Inkl. Kunstbeilage artensuite Schweiz sFr. 7.90, Deutschland, Österreich, Frankreich, Italien € 6.50
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89 MAI 2010 | 8. JAHRGANG
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Hallo Zürich. Hier Bern. Ihr habt das Museum für Gestaltung. Wir das Museum für Kommunikation. Museum für Kommunikation Helvetiastrasse 16 3005 Bern www.mfk.ch Dienstag bis Sonntag 10 bis 17 Uhr
6. — 9. mai 2010 Donnerstag Freitag Samstag Sonntag Sonntag
6. Mai — 19 Uhr 7. Mai — 19 Uhr 8. Mai — 19 Uhr 9. Mai — 11 Uhr 9. Mai — 19 Uhr
Kirche Amsoldingen Kirche Blumenstein Rittersaal Thun Schloss Oberhofen Rittersaal Thun
Werke u.a. von: Atterberg — Bach — Biber — Brahms Bruch — Debussy — Mozart — Schubert — Schumann Tschaikowsky — Vivaldi Alle Proben sind Gasthörern frei zugänglich Vorverkauf: www.starticket.ch Weitere Infos: www.gaia-festival.ch
ÖV-Partner Die internationalen Solisten werden unterstützt von:
Wo Kultur Kultur bleibt – und Management der Sache dient:
Masterprogramm Kulturmanagement Studiengang 2010-2012, Beginn Oktober 2010
Informationsveranstaltung Dienstag, 8. Juni 2010, 18.30 bis 20 Uhr Alte Universität, Rheinsprung 9, Hörsaal 118 Anmeldung nicht erforderlich SKM, Rheinsprung 9, CH-4051 Basel, Schweiz Telefon +41 61 267 34 74 www.kulturmanagement.org
Inhalt
18 23
8 28
25 PERMANENT 6 SENIOREN 12 KULTUR
IM
DER
WEB POLITIK
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KULTURESSAYS
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Vergangenheit Von Lukas Vogelsang
6
Ungeschlagen Von Isabelle Haklar
11 M ENSCHEN & MEDIEN
7
19 F ILOSOFENECKE
8
14 LITERATUR-TIPPS
9
32 I NSOMNIA
10 Vorbereitung auf die Zeit danach
34 T RATSCHUNDLABER 38 I MPRESSUM 39 KULTURAGENDA ZÜRICH
Auf der Suche nach dem Urberliner Von Till Hillbrecht
Was ich mag und was nicht Von Barbara Roelli
Die Macht der Schuhe Von Simone Weber Von Irina Mahlstein
38 Polit-Art-Trash? Von Pascal Mülchi
13 LITERATUR 13 Seit jeher unterwegs Von Konrad Pauli
15 Netzwerken, das Von Frank E. P. Dievernich
17 Spazieren – nicht zu bändigende Leidenschaft Christoph Simon
18 TANZ & THEATER 18 «Wenn Dinge wahr sind und weh tun, lachen die Leute.» Interview: Christoph Hoigné
21 Brutale gesellschaftliche Realität an einem ungewöhnlichen Theaterort Von Fabienne Naegeli
22 Sommerliches Figurentheater Von Geraldine Capaul
23 Vorhang auf! Interview von Karl Schüpbach
25 M USIC & SOUNDS 25 Questo Piccolo Grande Amore Interview: Luca Scigliano
28 «Reduktion muss man anstreben.» Interview: Tobias Graden
30 Gaia – Musik in aller Intensität Von Lukas Vogelsang
32 Ein Porsche aus Alabaster Von Heinrich Aerni
33 KINO & FILM 33 «Ich liebe es, hässlich zu sein» Interview: Sarah Elena Schwerzmann
35 Unser Garten Eden Von Lukas Vogelsang
36 Dear John Von Sonja Wenger
37 Kevin Smith und die amerikanische Vulgarität Von Morgane A. Ghilardi
20 Fiktive Realitäten und reale Fiktion Von Alexandra Portmann Bild Titelseite: 59 Jahre alt: Claudio Baglioni feiert in Zürich seinen Geburtstag. Am 16. Mai im Kongresshaus. (siehe Seite 25)
ensuite - kulturmagazin Nr. 89 | Mai 2010
ensuite.ch 3
Kulturessays 8. JAHRGANG BERN UND ZÜRICH
E DITORIAL
ensuite
Vergangenheit Von Lukas Vogelsang
K U L T U R M A G A Z I N
E
s gibt einen einfachen Trick, Kulturschaffende oder Kulturförderer auf die «Palme» zu jagen: Fragen Sie einfach: «Was ist Kultur?» oder noch besser: «Warum soll Kultur wichtig sein?» Diese Fragen dürfen heute nicht mehr gestellt, geschweige denn, noch darüber nachgedacht werden, sie gelten im GesellschaftsKnigge als eine der Todsünden im Umgang mit geladenen Gästen. Doch probieren Sie es aus … Entweder wendet man sich bei den Apérohäppchen mit schlechten Entschuldigungen ab, oder aber man bestaunt Sie ungläubig – ungläubig, dass Sie noch so hinter dem Mond sein können. Einige freundliche Menschen werden dann versuchen, diese Fragen mit ein paar faden Begründungen wie «das ist Bildung», «schafft Arbeitsplätze» oder ganz übel: «hat mit der geistigen Entwicklung einer Gesellschaft zu tun» … zu erklären. Aber nach fünf Minuten ist das Thema erschöpft. Mit gleichem Erfolg könnten Sie die Frage nach einem Gottesbeweis stellen. Irgendwie erschütternd. Und es erstaunt mich auch nicht, dass die grossen Schweizer Denker mit Dürrenmatt und Frisch schlicht ausgestorben sind und es ziemlich ruhig geworden ist. Für das Denken ist kaum Platz in unserer Kultur. Ein kleiner Rest nagt noch an den alten Büchern und Gedanken, doch viele sind es nicht mehr, und es gedeiht auch nicht eine neue Schweiz aus diesem Gedankengut. Ich sehe sie zumindest nicht. Vielleicht hat diese fehlende Kultur etwas mit den bodenlosen Boni zu tun oder mit der Politik, die nur noch für die Politik politisiert und nicht mehr für die Menschen, die davon betroffen sind. Vielleicht hat diese Kulturlosigkeit damit zu tun, dass junge Generationen ihre sozialen Netzwerke vermehrt im virtuellen Raum statt in der Realität suchen. Ich höre sie schon, die Stimmen, die mir jetzt Dank für die finanzielle Unterstützung an:
Kultur muss man verstehen wollen und geniessen lernen.
erklären wollen, dass eben genau dies die neue Kultur sei. Immerhin, ProHelvetia und das BAK haben jetzt, zwar ungefähr 20 Jahre zu spät, im Sinn, mit einem Budget von 1,5 Millionen Franken Ausstellungen, Publikationen und die Entwicklung «kulturell wertvoller Spiele» zu fördern. Reale Brett- und Gesellschaftsspiele wurden bisher nicht gefördert – aber im virtuellen Raum gelten sie jetzt als begehrte Förderungsobjekte. Je weniger Kultur und Kunst mit Menschen zu tun hat – so der Eindruck, der daraus entsteht – umso lieber wird diese gefördert. Vielleicht eben gerade deswegen, weil Kultur als Ware, Objekt, als Abstraktum und nicht als etwas Inhaltliches, mit Herz und Seele, etwas Lebendiges gilt. Eine interessante Entwicklung. Ich bin über die Rede von Friedrich Dürrenmatt gestolpert, die er anlässlich des Grossen Literaturpreises des Kantons Bern 1970 gehalten hatte: «Ich komme mir heute sowohl als Kulturpreisträger wie auch als Theatermann fragwürdig vor. Die Fragwürdigkeit liegt weder in meinem gescheiterten Basler Theaterexperiment noch im Preis. Sie liegt in der Kultur selbst und in der Frage, ob ein heutiger Staat überhaupt noch etwas mit Kultur zu tun habe, ob der Staat nicht dazu da sei, nur technische und soziale Aufgaben zu bewältigen, ob die Kultur nicht ausserhalb der Kompetenz des Staates liege und vom sozial betreuten Bürger privat zu betreuen sei.» Und etwas weiter unten dann: «Wie das Wetter ist auch die Kultur veränderlich und nur ungenau vorauszubestimmen. Vor allem aber ist sie nicht, wir man im Westen und im Osten glaubt, ein Besitz. Wir meinen, dass wir Kultur besitzen, wie wir Häuser, Vermögen oder Armeen besitzen. Wir halten uns für kultiviert.» Sehr einleuchtend dann noch dies: «Die Kultur Europas veränderte die Welt nicht in erster Linie durch ihre Kunstwerke, weder durch ihre Literatur noch durch ihre Architektur, sondern durch ihr Denken.» Schon 1970 waren also meine Fragen ziemlich präsent. Doch haben wir Dürrenmatts Rede und Aufruf als Leitbild für unsere Kulturfragen und für unser Kulturverständnis miteinbezogen? Haben das Kulturschaffende, VeranstalterInnen und die Kulturförderstellen überhaupt je gelesen? 40 Jahre ist es her, und wir irren irgendwie immer noch an gleicher Stelle. Und was ist sie denn jetzt, diese Kultur, die wir als so wichtig erachten, dass wir keine Begrifflichkeit dafür finden?
ensuite.ch ensuite - kulturmagazin Nr. 89 | Mai 2010
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Kulturessays
SENIOREN IM WEB Von Willy Vogelsang, Senior I NTERMEZZO
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ann haben Sie zuletzt einen Ameisenhaufen entdeckt und beobachtet? Oft liegen sie unter Tannen am Waldrand, grössere oder kleinere Haufen aus dürren Tannennadeln. Meist bewegt sich nicht viel. Manchmal staune ich aber, wie emsig da gearbeitet wird, wie Baumaterial herangeschleppt und umplatziert, aber auch Futter durch Eingangslöcher in die Tiefen des Baues gezogen wird. Auch um den Bau herum herrscht eine kaum wahrnehmbare Wanderbewegung. Über weite Distanzen schwärmen die Tierchen aus, um ihre Funde in faszinierender, bewundernswert mühevoller Art zurück zu bringen. Sie wissen aber auch, wenn dieser Betrieb von aussen durch irgendein Ereignis – haben wir nicht als Kinder jeweils mit einem Stock den Bau absichtlich gestört? – durcheinandergebracht wird, dass dann ganz plötzlich ein wirres hektisches Durcheinander Hunderter von Tierchen entsteht. Sie quellen aus allen Öffnungen aus dem Untergrund und überziehen den Bau mit brodelndem, wie ziel- oder orientierungslosem Hin und Her. Dieses Szenenbild kam mir in den Sinn, als das neue CMS (Content Management System) mit einem neuen Layout für das Internetportal seniorweb.ch am 23. März aufgeschaltet wurde. Nach monatelanger erwartungsvoller Ruhe begann sofort ein emsiges Treiben. Aktive Club-Mitglieder und Benutzer der Foren, alte Bekannte, Neueinsteiger, Redaktionsmitarbeiter, alle suchten sich zu orientieren. Begeisterung und Kritik, technische und sprachliche Rückfragen und Hinweise beherrschten fast alle Forenthemen. Bei genauerem Verfolgen der Webseite bemerkte ich aber auch die fast übermenschliche Präsenz und Emsigkeit im Team der Projektleitung und der Programmierer. Hunderte von Meldungen – Wünsche, Hinweise und Korrekturen – wurden innert kurzer Zeit noch vor den Osterfeiertagen in Tag- und Nachtarbeit entgegengenommen und aufgelistet. Zu einem grossen Teil sind sie bereits verwirklicht. Dem Projektteam und den Technikern ist ein grosses Kränzchen zu winden für ihre Leistung, im neuen Auftritt sämtliche Beiträge seit dem letzten grossen Systemwechsel im November 2007 zu erhalten und wieder auffindbar zu machen! Das sind Tausende von Forendiskussionen und Artikeln, Kolumnen, Bilder und Berichte von Ausflügen und vieles mehr. Der Ameisenhaufen scheint wieder komplett zu funktionieren. Entdecken Sie ihn; beobachten Sie ihn. Krabbeln Sie mit auf www.seniorweb.ch informiert · unterhält · vernetzt 6
Ungeschlagen Von Isabelle Haklar
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CB ist noch nicht Meister – zwischenzeitlich vielleicht nun doch –, YB wird es wohl leider auch diese Saison nicht, doch ich, ich bin bereits mehrfache Meisterin in diesen zwei Disziplinen: Meisterin im Verdrängen sowie Meisterin des Chaos. Seit Jahren verteidige ich diese Titel nun schon, und zwar sehr erfolgreich. Immer wieder werde ich aufs Neue ausgezeichnet. Ausgezeichnet von einer äusserst kritischen und nicht minder kompetenten Jury: meinem Freundes- und Familienkreis. Meine Fachjury vergleicht mich mit anderen mir bekannten Personen, wobei stets ich das Rennen mache. Denn bei den Vergleichen falle ich, im Gegensatz zu meinen Mitstreitern, nie unter den Superlativ. Die Krone, die ich davontrage, ist immer das kleine Wörtchen «am». Sei es, dass bei mir am meisten Gläser und Tassen gleichzeitig in Gebrauch sind oder am meisten Rechnungen herumliegen, deren Zahlungsfrist nicht heute oder morgen, sondern in der gängigen Zeitrechnung weiter zurückliegt. Und bei mir darf, laut Gremium, das bereits gebündelte Altpapier am längsten in der Küche verweilen. Leere Wein- und Petflaschen hingegen dümpeln scheinbar auch bei mir am längsten auf dem Balkon herum. Oder es ist auf meinem Schuhschränkchen vor der Haustüre, wo sich am meisten Schuhe stapeln. Letzteres, das gebe ich zu, war ein leicht verdienter Sieg, denn mein Schuhschränkchen nenne ich nicht vergebens Schränkchen; es ist 47 Zentimeter hoch und 24 Zentimeter tief. Also keine nennenswerte Auszeichnung. Und wenn man mit drei leeren Wein- und zwei leeren Petflaschen auf dem Balkon als Sieger hervorgeht, hält sich auch hier mein Stolz etwas in Grenzen.
Auch wurde ich schon mehrmals einer nicht abgewaschenen Gratinform wegen prämiert. Denn bei mir steht diese, mit Wasser gefüllt zum Aufweichen der Speisereste, am längsten im Spülbecken. Ah, da fällt mir ein, ich bin es auch, die am längsten wartet, ehe sie das wichtige Telefonat mit einer Behörde in Angriff nimmt. Und niemand schiebt übrigens zu Erledigendes so lange vor sich her wie ich. Ich zögere, so die Juroren, das Handeln am längsten heraus. Und um meiner Titelsammlung gleich noch eine weitere Krone hinzuzufügen, erledige ich dann, gezwungenermassen, innert kürzester Zeit am meisten Sachen aufs Mal. Und in meinem Umfeld bin ich es, die ihren Briefkasten am längsten nicht leert. Dies mache ich natürlich nur, damit auch einmal jemand anderes die Möglichkeit auf den Titel der «Am-längsten-herumliegenden-unbezahltenRechnung» hat. Dann bin auch ich es, die sich scheinbar über die kleinsten Dinge am meisten und längsten aufregen kann oder am meisten Sachen, egal welcher Grösse, verlegt und dann auch am längsten und verbissensten danach sucht – und sie immer an den skurrilsten Orten wiederfindet – wohlbemerkt. Es sei denn, es handle sich um einen Regenschirm. Denn meine Regenschirme sind nach dem ersten Gebrauch meistens schon nicht mehr in meinem Besitz. Sie zählen – abgesehen von Schokolade – zu den Dingen, die ich am wenigsten lange «Mein» nennen kann. Doch wer weiss, vielleicht trägt ja der Finder danach am längsten Sorge zu meinem ausgesetzten, gepunkteten «Schärmespänder» und kassiert dafür den für mich am unerreichbarsten Orden.
TANZ-AUSBLICK MAI
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er zwischen den Tagen des Tanzes und den auf den Fersen folgenden STEPS #12 noch Musse hat, sich Gedanken über das drohend aufziehende Sommer-Tanzloch zu machen, dem sei anempfohlen: Urlaub am Lago Maggiore zu verbringen und zu Fuss den Sommerkurs in Ascona aufzusuchen. Dort lehren renommierte Profis, die seit 37 Jahren Dance Promotion Suisse einlädt.
Während die traditionsreichen internationalen Kurse wie in Köln (gegründet von Kurt Joos) eingehen, andere – wie in Wien – dagegegen sich zum Mammut auswachsen, setzt Ascona auf Überschaubarkeit. Davon profitiert der einzelne und das Ambiente. Programm vom 2. bis 6. August: www.dancepromotion.ch (Anmelden bis Mitte Mai)
Kulturessays
R ECLAIM : M IT
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Auf der Suche nach dem Urberliner Von Till Hillbrecht
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n der einstigen Todeszone um den Mauerpark beim Prenzlauer Berg wird das alte Leben auf einem riesigen, allsonntäglichen Flohmarkt feilsch geboten, der so gross ist wie die gesamte Verkaufsfläche der Berner Altstadt. Die Gassen sind gedrängt, jeder will eines der selbst bedruckten T-Shirts ergattern, alte Schuhe, ein gebrauchtes Velo. Am Mauerpark, da wohnt eine Freundin. Noch gerade im letzten Haus auf der ehemaligen Ostseite. Sie würde niemals über die ehemalige Grenze in den Westen ziehen. Und ich weiss noch nicht einmal, auf welcher Seite ich gerade stehe. Dabei ist es mit dem Prenzlauer Berg schon fast vorbei. Das einstige Arbeiterquartier wird heute von der oberen Mittelschicht bevölkert, nur in dünnen Nischen zwischen renovierten Häusern und Neubauten halten Kleintheater und alte Kneipen der Schraubzwinge stand. Arbeiterschicht und zugezogene Künstler haben sich nicht gebissen. Nur: Der Einzug des Kunst- und Kulturmarkts sprengte den alten Quartierkosmos und baute einen neuen, der den Stadtteil so fest aufwertete, dass den Künstlern die Trendsetter folgten. Die steigende Nachfrage nach dem aufgeblühten Wohnraum war zügig nur noch mit Geld zu beantworten. Der Prenzlauer Berg ist ein Paradebeispiel für die so genannte Gentrifizierung, die «Veredelung» eines einstigen Arbeiter- oder sogar Problemviertels. Nur: Das alleine ist kein Phänomen, welches Berlin vorbehalten ist. Auch nicht die Methoden, mit denen sich in die Ecke gedrängte
ensuite - kulturmagazin Nr. 89 | Mai 2010
Foto Till Hillbrecht
Aktivisten gegen den Wandel wehren. In der Nacht werden unbekannte Sportwagen kurzerhand abgebrannt, um die Wohngegend für den Wohlstand unattraktiv zu halten. Stärker als anderswo aber regt sich in Berlin auch eine leise Abneigung gegenüber der Kulturszene. Die war anfangs nur ein lokaler Kloss, wurde aber unter dem Druck des Trends weiter und weiter ausgewallt, bis sie als dünne Masse auch jene Orte bedeckte, wo man heute von ihr gar nichts wissen will. Die Szene belebt den Gentrifizierungsprozess nun ständig neu. Es war Prenzlauer Berg, es ist Friedrichshain, Kreuzberg, und es wird Neukölln sein. Das ehemalige Problemviertel Kreuzberg, mit der weltweit grössten türkischen Diaspora, ist heute zukunftsträchtiger Standort für Wohlfühloasen und vielversprechende Boutiquen mit findigen Namen aus Hollywood-Streifen. Und für luxuriöse Carlofts, in denen der Sportwagen per Autolift auf dem Dachgarten parkiert und vor dem Mob geschützt wird. Der Spätkaufallerwelts-Laden von Monsieur Ibrahim weicht dem Biomarkt, der Ende März schon Erdbeeren verkauft. Die Eckkneipe weicht der Chill Out-Lounge. Die ist noch wenig besucht in Neukölln. Aber seit der angrenzende Flughafen Tempelhof geschlossen wurde, ist es teuer geworden um die ehemalige Flugschneise. Besser man investiert jetzt, auch wenn der Markt noch schwach ist. Der Berliner identifiziert sich mit seinem Kiez. Doch mit dem Wandel im Kiez gehen auch seine Anwohner. Wer heute den Kreuzberger Lebensraum gestaltet, kann morgen hier viel-
leicht nicht mehr leben. Und die Suche nach dem Urberliner ist schwieriger als erwartet. Vielleicht, weil er anders ist, als man meint? Ist nicht der Türke aus Kreuzberg genauso der Urberliner wie die Charlotte, die am Eck hinter dem Tresen steht und Weisse ausschenkt? Im Trendviertel wird derweil der Freiheitsdrang vermarktet. «Reclaim the Streets» avanciert vom Schlachtruf zum Label, welches in fettgedruckten Buchstaben auf schicken T-Shirts prangt und den Touristen ausweist, dass sie dabei waren. «Reclaim the Streets» rufen in Berlin alle: Teenager kaufen die Revolution in der Boutique, Aktivisten planen sie von ihrem bedrängten Wohnraum aus. Strassenkunst hängt in den Galerien, deren Anzahl in Berlin rekordverdächtig hoch ist. Genauso wie die Arbeitslosigkeit. Heute ist Berlin die Stadt mit dem offiziell besten Club der Welt, für den man zwei Stunden ansteht und eine Unsumme an Eintrittsgeld bezahlt. Die Stadt mit einer derart starken Klientel, dass selbst Nischen eine Magnetwirkung auf das Publikum haben. Der Urberliner ist richtig schwierig zu finden. So viele ziehen hier her, so viele weichen. Die Freundin im letzten Haus zur Westgrenze ist eine Urberlinerin. Auch Charlotte hinter dem Tresen. Der Strassenmusiker mit dem Saxophon an der Schönhauser Allee ist ein Urberliner. Und noch eine, die in Neukölln gegen die Plastikrevolution kämpft und nachts Stühle auf die Strasse stellt, weil die Parkbänke letzthin präventiv entfernt worden sind.
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Kulturessays
E SSEN
UND TRINKEN
Was ich mag und was nicht Von Barbara Roelli
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as ich mag: Wenn bei Äpfeln in der Migros noch ein Blatt am Stiel haftet. Den Ausdruck «Kraut und Rüben». Rezepte sammeln, weitergeben oder weitersagen. Wenn Tomaten endlich wieder Saison haben, vor allem die Sorte Coeur de Boeuf. Das Glückselige im Gesicht eines Menschen, der zu essen beginnt und darüber ins Schwärmen gerät. Roastbeef Die Salatsauce meiner Grossmutter mütterlicherseits (sie verwendet Kressi Essig). Wenn der Geruch von Selbstgebackenem durchs Haus zieht. Ein Menü komponieren; dieses speziell für eine bestimmte Person zusammenstellen. Pouletschenkel in die Hand nehmen und das Fleisch vom Knochen nagen. Filme wie «Delicatessen», «Bittersüsse Schokolade», «Eat drink man women». Mutanten: Rüebli mit eigentümlichen Auswüchsen («Schnäbis»). Mascarpone mit Rohschinken auf der Pizza. Was man isst, selber aus der Natur holen; wie Bärlauch pflücken. Jetzt im Frühling: Carciofini (Miniartischocken) und Barba di frate (Mönchsbart). Beide Gemüse in Harmonie bringen mit Knoblauch und Olivenöl zu Pasta. Picknicken auf einer wilden Wiese. Fleischfressende Pflanzen. Maiskolben auf dem Grill bräteln. Und während dem Essen die schmelzende Butter auf der Zunge spüren. Überhaupt: Zungenküsse. Spaghettireste in der Bratpfanne brutzeln bis sie knusprig sind. Vacherin Mont-d’Or im Ofen schmelzen und aus der Spanschachtel schlemmen.
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Bild: Barbara Roelli
Foodstyling in den Kochbüchern von Donna Hay. Wenn ich jemanden neu kennenlerne, danach fragen, was er gerne isst. Mürbes Gebäck – wegen des Salzes im süssen Teig. Rhabarber. Rhabarbara heissen. Vorratsschränke. Verlorene Eier. Den Leuten beim Einkaufen in den Wagen schauen und mir vorstellen, wie sie leben. Blut- und Leberwurst mit Apfelschnitzen und Kartoffelstock. Und das zur Herbstzeit, wenn gemetzget wird in der goldenen Sonne. In geselliger Runde über ein Fondue herfallen. Jemanden zum Fressen gern haben.
