutpreis enthaltene Lizenzgebühr. Wenn Landwirte einen Teil der Ernte für die Aussaat im kommenden Jahr wieder verwenden, müssen sie eine Nachbaugebühr entrichten.
NEU
Eine gezüchtete Sorte kann unter Sortenschutz gestellt werden, wenn sie neu, unterscheidbar, homogen und beständig ist. Zudem sollte sie gegenüber allen bisher verfügbaren Sorten einen erkennbaren Mehrwert, wie z.B. Ertragssteigerung oder Resistenzen gegen Krankheiten, bieten. Für das Zulassungsverfahren ist das Deutsche Bundessortenamt zuständig. Sorten müssen immer als Gesamtpaket überzeugen.
Blatt für Sortenwesen
Patentgesetz Patente unterscheiden sich als geistiges Eigentumsrecht deutlich vom Sortenschutz. Das Patent gibt einem Erfinder für einen begrenzten Zeitraum (in Deutschland 20 Jahre) das Recht, seine Erfindung exklusiv zu nutzen bzw. anderen die Nutzung nur gegen Lizenzgebühren zu erlauben. Es ist ein Verbietungsrecht der kommerziellen Nutzung gegenüber Dritten. Im Gegenzug muss der Patentinhaber seine Erfindung veröffentlichen, damit die Gesellschaft am technischen Fortschritt teilhaben kann.
NEU
Am Europäischen Patentamt (EPA) in München wird die Patentfähigkeit einer Erfindung sowie die Gültigkeit der Schutzansprüche für europäische Patente geprüft. Nach deutschem Recht sind Erfindungen patentfähig, sofern sie neu, technisch, wiederholbar und gewerblich anwendbar sind. Durch ein technisches Verfahren isolierte Bestandteile von Organismen, wie zum Beispiel eine Zelle oder eine Gensequenz können eine patentierbare Erfindung darstellen, da sie sich nicht in ihrem natürlichen Kontext befinden. Auch biotechnische Verfahren und ihre Erzeugnisse sowie durch technische Verfahren genetisch veränderte Tiere oder Pflanzen und deren Nachkommen sind patentierbar. Molekularbiologische Verfahren der Pflanzenzüchtung und einzelne Gene können nur patentiert werden, wenn sie einen „technischen Schritt“ oder eine „erfinderische Leistung“ beinhalten, aus der sich z.B. eine gewerbliche Anwendbarkeit ableiten lässt. Nicht patentierbar sind Entdeckungen vorhandener bzw. vorgefundener Dinge, Teile der Natur oder Lebewesen, Pflanzensorten und Tierrassen, sowie „im Wesentlichen biologische Verfahren“ wie Züchtung, Kreuzung oder Selektion und die dadurch entstandenen Tiere oder Pflanzen. Patentfähige Erfindungen sind nicht sortenspezifisch, da sie sich auf ein technisches Element beziehen, das in verschiedenen Sorten und Kulturarten angewendet werden kann.
Wem gehören Biofakte?
IM PATENTAMT
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Eigentum ist leichter gesagt als getan – vor allem, wenn es lebt.
Veit Braun
Veit Braun
ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der LudwigMaximilians-Universität München. Er bearbeitet das Teilprojekt zu geistigem Eigentum an natürlichen Objekten.
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Forschung und Entwicklung Teuer und aufwendig Warum ist der Schutz geistigen Eigentums in der Pflanzenzüchtung so wichtig? Eine neue Sorte zu züchten ist, unabhängig vom gewählten Verfahren, sehr teuer und aufwe ndig. Dies ist der Grund, warum deutsche Pflanzenzüchter im Vergleich zu anderen Gewerbebranchen deutlich mehr in Forschung und Entwicklung investieren müssen, genau genommen 17% ihres Umsatzes im Durchschnitt. Dabei ist zu beachten, dass züchterische Erfolge nicht immer nur an der Steigerung von Erträgen zu erkennen sind, sondern sich zum Beispiel auch auf verbesserte Resistenzeigenschaften oder stabilere Ernten beziehen können. Hinzu kommt, dass die Entwicklung einer Sorte sehr lange dauert. Teilweise dauert es länger als zehn Jahre, bis die neue Sorte auf dem Markt eingeführt werden kann. Nur durch den Verkauf von Saatgut kann der Aufwand finanziert werden. Erschwerend kommt hinzu, dass Saatgut leicht kopiert werden kann. Gerade deswegen ist ein angebrachtes Schutzsystem in der Pflanzenzüchtung vonnöten.
17%
10 Jahre
Wem gehören Biofakte?
IM PATENTAMT
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Im Supermarkt Wie werden Biofakte konsumiert? Wie ergeht es Biofakten im Nahrungsmittelbereich auf dem letzten Schritt zum Verbraucher? Im Handel werden Biofakte wie beispielsweise Obst und Gemüse in Szene gesetzt und präsentiert. Die Präsentation von Bio-Produkten nehmen wir genauer unter die Lupe: An ihnen wird die Natürlichkeit besonders herausgehoben. Wie passiert das? Und welche Bio-Labels gibt es überhaupt? Beim Einkauf achtet jeder Verbraucher auf unterschiedliche Kriterien. Was ist deutschen Konsumenten wichtig? Und was ist dir persönlich wichtig?
Wie werden Biofakte konsumiert?
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Wie werden Biofakte konsumiert?
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Wie werden Biofakte konsumiert?
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Überblick Biofakte im Supermarkt Fotostudie
Biolabels
Konsumverhalten
Kann man nur anhand von Fotos eine regionale Bio-Tomate von einer spanischen Discountertomate unterscheiden? Oder sieht alles gleich aus?
Es gibt verschiedene Labels, die helfen, Bio-Lebensmittel zu erkennen. Welche Bio-Labels stellen welche Anforderungen ?
Beim Einkauf achtet jeder Verbraucher auf unterschiedliche Kriterien. Was ist deutschen Konsumenten wichtig?
Produktpräsentation
Entscheidungswaage
Im Handel werden Biofakte in Szene gesetzt und präsentiert. Welche Präsentationsformen nutzen verschiedene Händler?
Worauf achtest du beim Einkauf? Was wirfst du in die Waagschale?
Natürliche Produkte – gute Produkte Unser Alltag wird zu großen Teilen von einem Vertrauen auf Natur getragen. Auf dieses Vertrauen setzen wir zum Beispiel dann, wenn wir uns im Supermarkt für oder gegen ein Produkt entscheiden. Insbesondere wenn es um Ernährungsprodukte geht, schätzen wir ihre Natürlichkeit oder setzen sie – etwa bei Obst und Gemüse – geradezu voraus. Wenn man die Wahl hat zwischen einem unbehandelten oder gespritzten Apfel, dann ist die Entscheidung häufig klar: natürlich Natur! Und trotzdem ist angesichts von Lebensmittelkrisen, Kontroversen um Züchtungs- und Anbaumethoden oder industrielle Lebensmitteltechnologien unser Vertrauen in die Natürlichkeit unseres Essens erschüttert. Wir befürchten an allen möglichen Stellen Dysfunktionen, Fehler oder Gifte. Und wir geben dem naturbelassenen Apfel auch nur dann Vorrang, wenn er nicht gerade pockennarbig und voller Würmer ist. Dass Biofakte Produkte ‚zwischen‘ Natur und Technik sind, gilt auch für ihre Vermarktung: Hier wird ihre Natürlichkeit zum Verkaufsargument – unterstützt durch technische Verfahren. Besonders gut lässt sich das an solchen Biofakten im Ernährungsbereich sehen, die unter dem Label „Bio“ verkauft werden, die also gewissermaßen als ‚natürlichere‘ Alternative zu konventionell hergestellten Produkten gelten. Ihre Präsentation, ihr Labelling sowie die Art und Weise, auf die wir sie als Käuferinnen und Käufer in unsere Konsummuster einpassen, sind Techniken, die die Natürlichkeit dieser Produkte betonen. „Ohne Technik kein Bio“ – dies gilt sowohl für Züchtung und Anbau als eben auch für Handel und Marketing von Biofakten.
Wie werden Biofakte konsumiert?
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Wie werden Lebensmittel zu ‚natürlichen‘ Lebensmitteln? Durch technische Verfahren! Ob Züchtung, Anbau, Handel oder Marketing – ohne Technik kein Bio.