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as ich nicht mag: Spargel aus Peru. Erdbeeren im Frühling. Wenn die Person, die gekocht hat, nicht zufrieden ist mit dem Ergebnis und während des Essens das Gekochte schlechtmacht. Merken, dass ich dies selber tue. Verdammt Lust haben nach Pasta mit Thonsauce und verzichten (wollen). Dass der Thunfisch vom Aussterben bedroht ist. Am Mittag Weisswein trinken und am Nachmittag Kopfweh bekommen davon. Wenn ein Früchtejoghurt nur dank künstlicher Aromen schmeckt, wie es scheinbar sollte. Geschmackskombinationen, in denen die einzelnen Zutaten untergehen. Wenn das Servicepersonal im Restaurant die Teller abräumt, auch wenn noch nicht alle am Tisch fertig gegessen haben. Wenn man während des Essens nur noch über's Essen redet. Wenn Bio-Produkte ökologisch fraglich sind; wie Biobrot mit Bioweizen aus Amerika. Vom Maiskolben-Essen Pflanzenteile und vom
Salami-Essen Fettstückchen zwischen den Zähnen haben. Gesuchte Produkte wie eine Glacesorte «Cupuaçu Açai-Acerola & Banane». Nicht wissen, worauf man wirklich Lust hat. Vegetarisches Cordon-Bleu, vegetarische Nuggets, Quorn Pfeffer Grillsteak, Quorn Gehacktes, Tofu-Kräuterbratwurst: Produkte, die vegetarisch sein wollen, aber fleischliche Namen haben. Versalzenes Essen; speziell, wenn ich dran Schuld bin. Wenn ich mir in meiner Hose vorkomme, wie eine Wurst in der Pelle. Wassermelone. Vor allem das mehlige Fleisch um die dunklen Kerne herum. Die oftmals undefinierbare Masse am Drehspiess vom Dönerstand. Essen, obwohl ich keinen Hunger habe. Gerichte in Menükarten, die mehr versprechen, als sie halten können (Hauptsache speziell). Leute, die Dinge auf ihrem Teller mit angewidertem Blick sezieren. Wenn ganze Desserts in Schokoladetafeln gepackt werden: Schokolade mit Crema Catalana, Mousse au Chocolat, Tiramisu, Panna Cotta. Wenn Geschnetzeltes, Kräuterbutter und Pommes Frites auf der Pizza serviert werden. Sich paarende Fruchtfliegen. Analogkäse, Schweinefleischerzeugnis und andere Schummeleien. Dass Essen mit den Fingern unanständig sein soll. Leute, die in Form gepresste Chicken Nuggets essen, die aber kein Fleisch essen können, wenn sie das Tier erkennen. Die Qual der Wahl zwischen über 70 JoghurtSorten. Dass Essen fettfrei und zum Lifestyle geworden ist.
Kulturessays
ÉPIS FINES Von Michael Lack
TOMATEN-PILZBRUSCHETTA MIT BÄRLAUCH 1 150 g 100 g 1 ½ 1 1 dl 1,5 dl 1*
Vollkorn-Pariserbrot oder Wurzelbrot Champignons Tomaten Bund Bärlauch Stück Zwiebel Knoblauchzehe Balsamico Olivenöl Salz und Pfeffer
Vorbereitung Pilze in Ecken schneiden und die Tomaten in Würfel. Die Zwiebel und den Knoblauch zerhacken. Bärlauch in feine Streifen schneiden. Das Brot in dünne Scheiben teilen und toasten. Olivenöl und Balsamico mixen. Zubereitung Die Pilze mit den Tomaten und den gehackten Zwiebeln und dem Knoblauch leicht andünsten. Mit Salz und Pfeffer würzen. Mit dem Dressing ablöschen und von der heissen Platte nehmen. Mit einem Löffel die Pilz-Tomaten-Masse auf das vorgetoastete Brot geben. Den feingeschnittenen Bärlauch darübergeben. Tipp: Man kann das Ganze auch noch mit etwas Parmesan verfeinern!
K LEIDER
MACHEN
L EUTE
Die Macht der Schuhe Von Simone Weber E in Outfit kann noch so perfekt sein, wenn der Schuh nicht passt, bringt das gar nichts. Der Schuh ist das Salz in der Suppe, muss perfekt abgestimmt sein, sollte die Kleidung immer noch etwas besser aussehen lassen. Er kann aber auch alles zerstören. Wie sähe eine Braut in Turnschuhen aus? Klar ist, dass jeder Mensch eine gewisse Auswahl an Schuhwerk besitzen sollte. Bei Männern sieht die Sache diesbezüglich etwas einfacher aus. Die Auswahl an Herrenschuhen ist ziemlich überschaubar. Die Treter gibt’s ja nur in flach! Natürlich gibt es etwas edlere Modelle, spitzig, aus Leder, aber auch ganz plumpe, schwere. Und dann natürlich die Turnschuhe oder Sneakers. In den letzten Jahren wurden sie besonders bei jüngeren Generationen der männlichen Schöpfung zum Schuh schlechthin. Sneakers sind lässig, aber trotzdem eleganter als die Turnschuhe der 80er. Wir haben also Sneakers und Halbschuhe. Vielleicht sollte man Sandalen noch erwähnen. Obwohl … da denkt man doch gleich wieder an Wollsocken in ausgelatschten Ledersandalen. Nichts ist so erschreckend wie ein paar Wollsocken in Sandalen – im Winter. Dann möchte man noch lieber einen Schneeball ans Fenster gedrescht bekommen, wenn man im Tram ein Nickerchen hält. Also Männer, lieber keine Sandalen! Flipflops könnt ihr tragen, das geht nämlich nicht mit Socken. Praktisch an Herrenschuhen ist auch, dass sie so schnell an- und ausgezogen werden können. Kein lästiges Riemchenbinden und auch kein Schenkel zusammenquetschen, damit der Reisverschluss des Stiefels zugeht. Nein, Herrenschuhe können in Sekundenschnelle vom Fuss gesteift und nach George W. Bush geschleudert werden, wie wir in der Vergangenheit gelernt haben. Das lohnt sich auch, weil Herrenschuhe meist das nötige Gewicht besitzen, das mit etwas Schwung verbunden einen üblen Schmerz auslösen und einen blauen Fleck zur Erinnerung hinterlassen können. Natürlich gibt’s für Herren auch andere Schuhmodelle wie Springerstiefel oder Wanderschuhe. Sie sind modisch gesehen aber nicht sonderlich relevant und deshalb hier nicht von Bedeutung. Etwas umfänglicher ist die ganze Schuh-Sache in der Frauenwelt. Da hat die Auswahl im Laufe der Zeit eine überwältigende Grösse angenommen. Wir Damen freuen uns ausserordentlich darüber, dass wir uns nicht mehr in mittelalterlichen Schnabelschuhen promenieren müssen. Wir mögen es etwas eleganter. Dann schon eher die goldenen Sandalen, die im alten Ägypten ausschliesslich von Pharaonen getragen werden
ensuite - kulturmagazin Nr. 89 | Mai 2010
durften. Ja, königlich möchten wir uns fühlen, und wenn Schuhe sowas können, ist das umso besser. Blöd ist nur, dass es meist die hohen Hacken sind, die uns graziös erscheinen lassen. Hohe Hacken sind unbequem. In hohen Hacken muss man laufen können. Und das muss gelernt werden. Hat Frau den Gang raus, überzeugt sie mit einem erotisch-graziösen Po-Gewackel. Ganz praktisch ist auch, dass das «Auf-den-Zehen -Gehen» den weiblichen Körper in eine optimale Haltung zwingt – rein optisch gesehen natürlich. Busen raus, Bauch rein, einfach so. Ohne daran zu denken. Wirklich praktisch. Natürlich wissen wir, dass wir mit solchen Schuhen unseren Rücken verbiegen und die Knie zerstören. Von den deformierten Zehen wollen wir gar nicht sprechen. Besonders schlimm wird’s, wenn die Schuhe, wie so oft, auch noch eine halbe Grösse zu klein gekauft wurden. In ein paar Jahren werden unsere Latschen dann zu hübschen, kleinen Lotusfüsschen, die in jedes Schühchen passen. Aber barfuss kann man sich dann nicht mehr aus dem Haus wagen. Also, besser auf den Orthopäden hören und auf klein und hoch verzichten. Es gibt ja auch unglaublich viele Alternativen! Der perfekte Schuh muss keinen acht-Zentimeter-Absatz besitzen. Es gibt ihn, den Schuh der einem ein verstohlenes Lächeln aufs Gesicht zaubert. Auf den man zwanghaft blicken muss, wenn man die Beine übereinanderschlägt, den man absichtlich unter dem Kaffeetischchen hervorstechen lässt, ganz egal wie viele Passanten drüber stolpern. Dieser Schuh schmiegt sich um den Fuss wie eine zweite Haut: Wir müssen uns nicht einreden, dass das Leder sich dann schon noch ein wenig ausdehnen wird. So ein Schuh lässt einen leichtfüssig schreiten, sieht wundervoll aus und hebt das gesamte Outfit auf ein höheres Niveau. Dieser Schuh kann ein Ballerina, eine Sandale, ein Halbschuh, eine Stiefelette oder was auch immer sein. Was er auf jeden Fall ist: ein Glückfall. Denn den perfekten Schuh trifft man selten. Vielleicht brauchen wir Frauen deshalb einen ganzen Schrank voller Schuhe. Viele tragen wir nur zwei- oder dreimal. Das liegt aber nicht daran, dass sie uns nicht mehr gefallen. Schuhe wickeln uns mit ihrer Schönheit um den Finger. Aber: Je schöner, desto unbequemer. Kaum haben wir sie, landen sie für immer im Schuhschrank, weil sie zu hoch, zu kurz oder zu eng sind. Wir versuchen dann krampfhaft, den Schuh irgendwie bequem zu machen – vergebens. Also gehen wir los und kaufen uns neue. Das ist die Macht der Schuhe.
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Kulturessays
K OLUMNE
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Vorbereitung auf die Zeit danach Von Irina Mahlstein
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ein Notebook will nicht mehr richtig. Um dieses bescheuerte Word-Dokument zu öffnen, brauchte ich zehn Minuten. Zwischenzeitlich hat sich mein Notebook etwa dreimal aufgehängt. Und dies wegen eines Word-Dokuments! Für jemanden, der es gewohnt ist, mit 32 Gigabyte RAM arbeiten zu können, ist dies mehr als ärgerlich. Selbst jetzt, wo ich diese Zeilen tippe, tippe ich, und etwa zehn Sekunden später erscheint der Text. Definitiv, die Luft ist draussen bei meinem Notebook. Ich sollte es längst neu aufsetzen. Im Moment tendiere ich allerdings dazu, alle lästigen Arbeiten auf meine Nach-Doktorarbeitszeit zu verschieben. Es dauert nur noch bis 25. Juni. Weniger als zwei Monate. Diese Arbeit lässt sich dann besser erledigen. Denn dann habe ich ja Zeit. Viel Zeit. So stelle ich es mir vor, mein Leben danach. Mein Leben danach wird toll. Dann kann ich endlich wieder alles machen, was ich jetzt vermisse. Dann habe ich Zeit, um in der Stadt herumzuschlendern. Am Morgen auf dem Weg zur Arbeit eine heisse Schoggi zu trinken und die ersten Sonnenstrahlen zu geniessen und dabei die Zeitung lesen. Mein Leben danach wird von Ruhe geprägt sein. Dann habe ich Zeit, viel mehr Klavier zu üben, alle Bücher zu lesen,
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Bild: Barbara Ineichen
die sich auf meinem Regal stapeln, und natürlich werde ich mindestens einmal die Woche in die Sauna gehen. Mein Leben danach wird super! Dann kann ich alles nachholen, was ich die letzten Jahre entbehrt habe. Aber nicht nur die letzten drei Jahre, sondern über das ganze Studium hinweg! Endlich habe ich Zeit, die Lorbeeren für meine Werke zu geniessen! Nur, habe ich je in meinem Leben Zeit gehabt, um einmal die Woche in die Sauna zu gehen? Oder gab es (ausser zwei Wochen vor einem Konzert) eine Klavierstunde, wo ich nicht zerknirscht gedacht habe, dass ich noch mehr üben hätte können? Wie oft habe ich denn eine Schoggi getrunken auf dem Weg zur Arbeit? Ich finde es immer wieder aufs Neue interessant, mich selbst zu beobachten, wie ich mir den Alltag nach einem grossen arbeitsaufwändigen Ereignis ausmale. Ich tendiere dazu, mir eine rosarote Welt zu kreieren, in der ich ehrlicherweise gar nie leben möchte. Der Kitsch klebt nur so an den Wänden in dieser Welt. In ein paar Tagen würde mir wahrscheinlich so sehr langweilig sein, dass ich mich zum schwarzen Block gesellen würde, um mit ein paar «1. Mai-Geschossen» Richtung UBS meinem perfekten Leben den rosaroten Lack zu zerkratzen.
Trotzdem wird es gut, mein Leben danach. Weil es einfach wieder etwas Normalität annimmt und ich wieder weiter denken kann als 25. Juni. Dieses Datum hängt wie ein grosses rotes Tuch vor meinen Augen, und ich schnaube langsam immer lauter, weil ich es nicht mehr erwarten kann, endlich durch dieses Tuch in die Freiheit zu rennen. Bleibt zu hoffen, dass ich beim Zieleinlauf kein grosses Schwert in den Rücken kriege. Aber davon ist im Moment nicht auszugehen. Und deshalb spare ich mir das Neu-Aufsetzen meines Notebooks brav auf für die Zeit danach. Damit genügend lästige Arbeiten auf mich warten, welche den rosaroten Lack beschädigen können. Denn es würde – ehrlich gesagt – mehr als nur der rosarote Lack meiner Kitschwelt zerkratzt, wenn ich anfangen würde, gegen «das System» zu randalieren und es am 1. Mai richtig krachen liesse. Mit Lackkratzern kann man leben, nicht aber mit einem Totalschaden. Deshalb heisst meine momentane Devise: Es ist völlig okay, alle lästigen Arbeiten auf die lange Bank zu schieben, alles liegen zu lassen und mich weiterhin darüber aufzuregen. Es ist sogar gut für meine Zukunft.
Kulturessays CARTOON www.fauser.ch
VON MENSCHEN UND MEDIEN
Sandkastenspiele Von Lukas Vogelsang
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erlagsfürste in der Schweiz und auch anderwo, präsentieren uns seit Jahren erschreckende Bilanzen und Zahlen. Jährlich werden Millionen an Gewinneinbussen gemeldet. So hat die Tamedia im 2009 einen Gewinnrückgang von 55,8 Prozent zu verzeichnen. Das sind aber immer noch fast 60 Millionen Gewinn. Auch Ringier, das Monster-Verlagsimperium, musste gegenüber dem Rekordgewinnjahr 2008 ganze 72,4 Prozent einstecken. Die NZZ mit einem Gewinn von 22,2 Millionen im Vorjahr machte im Krisenjahr sogar 3,1 Millionen Verlust. Welch trübe Stimmung da in den Verlagshäusern herrschen muss, erklärt die Lustlosigkeit der Zeitungen von heute. Innovationen werden allesamt eingespart. Interessante Artikel liegen ausserhalb des Budgets, und allgemein bekannter Pflichtstoff wird mit trüben Hintergedanken den Agenturmeldungen abgeschrieben. Seit Jahren versuchen uns die Verlagsfürsten zu erklären, dass nur eine gewinnbringende Zeitung eine Zeitung ist, dass es nur glückliche AktionärInnen geben kann und darf und posaunen gleichzeitig, dass der Journalismus tot ist. Es sind die gleichen Verlagsfürsten, die mit
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grossen Investitionen Gratiszeitungen auf den Markt werfen, nur um die Konkurrenz in die Knie zu zwingen. Es sind die gleichen Verlagsfürsten, die statt Zeitungen gratis Onlineportale erstellen, Kommerzplattformen betreiben, Lebensmittellabels vermarkten, Konzerttickets oder selber Kulturveranstalter spielen. Die gleichen Machthaber sparen bei den eigenen Zeitungen ein, damit sie die gewinnbringenderen Geschäftszweige ausbauen können. Eigentlich wollte man neue Geschäftszweige bauen, um die Zeitung zu stützen. Doch das ist zu einem Eigenlauf geworden. Es sind diese verflixten Investitionen, die das Geld für die Zeitungen im Sand ersticken lassen – eben dieses Geld, welches für die Zukunft der Presseprodukte gedacht war. Es nützt nichts mehr, dieses noch zu giessen. Daraus wächst nichts mehr. Die Verlagsfürsten haben die Zeitungskuh so lange gemolken, bis deren Zitzen wund geworden sind. Das Ersticken an der eigenen Phantasielosigkeit lassen sie nun die ganze Welt wissen. Und die Verlagsfürsten mit den Villen an den Goldküsten jammern bitter. Sie konzentrieren sich so vehement auf das Sparen, damit doch Gewinn entsteht, dass sie vergessen haben, was sie eigentlich produzieren.
In dieser Ausgabe von ensuite hat es drei Artikel, die bei den grossen Tageszeitungen aus so genannten Budgetgründen abgewiesen wurden. Uns wurden diese Texte gratis zur Verfügung gestellt, im Wissen darum, dass wir diese mit Würde und Respekt abdrucken werden. Das ist immer noch besser, als wie ein «armer Hund» bedient zu werden. Aber es kommt alles noch besser: Die zehn grössten Tageszeitungen haben insgesamt 4,4 Millionen Leser. Vor fünf Jahren waren es noch 4,3 Millionen. Auch die Werbeeinnahmen stehen im Vergleich zu den Gewinneinbussen in einem anderen Verhältnis: 2009 sind die Werbeeinnahmen nur um 17 Prozent eingebrochen. Das steht nicht mal im Einklang mit den Gewinnverlusten der Verlage. Die scheinen grundsätzlich Mühe zu haben. Die Verlagsfürsten wollen uns komische Sandkastenspiele verkaufen. Vielleicht haben sie ja von Geschäften keine Ahnung. Vielleicht lieben sie ihre Zeitungen nicht so, wie die LeserInnen sie lieben – oder liebten. Vielleicht lieben es die Fürsten einfach, mit dem Porsche bei der nächsten Aktionärsversammlung vorzufahren und nicht mit Eiern beworfen zu werden. Aber ich finde das alles nur noch peinlich.
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Kulturessays
K ULTUR
DER
P OLITIK
Zum Schreien komisch Von Peter J. Betts
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um Schreien komisch ist es, frivol und abgrundtief traurig, wahnsinnig und schrecklich logisch, banal und vielschichtig, zynisch und tragisch, hoffnungslos und voller Leben in all seiner Sinnlosigkeit und schlicht grossartig, dachte ich zwei bis drei Jahre nach dem Erscheinen des Buchs bei der ersten Lektüre. Und in höchstem Mass aktuell, dachte ich bei meiner letzten Lektüre vor ein paar Tagen. Leider. «CATCH-22» erschien erstmals 1961. Der Autor, Joseph Heller, wurde 1923 in Brooklyn geboren. Im zweiten Weltkrieg «diente» er in der US-Airforce als Bombardier. Nach dem Krieg studierte er unter anderem in Oxford, lehrte während einiger Jahre, startete dann eine erfolgversprechende Laufbahn als Werber für renommierte Zeitschriften wie «Time» und «Look», dabei kam ihm die Idee für «CATCH-22». Durch Erfahrung wird man – klug? Acht Jahre schrieb er an diesem Werk. Ich hatte es wieder in die Hand genommen, weil ich unbeschwert lachen wollte – ja nichts Depressives! Er hat auch viele andere, in doppeltem Sinne ausgezeichnete Bücher verfasst, aber wer «CATCH-22» sagt, stellt automatisch die Gleichung auf: Heller = «CATCH-22», so wie man bei Goethe an «Faust» denkt und nicht an »Die Leiden des jungen Werther», aber dabei auch nicht an Christopher Marlowe. Kultur der Politik pur: Eine kleine (bezüglich der Handlung fiktive) Insel, etwa dreizehn Kilometer südlich von Sardinien, zur Zeit der Eroberung Italiens durch die Amerikaner im Zweiten Weltkrieg, ist Ausgangspunkt all dieser schrecklichen und – lustigen Geschichten. Von dort aus werden die Bombereinsätze geflogen – von inkompetenten Verrückten, gewissenlosen Ehrgeizlingen, Idioten in Machtpositionen geplant und befohlen. So wird etwa das Soll der Einsätze für die Crews von den üblichen fünfzig auf sechzig, dann siebzig, dann achtzig erhöht, nur damit der verantwortliche Oberst den von der Journaille fabrizierten Ruf als Führer des einsatzfreudigsten Geschwaders erhält und vorzeitig zum General befördert wird, ohne selbst je eine Flak-Kanone gesehen zu haben. Die Flugcrews, an die äussersten Grenzen und darüber hinaus getrieben, drehen durch, sterben vor sich hin. Was immer geschieht, was immer schief geht, wer immer sinnlos krepiert: Irgendjemand, immer von der gleichen Clique, verdient Unsummen Geldes und erfährt rigorosen Machtzuwachs. Ein gewiefter Händler zum Beispiel wird von der offiziellen Funktion als Bomberpilot durch Mitinteressenten von diesen Verpflichtungen befreit und zum Messeoffizier befördert. Dank seines geschäftsbedingten Ranges und vieler Ehrentitel baut er sich und seinen Kumpeln ein Handlungs-
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netz für Güter auf von Ägypten bis Spanien, Moskau, Stockholm, Berlin, Wien, Budapest: Überall wird irgend eine Überproduktion von etwas, das anderswo als gesuchteste Mangelware verkauft werden kann, ausgenutzt, unter selbstverständlichem Einbezug auch der feindlichen Luftwaffe. Seine unangefochtene Macht wächst ungebremst: Gewinn kennt keine Grenzen. Gibt es scheinbar einen unausweichlichen Flop, wandelt der Schieber diesen für sich in einen Grosserfolg um: Eine Riesenmenge ägyptischer Bauwolle, für die er keinen Absatz findet, wird Blüte für Blüte mit Schokolade überzogen und erzielt als Leckerbissen einen Riesengewinn – mit Folgegewinnen der nach Genuss nötigen Medikamente wegen. Bombardemente von Dörfern, Brücken, Flugplätzen usw. werden unter Einbezug eingeweihter feindlicher Kräfte in Szene gesetzt, auch die Flugabwehr wird zentral organisiert im Interesse aller Shareholder hüben und drüben. Nur gestorben wird real: Crews, Zivilisten, Kinder, Huren, Pöbel gehen grenzenlos drauf. Der Ton unter den Verantwortlichen bleibt freundlich, alle sprechen von Pflicht, Ehre, Treue, Vaterland. Den anderen gehen die Worte aus. Die Luft auch. In den 60erJahren war «CATCH-22» eines der bildenden Elemente der «68er». Mitschuldig vielleicht für das damals übliche Misstrauen den Institutionen und vorgepredigten Idealen, Würde- und Machttragenden gegenüber. Nun, 68er sind älter geworden, sind Minister oder gehören Économie Suisse an. Gewinn heiligt die Mittel: Voraussetzung zur Reife. Steueroasen. Offshore-Banking. Abermilliarden von, sagen wir Franken, die Schwellenoder Entwicklungsländern entzogen worden sind, mehren sich steuerfrei, hier zum Beispiel, und den Herkunftsländern fehlen die – an sich vorhandenen – Gelder für effiziente Armutsbekämpfung. Natürlich wehren wir uns hier dagegen, diese Systeme zu ändern – auch unsere Wirtschaft würde ja tangiert, wir alle verdienten vielleicht ein bis zwei Prozent weniger Geld. Wo kämen wir, in einem der reichsten Länder der Welt, da hin? Wie lange haben deutsche Spitzenpolitiker ihrem Volk eingeredet, ihre Landsleute in Afghanistan seien alles andere als im Krieg? Wurde nicht kürzlich mit Akribie ein Feuerüberfall auf Busse voller Terroristen geplant und ausgeführt, was angesichts der Leichen von Frauen und Kindern einigen Erklärungsbedarf erforderte? Bruttosozialprodukt oder Bruttoinlandprodukt, auch wenn es sich um Durchschnittswerte ohne reale Aussagekraft handelt, werden als unumstössliche Gradmesser für das individuelle Glück der gesamten Bevölkerung verkauft. Die in aller Unschuld, mit grösster Selbstverständlichkeit erhobene
Forderung, Unterhaltskosten von vielen, vielen Millionen im Jahr für das Schienennetz durch die öffentliche Hand – oder die Reisenden – im Nachhinein zusätzlich bezahlen zu lassen, auch wenn alle davon ausgegangen waren, die Kosten seien in den präsentierten Budgets enthalten. Leistungsabbau mit Kostensteigerung im Service au public. Unbegrenzter Glaube an unbegrenzbare Gewinnsteigerung in allen Bereichen. Verquickung von Mafia, Profischieberei und Politprominenz im Normmenu der Tagesnachrichten. Prunk, Protz, Elend nebeneinander auf engstem Raum – global und lokal. «Catch-22», aktualisiert. Eine kleine Textprobe aus «CATCH-22»? Yossarian, der Protagonist, soll kurz vor Schluss des Buches vom Guten als Motivation aller überzeugt werden: «... ‚Die Ideale sind gut, aber die Menschen sind manchmal nicht ganz so gut. Du darfst sie nie deine Werte ändern lassen. Du musst versuchen, zum grossen Bild hinaufzuschauen.’ ‚Wenn ich hinaufschaue, sehe ich Leute, die ihre Taschen füllen. Ich sehe nicht Himmel oder Heilige oder Engel. Ich sehe Leute, die sich an jedem anständigen Impuls, an jeder Tragödie immer und immer wieder bereichern.’ ...» Viel naiver kann man das doch fast nicht sagen. Oder, nachdem sich der gute Kamerad von der Fruchtlosigkeit der Güte doch noch hat überzeugen lassen: «... ‚Ich denke, es wäre schön, wie ein Gemüse zu leben und keine wichtigen Entscheidungen treffen zu müssen.’ Yossarian: ‚Was für eine Art von Gemüse, Danby?’ ‚Eine Gurke oder eine Karotte.’ ‚Was für eine Gurke, eine gute oder eine schlechte?’ ‚Eine gute natürlich.’ ‚Sie schneiden dich ab und machen Salat draus.’ ‚Halt eine schlechte.’ ‚Sie lassen dich verfaulen, verwenden dich dann als Dünger, damit die guten wachsen.’ ‚Vielleicht möchte ich doch nicht wie ein Gemüse leben’, sagte Major Danby mit einem resignierten, traurigen, Lächeln. ...» Zum Schreien komisch ist es, frivol und abgrundtief traurig, wahnsinnig und schrecklich logisch, banal und vielschichtig, zynisch und tragisch, hoffnungslos und voller Leben in all seiner Sinnlosigkeit und schlicht grossartig, dachte ich zwei bis drei Jahre nach dem Erscheinen des Buchs bei der ersten Lektüre. Und in höchstem Mass aktuell, dachte ich vor ein paar Tagen. Leider. Man blättere in einer Tageszeitung, höre am Radio in die Morgennachtrichten hinein, horche in den Subtext von Bekannten hinein. «Catch-22» ist auch heute Alltag. Oder wie Brecht einmal schrieb: «... Denn die Güte war im Lande wieder einmal schwächlich, / Und die Bosheit nahm an Kräften wieder einmal zu. ...»
Literatur L ITERARISCHE F RAGMENTE 6
Seit jeher unterwegs Von Konrad Pauli
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r hat nichts zu lachen. Grimmig-entschlossen zieht er sein Wägelchen über den Platz vor der Gedächtniskirche, hält vor den ersten Tischen des Terrassencafés, klappt den Deckel auf und packt allerhand Requisiten aus: einen zerknitterten schwarzen Schlapphut mit aufgenähtem Totenkopf, ein paar wabbelige, schweinsfarbene Plastikohren, einen Kunststoffblumentopf, dessen welke und verstaubte Blütenpracht, kaum hingestellt, sich auf Knopfdruck wundersam belebt und zu entfalten beginnt und in ein programmiertes Kopfnicken einpendelt, das zunächst, bis der Mann alles und sich selbst bereit gemacht hat, die Aufmerksamkeit der rasch sich zum Halbkreis verdichtenden Zuschauer auf sich zieht. Auf einem vielbefingerten, von manchen Wettern gegerbten Karton kleben Fotos, Grimassenbilder,
LESEZEIT Von Gabriela Wild
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Reading is the better life». So die Strassenbotschaft an einem Lichtsignal. Oh ja, Lesen ist in vielerlei Hinsicht besser als die unzähligen mühsamen Handlungen, Aufgaben und Pflichten, die sich an einem ganz normalen Tag aufdrängen und die aneinandergereiht, das Konstrukt «Leben» ergeben. Müllruntertragen, Velo aus dem Keller holen, Baustelle umfahren, Seminararbeit schreiben, Versicherungsheini abwimmeln, Rechnung bezahlen, Sitzung verschieben, Lektion vorbereiten, präsent sein, Arbeit korrigieren, Windeln wechseln, Zähne putzen, Kaffeebohnen nachfüllen, Job suchen, Wohnung kündigen, Zeitungen bündeln, Fördergelder beantragen, Reklamationen schreiben, dafür sein, dagegen sein, Rat erteilen, richtig entscheiden etc … All die grossen und kleinen physischen und psychischen Bewegungen des Alltages
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die mit einiger Müdigkeit dennoch inständig behaupten, der Mann sei ein Weltmeister. Aus dem Wägelchen klingt auf einmal Musik, Melodien aus dem Berlin der 20er-Jahre, ein bisschen heiser und bezaubernd. Und wie der Mann nun sein Gesicht, das so besonders wie gewöhnlich ist wie tausend andere, in Aktion treten lässt, die Augen rollt, die Backen aufbläst und mit den Kiefern mahlt, das Kinn spitzt und die Unterlippe an die Nasenspitze rollt, mit raschem Handgriff die Hautlappen der Wangen nach links und rechts verspannt, dass Augen, Nase und Mund ein teigförmiges Einerlei bilden, wie der Mann mit bis ins Detail eingeübten, professionellen Griffen und Gesten sein Gesicht entstellt und aus ihm eine Unzahl bestkarikierter Physiognomien hervorzaubert und, mal mit aufgesetzten Ohren und wech-
zehren und ziehen und beanspruchen einen Menschkörper ganz schön. Lesend hingegen ist man allein deshalb schon im Vorteil, weil der Körper die ihm angenehmste Position einnimmt. Ob aufrecht stehend mitten im Raum, unter der Decke mit Taschenlampe, in der Badewanne, auf der Baumhütte, bäuchlings auf dem Boden, im Gras, am Strand, mit Knabberzeug und Naschwerk ausgestattet, in der Schule, in der Kirche, am Tresen, in der Warteschlange, ob heimlich oder als Demonstration, die Formen von Lesen sind schier unendlich. «Reading is the better life» klingt wie ein Plädoyer für die etwas verstaubte und langsame Methode der Informationsbeschaffung- und verarbeitung in einem Zeitalter, wo man mit Schlagworten, Links und weiteren www’s viel schneller und effizienter zum Ziel kommt. Stichwort eingeben, googeln, Text nach weiterführenden Stichworten überfliegen, weitergoogeln, googeln, googus, dada ist die www. Wozu das ganze Drumherum in der Literatur, die Geschichten mit den Miniepisödchen, Sequenzen vom Alltag, Atmosphäre generie-
selnden Brillen, die Leute zum Lachen bringt und die Kinder mit offenem Mund staunend dastehen lässt, das ist atemraubend. Ohne mit einer Wimper zu zucken, zieht er plötzlich den Hut ab, die beiden Ohrmuscheln, packt den nickenden Blumenstrauss ein und die Kasperlefigur, geht kurz, als hätte er’s beinahe vergessen, mit einem Körbchen das Geld einsammeln, klappt den Deckel des Wägelchens zu und zieht weiter, hundert Meter, um von neuem seine routinierten, wunderbar grauenhaften Grimassen auszupacken. Es ist, als sage jede dieser kauzig-beklemmenden Gesten: Da habt ihr eure Grimassen, gebt mir eine Mark, wenn’s sein muss auch weniger – und lasst mich endlich in Ruhe. Zu lachen hat er nichts.
rend, Stimmungen erzeugend, um dann die immer gleiche Geschichte zu erzählen: geboren, gelitten und gestorben – dazwischen etwas Sonnenschein?! Von dichtem, prallen, erschreckend normalem Leben, und dem urmenschlichen Wunsch, dem Leben Bedeutsamkeit abzuringen und wie es dabei leicht vom Erhabenen ins Lächerliche kippt, und gerade auf dieser Kippe sonderbar anrührend und schützenswert ist, davon handelt Arno Geigers neuestes Buch «Alles über Sally». Und wenn Sally auch glaubt, ihr Leben mit Ehebruch und viel Sex interessanter machen zu müssen, so verliert der Erzähler fast nie die Geduld mit ihr und wird über die 364 Seiten nicht müde, den Blick auf das Alltägliche zu werfen und detailgetreu wiederzugeben. Und schliesslich gibt es ja noch Albert, der, im Wellengang einer 30-jährigen Ehe, den Boden unter den Füssen nicht verloren hat und sich heute wie damals wieder für Sally entscheiden würde. Zum Lesen schön! Arno Geiger - Alles über Sally, Roman, Hanser Verlag.
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Literatur-Tipps
Botton, Alain de: Airport – Eine Woche in Heathrow. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. S. Fischer Verlag. Frankfurt am Main 2010. ISBN 978-310-046323-4. S. 122.
Truong, Monique: Bitter im Mund. Roman. Aus dem Englischen von Peter Torberg. C. H. Beck. München 2010. ISBN 978-3-406-59838-8. S. 328.
Weber, Anne: Luft und Liebe. Roman. S. Fischer Verlag. Frankfurt am Main 2010. ISBN 978-3-10-091046-2. S. 189.
Ein Flughafen vor Eyjafjallajökull Alain de Botton: Airport – Eine Woche in Heathrow. Aus dem Englischen von Bernhard Robben.
Briefe ins Gestern und Morgen Monique Truong: Bitter im Mund. Roman. Aus dem Englischen von Peter Torberg.
Von Märchenrittern und anderen Enttäuschungen Anne Weber: Luft und Liebe. Roman.
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as beim Entstehen von «Airport» noch Normalität war, nämlich ein bis auf kleinere Zwischenfälle reibungslos ablaufender Flugbetrieb, wurde Mitte April auf den Kopf gestellt. Umso beruhigender stellt sich de Bottons Heathrow als Ort der Ankunft und des Abschieds dar. Als modernerer Hafen in einer sich stetig wandelnden Wirklichkeit. Wo sich Liebende tränenreich in den Armen halten, auf deren Abschiedsschmerz der Autor beinahe ein bisschen neidisch zu sein scheint. Oder wo Familien in den Urlaub fliegen, auf ihren Schultern die Last, nun zwei Wochen diejenigen sein zu wollen, sein zu müssen, die sie immer sein wollten, wenn da nicht der Alltag wäre. Der Autor ist als «writer in residence» nicht nur Beobachter, sondern auch Beobachteter. An seinem öffentlichen Arbeitsplatz wird er von den unterschiedlichsten Menschen aufgesucht, die an seinem Tun Interesse zeigen, in ihm aber auch so etwas wie einen Beichtvater sehen. Als Besucher der mannigfaltigen Arbeitsbereiche eines Flughafens erlaubt uns de Botton einen unverstellten Blick auf den Alltag eines Schuhputzers, welcher ihm wiederholt versichert, dass er mit all den Lebensgeschichten, die ihm die Leute erzählen, ein wunderbares Buch verfassen könnte. Oder auf denjenigen einer Sicherheitsmitarbeiterin, deren Tätigkeitsbeschreibung insbesondere seit 9/11 verdeutlicht, wie unsicher die Welt geworden ist und dass man am Sicherheitsschalter nicht misstrauisch genug sein kann. Hat man sich auf de Bottons zuweilen etwas gestelzte Sprache, die oftmals vorhersehbare Bilder zeichnet («Eine Fluggastbrücke rollte vor und schmiegte ihre Gummilippen in einem zögerlichen Kuss um die vordere linke Passagiertür», um nur ein Beispiel zu nennen), gewährt der Text immer wieder überraschende Einblicke in die Welt der Aviatik, die trotz ihrer Alltäglichkeit nie ganz ihre Magie eingebüsst hat. Und man fragt sich, weshalb nicht auch andere Firmen einen «writer in residence» in ihren Reihen haben? (sw)
ach «Das Buch vom Salz» legt Monique Truong mit «Bitter im Mund» nun ihren zweiten Roman vor, dessen deutsche Übersetzung beinahe ein halbes Jahr vor der englischen Originalausgabe im Verlag C. H. Beck erscheint. Und der Zweitling enttäuscht nicht, sondern fesselt bereits von der ersten Seite an. Linda Hammerick wird in den 70er-Jahren in Boiling Springs, North Carolina, gross. Zu ihrer Welt gehören, nebst ihren Eltern, ihre tyrannische, humorvolle Grossmutter und deren homosexueller Bruder, Baby Harper, den Linda über alles liebt. Sie ist eine Synästhetikerin, die durch die mannigfaltigen Geschmacksempfindungen, die sich durch das gesprochene Wort überfluten, oft überfordert ist. Die Brieffreundschaft mit der gleichaltrigen Kelly ermöglicht es ihr, Zugang zu den Worten, nun in ihrer geschriebenen Form, zu finden. Kelly, die aufgrund ihrer Körperfülle ebenfalls gefangen ist, vermag sich als Teenager aus dieser zu befreien und zu einem All-American-Backfisch heranzureifen. Anders Linda, sie wird zwar von ihrer Jugendliebe Wade heimlich geküsst, und sie entdecken in Wades rotem Haus ihre Körperlichkeit, seine offizielle Freundin wird sie jedoch nie. Der einzige gangbare Weg scheint ihr, das klügste Mädchen der Schule zu werden. In Yale erfindet sie sich neu, wird zu einer Mischung aus Audrey Hepburn und dem Gitarristen der Sex Pistols in einem Vintage-Outfit, dessen Mottenkugeligkeit ihresgleichen sucht. Der Wendepunkt der Geschichte zeichnet sich hier bereits ab, und eine einzige Namensnennung soll dazu führen, dass wir alle Figuren des Romans und deren Geschichte aus einer anderen Perspektive wahrnehmen. Monique Truong, welche mit sechs Jahren von Vietnam in die USA gekommen ist, hat ebenfalls in Yale studiert und in einer renommierten New Yorker Anwaltspraxis gearbeitet, dennoch täte man ihr unrecht, würde man den Roman lediglich als Schlüsseltext lesen, denn Truong ist eine wahre Wortkünstlerin. Ein Meisterwerk. (sw)
nguerrand heisst der Ritter der Schriftstellerin und ist tatsächlich einer. Einer mit Schloss in der Normandie oder Picardie, der die intellektuelle, in Paris lebende Autorin zur tumben Märchenprinzessin macht. Sie auf sein Schloss entführt, dessen prachtvolle vernachlässigte Räumlichkeiten geradezu nach einer weiblichen Hand zu schreien scheinen, sich ihren Eltern vorstellen lässt und sogar mit ihr ein Kind zeugen will. Doch anhand dieses Zeugungsaktes, der aufgrund des fortgeschrittenen Alters der potenziellen Eltern über ein Fruchtbarkeitslabor führt, entzündet sich die unerhörte Begebenheit des Romans, der sozusagen ein Roman im Roman im Roman ist. Wie bei einer russischen Steckpuppe ist Anne Weber die in Paris lebende Autorin und Übersetzerin deutscher Abstammung und damit die grösste Puppe. In ihr nun steckt die Figur der Schriftstellerin, welche ihr missratenes Manuskript vom «Armen Ritter» in den Papierkorb befördert. Léa, Protagonistin im «Armen Ritter», bildet nun die dritte Puppe, die in der zweiten steckt. Und die Schriftstellerin/ Märchenprinzessin streitet sich über den Akt der Zerstörung hinaus mit ihrem alter ego Léa, dem sie die peinliche Geschichte in die Schuhe zu schieben versucht. Nachdem die Märchenprinzessin jedoch gewaltsam aus ihrem Märchentraum gerissen wurde, wird sie zum Racheengel und operiert fortan als Alleinunternehmerin, Léa scheint vergessen. Anne Weber erzählt mit viel Humor und zeichnet und überzeichnet ihre vom Leben gezeichneten Protagonisten sehr lebendig. Handelt es sich über weite Strecken des Romans um mindestens zwei Erzählstränge, werden diese zugunsten der Handlungsebene gegen Ende des Textes zunehmend aufgelöst, was dem spielerischen Element nicht eben zugute kommt. (sw)
buchhandlung@amkronenplatz.ch www.buchhandlung-amkronenplatz.ch 14
Literatur
L EXIKON
DER ERKLÄRUNGSBEDÜRFTIGEN
A LLTAGSPHÄNOMENE (VI)*
Netzwerken, das Von Frank E. P. Dievernich****
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ir kehren heim, zu uns selbst. Das ist der Ausblick, den Jeremy Rifkin in seinem neuen Buch «Die empathische Zivilisation» (2010) gibt, wenn er davon spricht, dass wir uns unseres sozialen Kerns erinnern, wir auf der Suche nach dem Anderen sind, es uns zur Gemeinschaft zieht und die jeweils anderen in einem ökonomischen Kontext nicht mehr nur als Konkurrenten anzusehen sind, sondern als Partner, mit denen man etwas erreichen, schaffen will. Einer der wohl am häufigsten in den letzten Jahren zitierten Begriffe innerhalb von Unternehmen ist der des Netzwerks, der vielleicht zaghaft darauf verweist, was Rifkin als Zukunftsbild von Gesellschaft zeichnet. Netzwerken, als Verb verstanden, gilt als ein Erfolgsfaktor, wenn es darum geht, die Voraussetzungen zu schaffen, in Unternehmen Karriere zu machen, zumindest aber die Voraussetzung zu schaffen, dass seine Ideen auf einen potenziell fruchtbaren Boden fallen, sollte man in die Verlegenheit kommen oder gebracht werden, diese auch umsetzen zu wollen oder zu müssen – dafür braucht man Menschen, die einen kennen und seine Ideen mittragen. Wenn man Unternehmen noch nie von innen gesehen hat, dann könnte man meinen, dass darin die Brutstätte einer hochmodernen, vernetzten Gesellschaft zu finden sei. Und sollte nicht deutlich sein, was man in einem Unternehmen an Kompetenzen erlernen kann, so scheint doch zumindest klar, dass man in jedem Fall als Netzwerkspezialist das Unternehmen verlässt. Die Sprachspiele suggerieren das. Die Realität ist hingegen eine andere. Die Wirklichkeit, die wir in Unternehmen finden, ist noch weit von dem entfernt, was überall um uns herum an Netzwerkverhalten in der Gesellschaft gezeigt wird; so gesehen hinken – aber wie könnte es auch anders sein – die Unternehmen der Gesellschaft mal wieder hinterher. Der Netzwerkgedanke wird innerhalb der Unternehmen höchstens mikropolitisch ausgeschmückt, in dem, wie oben beschrieben, es vor allem um die Bildung von Koalitionen geht, darum, durchsetzungsfähig zu sein oder zu werden. Damit befindet er sich in bester ökonomischer Tradition, wenn es darum geht, Interessen gegen die von anderen durchzusetzen, um sich dann Vorteile für weiteres Agieren zu verschaffen. So gesehen ist der Netzwerkgedanke in Unternehmen bislang vor allem
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hierarchisch aufgeladen und wird ökonomisch funktionalistisch verwendet. Was das praktische und folglich tatsächliche Handeln innerhalb von Unternehmen angeht, so gibt es fast kein Führungskräfteseminar mehr, das nicht auf die Wichtigkeit von Netzwerken verweist – ein neues Denken soll etabliert werden, weil erkannt wurde, dass Führungskräfte alleine nicht mehr im Stande sind, Unternehmen zu führen. Es wird gebraucht im Dickicht der Kommunikationen, Koalitionen, um da irgendwie durchzukommen und gehört zu werden. Es scheint ein sicheres Zeichen zu sein, dass, je häufiger von Netzwerken und Netzwerkkompetenz gesprochen wird, die Fähigkeit zu Netzwerken nicht vorhanden ist. Fragt man Führungskräfte, wie viel Zeit Ihres Arbeitspensums sie in Netzwerkarbeit stecken, erhält man, wenn überhaupt, marginale Zahlen, wenn man jene Erklärungsversuche abzieht, dass sie doch auch mal mit Führungskräften anderer Abteilungen in die Kantine zum Mittagessen gehen. Nun gut, das könnte ein Anfang sein – mehr aber auch nicht. Wirkliches Netzwerken ist in der Gesellschaft an anderen Stellen zu beobachten. Twitter, Facebook, Blogs sind die populären Schlagwörter, die zeigen, wohin die Gesellschaft sich entwickelt. Zudem tauchen Begriffe, wie «Schwarmintelligenz» sowie «Intelligenz der Vielen» auf, die auf eine besondere Organisationsform des Sozialen verweist. Man könnte meinen, dass erstgenannte Phänomene wie eben Twitter und Facebook lediglich in einer medialen Gesellschaft dazu beitragen, den eigenen Selbstinszenierungsgelüsten zu frönen, in dem man ohne Hemmnisse (fast) alles einer Netz-Community preisgibt. Genau da liegt aber der Schlüssel für das, was die Wirtschaft revolutionieren wird. Das «Preisgeben» ist dabei der entscheidende Hinweis, der auch auf die «Intelligenz der Vielen» zutrifft. Es geht darum, (geistiges) Eigentum zu entgrenzen und anderen zur Verfügung zu stellen, damit Lösungen für eigene, aber eben auch Lösungen für die Probleme aller gefunden werden. Daran teilhaben kann jeder, der von sich glaubt, etwas dazu beitragen zu können und – der vor allem Lust dazu hat. Nichts anderes stellt beispielsweise das Cyberspace-Projekt Linux dar, wo Tausende Programmierexperten ihre Expertise zur Verfügung stellen, um das Programm (kostenlos weiter-) zu entwickeln. Wikipedia erfolgt
nach dem gleichen Prinzip. Es geht darum, intrinsisch motiviert, seine eigenen Kompetenzen zur Verfügung zu stellen, damit etwas Neues entstehen kann. Mit dem klassischen Eigentumsrecht kommt man damit nicht mehr weit, ganz im Gegenteil, es manövriert einen in einer Netzwerkgesellschaft ins Abseits. Es ist nämlich davon auszugehen, dass gerade bei uns, also in durchschnittlich sehr gut ausgebildeten Gesellschaften, die zudem über eine hochentwickelte IT-Infrastruktur verfügen, diese «Vielen» nicht mehr nur auf Neuerfindungen in Form angemeldeter Patente angewiesen sind, sondern selbstgesteuert und freigelassen in den E-Community-Plattformen diese Produkte oder Alternativen zu diesen selbst produzieren werden. Damit überholen sie jene Unternehmen, die nurmehr als geschlossene Gesellschaft funktionieren. Wer also ausschliesslich auf Gewinn und Eigentum referiert, versäumt, sich seinen Platz im kommunikativen Netzwerk zu sichern. Der entscheidende Gedanke ist, nicht ganz auf Eigentum zu verzichten, sondern dieses kostenfrei und unmittelbar dem Netzwerk quasi als Arbeitsmaterial anzubieten, damit dieses arbeiten und (Weiter-)Entwicklungen vorantreiben kann. Netzwerkplätze und Kontakt werden zur zukünftigen Währung einer Ökonomie, die gerade dabei ist, sich selbst aufzulösen, wenn sie die alten Unterscheidungen, zu denen auch Kunde, Lieferant, Konkurrent gehören, weiter aufrechterhält, ohne die transparenten Schnittstellen dazwischen zu leben.
Zingg Ein filosofisches Gespräch:
Treue zur Philosophie bedeutet, es der Angst zu verbieten, dass sie einem die Denkfähigkeit verkümmern lässt. Max Horkheimer 1947
Mittwoch, 28. Mai 2010, 19.15h, Kramgasse 10, 3011 Bern, im 1. Stock
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Unser Garten Eden Adam Avikainen, CSI:DNR, 2009, Fotodruck, Courtesy the Artist
Ein Film von Mano Khalil
Animism 15.5. – 18.7.2010
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Kunsthalle Bern Helvetiaplatz 1 CH-3005 Bern www.kunsthalle-bern.ch
Freddy Burger Management und Michael Brenner fĂźr BB Promotion GmbH präsentieren eine Bill Kenwright Produktion in Ăœbereinkunft mit The Really Useful Group
Freddy Burger Management and Michael Brenner for BB Promotion GmbH in cooperation with Paul Szilard Productions, Inc. present
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Literatur Wir erleben gerade die Umstellung von konkreten Werten hin zu potenziellen. Netzwerke sind nichts anderes als virtuelle, also potenzielle Geflechte des Sozialen, die eventuell einen Mehrwert liefern können, von denen aber nicht klar ist, ob und wann das der Fall sein wird. Netzwerken ist dabei eine Investition in eine Zukunft, von der unklar ist, was sie bringt. Erst im konkreten Fall zeigt sich das Netzwerk, über welche Verbindungen und Kompetenzen es verfügt – aktiviert und aktualisiert durch eine ganz bestimmte Frage, die zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt auftaucht. Dabei ist relevant, dass nicht Personen nurmehr als Funktionen von Organisationen (z.B. Abteilungsleiter Marketing) auftauchen, sondern darüber hinaus auf Kompetenzen verweisen können, die zum Teil in keinem klassischen Lebenslauf zu finden sind. Derzeit ist zu bemerken, dass Unternehmen noch in einer Paradoxie gefangen sind, da sie auf der einen Seite zum Netzwerken auffordern, dies aber gleichzeitig in einem Effizienzklima risikoreich ist, da nicht klar ist, ob und wann die Investition in ein Netzwerk sich rentiert. Die Frage der Rendite ist aber gegenwärtig das zentrale Erfolgskriterium, nach dem Handel in Organisationen bewertet wird. Gleichzeitig wird kein erfolgreiches ökonomisches Agieren mehr ohne Netzwerken vonstattengehen können, da die hochspezialisierte Arbeitsteilung dazu geführt hat, dass die (heutigen und vor allem zukünftigen) Kompetenzen (und deren Kombinationen) nicht mehr nur in einem System enthalten sein können, sondern in der gesamten Gesellschaft an unterschiedlichen Stellen verteilt sind. Genau das führt dazu, dass wir uns aus den Unternehmen und dem Markt aufmachen und endlich in die Gesellschafft treten müssen, um wieder miteinander in Kontakt zu geraten. Wir haben alle so viel zu bieten, dass es sich lohnt, sich endlich auf uns selbst zu besinnen. Das Netzwerk erinnert uns daran. *
Bewirtschaftet vom Schwerpunkt Corporate & Business Development der Berner Fachhochschule. ** Kontakt: Frank.Dievernich@bfh.ch
Veranstaltungshinweise Sweet’n’Sour (IX): «Intercultural Leadership: Nicht nur ein globaler Prozess» mit Ex-HR-Today Chefredakteurin Connie Voigt und Gästen von IBM, UBS und Vailiant. Am 6. Mai 2010 um 17h in Bern, Morgartenstrasse 2c. Sweet’n’Sour (X): «Ich kann nicht mehr! Ursachen, Wirkungen und Auswege bei Stress und Burnout in der Arbeitswelt. Am 20. Mai 2010 um 17h in Bern, Morgartenstrasse 2c. Weitere Details und Anmeldung: http://www. wirtschaft.bfh.ch/de/forschung/schwerpunkte/ corporate_and_business_development/tabs/ sweet_n_sour.html
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Spazieren – eine nicht zu bändigende Leidenschaft Christoph Simon über seinen neuen Roman «Spaziergänger Zbinden» - Interview: Caroline Fuchsbau-Bleichwasser
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etrachten Sie die erste Frage als Tonbandprobe. Ihren Namen und Beruf? Christoph Simon, Spaziergänger. Wann und wo wurden Sie geboren? Ich bin extraterrestrischer Herkunft. Aus dem All herabgestiegen. Für immer haben sich mir die Worte eingeprägt, die der Leiter der Pilgergruppe sprach, während wir auf die Erde zugingen, mit kleinen Flügeln an den Füssen: «Wir sind noch in der Umlaufbahn, aber da unten sehen Sie die Schweiz, sie ist von Nebelschleiern umhüllt.» Funktioniert das Tonband? Ja. Sie bezeichnen sich als Spaziergänger. Es gibt Hinweise in meinem Lebenslauf, dass mich Spazieren, lange bevor ich meine ersten Schritte tat, bereits ungemein faszinierte. Ein Bébé in den Bergen, das seine Nase an die Scheibe presst und sich fragt, was die Fussgänger auf dem Trottoir erleben und wieviel wohl die Zulassung kostet. Heute bin ich Schriftsteller und schreibe Bücher über Fragen, die mich auf Spaziergängen beschäftigen. Sie haben vier Romane geschrieben und können vom Schreiben leben – fühlen Sie sich als Glückspilz? Ich bin der Meinung, dass ich vom Spazieren leben können sollte. Ich halte meine Spaziergänge für nützlich. Solange ich vom Spazieren nicht leben kann, werde ich versuchen, den Schreibberuf zu erhalten, der mir Zeit zum Spazieren lässt. Sie halten Ihre Spaziergänge für nützlich? Ich glaube, dass der Anblick eines Spaziergängers die Leute beruhigt. Mein geschärfter Hör- und Sehsinn verschafft meiner Leserschaft höheren Lesegenuss.