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Prof. Dr. Sabine Maasen, Dr. Barbara Sutter und Laura Trachte
Prof. Dr. Sabine Maasen (oben), Dr. Barbara Sutter (mitte) und Laura Trachte (unten)
arbeiten am Friedrich Schiedel-Lehrstuhl für Wissenschaftssoziologie der Technischen Universität München. Ihr Teilprojekt beschäftigt sich mit der Sprache der „guten Dinge“.
Was versprechen Bio-Siegel? Es ist für uns nicht selbstverständlich, dass wir generell unser Essen als natürlich betrachten. Und so werden möglichst naturbelassene Lebensmittel heute explizit in Form von BioProdukten nachgefragt. „Bio“ ist unter bestimmten Verbrauchern ein regelrechter Trendsetter. Bio-Lebensmittel wurden nach den Standards der ökologischen Landwirtschaft erzeugt. Zu deren obersten Prinzipien zählt ein möglichst geschlossener, natürlicher Betriebskreislauf, der sich im Vergleich zu konventioneller Landwirtschaft positiv auf Boden, Wasser und Klima auswirkt. Der Ökolandbau ist eine wichtige Strategie für eine nachhaltigere Landwirtschaft. Ob ein Lebensmittel „bio“ oder „öko“ im Namen trägt, ist egal – beides sind gesetzlich geschützte Begriffe. Erzeugung und Verarbeitung erfolgen nach den EU-Rechtsvorschriften des ökologischen Landbaus. Begriffe wie „umweltschonend“, „naturnah“ oder „unbehandelt“ weisen nicht auf eine Erzeugung im Sinne des ökologischen Landbaus hin und sind nicht zertifiziert. Die Kennzeichnung von Lebensmitteln wird politisch und rechtlich geregelt. Es handelt sich dabei um ein dynamisches Feld und es ist ständig im Wandel begriffen, welche Kennzeichnungen gesetzlich geschützt werden können.
Das deutsche staatliche Bio-Siegel
Bio-Siegel der Europäischen Union
Ökolandbau bedeutet aber nicht, dass die Natur einfach sich selbst überlassen wird. Im Gegenteil: Ohne Technik gibt es keine Bio-Lebensmittel! Es gibt wirksame Methoden, mit denen die Böden verbessert, die angebauten Pflanzen und die Nutztiere versorgt werden. Technisch unterstützte Verfahren sind auch bei der Erzeugung von Bio-Produkten wichtige Bestandteile. Die ökologisch orientierten Verfahren sind aufwendiger, vergleicht man sie mit denen der konventionellen Landwirtschaft. Das ist einer der Gründe für den höheren Preis von Bio-Lebensmitteln. Es gibt verschiedene Labels, die helfen, Bio-Lebensmittel zu erkennen. Die wichtigsten sind das EU-Bio-Siegel und das deutsche Bio-Siegel. Darüber hinaus gibt es noch private Anbauverbände, die noch strengere Standards in Produktion und Verarbeitung der Lebensmittel erfüllen, als das EU- und das deutsche Bio-Siegel garantieren. Wie werden Biofakte konsumiert?
IM SUPERMARKT
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Samen- und Genbanken Wie überdauern Biofakte? In Samen- und Genbanken werden reproduktionsfähige pflanzliche Einheiten gelagert, vermehrt und erforscht. Hier lernst du, inwiefern das Sammeln und Katalogisieren nicht mehr verbreiteter Sorten von Nutzpflanzen in Samen- und Genbanken zum Erhalt der Funktionsfähigkeit von hochtechnisierten Nutzpflanzen – also von Biofakten – beiträgt.
Wie überdauern Biofakte?
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Wie überdauern Biofakte?
SAMEN- UND GENBANKEN
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Wie überdauern Biofakte?
SAMEN- UND GENBANKEN
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eine Auswahl von Samenbanken auf der ganzen Welt
LEIBNIZ-INSTITUT FÜR PFLANZENGENETIK UND KULTURPFLANZENFORSCHUNG 1945 (URSPR. KAISER-WILHELM-INSTITUT) GATERSLEBEN, DEUTSCHLAND eine international führende wissenschaftliche Einrichtung auf den Gebieten der Pflanzengenetik und Kulturpflanzenforschung
Kew’s Millennium Seed Bank 2000 (HAT ZUVOR SCHON LANGE ALS “ROYAL BOTANICAL GARDEN” EXISTIERT) WAKEHURST IN WEST SUSSEX, ENGLAND, VEREINIGTES KÖNIGREICH 37.399 SAMENPROBEN UND 2.115.847.290 SAMEN IM LAGER Die Kew’s Millennium Seed Bank befindet sich im Royal Botanical Garden in der Nähe von London, Großbritannien, der von King Henry VII errichtet wurde und von der UNESCO den Status eines Weltkulturerbes erhielt.