Würden Sie Spazieren als Sucht bezeichnen? Als nicht zu bändigende Leidenschaft. Zuweilen habe ich Angst, die Augen auch nur für einen Bruchteil einer Sekunde zu schliessen und mir dadurch etwas auf dem Spaziergang entgehen zu lassen. Spazieren sorgt für Augenblickserlebnisse. Stimuliert einerseits die Phantasie, befreit andererseits von der Tyrannei der eigenen Gedanken. Die Distanz zur gegenwärtigen Umwelt verringert sich. Spazieren hält einen in Schwung und macht einem die Menschen interessanter. Ich habe mir lange überlegt, «Spaziergänger Zbinden» unter dem griffigeren Titel «Der Spaziergang – seine hygienische und soziale Bedeutung oder Die Errichtung von Spaziergänger-Reservaten» zu veröffentlichen. «Spaziergänger Zbinden» handelt von einem alten Mann, der meint, über die Kunst des Spazierens zu sprechen, in Wahrheit aber die Liebesgeschichte zwischen ihm und seiner verstorbenen Emilie erzählt. Warum haben Sie Spaziergänger Zbinden geschrieben? Um an den Niederbipper Schriftsteller Gerhard Meier zurückdenken zu dürfen und um Freude zu verbreiten. Ich versuche, in meine Texte alles an Poesie, Liebe und Geist einzubringen, wozu ich fähig bin. Was ist das? Ein Sitzkissen. Ein Geschenk für Sie. Man hat mir gesagt, das Praktischste, was man einem masslosen Spaziergänger schenken könne, sei ein Sitzkissen. Vielen Dank. Das Buch: Christoph Simon, Spaziergänger Zbinden, Bilgerverlag.
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Tanz & Theater
K LEINKUNST
GANZ GROSS
«Wenn Dinge wahr sind und weh tun, lachen die Leute.» Interview: Christoph Hoigné Ein Garderobengespräch mit dem Theaterzauberer und Comedian Michel Gammenthaler, der soeben mit dem «Salzburger Stier» geehrt wurde, der höchsten Auszeichnung für Kabarettisten im deutschen Sprachraum. Der 38-jährige Aargauer ist auf Tour mit seinem neuen Programm. Sie haben kürzlich den Salzburger Stier erhalten. Was haben Sie als Erstes sagt, als sie es erfahren haben? Nichts. Ich habe den Überbringer der Nachricht umarmt. Wer war das? Alexander Götz, ein Redaktor von Radio DRS 1, der für «Ohrfeigen» und «Spasspartout» arbeitet. Und der kam persönlich bei Ihnen vorbei? Ja. Er hat mich zuerst noch auf den Arm genommen und mir erzählt, sie wollten mich bitten, die Moderation der Preisverleihung zu
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Bild: Ch. Hoigné
übernehmen. Dann fuhr er fort, sie hätten es sich dann doch anders überlegt, weil es doch doof wäre, wenn der, der den Preis kriegt, auch moderiere. Da war ich echt geplättet. Wie wichtig sind Preise in der Kleinkunst? In diesem speziellen Fall ist er für mich sehr wichtig. Nicht nur, weil er sehr wahrscheinlich ein paar Türen öffnet. Als Kleinkünstler «wurstelt» man oft jahrelang vor sich hin und macht ein Programm nach dem anderen. Wenn man dann einen Preis bekommt, merkt man, dass man wahrgenommen wird. Speziell auf diesen Preis bin ich stolz, weil er auf einer langfristigen Beobachtung meiner Arbeit beruht. Ich hatte grad eine ziemliche Krise, habe gehadert und war nahe dran, aufzuhören. Aber als der Preis kam, war für mich sofort wieder klar: Weitermachen! Sie sind Zauberer, Moderator, Comedian, Kabarettist – also ein sehr vielseitiger Künstler. Im aktuellen Programm sind Sie mit fünf verschiedenen Figuren auf der Bühne. Wie viel haben diese Figuren mit Ihnen zu tun?
Jede hat auf eine Weise mit mir zu tun. Manchmal ist es vielleicht nur die Art zu reden. Volker zum Beispiel, der esoterisch verklärte Wahlschweizer aus Deutschland, ist inspiriert von der Mutter eines ehemaligen Schulkameraden. Ich wusste lange nicht, was ich mit dieser Sprache machen soll, aber sie hat mir schon immer sehr gelegen. Hedy, meine alte Dame, ist entstanden, als ich mit dem Zivilschutz ein paar Nachmittage in einem Altersheim verbracht hatte. Ich war ziemlich schockiert und alarmiert. Mit dieser Figur hab ich das verarbeitet. Für Hedy bekomme ich sehr viele Reaktionen wie «Exakt wie mein Grosi» oder «Ich arbeite in einem Heim, und es ist genau so, wie es Hedy erzählt.» Das finde ich schön. Und ich mag eben Musik, Beats und Rhythmen. Deshalb lagen für mich auch das Rappen und der Tschisi sehr nahe. Diese Figur erhält momentan am meisten Resonanz, vor allem von Leuten, die sich für Sprache interessieren, weil viele Junge wirklich so reden. So löst jede Figur etwas aus.
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Ihre Figuren kommen an, weil sie aus dem Leben gegriffen sind. Das heisst ja, die Menschen kommen gerne ins Theater, um etwas zu sehen, was sie kennen oder wiedererkennen. Wenn ich neue Figuren schaffe, bin ich sehr darauf bedacht, nicht allzu irre oder abgedrehte Personnagen zu erfinden. Sie brauchen einen Bezug, eine Brücke zum Zuschauer. Eine Figur ist lustig, wenn sie eine eigene Weltsicht hat. Aber sie braucht auch eine Verbindung zum Zuschauer. Wenn eine Figur gar nichts mit der Lebenswelt des Zuschauers zu tun hat, dann berührt und packt sie ihn nicht. Mir ist auch aufgefallen, dass Leute an Stellen lachen, die gar nicht als Gag gemeint waren. Ich hab' dann gemerkt, dass sie lachen, weil diese Stellen wahr sind und sie ein bisschen weh tun. Wenn Dinge wahr sind und weh tun, lachen die Leute. Das ist faszinierend. Nächstes Jahr kommt Ihr neues Programm raus. Können Sie uns etwas darüber verraten? Mich interessiert der normale Wahnsinn. Zum Beispiel in dem Dorf, in dem ich wohne. Auf den ersten Blick ist das ein ganz normales Dorf mit ganz normalen Leuten. Richtet man aber die Lupe auf die einzelnen Menschen, ihren Alltag, ihre Interessen, Meinungen oder ihren Umgang mit anderen Menschen, dann merkt man, wieviel Wahnsinn da herrscht. Ich meine das nicht negativ. Beispiel Vereinsmeierei. Da springen sich die Leute manchmal schon fast an die Gurgel, wenn es um die Reihenfolge der Traktanden geht. Oder selbsternannte Quartierüberwacher oder Vogelspinnenzüchter ... das ist manchmal so irr! Man muss gar nicht weit suchen. Und all das interessiert mich. Das Exotische in unserem Alltag. Wie setzen Sie das um? Gibt es wieder ein Programm mit Figuren? Ja, ich werde bestimmt wieder einige Figuren spielen. Ich habe auch vor, viele jetzige Figuren loszulassen. Das ist für mich wie das Verlassen der Komfortzone, denn bei diesen Figuren bin ich momentan noch sehr zu Hause. Die eine oder andere wird es wohl auch ins neue Programm schaffen. Ich bin mir fast sicher, dass Hedy alle überleben wird, denn die ist mir schon sehr ans Herz gewachsen. Ansonsten habe ich wirklich Lust, neue Figuren zu erfinden. Eine Schwierigkeit ist, die Zauberei intelligent einzubauen. Sie muss im Programm auf irgendeine Weise gerechtfertigt sein. Man kann nicht einfach zaubern. Es muss einen Grund geben, warum eine Figur einen Zaubertrick vorführt. Aber schliesslich macht das ja auch viel Spass. Zauberei ist eine sehr traditionelle Kleinkunstform und hat zurzeit einen eher schweren Stand. Es gibt schon TV-Shows, die Zaubertricks erklären und die ganze Magie zerstören. Können Sie sich erklären, warum das so ist?
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Die Zauberszene ist wie ein Bergdorf: Man pflanzt sich nur innerhalb der Gemeindegrenzen fort, und der Nachwuchs wird immer dümmer. Das ist eine sehr bösartige Aussage, aber ich war vor ein paar Jahren am Weltkongress der Zauberer und habe gesehen, welche Nummern es in die Endrunde geschafft haben. Das war wirklich peinlich. Ich sehe aber auch andere Ansätze und Zauberer, die anfangen, die Zauberei mit anderen Kunstformen zu verbinden. Die funktionieren super. Von einem guten, innovativen Zauberer sind die meisten Leute nach wie vor sehr angetan. Ich glaube, eine verbreitete Motivation, Zauberer zu werden ist das Streben nach so etwas wie Allmachtsgefühl. Helge von Thun war früher auch mal Zauberer und der hat zu mir gesagt: «Zwischen einem Stand-Up-Comedian und einem Zauberer gibt es einen grossen Unterschied. Der Zauberer will eine schöne, wundervolle Welt schaffen, in der alle Zuschauer ihre Alltagssorgen vergessen und man selbst Übermenschliches vollbringt. Und der Comedian will genau das Gegenteil. Er spielt den Schwachen oder den Genervten und er bringt jenen Alltag auf die Bühne, den man vielleicht vergessen will. Das macht ihn viel menschlicher. Mich nerven momentan weniger die TrickErklärer, die gibt es schon lange, sondern jene TV-Magier, die behaupten, sie seien echt, sie könnten wirklich Gedanken lesen oder übertragen oder was weiss ich. Das ist peinlich. Reinste Volksverdummung. Ich finde es spannend, wenn ein Zuschauer weiss, dass er jetzt getäuscht wird, dass ihm ein Trick vorgeführt wird. Das ist so eine Übereinkunft zwischen Zauberer und Zuschauer. Beide geben sich dem Spiel hin. Sie äussern sich sehr kritisch über den Zauberer-Nachwuchs. Welchen Kolleginnen oder Kollegen würden Sie den Salzburger Stier verleihen? Wer mich momentan am meisten vom Hocker haut, ist Martin O. Der hat sein ganz eigenes Ding entwickelt ... das einfach a cappella zu nennen, wäre Rufmord. Was der Mann macht und wie er arbeitet, ist toll. Das begeistert mich über alle Massen. Helge und das Udo gefallen mir ausserordentlich. Die werden eindeutig zu wenig beachtet. Ulan und Bator, auch zwei Kollegen aus Deutschland, lieb' ich sehr. Ihre Präzision und ihr Irrsinn sind einfach hinreissend. Wie oft stehen Sie selber auf der Bühne? Zwischen 120 und 140 Mal pro Jahr. Also gibt es doch den einen oder anderen freien Abend. Was macht ein Bühnenkünstler an solchen Tagen? Ich bin ein leidenschaftlicher Nichtstuer. Und ich habe eine Familie mit zwei Kindern, die sind vier und neun Jahre alt. Also ist das
Nichts eh meist gefüllt. Ich schaue auch extrem gerne Filme. Früher ging drei- bis viermal pro Woche ins Kino. Das schaff ich heute nicht mehr. Wenn ich heute mal Zeit hab, bleibe ich gerne zuhause und gucke DVDs. Was sagen Ihre Kinder zum Beruf ihres Vaters? Das lässt sie ziemlich kalt. Sie kennen ja nichts anderes. Für sie ist das ganz normal. Der Papa zaubert halt und ist auf der Bühne und im Theater. Was ist für Sie als Künstler der Unterschied, wenn Sie in einem kleinen oder einem grossen Saal spielen? Ich spiele gerne in grossen Sälen. Der Schadau-Saal an der Thuner Künstlerbörse hat für mich zum Beispiel richtig gerockt. Das liebe ich heiss, da kommt das Adrenalin. In kleinen Theatern entsteht eben eine ganz spezielle, sehr intime und gelöste Atmosphäre, die mir auch sehr gut gefällt. In den grossen Mehrzwecksälen haben die Leute eher ein FernsehVerhalten. Sie schauen mir einfach zu. Sie haben die Künstlerbörse erwähnt, die dieses Jahr vom 30. April bis 2. Mai in Thun stattfindet. Was halten Sie von dieser Veranstaltung als Mekka, Versammlungs- und Vermittlungsort der Kleinkunst? Ich liebe die Börse heiss. Ich fühlte mich dort von Anfang an extrem willkommen, aufgehoben und geschätzt. Mittlerweile geh ich dort einfach hin, ohne einen Kurzauftritt oder einen Stand zu haben. Die vier Tage der Thuner Künstlerbörse gehören für mich zu den besten des Jahres. Meine Frau kommt auch immer mit, damit wir uns die Sachen so richtig schaufelweise reinziehen können. Für mich ist es ein Riesengeschenk, in so einer Szene beruflich tätig sein zu können. In welcher Branche gibt’s das schon, dass sich Auftraggeber und Auftragnehmer, Agenten und Journalisten beim Hallosagen umarmen, Partys feiern und sich echt freuen? Ich finde das extrem schön. Emil Steinberger, einer der Überväter der Schweizer Komik, hat sich vor 25 Jahren von der Bühne verabschiedet. Aber er kann's nicht so richtig lassen und macht seit Jahren wieder Lesungen und Auftritte. Macht die Bühne süchtig? Meine Agentur fragt mich manchmal voller Sorge, ob mir die vielen Auftritte nicht zu viel werden. Darauf antworte ich immer: «Ich trete einfach schampar gerne auf!»
Michel Gammenthaler: «Zeitraffer» Infos zu den Spieldaten: www.michel-gammenthaler.ch
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Tanz & Theater
Fiktive Realitäten und reale Fiktion Ein Gespräch mit Nicolette Kretz über das diesjährige Theaterfestival «Auawirleben» vom 12. bis 22. Mai 2010 Von Alexandra Portmann Foto: Maurice Korbel «Hochstapler und Falschspieler»
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2'000 Euro Busse für falschen Piloten» und «Britney zeigt sich ganz natürlich» lauten die Schlagzeilen einer Gratiszeitung vom 15. April 2010. Anbei sind noch zwei Fotos von Spears, abgedruckt mit den Übertitel «Original» und «Fälschung. Was heisst «Original», was «Fälschung»? Die Täuschung, der so genannte «Fake», ist gesellschaftstauglich geworden. Jeder bastelt sich je nach Geschmack und Zweck seine eigene Identität – sei das auf Internetplattformen wie Facebook oder Youtube, genauso aber auch in Situationen wie Bewerbungsgesprächen. Stimmen die beschriebenen positiven Eigenschaften tatsächlich mit der Realität überein? Wann wird aus der kleinen Verbesserung ein «Fake»? «Selfmanagement» und «Image» sind die Schlagworte unserer Zeit. Das Festivalteam ist durch genaue Beobachtung der aktuellen Theaterszene auf das Thema gestossen. So lautet das diesjährige Motto des zeitgenössischen Theaterfetivals in Bern «Fake yourself!». «Noch nie war es so einfach, sich selbst zu faken», erzählt Nicolette Kretz, Mitglied des fünfköpfigen Aua-Teams. «Ein paar tolle Fotos vor einem alternativ wirkenden Fabrikhintergrund, einige Probeaufnahmen auf MySpace gestellt und die «Band» steht auch ohne Tonträger und Konzert. Täuschen und Schummeln sind gesellschaftlich akzeptiert, und gerade weil es so einfach ist und alle es tun, wird es notwendig, wenn man den Standards genügen will. Warum Makel eingestehen, wenn man diese auf dem Online-Profil weglassen kann?» Für Nicolette Kretz haben alle eingeladenen Produktionen unterschiedlich mit dem Thema «Faken» zu tun: sei es auf inhaltlicher oder auf methodischer Ebene. So beschäftigt sich
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zum Beispiel die Produktion Hochstapler und Falschspieler von Klara (Basel) und dem Theater Freiburg/pvc Tanz Freiburg Heidelberg explizit mit der Hochstaplerei im Beruf. Wohingegen die Produktion Pate I-III von Far a Day Cage aus Zürich sich auf verschiedenen Spielebenen mit dem Thema auseinandersetzt. Zum einen wird der Kultfilm Pate gespielt, zum anderen wird verhandelt, wie ein solcher Kultfilm überhaupt «nachgespielt» werden kann. Auf einer dritten Ebene wird schliesslich die Struktur der Mafia reflektiert und auf die Film- und Theaterszene selbst projiziert. Das «Faken» werde bei dieser Produktion vor allem auf der methodischen Ebene thematisiert, so Nicolette Kretz. Genauso verhält es sich beim Stück «Wie man einem toten Hasen die Bilder erklärt» der estnischen Gruppe NO99. Es stellt sich die Frage, was in der Darstellung authentisch ist und was nicht. Auch Boris Nikitins «Imitation of life» aus Basel fokussiert die Frage nach dem Unterschied von Fiktion und Authentizität. Im Gegensatz zur Frage, wie Fiktion authentisch dargestellt werden kann, musste sich die Gruppe Jan aus Antwerpen in «Mondays» mit der gegenteiligen Frage beschäftigen, und zwar, wie die Realität überhaupt auf die Bühne gebracht werden kann. Die Herausforderung besteht darin, die realen Tragödien der Amokläufe in Schulen, den so genannten «SchoolShootings», darzustellen. Acht jugendliche Darstellerinnen zwischen zwölf und 17 Jahren, versuchen, diese realen Ereignisse nachzuvollziehen. In einen ähnlichen Themenkomplex ist die Inszenierung Glaube, Liebe, Hoffnung – Geschichten von hier vom Deutschen Theater Berlin einzuordnen. «Das Stück basiert auf ver-
schiedenen Interviews, in denen Leute zu den drei Schlagworten: Glaube, Liebe, Hoffnung befragt wurden. Daraus entstanden drei Texte, wobei der erste von einem Konvertit handelt, der zum Judentum übergetreten ist. Der zweite zeigt eine Liebesgeschichte von einem Paar, das sich im Internet gefunden hat und der dritte Text, Hoffnung, handelt von einer Frau mit Alzheimer. Obschon in den Texten diese drei Schlagworte verhandelt werden, wird gleichzeitig die Brüchigkeit der Konzepte ersichtlich», erzählt Nicolette Kretz. Es stellt sich wiederum die Frage: Machen sich diese Menschen selbst was vor, ist es ein Fake an sich selbst? Weiter im Programm sind «Memory Lost» von schützwolff, eine Adaption von George Orwells bahnbrechendem Roman 1984 vom Theater Freiburg zu sehen, ausserdem die Produktion des Stadttheaters Bern, «Letzte Tage» in der Regie von Bernhard Mikeska. Nicolette Kretz freut sich bei dieser Produktion besonders über die spannende Trias aus freier Szene, Stadttheater und Festival. Das Elektro-Liederkonzert «Fassbinder Raben» der Gruppe Arbeit interpretiert die Musik von Peer Raben aus Fassbinders Filmen neu. Ebenfalls zu sehen ist ein Medley aus kurzen Stücken der HKB unter dem Titel «Strip by Strip-Artwork!» Neben dieser packenden Stückauswahl findet wie jedes Jahr im Progr ein vielfältiges Rahmenprogramm statt, bei dem u.a. Beatrice Fleischlin die Performance «My ten favorite ways to undress» zeigt. Vom 12. bis 22. Mai 2010 kommt eine intensive und spannende Theaterzeit auf uns zu, in der für jeden etwas dabei ist: Fake-Los! Weitere Infos: www.auawirleben.ch
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Brutale gesellschaftliche Realität an einem ungewöhnlichen Theaterort Von Fabienne Naegeli – Mit «Die ganze Nacht nicht» zieht sich die Compagnie Majacc ins Private zurück
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moklauf im Klassenzimmer. Schläger von München. Gruppenvergewaltigung – Jugendliche Sexualstraftäter verhaftet. Die Jugendkriminalität ist in den letzten Jahren laut Statistik stark angestiegen. Berichte über gewalttätige Jugendliche reissen in den Medien nicht ab. Die Hintergründe der Taten bleiben oft im Dunkeln. Es tauchen Fragen und Spekulationen auf, die versuchen, das Unerklärliche zu erklären. Wer ist schuld? Wie konnte es überhaupt so weit kommen? Was macht Jugendliche zu Tätern? Wer hat wann, wie und warum versagt? Wer sind die Eltern? Sind zu viele erzieherische Freiheiten, schwierige familiäre Verhältnisse oder andere soziale Probleme die Gründe? Ist eine verfehlte Ausländerpolitik, der Konsum gewaltverherrlichender Computerspiele oder die Flut an pornographischen Bildern im Internet die Ursache? Was hätte die Schule oder die Jugendsozialarbeit, die Politik oder die Gesellschaft präventiv dagegen unternehmen können? Gerne wird dabei auf Klischees zurückgegriffen: Die Eltern sind geschieden, arbeitslos, drogensüchtig, alkoholabhängig oder selber gewalttätig, die jugendlichen Täter haben ausländische Wurzeln oder bereits eine lange Heimkarriere hinter sich. Doch was ist, wenn keine dieser Erklärungen greift und ganz «normale» Verhältnisse vorherrschen. In «Die ganze Nacht nicht» setzt sich die Compagnie Majacc mit solch einem «normalen», gutbürgerlichen Elternhaus auseinander, das plötzlich mit der erschütternden Frage konfrontiert wird, ob ihr Sohn bei einer Gruppenvergewaltigung eines Mädchens beteiligt war. Wie jeden Abend kommen Helga und Martin von ihrer Arbeit nach Hause und treffen in ihrer Küche aufeinander. Martin bereitet ein Fondue vor, denn die Wertmüllers, ein befreundetes Ehepaar, kommen zu Besuch. Er ist ein wenig gestresst, da er nicht weiss, ob Julian, Helgas 17-jähriger Sohn, mitisst und wie viele Baguettes er daher aufschneiden und welche Menge Käse er anrühren muss. Helga schenkt ihm allerdings keine grosse Aufmerksamkeit. Sie ist am Telefon beschäftigt mit der Organisation der nächsten Einladung, nervt sich, weil Martin den Gärtner
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noch nicht angerufen hat, will eigentlich vor dem Abendessen noch schnell duschen und macht sich Sorgen wegen ihres Jobs. Die kleinen, alltäglich banalen Auseinandersetzungen des Paares treten jedoch bald in den Hintergrund. Immer wichtiger wird die Abwesenheit Julians. Mit wem und wo treibt er sich wohl herum? Vielleicht mit dem Albaner Mirko oder mit Nikola, dessen Zuhause keine Struktur hat und völlig unkontrolliert ist? Schliesslich gesteht Helga, dass sie nicht weiss, wo ihr Sohn Dienstagnacht war, als eine Gruppe Jugendlicher ein Mädchen vergewaltigt hat. War Julian möglicherweise einer der Täter? Hat sie sich zu wenig um ihn gekümmert? Weshalb hat sie ihrem Mann bis jetzt nichts davon gesagt? Und warum war Martin an diesem Abend eigentlich so lange weg? Unter dem Verdacht des Gewaltverbrechens verändert sich die lange, scheinbar solide Partnerschaft auf einen Schlag. Alles bricht auf. Man macht sich gegenseitig Vorwürfe und beginnt, immer tiefer in der schon länger aus dem Lot geratenen Beziehung zu graben. Nach dem letztjährigen Stück «Frontex» über Migration und lebensgefährliche Grenzübertritte befasst sich die 2005 von Roger Binggeli Bernhard gegründete Compagnie Majacc in «Die ganze Nacht nicht» mit dem Zusammenhang von elterlicher Beziehung und Jugendgewalt. Wie kann eine unaufrichtige, nur vordergründig dahingelebte Partnerschaft ein Kind beeinflussen? Was, wenn alles nur noch ein gemütliches, zufriedenes Einerlei ist, wenn das Liebesglück abhandenkam und man sich nicht mehr spürt? Die Compagnie Majacc lässt in «Die ganze Nacht nicht» die häusliche Fassade bröckeln und bringt so ein Stück Leben mit seinen tiefen menschlichen Abgründen auf die Bühne, die ursprünglich gar keine Bühne war, sondern ein reale Wohnküche.