SEED SAVERS EXCHANGE 1975 IOWA, USA SAMMLUNG: 20.000 SAMENPROBEN VON SAMEN TRADITIONELLER LANDSORTEN UND VON 1.000 APFELBÄUMEN TRADITIONELLER SORTEN
NAVDANYA
eine Lagerstätte Amerikas kulturellen Erbes vielseitiger und gefährdeter Kultur- und Nutzpflanzen
1987 KARNATAKA, INDIEN Navdanya hat sich zur Aufgabe gemacht, Frieden und Harmonie , sowie Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit voranzutreiben zu verbreiten. Die Konservierung, Erneuerung und Verjüngung des zu schützenden Saatguts wird durch vier verschiedene Unterprojekte umgesetzt.
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SAMEN- UND GENBANKEN
Wie überdauern Biofakte?
SVALBARD GLOBAL SEED VAULT 2007 LONGYEARBYEN AUF DER INSEL SPITZBERGEN, NORWEGEN 864.309 SAMENPROBEN Der Svalbard Global Seed Vault (SGSV) ist ein Kooperationsprojekt zwischen dem Global Crop Diversity Trust (GCDT), dem Nordic Genetic Resource Center und der nowegischen Regierung. Ziel ist es, eine Lagerungsstelle für Sicherungskopien von Saatgut aus aller Welt zur langfristigen Einlagerung und zum Schutz der Artendiversität von Nutzpflanzen zu bieten. Die Anlage ist unterirdisch errichtet, um der Klimaerwärmung und ihren Auswirkungen nicht zum Opfer fallen zu können.
WAWILOW–INSTITUT 1894 (DAMALS NOCH BUREAU OF APPLIED BOTANY OF THE SCIENTIFIC COMMITTEE OF THE MINISTRY OF AGRICULTURE AND STATE PROPERTY) SANKT PETERSBURG, RUSSLAND ÜBER 200.000 KULTUR- UND WILDPFLANZEN Das Institut hat eine lange Geschichte, doch seit 1920 ist es als Institut für Pflanzenindustrie etabliert. Später wurde es nach Nikolai Wawilow benannt, der das Institut von 1924 bis 1936 leitete.
AVRDC - THE WORLD VEGETABLE CENTER 1971 TAINAN, TAIWAN 61.854 SAMENPROBEN VON 442 GEMÜSESORTEN
KUNMING INSTITUTE OF BOTANY
‘The World Vegetable Center’ ist eine internationale Non-ProfitOrganisation für Gemüseforschung und -entwicklung.
1938 (DAMALS THE YUNNAN PROVINCIAL INSTITUTE OF AGRICULTURAL AND FORESTRY BOTANY) KUNMING, PROVINZ YUNNAN IN DER VOLKSREPUBLIK CHINA 8.444 SAMENPROBEN, 74.641 AKZESSIONEN Chinas größte Genbank ist ein Zusammenschluss zahlreicher Forschungsabteilungen. Wie überdauern Biofakte?
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Jedes Biofakt beginnt mit der Kontrolle des Samens.
Prof. Dr. Nicole C. Karafyllis
Prof. Dr. Nicole C. Karafyllis
ist Professorin für Wissenschafts– und Technikphilosophie an der Technischen Universität Braunschweig. Sie leitet das Teilprojekt zum Thema „Sammeln auf Eis gelegt? Pflanzen in (inter)nationalen Samenund Genbanken zwischen Agrobiodiversität, Evolution und Sortenschutz“.
Beweggründe für das Sammeln Jagen und Sammeln Nicht nur aus rationalen Gründen, sondern auch aufgrund des ideellen Wertes, den der Mensch der Welt wie er sie kennt und erlebt beimisst, wurden über die Jahrhunderte hinweg private Pflanzen- und Samensammlungen angelegt. Dabei hat das Sammeln seltener Arten einen Liebhabercharakter.