20. bis 22. und 27. bis 29. Mai, 20h (bei trockenem Wetter Gartenbar ab 19h), in der Privatwohnung an der Friedlistrasse 10, 3006 Bern (Nähe Rosengarten).
FILOSOFENECKE Von Ueli Zingg Treue zur Philosophie bedeutet, es der Angst zu verbieten, dass sie einem die Denkfähigkeit verkümmern lässt. Max Horkheimer 1947
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ngst ist Angst vor der Existenz, Angst um die Existenz, die eigene. In der Angst wird der Mensch sich selbst und verliert sich gerade dadurch. Angst um Andere ist die Angst, den Verlust eines Anderen nicht bewältigen zu können, also Angst um sich selber. Horkheimer – Jude, sozialkritischer Denker, publiziert, was er denkt, lebt in Deutschland, dies zurzeit des aufkeimenden und schliesslich Macht ergreifenden Nationalsozialismus – hatte allen Grund zur Angst, hatte allen Grund zum Denken. Im Denken stellen wir der namenlosen Angst etwas gegenüber, wir bedenken sie, machen sie uns zum Objekt – ich und die Angst – erwehren uns ihrer Versuchung zur Allmacht, wo sie und ich nicht mehr voneinander zu unterscheiden sind: Ich bin Angst geworden. Denken ist Denken vor der Angst: die Angst vor dem Nichtwissen, die Angst vor dem Ausgeliefert sein, die Angst vor dem Nichtgeliebt werden, die Angst vor der Endlichkeit. Wer sein Ende zu denken vermag, kann ihm ins Gesicht lachen: Ich weiss um die Dinge, wie sie sich geben, ich kann mich fügen, ich kann mich im Zorn auflehnen, beides schafft Distanz zu den Existenzbedingungen, zu ihrem Anspruch auf Angst erzeugende Allmacht. Im Denken werde ich ein Allgemeines und gleichzeitig mich selbst. Der anscheinende Widerspruch ist Abbild des Daseins: Nichts ist so eindeutig und persönlich, wie es zu sein scheint, die ewige Liebe nicht, das unendliche Glück nicht, die gültige Erkenntnis nicht. Es ist, was wir schon längst wissen, ein Ritt über den See auf dünnem Eis. Ohne Angst ist, wer das weiss. Er ist Teil einer Philosophie, die zwar nicht über Mensch, Tier, Gesellschaft, Welt, Geist so sprechen kann, wie der Naturwissenschafter über eine chemische Substanz spricht: Philosophie hat die Formel nicht. Zielt sie auf letztendliche Gültigkeit, auf einen Prozess innerer Befreiung des Subjekts, endet sie als leere Ideologie, als dogmatische Religion. Sie ist nicht Wahrheit. Sie zeigt das Scheitern unserer Sehnsucht nach Wahrheit auf. Philosophie konfrontiert das Bestehende in seinem Anspruch auf Gültigkeit. 28. Mai, Kramgasse 10, 1. Stock, 19:15h. Gut & schön, wäre nicht die Angst vor dem Nichtwissen. 21
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F IGURENTHEATER !
Sommerliches Figurentheater Von Geraldine Capaul Das 9. Figura Theaterfestival – International Biennale des Bilder-, Objektund Figurentheaters wird sommerlich. Neu findet es vom 9. bis 13. Juni statt.
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Wir werden sommerlicher», sagt Lothar Drack, künstlerischer Leiter der kommenden Ausgabe des 9. Figura Theaterfestivals augenzwinkernd. Damit spricht er bereits die erste wichtige Neuerung an: Das grosse Festival für Bilder-, Objekt- und Figurentheater findet dieses Jahr nicht wie bisher im September statt, sondern bereits im Juni. Vom 9. bis 13. Juni werden in allen Theatern in Baden und Wettingen spannende, poetische, neue, liebevolle und freche Inszenierungen aus dem weiten Bereich des Figuren- und Objekttheaters zu sehen sein. Dass das Figura Theaterfestival nun bereits im Juni stattfindet, hat organisatorische Gründe. Bis anhin fanden Figura und Fantoche jeweils alle zwei Jahre alternierend satt. Nun aber wechselt Fantoche auf den Jahresrhythmus. Das hätte bedeutet, dass in einem Monat zwei grosse Festivals in Baden stattgefunden hätten. «Wir haben verschiedenste Möglichkeiten eingehend geprüft», erklärt Drack. «Aber aufgrund der vorhandenen Infrastrukturen einer Kleinstadt und insbesondere aus medien- und aus kommunikationstechnischer Sicht wäre das allzu aufwändig geworden.» Ebenfalls neu ist die Leitung des Festivals: Lothar Drack, der die drei letzten Festivalausgaben als alleiniger Leiter bewältigt hat, ist neu künstlerischer Leiter. Die Produktionsleitung übernimmt Markus Lerch. Nun wird das 9. Figura Theaterfestival also in den Frühsommer ziehen. Rund 20 Inszenierungen aus Belgien, Deutschland, Österreich, Frankreich, Holland, Italien, Russland und der
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Bild: zVg.
Schweiz stehen auf dem Programm. Sommerlicher aber bedeutet vor allem, dass wiederum ein ansehnlicher Teil der Stücke im Freien stattfindet. Rund ein Drittel der eingeladenen Produktionen werden ihre Arbeit auf der Strasse und auf öffentlichen Plätzen zeigen. Darunter finden sich spleenige Miniproduktionen genauso wie attraktive Grossinszenierungen. Seit seinen Anfängen im Jahr 1994 hat Figura Stücke in den öffentlichen Raum, mitten in die Stadt platziert. Seit 2002 wurde diese Programmlinie stark ausgebaut und «Figura fuori» genannt. «Wir haben schon immer bewusst Figuren auf die Strassen gestellt», erklärt der künstlerische Leiter. «Wir wollen immer auch Publikum ansprechen, dem der Weg ins Theater noch nicht zur Selbstverständlichkeit geworden ist.» So dürfen sich die Passanten in Baden freuen: Es kann durchaus sein, dass eine packende Inszenierung an einem ungewöhnlichen Ort ihren Einkaufbummel unterbricht. Der Sommer soll auch dazu genutzt werden, dass draussen –«fuori» eben – länger in den Abend hinein gespielt werden kann. Auch für das Festivalzentrum will man die sommerliche Atmosphäre nutzen. Neben dem bereits gut etablierten Zentrum im «Roten Turm» gibt's mit dem Theater Café «Roulotte» ein Openair-Festivalzentrum. Mit seiner gedeckten Bühne soll es Begegnungsort für Künstler untereinander, aber auch mit den Passanten sein. «Auch damit wollen wir einen Schritt aufs Publikum zugehen», sagt Drack. Die neunte Ausgabe des Figura Theaterfestivals möchte mit seinem Programm eine der wohl populärsten Figuren aus dieser Kunstgattung, die in vielen Ländern zuhause ist, neu hinterfragen: Pulcinella, Polichinelle, Mr. Punch, Hans Wurst oder Kasper bzw. eben
auf Schweizerdeutsch Chasperli. Ganz anarchistischer Rebell, fauler Parasit, gewitzter Schlauberger oder frecher Bengel wird er dem diesjährigen Figura Theaterfestival seine Renitenz erweisen, so u. a. in den neusten Arbeiten von Compagnie La Pendue mit «Poli dégaine», Gyula Molnàr, Alexandra & Eva Kaufmann mit «Kasperls Wurzeln» und Claus, Knecht & Grossmann mit «Grete L. und ihr K». Im selben Zusammenhang wird Salvatore Gatto erstmals in der Schweiz zu sehen sein, praktisch eine Reinkarnation des dreisten Pulcinella, der seine Wurzeln in Neapel hat. Unter den vielen Produktionen, die von der Programmgruppe in den letzten Monaten in ganz Europa auf- und in vielen Besprechungen ausgesucht wurden, gibt's für das Team u.a. ein spezielles Highlight: Das weit gereiste niederländische Theaterkollektiv Hotel Modern kommt für zwei Vorstellungen nach Baden. Hotel Modern wurde mit ihren ebenso ungewöhnlichen wie beeindruckenden Inszenierungen «De Grote Oorlog – The Great War» und «Kamp», das dem Alltag in einem KZ nachspürt, bekannt. Für das Ensemble typisch sind die eigenwilligen Darstellungsformen. Die Theatermacher spielen mit viel kleinem Sammelsurium, das fürs Publikum mit handgrossen Kameras auf Monitore übertragen wird. So entsteht eine Art Live-Trickfilm mit «live» erzeugtem Soundtrack – eine eindrückliche Arbeit, die echt unter die Haut geht. So zeigen sie im Kurtheater Baden am 12. und 13. Juni «The Great War», ihre erste grosse Arbeit, mit der sie bereits rund um die Welt tourten. «Hotel Modern gehören zu den gefragtesten Ensembles», meint Drack. «Wir versuchen sie schon seit Jahren nach Baden zu holen. Nun haben sie endlich zugesagt. Das freut uns riesig.»
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HINTER DEM VORHANG :
Vorhang auf! Interview von Karl Schüpbach Vorhang auf: Hasan Koru, Inspizient am Stadttheater Bern, steht auf der Bühne, und nimmt, in gleissendes Scheinwerferlicht getaucht, Ihren Beifall entgegen. Liebe Theaterbesucherin, lieber Theaterbesucher, Sie lesen den Namen des Inspizienten in jedem Programm-Heft. Aber Hand aufs Herz, kennen Sie seine vielfältigen Aufgaben, die er hinter der Bühne leistet, während Sie gespannt das Geschehen auf den Brettern, die die Welt bedeuten, verfolgen? Das folgende Gespräch soll Hasan Koru für einmal der Anonymität entreissen.
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asan Koru, ich stelle die Behauptung auf: Ohne Inspizient hebt sich der Vorhang nicht, und es gibt keine Vorstellung zu bewundern! Deine Behauptung stimmt – und sie stimmt doch nicht. Es ist so, die Entscheidungen für den geordneten Ablauf liegen beim Inspizienten. Gutes Gelingen ist aber nur gewährleistet, wenn die verschiedensten Abteilungen eng zusammenarbeiten. Ich kann hier nicht alle aufzählen, aber ich bin auf die Mitarbeit des Bühnenmeisters, der Technik, der Ton-Abteilung, der Beleuchtung angewiesen, wenn der Dirigent, das Orchester, die Sänger, Schauspieler oder das Ballett, vom Beginn der Vorstellung bis zu ihrem Ende, unser Publikum mit ihren Leistungen erfreuen. Ich sage es noch anders: Was soll ich mit meiner Kompetenz zu Entscheidungen, nur auf mich allein abgestellt,
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Foto: Philipp Zinniker
bewirken können, wenn eine Kulisse nicht richtig steht, ein Sänger oder Schauspieler seinen Auftritt verpasst, wenn ein Scheinwerfer aussteigt oder der Ton ausfällt? Darum: Zusammenarbeit, Zusammenarbeit und nochmals Zusammenarbeit. Aus einem anderen Schweizer-Theater wurde mir zugeflüstert, im Stadttheater Bern seien die Arbeiten für die Inspizienz besonders breit gefächert. Es gibt also diesbezüglich Unterschiede von Theater zu Theater? Diese Information ist richtig. Das Stadttheater Bern ist ein Drei-Sparten-Haus mit Oper, Schauspiel und Ballett. Es gibt eine Inspizientin und zwei Inspizienten im Haus, und wir müssen für jedes Stück einsetzbar sein. Die Arbeit für die drei Sparten ist verschieden: Bei der Oper ist Notenlesen unabdingbare Voraussetzung, zusätzlich muss auch das Orchester betreut werden. Die Arbeit für das Schauspiel wird durch den umfangreichen Text bestimmt, und beim Ballett sind Kenntnisse von Tanz und Choreographie sehr von Vorteil. Mit Lichtzeichen und Durchsagen ist der Inspizient verantwortlich für korrekte und geregelte Abläufe. Hier eine kleine Aufzählung der vielfältigen Aufgaben: Mit dem Klingelzeichen muss das Publikum am Anfang und nach den Pausen in den Saal gerufen werden, die Künstler, die Technik, der Schnürboden, die Beleuchtung, das Orchester, die Tontechnik, die Statisterie, sie alle – die Liste ist nicht vollständig – warten auf das Einsatzzeichen des Inspizienten. In anderen Häusern gibt es Inspizienten für den Ton und die Beleuchtung, für die Bühne rechts und links. Hier in Bern wird die gesamte Arbeit von einem Inspizienten allein geleistet. Er wird
dabei unterstützt von der Regie-Assistenz und von der Abend-Spielleitung. Können wir noch einen Augenblick bei den spannenden Unterschieden in Deiner Arbeit für die Oper, das Schauspiel und das Ballett verbleiben? Die Unterschiede sind tatsächlich beträchtlich, und sie machen unsere Arbeit insgesamt spannend und abwechslungsreich. Bei der Oper steht die Musik im Vordergrund, von der absoluten Notwendigkeit, eine Partitur lesen zu können, habe ich schon gesprochen. Insgesamt müssen wir mit vielen multi-medialen Elementen arbeiten, Video und vielfältige Tonquellen fliessen immer mehr in unsere Arbeit ein. Früher Ungewohntes, wie ein Schauspieler, der auf der Bühne singen oder ein Instrument spielen muss, gehört zum Alltag. Der Tanz ist sicher eine Kunstform, die sehr viel Wissen und Erfahrung erfordert. Es ist wirklich von Vorteil, wenn man als Tänzer, gearbeitet hat. Unterschiede zeigen sich auch in der Bewältigung von Pannen. In der Oper fliesst die Musik, ein völliger Stillstand ist kaum denkbar. Im Schauspiel kann es natürlich vorkommen, dass ein Schauspieler den Text vergisst, da müssen wir sofort dafür sorgen, dass der programmierte Ablauf wieder ins Gleichgewicht gebracht werden kann, damit Licht- und Tonzeichen wieder in der richtigen Reihenfolge weitergehen. Das gleiche gilt für Ballett-Vorstellungen, wenn ein Tänzer anfängt, zu improvisieren, weil der Faden der Choreographie verlorengegangen ist. Dabei sind für uns die Anforderungen grundverschieden, je nachdem ob es sich um ein Orchester-Ballett handelt, oder ob die Musik ab Tonträger erklingt. Ein wichtiges Hilfsmit
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Tanz & Theater tel möchte ich noch erwähnen, dies gilt für alle drei Sparten: Wir verfolgen einen Durchlauf während der Vorbereitung stets mit den Noten oder dem Text in der einen Hand, in der anderen bedienen wir eine Stoppuhr. So kennen wir während der Vorstellung in jedem Moment den rein zeitlichen Ablauf. Angesichts der Fülle dieser Aufgaben, drängt sich die Frage auf: Wo befindet sich der Arbeitsplatz, und welche Hilfsmittel stehen zur Verfügung? Vom Zuschauerraum aus gesehen, mit Blick auf die Bühne, befindet sich unser Arbeitsplatz auf der linken Seite, gleich nach der Bühnenumrandung. Dort stehen uns verschiedene Hilfsmittel zur Verfügung, Monitore, Lautsprecher, Funkgeräte und ein Computer. Wir haben jederzeit eine Übersicht auf das Bühnengeschehen. Der Computer ist ein entscheidendes Hilfsgerät, ohne ihn wären die Abläufe von einer einzigen Person nicht steuerbar. Die ganzen Lichtzeichen für alle Beteiligten sind programmiert, zwei Hände allein würden es nie schaffen, alle Knöpfe gleichzeitig zu bedienen. Wie wird man Inspizient, welches war Dein persönlicher Weg? Es gibt keine Schule für Inspizienten, auch keine Ausbildung. Wichtig ist, dass man auf der Bühne gestanden hat. Durch die Bühnenerfahrung lernt man die Bedürfnisse der einzelnen Berufsgruppen kennen. Wir haben zwar einen Künstler-Vertrag, aber, wie gesagt, unser Wissen muss sehr breit gefächert sein. Was braucht ein Orchestermusiker, ein Dirigent, welches sind die Anliegen eines Technikers oder eines Beleuchters? Ich selber bin diesen Weg gegangen, als Solo- und Gruppentänzer im Ballett habe ich mir dieses Wissen angeeignet. Als die Zeit für einen Wechsel reif wurde, hat mir die Leitung des Hauses die Stelle eines Inspizienten angeboten. Das war für mich eine Chance, und ich habe sie im Jahre 2003 gepackt. Ich fühle mich dem Haus, in seiner überschaubaren Grösse, sehr verbunden. Stellen wir uns innerlich den Weg eines Werkes vor, von der Auswahl bis zur Premiere. Von welchem Zeitpunkt an ist die Mitarbeit des Inspizienten unerlässlich? Für uns ist der erste Kontakt zu einem Stück, das zur Aufführung gelangen soll, das Konzeptionsgespräch. Hier wird das Werk von der Regie vorgestellt, alle Beteiligten sind dabei, mit Ausnahme der Technik. Bei der Oper beginnen nach dem Konzeptionsgespräch die szenischen Proben, beim Schauspiel gibt es Lesungen, auf der Probebühne, wo wir auch, je nach Stück, bereits dabei sind. Noch einmal anders verhält es sich beim Ballett, dort finden die Proben in der Regel im Ballettsaal statt, und wir sind je nach Choreographie von Beginn weg dabei. Es gibt aber keinen schematischen Ablauf, vieles hängt vom Schwierigkeitsgrad des Stückes ab. Wir stützen uns auf die Notizen, die wir beim Konzeptionsgespräch gemacht haben, und wir
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merken bald, ob es sich um eine schwierige Produktion handelt, wobei das unsere Präsenz bei den Proben beeinflusst. Oft holen wir noch zusätzliche Informationen bei den einzelnen Abteilungen ein. Die Probenzeit bis hin zur Premiere dauert sechs bis zehn Wochen. Man darf sich nicht vorstellen, dass der Inspizient dauernd anwesend ist. Die Probenarbeit ist oft getragen von einer intimen Atmosphäre, vielleicht wird auch noch improvisiert, der Ablauf steht noch nicht ganz fest. Da kann sich die Präsenz von allzu vielen Menschen störend auswirken. Wie gesagt, es gibt Unterschiede von Stück zu Stück, aber in der Regel ziehen wir uns nach den Konzeptionsgesprächen und den ersten Kontakten für etwa drei Wochen zurück. Je näher aber der Termin der Premiere rückt, wenn es Durchläufe gibt, desto dichter wird unsere Präsenzzeit … bis zum ersten Vorhang hoch. Dein Name steht zwar in jedem Programmheft, wenn Du arbeitest. Ich habe es aber nie erlebt, dass Du am Schlussapplaus teilnimmst, oder dass Du in einer Kritik erwähnt wirst. Wie gehst Du mit diesem Dualismus um: Einerseits bist Du absolut unentbehrlich für den gelungenen Ablauf einer Vorstellung, und – quasi als Dank – verbleibst Du in völliger Anonymität? Es ist richtig, wir können am Schlussapplaus nicht teilnehmen. Es ist der richtige Ort, um nochmals auf das Zusammenwirken vieler Menschen und Abteilungen hinzuweisen, die eine Vorstellung im Theater erst ermöglichen. Die Dramaturgie, der Hausdienst, die Schneiderei, die Schreinerei, die Verantwortlichen für die Garderoben und für die Kantine, sie alle können am Schlussapplaus auch nicht teilnehmen, die Applausordnung könnte ihnen auf der Bühne den nötigen Platz gar nicht bieten. Der Applaus am Ende ist das Eine, ein volles Haus, ein zufriedenes Publikum und eine gute Resonanz von aussen ist das Andere, daran nehmen wir und alle die Genannten teil, mit grosser innerer Befriedigung. Die Künstler, die auf der Bühne den wohlverdienten Applaus entgegennehmen können, sind sich der Tatsache absolut bewusst, dass ihr Erfolg nur dank des lückenlosen Zusammenwirkens vieler Menschen möglich wurde. Dieses eiserne Wissen um das Miteinander verbindet die Menschen auf, hinter oder neben der Bühne. Ich brauche immer wieder das Bild des menschlichen Körpers: wenn auch nur eine Hand in ihrer Funktion beeinträchtigt ist, so leiden auch Körperteile, die mit dieser Hand nicht direkt in einem Zusammenhang stehen. Genau so ist es im Theater: es geht nur wenn sich alle in die Hand spielen. Dem Internet (Wikipedia) ist zu entnehmen, dass der Inspizient bei unvorhergesehenen Ereignissen in eigener Verantwortung und Kompetenz handeln muss. Das kann von einer zeitlich begrenzten Unterbrechung bis hin zur vollständigen Absage einer Vorstellung reichen.
Abschliessend und zur Auflockerung die Frage: Hast Du in Bern je eine solche «Katastrophenübung» erlebt? Bis jetzt habe ich den Alptraum einer vollständigen Unterbrechung und Absage einer Vorstellung nicht erlebt, weder als Tänzer noch als Inspizient. Kürzere oder längere Unterbrechungen kommen aber vor, wenn zum Beispiel eine Kulisse hängen bleibt, oder sich andere technische Pannen einschleichen. Die Frage stellt sich dann immer, ob wir weitermachen, ohne dass das Publikum etwas merkt, oder ob wir den Vorhang schliessen müssen. In solchen Fällen, oder auch bei Verspätungen muss jemand vom Abenddienst – das kann der Intendant oder jemand von der Dramaturgie sein – das Publikum informieren. Die Sorge um Pünktlichkeit ist eine grosse Herausforderung für den Inspizienten, das Publikum muss sich auf die angegebenen Zeiten verlassen können. Wie gesagt, ein gestörter Ablauf kann sehr viele Gründe haben, sogar die Sicherheit unseres Publikums muss für uns zur Aufgabe werden: Es ist nicht lange her, dass wir das Publikum nach Ende einer Ballett-Vorstellung eine halbe Stunde lang im Hause zurückbehalten mussten, weil draussen eine Anti-WEF Demonstration tobte. Wir geben uns alle erdenkliche Mühe, Pannen zu vermeiden. Aber wir sind keine Maschinen, und oft ist die Behebung eine so spannende und abenteuerliche Angelegenheit, dass sie für willkommenen Gesprächsstoff nach der Vorstellung sorgt. Abschliessend möchte ich noch von einer besonderen Unterbrechung einer Vorstellung berichten, sie klingt anekdotisch, soll sich aber wirklich zugetragen haben: Der grosse Rudolf Nurejew war mit einem von ihm getanzten Solo nicht zufrieden. Kurzerhand unterbrach er die Vorstellung, ging zum Dirigenten, und verlangte die Wiederholung der Stelle, um sie dann vollendet zu tanzen. Leider ist nicht bekannt, wie der Inspizient den Zwischenfall gemeistert hat. Ich danke Dir herzlich für dieses Gespräch und wünsche Dir für Deine weitere Arbeit am Stadttheater Bern alles Gute.
Hasan Koru, geboren 1974 in Ankara, Türkei. Nach fünf Jahren Elementarschule Beginn des Berufsstudiums am Konservatorium, während sechs Jahren. Weiterbildung und Abschluss des Studiums in Stuttgart in der John Cranko Schule. Mit 18 Jahren Berufung an das Ballet du Rhin, ohne eigentliches Vortanzen. 1995, nach einem Jahr, Engagement am Stadttheater Bern unter Martin Schläpfer, als Solo- und Gruppentänzer. Seit 2003 Inspizient am Stadttheater Bern.