Arche Quinoa Dem Klimawandel fallen zahlreiche Pflanzenarten zum Opfer, da sie den Anforderungen der neuen herrschenden Bedingungen an den Orten ihrer Verbreitung nicht mehr gewachsen sind. Samen- und Genbanken können als eine Art Arche zur Rettung des Artenreichtums gesehen werden.
Die Reiskatastrophe in Indien, ca. 1975 Eine Schädlingsplage der braunen Reiszikade führte Mitte der 70er Jahre in Indien zu Ernteausfällen von 80 bis 100%. Von 6.700 getesteten Reissorten konnte nur eine einzige gefunden werden, die resistent gegen den durch den Schädling übertragenen Virus war. Asien entging nur knapp einer Hungersnot.
Die Geldanlage der anderen Art Sicherlich darf nicht außer Acht gelassen werden, dass einzelne Sorten von Nutzpflanzen enorm im Wert steigen können, wenn sie aus verschiedenen Gründen benötigt werden. Wer die Samen oder Rechte an Sorten und Züchtungen hat, hat demnach auch die Macht, einen finanziellen Nutzen daraus zu ziehen.
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Impressum Diese Ausstellung wurde von Studierenden am Lehrstuhl für Industrial Design von Prof. Fritz Frenkler an der Technischen Universität München (TUM) entwickelt. Sie entstand im Rahmen eines Entwurfsprojektes im Wintersemester 2016/17. Verantwortlich für die präsentierten Inhalte der Ausstellungsinsel sind die jeweiligen Studierenden. Inhaltliche Konzeption Biofakte im Labor Simon Lepuschitz, Lena Ohmstede Biofakte im Patentamt Kyra Kleine, Teresa Schümann Biofakte im Gewächshaus Marie Kiaupa, Sophie Schober
Ausstellungsgestaltung Grafik Chunchien Chang, Kyra Kleine, Teresa Schümann Ausstellungsmöbel Alexander Konther, David Ruf, Sophie Schober, Isabelle Zeh
Biofakte auf dem Feld David Ruf, Isabelle Zeh
Intro, Outro, Partizipationskonzepte Isabella Hillmer, Marie Kiaupa, Lena Ohmstede
Biofakte im Supermarkt Alexander Konther, Ziying Liao
Geschichte der Biofakte, Medieninstallationen Simon Lepuschitz, Ziying Liao
Biofakte in Samen- und Genbanken Chunchien Chang, Isabella Hillmer
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Projektleitung Johanna Kleinert, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Industrial Design, TUM
Fotos Daniel George: S. 1, 8, 9, 16, 27 oben, 24, 33 links, 49 unten Hannes Fritz: S. 17 unten, 25, 32, 33 rechts, 40, 41, 48, 49 oben, 54-55
Beratung Ausstellungsgestaltung Thomas Doetsch, Katharina Matthies Matthies & Schnegg Ausstellungs- und Kommunikationsdesign
Portraitzeichnungen Johanna Gieseler
Der Forschungsverbund Grundlage und Ausgangspunkt der Ausstellung ist ein BMBF-Forschungsverbund zur Sprache der Biofakte unter der Leitung von Prof. Dr. Karin Zachmann, Professur für Technikgeschichte an der Technischen Universität München.
Beteiligte Forscherinnen und Forscher Sammeln auf Eis? Pflanzen in (inter)nationalen Samen- und Genbanken zwischen Agrobiodiversität, Evolution und Sortenschutz Nicole C. Karafyllis, Uwe Lammers Wechselnde Objektsemantiken. Vom Hybridmais zum transgenen Mais Franziska Torma
Förderung Bundesministerium für Bildung und Forschung
www.biofakte.de
Biofakte des Atomzeitalters. Strahlenbehandelte Organismen des Agrarund Ernährungsbereichs in Projekten der „Entwicklungshilfe“ Lukas Breitwieser, Karin Zachmann Geistiges Eigentum an natürlichen Objekten. Die divergierenden Taxonomien von Sortenschutz und Patentschutz Veit Braun, Bernhard Gill Die Sprache der „guten Dinge“. Die Biofaktizität naturbelassener Objekte Sabine Maasen, Barbara Sutter, Laura Trachte Semantik der Biofakte. Hybride Bedeutung und verdeckte Transformation Fritz Frenkler, Johanna Kleinert 57