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Questo Piccolo Grande Amore Der italienische Cantautore Claudio Baglioni feiert in Zürich seinen 59. Geburtstag Interview: Luca Scigliano Übersetzung aus dem Italienischen: Luca D‘Alessandro Bild: Guido Tognetti Der italienische Liedermacher und Musiker Claudio Baglioni steht kurz vor seiner Welttournee «Un solo mondo – One World». Die vermutlich wichtigste Etappe ist für den 16. Mai im Kongresshaus in Zürich vorgesehen. An jenem Tag feiert der Cantautore seinen 59. Geburtstag: «Jedes meiner Konzerte ist ein Fest – so gesehen ist es ein wunderbarer Zufall, dass das Zürcher Konzert auf meinen Geburtstag fällt», sagt Baglioni im Interview mit ensuite-kulturmagazin. Doch sieht er nicht nur das Fest im Vordergrund, sondern vielmehr seine Mission, «die Menschen zu sensibilisieren.»
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ensibilisieren? Worauf? Im Verlaufe der «One World Tour» werde ich mit Vertretern von Non Profit Organisationen und mit Kulturschaffenden aus aller Welt zusammenkommen, um mit ihnen Themen wie Armut und Integration zu besprechen. Ich bin als Botschafter unterwegs, der in den Menschen eine neue Sensibilität wecken will; ein Gespür für die Zusammenhänge in der Welt. Wir sollten die Welt miteinander teilen und nicht untereinander aufteilen. Denn nur gemeinsam können wir vermeiden, dass die Welt weiter zerstückelt wird. Ich bin überzeugt:
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Wir Italiener, die wir in der Vergangenheit viel in der Welt herumgekommen sind – sei es freiwillig oder unfreiwillig – können da einen wichtigen Beitrag leisten. Zumindest ist es ein Bedürfnis von mir. Deine bevorstehende Tournee «One World» stellt dieses Bedürfnis in den Vordergrund. Die «One World Tour» knüpft einerseits an die ganze musikalische Erfahrung an, die ich während der vergangenen 40 Jahre gesammelt habe. Zum Anderen verfolgt sie das Ziel, diese Erfahrungen nach aussen zu tragen und mit neuen Einsichten zu verbinden. Ich will Geschichten aufnehmen, Erlebnisse dokumentieren, mit denen ich am Ende ein ähnliches Bordbuch erstellen kann, wie es die zahlreichen Entdecker während der vergangenen Jahrhunderte taten. Die geschriebenen Gedanken will ich weitertragen, überall dahin, wo Italienerinnen und Italiener auf meine Lieder warten. Der Austausch mit den Menschen ist mir wichtig, denn nur so ist es mir überhaupt möglich, die eigenen Haltungen und Handlungen zu reflektieren, und: Ich lerne mich am Ende besser kennen. In der Auseinandersetzung mit diesen Kulturen werden soziale Spannungen sichtbar – Spannungen einer Welt, die gesamthaft gesehen, ein bisschen desorientiert dasteht, und die noch so viel zu berichtigen hat. Welche Rolle spielst Du dabei? Alles, was ich als Weltreisender machen kann, ist die eigene Reise zu dokumentieren
und die Geschichten zu erzählen, die sich aus den Beobachtungen ergeben. Ich finde, ein Treffen unter Menschen bietet die beste Gelegenheit, selber ein besserer Mensch zu werden. Das Zusammensein führt dazu, Schönheit, Harmonie und Energien zu befreien. Befreiung: Dieses Stichwort führt uns zu deiner Stiftung «O'scià». Der Titel meiner Tournee steht unter einem ähnlichen Stern wie vor acht Jahren die Gründung der Stiftung «O'scià». Diese entstand damals eher durch Zufall, als ich am Strand auf Lampedusa lag und plötzlich zu singen begann. Der Stiftung gehören inzwischen 200 Musiker aus Italien und aus aller Welt an. Sie verfolgt das Ziel, die Gesellschaft auf die Probleme der Migrationsströme aufmerksam zu machen. Menschen, die aus politischen, wirtschaftlichen oder gesundheitlichen Gründen den Weg über das Mittelmeer in einer Nussschale auf sich nehmen in der Hoffnung, in Europa ein besseres Leben zu finden. Was bedeutet «O'scià» eigentlich? Im lampedusischen Dialekt bedeutet O'scià «mio respiro – mein Atem». Ein geflügeltes Word, das die Bevölkerung auf Lampedusa als freundschaftliche Grussformel verwendet – etwa wie «ciao» oder «hallo». Es ist verbindend. Das perfekte Symbol für eine Stiftung, welche die Verbindung der Kulturen zum Ziel hat. Ich bin der Meinung: Wo und wenn immer Kulturen sich treffen und vermischen,
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« JAZZ’N’MORE ist dank Fachkenntnis und dem hohen redaktionellen Qualitätsanspruch überhaupt zum Besten geworden, was es im deutschsprachigen Europa heute gibt.» George Gruntz
JAZZ’N’MORE erscheint sechs mal im Jahr mit aktuellsten News, Reviews und Previews, den besten Personal-Stories und Interviews, informativen CD-Besprechungen, ausgewählten Konzerttipps und Radioprogramme JAZZ’N’MORE GmbH, Birmensdorferstrasse 20, CH-8902 Urdorf Probenummer und Abos unter redaktion@jazznmore.ch oder www.jazznmore.ch
Music & Sounds muss sich zwangsläufig eine bessere Kultur daraus ergeben, eine reichhaltigere Kultur. Die Treffen, an denen ich beteiligt bin, haben zum Ziel, die Leben und Schicksale der Menschen besser zu verstehen. Ich erfahre viel über ihre Beweggründe, die eigene Heimat zu verlassen, um das Glück ausserhalb – an einem fremden Ort – zu suchen. Nach 40 Karrierejahren bist Du nun auf der Suche nach neuen Anregungen? (lacht) Diese Treffen mit anderen Kulturen sind mit jenen Situationen vergleichbar, in denen ich mich mit anderen Musikern verabrede, um mit ihnen ein neues Projekt zu starten oder ein Stück gemeinsam einzuspielen. In diesen Konstellationen müssen wir uns jeweils neu kennenlernen und verstehen, welches Ziel wir am Ende gemeinsam erreichen wollen. Auch wenn wir alle anderer Herkunft sind oder anderen Stilen nachgehen: Sobald wir gemeinsam spielen, müssen wir uns an eine klar definierte Partitur halten. Es ist so ein bisschen wie das Orchester des Lebens oder das Orchester der Welt – es bietet das gewisse Etwas mehr. Es ist mit dem neunten Ton in einer Oktave vergleichbar. Glücksmomente, wie Du sie in Deinem jüngsten Projekt «Q.P.G.A.» erleben durftest? Ja, «Q.P.G.A.» lehnt sich an mein Album aus dem Jahre 1972: «Questo Piccolo Grande Amore». Es ist der Abschluss eines vierteiligen Projekts, bestehend aus einem Film, einem Roman, der gleichnamigen Tour und einer Doppel-CD, welche zwei Stunden und 50 Minuten dauert und Beiträge von 69 Musikern einschliesst, unter ihnen Ennio Morricone, Laura Pausini, Mina und Jovanotti. In diesem Projekt habe ich festgestellt, dass es zwar wunderbar ist, als Musiker und Komponist alleine unterwegs zu sein, es aber noch viel herrlicher ist, wenn man sich mit anderen Musikern konfrontieren darf. Wie hast Du eigentlich diese 69 Musikerinnen und Musiker kontaktiert? Hast Du sie alle angerufen, zum Abendessen eingeladen oder ihnen eine E-Mail geschickt? Viele von ihnen kenne ich schon seit jeher. Man trifft sich an Festivals und Veranstaltungen. Einige habe ich im Rahmen von «O'scià» auf Lampedusa getroffen. Die übrigen habe ich in der Tat telefonisch oder per E-Mail erreicht. Und dann habt Ihr alle gemeinsam gesungen? Nein, nicht mit allen habe ich eine Liveaufnahme realisiert. Wir haben eine digitale Samplingmethode angewendet. Ich weiss, diese Methode erweist sich sowohl als Fluch als auch als Segen für die Musikbranche: Zum Einen reisst sie die Qualität der Musik hinunter, zum Anderen kann sie aber auch sehr praktisch sein. Ein Gedankenspiel: Du stehst kurz vor einem Konzert, begibst Dich langsam auf die Bühne, blickst in die Menge, die applaudiert und Deinen Namen ruft. Was geht in Dir vor? Es ist sehr schwierig, diese Gefühle zu beschreiben. Es sind gewaltige Gefühle.
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Haben sich diese Gefühle im Verlaufe Deiner 40-jährigen Karriere geändert? Am Anfang geriet ich in Panik, wenn ich auf die Bühne musste (schmunzelt). Es gab Momente, in denen der Beifall des Publikums mich dermassen überwältigte, dass ich mich kaum mehr bewegen konnte. Ich erinnere mich an ein Konzert im vollgepfropften San Siro Stadion. Wenn mich heute jemand nach diesem Konzert fragen würde, könnte ich es nicht mehr beschreiben. Klar weiss ich, dass ich dieses Konzert gegeben habe, an die Einzelheiten vermag ich mich nicht zu erinnern. Zum Glück habe ich es geschafft, diese Gefühle in den Griff zu bekommen. Ich spüre gewissermassen ein Gefühl der Freude, wenn ich mich vor echten Leuten präsentieren darf. Denn, es ist nicht einerlei, ob man vor einem Publikum aus Fleisch und Blut spielt, eine Platte einspielt oder einen Auftritt im Fernsehen hat. Die Livesituation ist für einen Künstler nach wie vor die beste Erfahrung. Deine Lieder sind schön und sinnlich, wenn auch einfach gehalten. Wie schreibst Du ein Lied? Ich schreibe immer alleine. Das ist einerseits notwendig, zumal ich in mich hineingehen muss. Andererseits wäre ich manchmal froh, wenn ich in diesem Augenblicken jemanden vis-à-vis hätte, mit dem ich mich austauschen könnte. Das Merkwürdige ist, dass ich in diesen Dingen leicht bewusstseinsgespalten bin: Ich schreibe sowohl die Musik als auch die Texte separat. Anders gesagt: Fast immer schreibe ich zuerst den musikalischen Teil, bevor ich mich den Arrangements zuwende. Mit dieser Methode fühlst Du Dich wohl? Ja, weil ich beim Texten die Melodie und den Puls in mir spüre. Während des Komponierens kommt eine ganz aussergewöhnliche Stimmung auf. Wie lässt sich diese beschreiben? Es ist die Inspiration, die ich direkt der Musik entnehme. Bereits durch die Abfolge der Töne ergibt sich ein Text. Grundsätzlich macht ein Cantautore nichts anderes, als sich auf das eigene Leben zu besinnen. Ich schreibe nie Texte über Dinge, die mich unmittelbar bewegen. Ich orientiere mich vielmehr an Vergangenem. Ich sammle Dinge, die mich besonders betroffen gemacht haben und flechte sie in die Songtexte ein. Es ist nicht einfach, die eigenen Worte mit den Texten zu verbinden. Es gibt Stellen in meinen Liedern, musikalisch gesehen, die es mir nicht ermöglichen, das zu sagen, was ich genau an der Stelle sagen möchte. Thematisch würde das zwar passen, doch ist die musikalische Einbettung respektive das Metrum nicht das Richtige. Ich vergleiche mich mit einem Schreiner, der ein bestimmtes Holzstück in sein Möbel einbauen möchte, es aber nicht hinbekommt, weil die Form es ihm nicht erlaubt. Ich stelle mir vor, dass Du mit dem Schreiben Deines Romans ähnliche Probleme angetroffen hast.
Ja, in der Tat (wir lachen). Manchmal kommt es vor, dass einem beim Einschlafen ein Satz oder eine Stilfigur vorbeizieht. Das ist auch bei mir so! Ich bin überzeugt, die Nacht hat eine magische Wirkung auf unsere Gedankenwelt. Eine Wirkung, wie sie der Tag nicht hat. Sobald ich eine Inspiration verspüre, muss ich aufstehen und den Gedanken umgehend auf Papier bringen. Früher hatte ich das Vertrauen, den Satz auch am nächsten Tag in meinem Kopf wiederzufinden. Doch merkte ich bald, dass es immer noch das Beste ist, solche Gedanken sofort festzuhalten. Daher schlafe ich immer mit Zeichenblock, Bleistift und der Gitarre an meinem Bett. Gibt es einen Rat, den Du – als erfahrener Cantautore – jungen Musikerinnen und Musikern weitergeben möchtest? Man muss immer am Ball bleiben, mit dem Lernen nie aufhören und neue Einflüsse zulassen. Eine Musikerkarriere hat nämlich nichts mit Zufall zu tun. Die Musik, die Worte, die Präsenz auf der Bühne – all das hängt zum Einen mit Talent zusammen, ist andererseits mit viel Arbeit verbunden. Sonst kommt bald einmal die Frage auf, weshalb gerade du auf der Bühne stehst und die Anderen davor. Von dem Moment an, an dem du eine Auszeichnung bekommst, musst du noch mehr aus dir herauskommen. Du musst immer wieder aufs Neue beweisen, dass du des Preises würdig bist. Preise gibt es nur, wenn Leidenschaft, Neugierde und Mut mitspielen. Anstatt zu befürchten, einen Fehler zu begehen, ist es klüger, hin und wieder einem neuen Gedanken nachzugehen. Das ist ganz wichtig. Über Claudio Baglioni Claudio Baglioni wurde am 16. Mai 1951 in Rom geboren. Seine Karriere als Musiker begann er 1964, als er in seiner Heimatstadt erfolgreich an zwei Gesangswettbewerben teilnahm. Heute zählt Baglionis Repertoire 28 Alben, die durch gefühlvolle Balladen, vorgetragen mit seiner leicht rauchigen Stimme, bestimmt sind. Sein wohl berühmtestes Lied ist das 1972 erschienene «Questo Piccolo Grande Amore», abgekürzt «Q.P.G.A.», der Titel seines aktuellen Projekts. FilmOpera «Q.P.G.A.» Sie sieht sich wie ein Film und hört sich wie eine CD: Die DVD-Film-Opera «Q.P.G.A.» ist die aussergewöhnlichste Kombination aus CDVideo-Clip in der Geschichte der populären Musik überhaupt. Sie verwandelt das vierfache Projekt – Film, Buch, Album und Tour – in das Video-Event 2010. Konzert in der Schweiz Claudio Baglioni steht am Sonntag, 16. Mai 2010 auf der Bühne des Kongresshauses Zürich. Info: www.baglioni.it
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Z ÜRI W EST
«Reduktion muss man anstreben.» Interview: Tobias Graden
Züri West geben mit «HomeRekords» Einblick in ihre Schaffensweise. Ein Gespräch mit Kuno Lauener und Küse Fehlmann über das Fragment, das Dasein als Sexsymbol und die Altersmilde, von der auch Gilles Yapi profitiert.
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emoversionen, Tüfteleien, Songs, die von der Tischplatte gefallen sind – für wen ist «Homerekords» gedacht? Kuno Lauener: Einerseits für uns selber, aber natürlich auch für Leute, für die ein solches Album einen Mehrwert darstellt, wenn sie sehen, wie unsere Songs entstehen, warum wir manche auf ein Album nehmen und andere nicht. Und dann gibt es sicher Leute, die's einfach als Songsammlung hören. Es hat dokumentarischen Charakter. Lauener: Einen gewissen. Aber wir wollten nicht den grossen Bogen schlagen, sonst hätten wir bis 1984 zurückgehen müssen. Wir wollten eine Scheibe machen, die man durchhören kann. Die Songs waren die Chefs. Küse Fehlmann: Es sollte nicht historisch komplett sein, aber einen Blick hinter die Kulissen ermöglichen. Lässt sich «Homerekords» auch als Antwort auf die Erwartungshaltung deuten, die der Institution Züri West entgegengebracht wird? Fehlmann: Ich denke nicht. Wir hatten schlicht nicht genug Material für eine neue Platte. Letztes Jahr sind wir 25-jährig geworden, haben uns Gedanken gemacht, wie wir dieses Jubiläum feiern könnten, doch dann war das Jahr auch schon wieder vorbei. Dann kam Kuno beim Zügeln die Idee, man könnte eine Scheibe machen mit diesem Material. Einfach so, weil’s cool ist? Es ist doch auch ein Statement zu sagen: Die Leute erwarten eine
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neue Scheibe, und wir bringen jetzt mal alte unfertige Songs. Lauener: Wir sind schon gelassener geworden. Vor 15 Jahren hätten wir ein solches Album noch nicht gemacht. Heutzutage erscheinen so viele Hochglanzproduktionen, wir dagegen wollten zeigen: Unsere Sachen sind handgemacht. Nach welchen Kriterien habt Ihr die Songs ausgewählt? Es gäbe sicher noch Dutzende weitere. Lauener: Es gibt von jedem Song im Voraus Demoversionen, aber oft sind diese sehr ähnlich wie die endgültige. Wir haben uns darum auf Material geeinigt, das gar nie erschienen ist oder ziemlich anders tönt als auf dem Album. Habt Ihr deswegen auch ehemalige Bandmitglieder befragt? Die könnten ja unter Umständen nicht einverstanden sein, dass im Nachhinein etwas veröffentlicht wird. Fehlmann: Selbstverständlich, das geschah in Absprache. Man hat ja eine gemeinsame Geschichte. Lauener: Oli Kuster zum Beispiel hatte grosse Freude, dass nun sein «Güggu» noch veröffentlicht wird. Diesen Song haben wir damals schweren Herzens verabschiedet, aber er hätte nicht auf das melancholische «Aloha from Züri West» gepasst. Wie merkt man, ob ein Song auf ein reguläres Album passt oder nicht? «Liebi niene meh» hätte sich nahtlos ins Album «Haubi Songs» eingefügt. Lauener: Gerade darum. Es war einer der letzten Songs, der dazu entstanden ist, wir hatten zuerst gar das Gefühl, er könnte die Single werden. Als wir den Bogen des Albums betrachtet haben, fanden wir aber: Jetz nid dä o no. Fehlmann: Er war dann einfach zu viel. Die Balance hätte nicht mehr gestimmt, es wäre zu viel Melancholie gewesen. Fällt ein solcher Entscheid leicht?
Foto: Annette Boutellier, Bern
Lauener: Überhaupt nicht. Küse, der die Musik geschrieben hat, war natürlich enttäuscht, genauso wie ich enttäuscht bin, wenn ein Text von mir nicht gebraucht wird. Aber ein Album entsteht nun mal so. Es gäbe ja den Ausweg, solche Songs dafür an Konzerten zu spielen. Lauener: Das haben wir am Anfang so gemacht. Aber eigentlich spielen wir schon länger nur noch die Songs, die auf Alben waren. Gab es auch geschäftliche Überlegungen für dieses Album? Lauener: Wieso meinst Du? Man könnte Geld gebraucht haben … Lauener: Nein, im Gegenteil – es ist wohl recht mutig, dieses Album zu veröffentlichen. Wir wissen ja nicht, wer es überhaupt kaufen wird. Und wir haben vier Monate daran gearbeitet, wir haben es uns nicht einfach gemacht, wollten zeigen, dass es uns am Herzen liegt. Und sollten wir Geld daran verdienen, ist das «suberi Büez», an den Songs haben wir ja mal gearbeitet. Fehlmann: Eine Platte machen, das ist immer ein Risiko. Man investiert Kraft, Zeit … Lauener: … den Ruf … Fehlmann: … und ob man daran verdient, weist sich erst im Nachhinein. Lauener: Die Kontinuität zeigt sich erst im Rückblick. Ohne zu kokettieren – wir haben vor jedem Album wieder Zweifel. Ihr seid ja zunehmend Risiken eingegangen in den letzten Jahren. Lauener: Schon, aber wir haben einfach gemacht, was wir wollten. Vor «Haubi Songs» haben wir uns grosse Sorgen gemacht, weil wir dachten, das Publikum will von uns nach wie vor die härteren, schnelleren Stücke. «HomeRekords» wurde bislang äusserst wohlwollend aufgenommen, obwohl quasi nichts Neues dabei ist. Dagegen gab es zu «Radio zum
Glück» die Kritik, Züri West hätten nichts Neues mehr zu sagen, obwohl es das Album nach dem Bandumbau war. Wie erklärt Ihr Euch das? Lauener: Das war hart. Wir merkten natürlich selber, dass wir noch nicht an dem Punkt waren, an dem wir sein wollten, mit drei neuen Leuten in der Band. Die Radikalität, mit der uns manche Leute abgeschrieben haben, hat mich erstaunt, das war kränkend. Und nun nimmt man ein «Zwischenalbum» begeistert auf. Ist das ein Zeichen für den Status, den Züri West mittlerweile hat? Fehlmann: Es zeigt wohl auch, dass mittlerweile sehr viel Schrott produziert wird, Glattgebügeltes, Rundproduziertes. Es gibt wohl eine gewisse Sehnsucht nach dem Unperfekten. Lauener: Vielleicht merkt man eben erst nach dem dritten Album in neuer Besetzung, dass die Band dennoch Bestand hat … Aber wir haben oft gelitten unter der Kritik. Mit der Zeit gibt uns dies aber auch das Vertrauen in uns selber. Ist der künstlerische Prozess denn schwieriger geworden in der aktuellen Besetzung, verglichen mit früher, als Züri West eine gewachsene Band war? Fehlmann: Er ist anders. Wir haben anders Songs gemacht. Wir waren auch viel jünger, es wäre ja komisch, wenn wir noch so funktionierten wie vor 25 Jahren Man steht an einem anderen Ort im Leben, hat andere Rhythmen, hat Kinder. Früher waren wir stundenlang im Bandraum, haben gejammt, gesoffen und gekifft. Das geht heute nicht mehr, man muss die Zeit effizienter nutzen. Ist es eher zur Arbeit geworden? Lauener: Ja, das gilt aber für das kreative Schaffen überhaupt. Ich bin nicht ständig mit der Muse am Schmusen. Wenn ich einen Text schreibe, setze ich mich um 9 Uhr morgens hin und arbeite daran. Und wir gehen als Band projektbezogener vor. Wir haben nun sehr vielseitige, versierte Musiker, die Songs stilistisch authentischer darbringen können. Das hat die Weise, wie Songs entstehen, verändert. A propos Status: Als ich auf der Redaktion gesagt habe, ich mache ein Interview mit Kuno Lauener, hat sofort eine Kollegin gesagt, sie würde gerne das Aufnahmegerät halten kommen. Lauener (lacht verlegen): Super. Du wehrst Dich gegen das Image als Sexsymbol. Warum eigentlich? Das muss Dir doch schmeicheln. Lauener: Das tut es natürlich, aber wenn ich darüber befragt werde, ist dies meist eine peinliche Situation. «Sexsymbol» … Ich weiss ja gar nicht, ob das was mit vögeln zu tun hat oder mit Projektionen … Aber klar, es ist schmeichelhaft für mich als heterosexuellen Mann, zu merken, dass mich die Frauen noch cool finden. Man kann schlechtere Images haben. Mehr weiss ich dazu nicht zu sagen, darum weiche ich aus. Du wirst nächstes Jahr 50. Ist das ein schwieriges Datum?
Lauener: Nein. Es ist, wie es ist. Keine Angst vor dem Alter? Lauener: Doch, auch Angst vor dem Sterben, manchmal. Aber das ist ja hoffentlich noch nicht so nah. Auf «HomeRekords» findet sich auch das Stück «Chinaski», dieser ist der Inbegriff des «angry old man». Ihr dagegen werdet eher milder mit dem Alter. Fehlmann: Wart's ab, so weit sind wir noch nicht! (lacht) Lauener: Chinaski, also Bukowski, ist ja eher der «dirty old man», auch wenn er immer laut herumkrakeelt. Aber dazwischen findet sich die Poesie. Er war ein starker Geschichtenerzähler. Züri West lieferte in Bern den Soundtrack zur 80er-Bewegung. Ist es denkbar, dass die Band mal wieder gegen etwas ansingt? Abgesehen vom pointierten «Radio zum Glück» bewegt Ihr Euch in der Innerlichkeit. Lauener: «Schpinnele okay» auf «Haubi Songs» hat klar Stellung bezogen gegen Fremdenfeindlichkeit. Aber ich habe mich immer schwergetan mit politischen Songs. Es gibt nur Wenige, die wirklich gute politische Songs schreiben können. Aber das heisst nicht, dass wir unpolitisch sind. Und unsere eigene Befindlichkeit zählt ja vielleicht für andere Leute auch. Wie werdet Ihr reagieren, wenn dereinst der Begriff «Alterswerk» fallen sollte? Fehlmann: Das kommt drauf an, wie alt wir zu diesem Zeitpunkt sein werden … Vielleicht sagen wir, er kommt zu früh, vielleicht finden wir ihn nicht schlecht. Lauener: Ist der Begriff denn positiv oder negativ? Vermutlich ambivalent. Er tönt ein bisschen nach «das hätten wir ihnen nicht mehr zugetraut». Lauener: All diese Etiketten … Wir haben über eine lange Zeitspanne unter dem gleichen Namen verschiedene Richtungen verfolgt. Vielleicht war «Haubi Songs» der Anfang zum Alterswerk. Nach «Haubi Songs» folgen nun Skizzen, Bruchstücke. Erklärt Ihr das Fragment zur spezifischen Ausdrucksform von Züri West? Lauener: Ich habe das Fragmentarische immer gern, wenn die Essenz klein bleibt. Das passt aber nicht für alle Songs. Fehlmann: Reduktion muss man anstreben. Das haben wir lange nicht begriffen. Lauener: Manchmal sind es diese blöden demokratischen … (überlegt) Man macht manchmal zu viele Kompromisse. Manchmal aber auch zu Recht. Was ist denn vom nächsten regulären Album zu erwarten? Lauener: Wir sind erst am Arbeiten, haben ein paar Demos, ich habe ein paar Zettel mit Texten. Wie das tönen wird, lässt sich noch nicht sagen. Nach «Aloha» wollten wir etwas Schmissigeres machen, doch dann wurde es noch schwerer. Ich wage keine Prognose. Zum Schluss die obligate Frage zu YB. Fin-
det Ihr nicht, man sollte «Hüt hei si wider mau gwunne» im Meisterschaftsendspurt nicht mehr abspielen? Genau genommen erzählt der Song ja vom Scheitern. Lauener: Er wird ja nur gespielt, wenn YB gewonnen hat. Wenn es nicht mehr darum geht, ob ein Match gut oder schlecht war. Wenn's drei Punkte gibt, kommt der Song, das finde ich okay. Es ist doch auch der Song fürs alte Wankdorfstadion. Lauener: Er ist ein völliger Anachronismus, schon nur mit dem langen Intro. Er ist das Gegenteil einer Fussballhymne. Wir freuen uns immer, wenn er gespielt wird. Schafft es YB noch? Lauener: Keine Ahnung. Ich hoffe es. Mit Gilles Yapi wart Ihr gnädig. Er bekommt im CD-Booklet auch ein «bon voyage». Lauener: Yapi ist schon ok. Wenn er ein Angebot von Real Madrid erhalten hätte, wäre er ohnehin gegangen. Dann wären ihm die Fans auch nicht böse gewesen. Lauener: Was will man ihm böse sein? Man kann doch nicht von einem Afrikaner, der via Frankreich hier landet, um Fussball zu spielen, verlangen, es schlage auf ewig ein YB-Herz in seiner Brust, wenn er aus Basel ein viel besseres Angebot erhält und er näher bei seinem Schätzeli ist, das nicht in der Schweiz wohnen darf. Eben, die Altersmilde. Lauener: Ja. Vielleicht bin ich ein altersmilder, sich nicht mehr festlegender … Weissnichtwas.
ZÜRI WEST - HOMEREKORDS
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HomeRekords» beginnt mit einer Skizze: «Was Tribt De Die Gäng Dür Die Nächt» ist eine mehrspurige Momentaufnahme eines Songs, der nirgends hin führt und abrupt endet. Es ist das perfekte Intro für dieses Album, das laut Band aus «unveröffentlichten Songs, schmissigen Demos, unerhörten Versionen und halben Hits von morgen» besteht. Diese sind zwar allesamt nachträglich noch mehr oder weniger bearbeitet worden, aber in durchaus höchst unterschiedlichen Entwicklungsstadien verewigt: Das Rumpelstilz-Cover «Rote Wi» ist nicht mehr als ein hingeworfenes Küchenlied, während das wunderbar traurig-schöne «Liebi Niene Meh» in Studioqualität dem unausweichlichen Selektionsprozess für das letzte Album «Haubi Songs» zum Opfer gefallen war. Spätestens hier ist man Züri West um diese «HomeRekords» dankbar. Zwar finden sich unter diesen 16 Stücken auch verzichtbare, doch hat die Band auch Schätze geborgen, die zu schade für die ewige Versenkung sind und selbst in deutlich unfertiger Version ungemein berühren («Mir Si Die Letschte Mönsche Uf Dr Wäut»). Gerade das Unperfekte ist eben manchmal am stimmigsten. (tg)
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Bild: Temperame
Es gibt nicht allzu viele MusikerInnen, die mit so viel Engagement und Kraft, mit Hoffnung und Wille ein Musikfestival aus dem Boden stampfen können, wie es die Violinistin Gwendolyn Masin schafft. GAIA ist ein Kammermusikfestival – eigentlich. Aber es ist eben viel mehr als das: Gaia hat sich zu einem musikalischen, kulturellen und gesellschaftlichen Befreiungsschlag etabliert, schafft es mit Herz und Seele, eine Plattform für Musik zum Klingen zu bringen, die international renommierte Stars aufhorchen lässt.
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inter den Kulissen arbeitet ein kleines Team. Die Freundschaft zwischen Gwendolyn Masin und dem Architekten Christoph Ott und viele HelferInnen bewirken Grosses. In Deutschland wurde das Festival mit dem Göppinger Kulturpreis ausgezeichnet. Ein Gespräch mit Gwendolyn Masin ist ein Eintauchen in eine Welt, die von unbändigen Energien getrieben, mit sehr viel Hoffnung und Einsicht, Wärme und dem Glauben und Wissen, dass mit Musik etwas von Menschen für Menschen entstehen kann. Jede Zelle scheint bei ihr «Gaia» widerzuspiegeln. «Gaia» kommt aus der griechischen Mythologie: So nannten sie die Erde in Göttergestalt. Die Namensgebung des Festivals bedient sich damit eines soliden und geerdeten Fundaments und zeigt, dass ein Festival mehr als nur ein Musikprogramm sein kann. In einer Pressemitteilung schreibt Gwendolyn Masin treffend: «Wir wollen Kammermusik aus dem Museum holen, uns mit aller Leidenschaft auf sie stürzen und zu neuem Leben erwecken.» ensuite fragte Frau Masin, wie es zu diesem Festival gekommen ist: «Gaia» entstand 2006 in Stuttgart aus einer Idee heraus, um ein Festival zu kreieren, wo ich als Musikerin eine Plattform bauen kann, wo Platz ist, um Programme so zu gestalten und zu spielen, wie ich es für richtig empfinde. Ich kenne es von mir selber als Musikerin, aber auch von KollegInnen, wenn man auf einem gewissen Niveau spielt, hetzt man von einem
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sik in nsität ntvoll, Gwendolyn Masin /zVg.
Konzert zum nächsten. Und bei vielen Festivals wird man so zu einem Massenimportprodukt. Man lädt also KünstlerInnen ein, die einander eh schon kennen und die spielen dann ein schönes Konzert, und alle haben Freude, und das nennt sich dann Festival. Meine Idee war aber, dass die MusikerInnen so ein Festival mitgestalten können. Und zwar aktiv, nicht nur, dass sich jemand bei der Schlussorganisation von einem Festival noch die Zeit nimmt, ein paar Leute anruft und meint, ja, jetzt kommt mal her und spielt da noch was … Sowas kann ja jeder organisieren, wenn das Geld zur Verfügung steht. In Stuttgart haben wir das von Anfang an so durchgezogen – wir konnte da in zwei Kirchen spielen, einer grösseren und einer kleineren. Und fragen Sie nicht, wieso, es war ein unglaublicher Erfolg. Von Anfang an waren die Konzerte extrem gut besucht, und ein Jahr darauf mussten wir sogar Leute abweisen, weil kein Platz mehr da war. Das konnte so stattfinden, weil alle MusikerInnen, man darf das heute schon fast nicht mehr sagen, sehr idealistisch waren. Ich sag das so, weil man oftmals vergisst, dass Talent im Grunde wertlos ist, wenn keine Motivation, keine Arbeit, kein Fleiss und keine Denkweise dahinter stecken. Und es gibt eben viele KollegInnen, die unheimlich gerne auf so ein Risiko, was es im Grunde ist, eingehen. Risiko deshalb, weil die MusikerInnen für eine Woche kommen, zum Teil kennen sie sich gegenseitig, zum Teil nicht, zum Teil kennen sie
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die Stücke, zum Teil nicht – für «Gaia» werden einige Stücke speziell für das Festival geschrieben –, es gibt dabei Uraufführungen, Schweizer Erstaufführungen, was weiss ich … Auf jeden Fall wurde ich eingeladen, für die Schweiz ein «Gaia»-Festival zu erschaffen. Und wir haben hier ja an den schönsten Orten bereits klassische Festivals. Aber der schönste Ort überhaupt, und ich meine weltweit, ist der Kanton Bern. Da hat es einfach alles. Es ist wie Neuseeland, es hat Gebirge, Alpen, es hat Flüsse, es hat Hoch und Runter, gutes Wetter, es hat Schnee, einfach alles. Und Thun ist für «Gaia» der perfekte Ort. Im letzten Jahr haben wir das zum ersten Mal gemacht, mit den gleichen Ideen wie zuvor. Und wir hoffen natürlich, dass, wenn man ein «Gaia»-Festival macht, man nicht nur ein kulturelles Phänomen veranstaltet – wie in den guten alten Zeiten, als man sich noch Zeit genommen hat, Musik zu machen –, sondern auch ein soziales Phänomen veranstalten zu können. So sind alle Proben öffentlich, es gibt Meisterklassen, die sind gratis, wir suchen den Austausch mit dem Publikum aktiv. Damit die MusikerInnen, die an ein «Gaia»-Festival kommen, danach wirklich sagen können, dass sie mit dem Publikum einen persönlichen Kontakt aufbauen konnten. Und das wiederum hört man eben. In dieser Form spielt man anders, und das hört sich anders an. Gespielt werden Werke von Claude Debussy, Johannes Brahms oder an den Themenabenden «Gaia Vintage» (Hommage und Erstaufführung in der Schweiz zum 200. Geburtstag von Robert Schumann), «Cello Concertante» mit Werken von Max Bruch und Robert Schumann, Jorge Bosso und Pjotr Iljisch Tschaikowsky, «The Madness of May» mit Werken von Heinrich Ignaz Franz Biber, Wolfgang Amadeus Mozart, Franz Schubert, Johann Halvorsen, Eugène Ysaÿe und das «GalaKonzert» mit Werken von Léo Weiner, Antonio Vivaldi, Johann Sebastian Bach, Kurt Atterberg, Johannes Brahms. Zehn international renommierte Solisten kommen nach Thun: Violine: Gwendolyn Masin (Dublin, Bern), Emi Ohi Resnick (New York, Amsterdam), Lena Neudauer (München); Viola: Ilya Hoffmann (Moskau); Cello: Frans Helmerson (Bonn, Stockholm), Gavriel Lipkind (Frankfurt, Tel Aviv), Timora Rosler (Utrecht, Tel Aviv); Klavier: Robert Kulek (Riga, Amsterdam), Roman Zaslavsky (Karlsruhe, St. Petersburg); Fagott: Martin Kuuskmann (Talinn, Washington) und zusätzlich das Grazioso Kammerorchester des ungarischen Nationalen Philharmonie Orchesters. Das «Gaia»-Festival findet vom 6. bis 9. Mai in der Kirche Blumenstein, dem Rittersaal im Schloss Thun, im Schloss Oberhofen und der Kirche Amsoldingen statt. Nähere Informationen entnehmen der Webseite www.gaia-festival.ch. Vorverkauf über Starticket oder in allen BLSReisezentren. Der Eintritt an die Gaia-Meisterklassen ist frei!
Rara et famosa Symphoniekonzert
Do/Fr, 20./21.05.10 19h30, Kultur-Casino
Andrey Boreyko Dirigent David Pia Violoncello Adam Halicki Oboe Haydn: Symphonie Nr. 67 F-Dur Goossens: Oboenkonzert in einem Satz op. 45 Tschaikowsky: Variationen über ein RokokoThema op. 33 Doráti: Symphonie Nr. 2
Ein Himmel voller Geigen Symphoniekonzert
Do/Fr, 27./28.05.10 19h30, Kultur-Casino
Andrey Boreyko Dirigent Alexandru Gavrilovici Violine Christiane Oelze Sopran Rózsa: Violinkonzert op. 24 Mahler: Symphonie Nr. 4 G-Dur
Karten: Bern Billett, Nägeligasse 1A T: 031 329 52 52 | www.bernbillett.ch
www.bernorchester.ch31
Music & Sounds
INSOMNIA DAS PAAR
Ein Porsche aus Alabaster
Von Eva Pfirter
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or Jahren wurde ich nach meinem Studienabbruch in Lugano an selbigen Ort an eine Party eingeladen. An die Einladung am Telefon schloss sich die obligate Frage: Chunnsch äläi? Ich sagte: Nei, mit dr Anina. Am Ende der anderen Leitung sagte die Stimme darauf nach einer kurzen Pause: Aha. Natürlich war mit der Frage meiner ehemaligen Mitbewohnerin nicht gemeint, ob ich wohl mit einer Freundin kommen würde, sondern es interessierte nur, ob ein potenzieller Freund auftauchen würde. Den gab es aber nicht, und ich fand es das natürlichste der Welt, mich ohne Freund nicht alleine zu fühlen und deklarierte das auch so. Doch das irritierte immer wieder. Kann denn eine Frau nicht ohne Freund und glücklich sein? Nein, kann sie nicht. Auch im 21. Jahrhundert nicht. Also natürlich kann sie, aber es ist komisch. Es ist komisch, wenn eine junge, nette Frau ohne Freund ist. Noch immer fixieren wir uns auf die eine, die einzig wahre Beziehung im Leben: die Paar-Beziehung. Weshalb ist das noch immer so? Weshalb nehmen wir nicht wirklich zur Kenntnis, dass die hohe Scheidungsrate darauf zurückzuführen ist, dass wir alle Bedürfnisse auf einen einzigen Menschen konzentrieren? Dieser sollte Seelenverwandter, Traummann und Tennispartner in einem sein. Wenn ich mit meinen Freundinnen über Männer rede, stellt sich meistens heraus, dass vielen Männern ein bester Freund fehlt. Wenn es ihnen nicht gut geht, reden sie gar nicht oder laden alles bei der Freundin ab. Kann das gut gehen? Wir brauchen doch verschiedene Menschen, verschiedene Sichtweisen, verschiedene Welten. Vielleicht kommt irgendwann eine Generation, welche begreift, dass ein Leben aus mehreren Beziehungen besteht. Und jede einzelne wichtig ist, ohne eine andere übertreffen zu müssen. Manchmal gerät die Freundschaft fast etwas ins Hintertreffen im Vergleich mit der Beziehung. Das stimmt mich dann richtig traurig. Dann wünsche ich mir, die Zeit, in der wir Mädels unter uns waren, hätte nie aufgehört ... Die Zeit, in der wir die Welt erobern, uns aber nie nach Männern richten wollten, die Zeit, in der uns die Vorstellung, hinter der nächsten Ecke könnte ein grosses oder kleines Abenteuer lauern, uns nächtelang wachhielt ...
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Von Heinrich Aerni – Beat Gysins raumakustische Kammeroper «Marienglas» in Basel
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rossartig, ja luxuriös ist der Gesamtrahmen. Die äussere Hülle bildet die Maurerhalle der Allgemeinen Gewerbeschule in Basel, ein raffinierter Glas-Betonbau, die innere, eigentliche Szene ein kubischer Konzertraum – ein offenes Stahlgerüst, die Decke milchigtransparent, ähnlich dem «Marienglas», einer transparenten Gipsvarietät, die vormals zur Verkleidung von Heiligenbildern verwendet wurde. Die Zuschauer/ -hörer liegen bequem dicht an dicht, zu drei Seiten sind zusätzlich Sitzplätze angebracht, jede Person trägt einen Kopfhörer. Das kollektive Einverständnis, sich dieser Anordnung unterzuordnen, schafft einen rituellen Rahmen, eine innere Ruhe. Als Bühne dient vornehmlich die vierte Seite des Quaders, sodass auch die Liegenden dem Geschehen optisch folgen können. Gespielt wird eine Musiktheaterfassung von Franz Kafkas Romanfragment «Das Schloss». Lediglich die Hauptfigur K. ist in Szene gesetzt, geteilt in einen Sänger (Xavier Hagen, Altus) und einen gelegentlich sprechenden Mimen (Philipp Boë). Dazu kommen, vorab aufgenommen, ein Klaviertrio plus eine Sopranstimme, daneben aber auch etliche Sprechstimmen für die weiteren Romanfiguren. Um es kurz zu machen: Beat Gysin hat das Problem der Literaturoper souverän abgehandelt, indem er die Prosa Prosa bleiben lässt und eine Auswahl von rezitierten Textstellen aus dem Schlossromanfragment musikalisch untermalt – die Textauswahl besorgte kein Geringerer als Hans Saner. Von einem dramatischen Verlauf kann bei dieser Anordnung freilich nicht gesprochen werden, das Stück wird über weite Strecken getragen von der eigentümlichen Eleganz, die Kafkas Sprache innewohnt. Einzig Hagens monoton gehaltene Gesangslinien lassen gelegentlich eine mögliche zusätzliche dramatische Ebene erahnen. Kontrastierend dazu die instrumentale Faktur, gleichförmig die nervösen, gelegentlich eruptiven Tonumspielungen in gewohntem Gestus Neuer Musik. Sie geraten zur illustrierenden, Gysin würde sagen «realklanglichen» Staffage.
Zweifellos ist es verfehlt, aufgrund der Überschrift «Kammeroper» nach entsprechenden Gattungsmerkmalen zu suchen, denn die Stärken des Stücks liegen im Attribut «raumakustisch». Und da macht es richtig Spass. Eine innere Ebene bildet die Klanglandschaft, die sich als eigene, wunderbare Welt im Kopfhörer eröffnet: Bis auf die Äusserungen der beiden einzigen anwesenden Darsteller ergiesst sich das vorab Aufgezeichnete als Hörspiel direkt ins innere Ohr, allerdings in einer bislang unbekannten räumlichen Qualität. Hier findet Gysins kompositorische Vision einer «Musik im dreidimensionalen Raum» ihre perfekte Realisierung. Als technische Inspiration und Referenz dienten die Errungenschaften gehobener Automarken wie namentlich Porsche beim Sounddesign etwa einer sich schliessenden Autotür. Die Kopfhörer sind so dezent eingestellt, dass die äussere Ebene, die Gesangs- und Rezitationslinien sowie zusätzliche Geräusche, gut hörbar ist. Sie wird durch Mikrophone teils zusätzlich in den Kopfhörer übertragen. Gysin möchte mit diesem Spiel von Nähe und Distanz, von innerer und äusserer Musik, die Gebrochenheit des Landvermessers K. erfahrbar machen; das «Kafkaeske» dient lediglich als Chiffre. Um die Beklemmung zu steigern, senkt sich die alabasterartige Decke bis auf 50 Zentimeter auf die Liegenden herab, die Protagonisten sind nur noch als Umrisse erkennbar. Xavier Hagen in der eher undramatischen Partie als Altus überzeugend, Artist Philipp Boë pantomimisch etwas überagierend, als Sprecher unerträglich. Musikalische oder gar gesamthaft künstlerische Höhenflüge sind in dieser Anordnung nicht möglich gewesen, doch als technisch aufwändig gestaltete szenische Lesung ist der Abend vollauf geglückt.
Weitere Aufführungen: Bern (6. Mai 2010); Rüttihubelbad (12./ 13. Juni 2010); Zürich (25. bis 27. Februar 2011) www.beatgysin.ch
Kino & Film
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G ESPRÄCH
«Ich liebe es, hässlich zu sein» Interview: Sarah Elena Schwerzmann, London Mit ihrem aktuellen Film «Eine zauberhafte Nanny – Knall auf Fall in ein neues Abenteuer» präsentiert Emma Thompson einen mitreissenden Familienfilm für Jung und Alt. Im Gespräch erzählt die oscarprämierte Künstlerin, die nicht nur das Drehbuch entwickelt hat, sondern auch die Hauptrolle der Nanny McPhee spielt, warum sie sich weigert, Kinder zu unterschätzen und wer am Filmset die grösste Diva war.
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mma Thompson, dieser Film ist bereits die zweite Geschichte um Nanny McPhee, die Sie geschrieben haben. Was fasziniert Sie an dieser Figur? Ich bin vor einigen Jahren über die Kinderbücher von Christianna Brand gestolpert, auf denen die Figur der Nanny McPhee basiert, und ich war sofort von der Idee angetan, einen Familienfilm daraus zu machen. Einerseits finde ich die Idee spannend, dass Nanny McPhee zu Beginn des Filmes mit Knollennase und Warzen sehr hässlich ist, dass sich ihr Erscheinungsbild mit dem Lernprozess der Kinder aber immer weiter verändert. Andererseits hat es mich gereizt, mit dieser witzigen Figur Geschichten zu entwickeln, die sowohl Kinder wie auch Erwachsene ansprechen.
ensuite - kulturmagazin Nr. 89 | Mai 2010
Bilder: Emma Thompson mal Nanni mal als Professor Sybil Trelawney / zVg.
Gehen Sie als Drehbuchautorin anders an eine Geschichte heran, die sich in erster Linie an Kinder richtet? Ja, ich bin mir meines Zielpublikums schon sehr bewusst. Der Film spielt zu Kriegszeiten, und da ist natürlich der Tod auch ein Thema. Kommt der Vater aus dem Krieg zurück oder nicht? Das ist ein emotional sehr schwieriges und heikles Thema und mir ist da sehr wichtig, dass man das für die Kinder nicht allzu traumatisch darstellt. Da bin ich schon vorsichtig, gleichzeitig schreibe ich aber nicht spezifisch für Kinder. Wie meinen Sie das? Mein Vater war ein sehr berühmter Autor und er hat dieses Konzept des Schreibens für Kinder nie verstanden. Er sagte immer: «Aber das sind einfach Menschen, die noch nicht so lange gelebt haben wie wir. Warum sollte ich für sie anders schreiben?» Das hat auf mich abgefärbt. Ich finde es unglaublich wichtig, Kinder ernst zu nehmen und sie nicht zu unterschätzen. Ihr Vater hat sich damit aber nicht sonderlich beliebt gemacht. Das stimmt. Er hat in seinen Geschichten manchmal komplexe Sätze und Formulierungen wie «jemanden mit seinen eigenen Waffen schlagen» verwendet, eine Wendung aus Shakespeares Werken. Er hat dann immer Le-
serbriefe von Erwachsenen erhalten, die ihm vorgeworfen haben, das wäre für Kinder zu kompliziert. Meistens hat er dann in möglichst langen Worten zurückgeschrieben, einerseits, um diese Leute zu ärgern, andererseits, um zu zeigen, dass jeder Mensch, egal welchen Alters, etwas verstehen kann, wenn es in einem Zusammenhang steht. Sind Sie da mit ihm einer Meinung? Ja natürlich. Kinder verstehen Formulierungen und Fremdwörter im Zusammenhang der Geschichte und geben ihnen so selber einen Sinn. So funktioniert Sprache. Und dadurch dass sie den Inhalt des Wortes selber entdekken, machen sie es sich zu Eigen und können es so auch in einem anderen Zusammenhang verwenden. Es ist viel einfacher und effektiver für Kinder Wörter und Ausdrücke so zu lernen als aus einem Lehrbuch. Ich selber habe als Kind so unglaublich viel gelernt, einfach indem ich Bücher gelesen habe. Wie schaffen Sie es aber, mit Ihrer Geschichte um Nanny McPhee nicht nur Kinder, sondern auch Erwachsene zu fesseln? Es war von Anfang an mein Ziel einen Film zu schreiben, der Menschen jeden Alters zu fesseln vermag. Aber ob mir das bei diesem Film bereits gelungen ist, das kann ich nicht sagen. Ich versuche mir da ein Beispiel an den Fertigkeiten einiger meiner Lieblingsautoren,
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Kino & Film wie Jane Austen, zu nehmen. Egal ob man ihre Bücher im Alter von zehn oder 80 Jahren liest, man ist fasziniert und geniesst die Geschichten – aber aus ganz unterschiedlichen Gründen. Das ist genial, aber sehr herausfordernd, und ein Universalrezept gibt es dafür nicht. Sind Kinder dabei ein einfacheres oder schwierigeres Publikum? Viele Menschen nehmen Familienfilme oder Komödien nicht so ernst, weil sie glauben, es sei einfach, Kinder zu fesseln. Das stimmt natürlich nicht. Es ist viel einfacher, ein Drama zu schreiben, bei dem man alle zum Weinen bringt als eine Komödie, bei der alle wirklich lauthals lachen. Und Kinder sind da noch viel anspruchsvoller und auch ehrlicher. Wenn sie einem etwas nicht abnehmen oder es nicht lustig finden, dann lachen sie einfach nicht. So einfach ist das. Sie geben nicht vor, etwas zu mögen oder lustig zu finden, so wie wir das tun. Sie haben eine elfjährige Tochter. Wie ist ihre Reaktion auf den Film ausgefallen? Sie wird den fertigen Film erst heute Nachmittag sehen, wenn ich ihn der ganzen Schule zeige. So muss sie dann in den Pausen nicht immer erklären, worum es geht und wie viele Warzen ihre Mutter jetzt wirklich auf der Nase hat. Ich glaube, sie wird sich gut unterhalten. Ist Ihre Tochter in irgendeiner Weise von Ihrer Karriere oder Ihrem Beruf beeindruckt?
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Nein, ganz im Gegenteil. Das Ganze langweilt sie ungemein. Und ich kann sie da sehr gut verstehen. Mein Vater war ein sehr berühmter Autor, und er hat ein Buch geschrieben, das «The Magic Roundabout» heisst und in den 60er- und 70er-Jahren zu einer Art Kultbuch wurde. Ich habe das Buch zwar geliebt, aber ich war auch ziemlich unbeeindruckt von dem ganzen Rummel. Und bei Gaia ist das genauso. Sie spricht über alles lieber, als über meine Schauspielerei oder meine Filme. Ich finde das aber ganz gesund, wenn es anders wäre, würde ich mir Sorgen machen. (lacht) Die Kinder, mit denen Sie im Film arbeiten, sind alle in Gaias Alter. Wie war die Zusammenarbeit? Sie waren alle einfach phantastisch, weil sie immer gut drauf und sehr motiviert waren. Für mich war es aber auch sehr anstrengend, weil man sich zwischen den Takes um sie kümmern musste. Sie verausgaben sich und sind sehr leidenschaftlich, sodass man sich in den Pausen mit ihnen beschäftigen muss, damit sie ihre Batterien wieder aufladen können. Dafür sind sie dann so engagiert und so unverfälscht in ihrer Leistung, wie das ein Erwachsener kaum abliefern kann. Wir waren alle sehr beeindruckt. Neben den Kindern waren aber auch eine ganze Menge Tiere am Set, die natürlich sehr unberechenbar sind. Gab es Momente, in denen
Sie nicht daran glaubten, diesen Film je fertigstellen zu können? Ja, es gab da eine Darstellerin, die unglaublich zickig war. Es war die Kuh, Meryl war ihr Name. Als ich das gehört habe, habe ich Meryl Streep eine E-Mail geschrieben: «Deine Namensvetterin stellt sich am Set unglaublich mühsam an.» Ihr Problem war, dass sie unseren künstlichen Schlamm nicht mochte. Also weigerte sie sich einfach aus ihrem Anhänger zu kommen. Es war nervenaufreibend. Viele Schauspielerinnen in Ihrem Alter lassen sich auf der Leinwand verschönern. Sie hingegen scheinen sich in Warzen und Knollennase wohl zu fühlen. Sind Sie gerne hässlich? Ich liebe es, hässlich zu sein, es befreit mich. In unserer westlichen Gesellschaft werden Frauen unter viel Druck gesetzt, was ihr Aussehen angeht. Und Nanny McPhee ist da meine kleine Rebellion dagegen. Viele Menschen denken, Schauspielerinnen seien alle unglaublich eitel, aber das stimmt so nicht. Ich bin mir sicher, Cameron Diaz oder Nicole Kidman würden auch gerne einmal Warzen tragen. Es ist ja nicht so, dass man sie die ganze Zeit tragen muss. Und wenigstens sehe ich so in echt besser aus als im Film. Es hat also wirklich nur Vorteile für mich, mich verunstalten zu lassen. (lacht)
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S CHWEIZER K INO
Unser Garten Eden Von Lukas Vogelsang
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ür viele Menschen ist ein Schrebergarten ein rotes Tuch, den Plastikgartenzwergen gleich ein oberbünzliges Kleinbürgertum. Schrebergärten – die Namensgebung stammt vom Leipziger Arzt Daniel Gottlob Moritz Schreber, und der Begriff tauchte 1864 auf – sind eigentlich ganz einfache Klein- oder Familiengärten. Sie wurden vor allem für Arbeiterfamilien bereitgestellt, damit sich diese selber zu Fleiss und Familiensinn erziehen und dem Alkohol und der Politik fernblieben. Natürlich veränderte sich der Sinn eines Schrebergartens, je nach Versorgungslage. Im Ersten Weltkrieg war das Bedürfnis nach dem eigenen Gemüsegarten ein grosses Thema. So wuchs das Bedürfnis und die Anzahl der «Kleinbauern», sodass 1925 der erste Dachverband all die Kleingärtnervereine betreute. Im Jahr 2005 zählte der Schweizer Familiengärtner-Verband rund 28›500 Mitglieder und 375 Gartenareale. Städte und Gemeinden stellen die Areale dau-
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Bild: Keine trügerische Idylle! / zVg.
erhaft zur Verfügung, Genossenschaften verwalten die Gartengrundstücke. In diesen kleinen grünen Oasen, in dieser kreativen Stadtbegrünung werkelt ein bunter kultureller Mix von Menschen aller Welt. Hier arbeiten – oft friedlich – die gegensätzlichsten Traditionen und Religionen unter der ganz eigenen Nationalflagge. Diese kleinen Ländereien mit ihren FürstInnen und KönigInnen teilen sich ein Stück Schweizer Demokratie, ob man jetzt türkischer, kurdischer, slowenischer, bosnischer, albanischer, kroatischer oder auch ganz einfach schweizerischer Herkunft ist. Diesem Phänomen hat sich Mano Khalil, ursprünglich syrischer Herkunft, als Regisseur, Produzent und Kameramann genähert. Für die Musik ist Mario Batkovic zuständig, einer der Berner Gruppe «Kummerbuben», selber auch ein Kroate aus Bosnien. Der fast skurrile Kulturmix ist also perfekt. Ebenso fast perfekt ist der Film. Es ist
grotesk, dass wir ZuschauerInnen eben gerade durch dieses Universum von Kulturen unsere Heimat lieben lernen. Neben wirklich lustigen Szenen und äusserst humorvollen Menschen hat dieser Film einen Charme, der Herzen öffnet. Mano Khalil versteht es, diese manchmal fast parodieartigen Menschen so zu filmen, dass wir ihnen mit Respekt und liebevollem Verständnis begegnen können. Es animiert sogar, sich selber nach so einem Schrebergarten umzusehen – um ein Teil dieser berührenden, menschlichen und hoffnungsvollen Welt zu werden. Wer eine Aversion oder eine (oder keine) Vorstellung hatte, was ein Schrebergarten ist oder den Faden zur Realität der Schweiz verloren hat, sollte sich unbedingt diesen Film ansehen. Ein überraschender Film, ein überraschender Spiegel einer Schweiz, an die wir uns gewöhnen dürfen. Phantastisch!
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TRATSCHUNDLABER Von Sonja Wenger
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er Ausdruck «Asche auf sein Haupt streuen» erhält dieser Tage ja eine ganz neue Bedeutung. Allerdings weiss man weniger denn je zuvor, wie ernst das Ganze zu nehmen ist. Egal, ob es sich um einen ungeliebten Vulkan handelt, um einen selbstverliebten Premierminister oder um einen wohl nie um seiner selbst Willen geliebten Partylöwen – zum Speien ist es alle Mal. Mal passiert es einfach, wie im Falle dieser bankrotten Insel im Norden. Und weil ja auch der Zusammenbruch des globalen Finanzsystems auf höhere – politische – Mächte zurückzuführen ist, werden die Airlines demnächst ganz im Stil der bankrotten Banken eine Entschädigung dafür verlangen, dass sie Sicherheit höher als Profit bewerten mussten. Von der «Moneypulation», wie das 1.-Mai-Komitee die Hintergehung der Demokratie durch Wirtschaft und Politik nennt, zur «Moneypollution» wegen höheren – geologischen – Mächten. Andere wiederum bringen einen zum Speien. So wenn sich Silvio Berlusconi auch nach dem x-ten Sexskandal von seinem Medienmonopol als Unschuldslamm hinstellen lässt, das so offen korrupt und verdorben ist, dass man es für seine Ehrlichkeit gar bewundern und immer wieder wählen muss – denn da weiss man schliesslich, was man hat. Und auch andere Promis wie Carl Hirschmann, der «Goldjunge» mit den «schwingenden Emotionen» und vorgeworfenen Sexualdelikten, der «unschuldig» in die böswilligen Klauen der Medien geriet, beauftragen noch prominentere PR-Profis wie «Katastrophen»-Sacha Wigdorovits, um «Licht in die» aschenverhangene «Sache zu bringen». In einem Interview im «Tagesanzeiger» wird klar: Für den ehemaligen «Blick»Chefredaktor Wigdorovits ist die Trivialisierung der Qualitätszeitungen mit schuld am düsteren Himmel über Hirschmann. Und man kann sagen, was man will, aber wo er recht hat, der Sacha, da hat er recht. PR-Berater dürfen für ihre Kunden nicht die Wahrheit beugen, weil das «unethisch» sei. Deshalb wolle er «den Medien die wichtigen Sachverhalte transparent machen», erst dann ist eine Imageänderung möglich. Doch bevor als nächstes auch noch der Vatikan bei Sacha anklopft, machen wir den höheren Mächten doch noch ein bisschen Angst und verlieren alle auch nach dem 1. Mai mal die eine oder andere Beherrschung: Die Beherrschung unseres Denkens durch machtgeile Politik und profitgierige Verlagshäuser etwa. Die Beherrschung unseres Selbstwertgefühls durch die Parallelwelt des aufgebrezelten Szene-Promi-Packs. Und die Beherrschung unseres Kampfwillens durch die Diktatur des ferngesteuerten Konsumverhaltens. Denn auf so ziemlich alles lässt sich dieses – nur schwer übersetzbare – Filmzitat anwenden: «Don't sprinkle sugar on this bull and call it candy.» 36
Dear John Von Sonja Wenger
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in Gefühlsbad im Kino – so richtig mit Tränen, Tragik, Tod und hoffnungsvollem Ende – ist schon etwas Feines. Danach fühlt man sich genudelt, ein bisschen glücklicher und geht vielleicht sogar beschwingt nach Hause. «Dear John» bietet genau dies, nicht weniger – und nicht mehr. Im neuesten Drama des schwedischen Regisseurs Lasse Hallström geht es vor allem um junge Liebe, um die Unvorhersehbarkeit des Lebens und im weitesten Sinne darum, welche Folgen ein Krieg auf die Menschen und ihre Beziehungen haben kann. John (Channing Tatum) und Savannah (Amanda Seyfried) lernen sich im Frühling 2001 am Strand von South Carolina kennen. Für beide ist es Liebe auf den ersten Blick. Sie ist Studentin und besucht ihre Eltern, er ist Soldat und auf Heimaturlaub bei seinem Vater (Richard Jenkins). Ihnen bleiben nur zwei Wochen für ihre Beziehung, doch sie versprechen, einander Briefe zu schreiben und so die Monate zu überbrücken, bis Johns Dienstzeit zu Ende ist. Doch die Anschläge vom 11. September 2001 verändern alles. Nach einem kurzen Wochenende zu Hause entscheidet sich John wie alle Soldaten seiner Einheit, den Einsatz freiwillig um mehrere Jahre zu verlängern. Dass Savannah gegen diese Entscheidung ist, ändert vorerst nichts an ihrer Beziehung. Sie nehmen durch die Briefe auch weiterhin am Leben des anderen teil, Savannah kümmert sich um Johns äusserst introvertierten Vater und plant, ein Sommercamp für autistische Kinder zu organisieren. Nach einiger Zeit werden Savannahs Briefe jedoch immer seltener, bis sie ihm quasi aus heiterem Himmel eröffnet, des Wartens müde zu sein und sich mit jemand anderem verlobt zu haben. Für John bricht eine Welt zusam-
Bild: zVg.
men. Er verbrennt alle Briefe und entschliesst sich nach einer schweren Schussverletzung, auch weiter bei der Armee zu bleiben. Erst ein schwerer Schlaganfall seines Vaters bringt ihn noch einmal nach South Carolina – und zurück zu Savannah. Zugegeben. Das Schmalz trieft, das Triviale hämmert, und gefährliche Momente oder wahrhaft spannende Wendungen fehlen fast völlig in «Dear John». Dennoch schafft es der Regisseur in den meisten Fällen, die übelsten Klischeeklippen gerade noch rechtzeitig zu umschiffen und den Fokus immer wieder auf ein grösseres Ganzes zu richten. Zwar ist Hallström weit vom subtilen Humor und der dezenten Dramatik seiner früheren Meisterwerke «Gilbert Grape», «Chocolat» oder «The shipping news» entfernt. Doch die Verfilmung des gleichnamigen Romans von Nicholas Sparks ist durchaus charmantes, routiniert gemachtes Emotionskino. Es ist mit grosser Kelle angerührt, doch die sympathische und gekonnte Besetzung versöhnt einen stets aufs Neue mit den Schwächen der Geschichte oder der streckenweise banalen Dramaturgie. Wer allerdings auch nur ansatzweise eine Ader für Romantik und Pathos hat, wird hier bestens bedient. Und das scheinen nicht wenige zu sein. Die Zahlen sprechen zumindest für sich. Gleich am ersten Kinowochenende in den USA verdrängt das leise Drama «Dear John» den megalomanen Kracher «Avatar» vom ersten Platz. Die Medien berichteten brav darüber, und alle waren froh, dass sich die Menschen offensichtlich noch immer nach Liebe sehnen und einfache Geschichten mit intelligenten Dialogen zu schätzen wissen. Der Film dauert 106 Minuten und kommt am 6. Mai in die Kinos.
Kino & Film
G ROSSES K INO
Kevin Smith und die amerikanische Vulgarität Von Morgane A. Ghilardi
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r ist Regisseur, Produzent, Drehbuchautor, Comicautor und Schauspieler, und machte 1994 mit seinem Erstlingswerk «Clerks» sein phänomenales Debut am Sundance Film Festival und in Cannes. Heute ist er ein renommierter Alleskönner, der an diversesten Projekten mitgearbeitet hat, wie z.B. «Good Will Hunting». Kevin Smith heisst er – ein Unikum amerikanischer Popkultur. Er war 24, hatte ein halbes Filmstudium absolviert und einen Stapel Kreditkarten beantragt. Das war genug, um nach Feierabend im Lebensmittelladen, in dem er angestellt war, einen Film zu drehen, der sich als ein kleines, dreckiges Juwel herausstellen sollte. Im Zentrum stehen die zwei QuickStop-Angestellten Randall und Dante aus New Jersey, die über Frauen, Pornographie und die dumme Kundschaft sinnieren. Das ganze in schwarz-weiss, denn das ist billiger. Was nicht sehr aufregend klingt, ist eine Ansammlung verrucht-komischer Dialoge und absurder Ereignisse, die zwar eine spezielle Art von Humor verlangen, aber einen aus den Socken hauen können. Der 28'000 Dollar Film hat schliesslich auch drei Millionen eingespielt und mehrere Preise und Nominationen erhalten. Das war der ultimative Startschuss für Smiths Laufbahn. Sein letzter Film, «Zack and Miri Make a Porno», lief im Winter bei uns in den Kinos, doch wahrscheinlich ist er nur bei wenigen auf dem Radar aufgeblitzt. Smith ist bei uns nicht besonders bekannt, da er einen Aspekt amerikanischer Kultur repräsentiert, mit dem
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Bild: Kevin Smith bei Dreharbeiten / zVg.
wir nicht besonders vertraut sind. Er ist nicht nur ein Comicfan (er besitzt seinen eigenen Comicladen und schreibt regelmässig für Comicserien), sondern auch besessen von seinem Heimatort New Jersey. Der so genannte Garden State ist nämlich in fast jedem seiner Filme Schauplatz der Handlung. Smith hat ein kleines, aber buntes Universum um seinen Heimatstaat erschaffen, sodass in fast jedem seiner acht Filme immer wieder die gleichen Charaktere und Schauspieler auftauchen, wie z.B. Jay und Silent Bob (gespielt von einem Jugendfreund und ihm selbst), die mit «Jay and Silent Bob Strike Back» (2001) sogar einen eigenen Film bekamen. Die immer wieder bezeugte Liebe für New Jersey kommt dem Kult um Städte wie Paris, New York oder (hierzulande) Zürich nahe. Smiths zweites Markenzeichen ist das ausnahmslos Vulgäre in seinen Filmen. Das ist jedoch nicht einfach Trash, sondern eher einen Anstoss zur Ehrlichkeit. «Chasing Amy» (1997), Smiths dritter Film, ist ein Beispiel für ein gutgeschriebenes Comedy-Drama, das den Balanceakt zwischen Vulgarität und Tiefgang meistert. Die Beziehungsgeschichte hinterfragt die Definition von Sexualität sowie die sexuellen Stereotypen Amerikas. «Dogma» (1999), der erste seiner Filme, der es dank Starbesetzung (Ben Affleck, Matt Damon, Alan Rickman etc.) bei uns in die Kinos geschafft hat, wirft ein schräges Licht auf den Katholizismus, mit dem Smith aufwuchs. Die Geschichte handelt von zwei verdammten Engeln, die um jeden Preis in den Himmel zurückkehren wollen, und ist
gespickt mit Absurditäten wie dem Toilettenmonster von Golgotha, dem dreizenten Apostel, dem Jesus noch Geld schuldet oder dem Marketing-Reboot von Jesus, Buddy Christ. Der Film löste in der USA eine starke Kontroverse aus, da Spässchen über Jesus von den konservativen Christen dort gar nicht goutiert werden. Smith erhielt Tausende Hassbriefe und Todesdrohungen. Das hinderte ihn jedoch nicht daran, inkognito an einer Protestaktion gegen seinen eigenen Film teilzunehmen und sich im Fernsehen unter falschem Namen gegen dessen Unsittlichkeit auszusprechen. Nicht nur seine Drehbücher sind komisch, sondern eben auch sein Auftreten. Sieht man einen seiner Live-Auftritte, wird klar, dass die Charaktere, die er auf das Papier bringt, Facetten seiner Selbst sind. Er ist genauso zügellos vulgär, aber eben auch so witzig. Fragt man ihn etwas über seine Projekte, schweift er unausweichlich ab und erzählt von Drehtagen mit Bruce Willis, Streit mit Tim Burton und dem Sexleben seiner Hunde. Ein dreckiges Mundwerk ist eben etwas herrlich Unterhaltsames. Entdeckt man Smith, entdeckt man einen speziellen Aspekt amerikanischer Kultur. Smiths Komödien sind nicht heuchlerisch sauber, sondern verkörpern im Kontext dieser Kultur die entspannte Haltung gegenüber den grossen Themen wie Religion, Sex oder Liebe, die vielen fehlt. Kevin Smiths Filme und «An Evening with Kevin Smith 1-3» sind auf DVD erhältlich.
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Kulturessay
IMPRESSUM
T RASH -K ULT ( UR ) V OL . IV
Polit-Art-Trash? Von Pascal Mülchi
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0. April, Dornacherplatz, Solothurn, 12 Uhr. Eine Müllskulptur entsteht. Ihm Rahmen des Aktionsmonats «Jugend Macht!» heisst es: «Kommt und klebt! Bringt Müll und wir skulpturieren zusammen ein Kunstwerk.» Das tönt nach echtem Trash. Trash der zum Anfassen ist, aber nur ungern angefasst wird. Ihhh, wähhh, ähhh. Ein Kunstwerk aus richtigem Müll zu schaffen, lässt die Vorstellung aber von schmutzigem Trash ins Ästhetische und Künstlerische münden. Ohhh, Uhhh, Ahhh. Liest man weiter im Beschrieb des Anlasses, ist der Trash dann gar politisch konnotiert: «Da wir noch immer kein AJZ haben, verwirklichen wir uns auf der Strasse. Ihr (Anm. d. Red.: damit sind vorderhand die Behörden gemeint) lasst Häuser verrotten wie Müll, wir bauen auf beidem!» Eine karge, selbst zusammen geschweisste Pyramide aus dünnen Eisenstangen steht anfangs noch etwas verloren da. Einzig verwahrlost wirkende Kleider und Bierdosen zieren das Metallgerüst. Später folgen ein niedliches Plüschtier, ein brauner WC-Stöpsel, schwarze Velo-Pneus, ein verbogener Garderobenständer, ein nicht mehr tauglicher Tisch-Staubsauger, Bürostuhl-Rollen, eine Store. Und vieles mehr aus alltäglich anfallendem Müll. Ein ganz eigenwilliges Kunstwerk ist entstanden. Unweit und etwas abseits lehnt sich eine Trash-Puppe lässig ans Geländer. Auch sie wurde vor Ort gebastelt. Sie trägt alte lederne Schuhe, graue Hosen, ein weisses Hemd mit schwarzer Kravatte. Der Kopf ist eine grosse Dose, die Haare vier ausgestopfte grasgrüne Socken. «Das ist der Stadtpräsident Kurt Fluri», meinen die FreiraumaktivistInnen der Autonomen Freiraum Bewegung Solothurn Die Gruppe
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Bild: zVg.
hat den Anlass organisiert. Kurt Fluri seinerseits ist der Stadtpräsident der Barockstadt an der Aare und damit Premier der Stadt. Willen und Engagement, um das schon seit über vier Jahren vorhandene Problem des fehlenden Freiraums in Solothurn und Umgebung effektiv anzugehen, zeige der Stapi aber wenig, heisst es. Ist Kurt Fluri vielleicht sogar der erste echte «Trash Man»? Ein Symbol für (politische) Schmutzigkeit, ein Symbol für oder besser: zur Entsorgung? Bis jetzt kennt die moderne Gesellschaft nur den 1996 vom Künstler HA Schult geschaffenen «Trash Man». Er ist eine Skulptur, entstanden aus dem Müll der Kölner Bevölkerung. Die Masse des «Trash Man» (1,78x0,60x0,35m.) dürften in etwa deren des Solothurner Stadtpräsidenten gleichen. HA Schult stellte seine 1000er «Trash People»-Armee schon in China, New York oder der Antarktis aus. Fluri stellt sich selbst in Solothurn und in Bern als Nationalrat auf dem politischen Parkett aus. Am 10. April war er sozusagen nun erstmals als «Trash-Man» zu bestaunen. Die Aktionen von Schult indes standen immer im Kontext des jeweiligen Gastortes. In der Antarktis wurde beispielsweise auf den Zusammenhang zwischen Müll und Klimawandels hingewiesen. Der Trash-Man ist in den erwähnten Kontexten also durchaus ein politisches Instrument und/oder Symbol. Gleichzeitig ist er aber auch Kunst, die den Rahmen herkömmlicher Kunstbetrachtung auf aussergewöhnliche Weise zu sprengen weiss. Ist das vielleicht sowas wie Polit-Art-Trash?
Herausgeber: Verein WE ARE, Bern Redaktion: Lukas Vogelsang (vl); Anna Vershinova // Heinrich Aerni, Peter J. Betts (pjb), Luca D’Alessandro (ld), Morgane A. Ghilardi, Isabelle Haklar, Till Hillbrecht, Guy Huracek (gh), Florian Imbach, Nina Knecht, Ruth Kofmel (rk), Michael Lack, Irina Mahlstein, Pascal Mülchi, Fabienne Nägeli, Konrad Pauli, Eva Pfirter (ep), Alexandra Portmann, Jarom Radzik, Barbara Roelli, Anna Roos, Karl Schüpbach, Luca Scigliano, Christoph Simon, Kristina Soldati (kso), Sarah Elena Schwerzmann, Willy Vogelsang, Ralf Wetzel, Simone Wahli (sw), Simone Weber, Sonja Wenger (sjw), Gabriela Wild (gw), Ueli Zingg (uz). Cartoon: Bruno Fauser, Bern; Kulturagenda: kulturagenda.ch; ensuite - kulturmagazin, allevents, Biel; Abteilung für Kulturelles Biel, Abteilung für Kulturelles Thun, Werbe & Verlags AG, Zürich. Korrektorat: Kerstin Krowas Abonnemente: 77 Franken für ein Jahr / 11 Ausgaben, inkl. artensuite (Kunstmagazin) Abodienst: 031 318 6050 / abo@ensuite.ch ensuite – kulturmagazin erscheint monatlich. Auflage: 10 000 Bern, 20 000 Zürich Anzeigenverkauf: inserate@ensuite.ch Layout: Lukas Vogelsang Produktion & Druckvorstufe: ensuite, Bern Druck: Fischer AG für Data und Print Vertrieb: Abonnemente, Auflage in Bern und Zürich - ensuite 031 318 60 50; Web: interwerk gmbh Hinweise für redaktionelle Themen erwünscht bis zum 11. des Vormonates. Über die Publikation entscheidet die Redaktion. Bildmaterial digital oder im Original senden. Wir senden kein Material zurück. Es besteht keine Publikationspflicht. Agendahinweise bis spätestens am 18. des Vormonates über unsere Webseiten eingeben. Redaktionsschluss der Ausgabe ist jeweils am 18. des Vormonates (www.kulturagenda.ch). Die Redaktion ensuite - kulturmagazin ist politisch, wirtschaftlich und ethisch unabhängig und selbständig. Die Texte repräsentieren die Meinungen der AutorInnen, nicht jene der Redaktion. Copyrights für alle Informationen und Bilder liegen beim Verein WE ARE in Bern und der edition ensuite. «ensuite» ist ein eingetragener Markenname. Redaktionsadresse: ensuite – kulturmagazin Sandrainstrasse 3; CH-3007 Bern Telefon 031 318 60 50 Fax 031 318 60 51 E-Mail: redaktion@ensuite.ch Web: www.ensuite.ch