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Inkl. Kunstbeilage artensuite Schweiz sFr. 7.90, Deutschland, Österreich, Frankreich, Italien € 6.50

ensuite NR.

90/91 JUNI/JULI 2010GANG

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Infos: www.dampfzentrale.ch

Ensemble Paul Klee

«La tragédie de Carmen»

Vorverkauf: www.starticket.ch

Tanz / Performance

CIE NICOLE SEILER PLAYBACK

Sa 19.6.2010, 18 Uhr So 20.6.2010, 17 Uhr * Auditorium Martha Müller, Zentrum Paul Klee Vorverkauf: www.kulturticket.ch Tel. 0900 585 887 (CHF 1.20 / Min.) *(Zum 5-jährigen Jubiläum des ZPK) Die Ausstellungen sind am 19.6. bis 18 Uhr geöffnet. www.zpk.org

Claude Eichenberger, Foto: Marco Zanoni

Uwe Schönbeck Sprecher; Regula Mühlemann Sopran; Claude Eichenberger Mezzosopran; Marius Vlad Budoiu Tenor; Levente György Bass; Erweitertes Ensemble Paul Klee; Kaspar Zehnder Leitung

Sa, 26. & So, 27. Juni 19:00 Uhr Dampfzentrale Bern


Inhalt

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22

8 27

30

PERMANENT 6 SENIOREN 12 KULTUR

IM

DER

WEB POLITIK

13 M ENSCHEN & MEDIEN 19 F ILOSOFENECKE 15 LITERATUR-TIPPS 32 I NSOMNIA

5

KULTURESSAYS

5

Stille Musik

6

Du oder ich

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Blick ins Sandwich

Von Lukas Vogelsang Von Jarom Radzik Von Barbara Roelli

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Gekommen um zu bleiben Von Simone Weber

36 Neues Altes Von Pascal Mülchi

34 T RATSCHUNDLABER

14 LITERATUR

38 I MPRESSUM

14 Seit jeher unterwegs

39 KULTURAGENDA ZÜRICH

14 Lesezeit

Von Konrad Pauli Von Gabriela Wild

17 T ANZ & THEATER 17 Steps# 12 Von Kristina Soldati

21 Belluard Bollwerk International Von Gabriela Wild

26 Elektro-Swing-König erneut in Bern Von Luca D‘Alessandro

27 Bonzzaj Recordings Von Ruth Kofmel

28 listening post Von Lukas Vogelsang

28 Aufstieg in die Königsklasse Von Luca D‘Alessandro

29 Laibach: Die Kunst der Fuge Von Heinrich Aerni

30 Claude Eichenberger im Gespräch Interview Karl Schüpbach

32 KINO & FILM 32 Die scheinbare Lust am Voyeurismus Von Guy Huracek

33 Utopia lebt Von Florian Imbach

34 The private lives of Pippa Lee & The Young Victoria 35 Kick Ass - Eine postmoderne Perle in der Flut der Multimedien Von Morgane A. Ghilardi

22 Das Original ist optimal Von Alexandra Portmann

24 M USIC & SOUNDS 24 Where The Lion Sleeps Tonight Von Hannes Liechti

Das Tagesprogramm auf einen Blick

NEU: kulturagenda.ch

Bild Titelseite: Suzanne Vega spielt am 2. Juli im Salzhaus Winthertur / Bild: zVg.

ensuite - kulturmagazin Nr. 90/91 | Juni/Juli 2010

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Fest zum Jubiläum Samstag, 10. Juli 2010, 13 –1 Uhr Erleben Sie musikalische und künstlerische Performances, spannende Talk-Runden, kulinarische Highlights aus der KKL cuisine und viele weitere Attraktionen. KKL Luzern Europaplatz 1, CH-6005 Luzern fon +41 41 226 70 70, www.kkl-luzern.ch

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Kulturessays 8. JAHRGANG BERN UND ZÜRICH

ensuite

E DITORIAL

Stille Musik

K U L T U R M A G A Z I N

Von Lukas Vogelsang

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Kultur muss man verstehen wollen und geniessen lernen.

ensuite.ch

n der Kulturförderung redet man hauptsächlich vom Geld, welches «in die Kultur» gesteckt wird. Wir reden über Subventionen und darüber, welche «rentabel» sind und wo das investierte Steuergeld zu wenig fliesst. Wir reden darüber, wo wir noch mehr Geld brauchen. In der Wirtschaftswelt würde dies unter dem Thema «Wirtschaftsförderung» diskutiert. Und Kultur möchte ja, wie die Wirtschaft auch, Steuererleichterungen, Sozialversicherungen und Ferientage berechnen. So begründen heute Kulturschaffende selber die Wichtigkeit der Kultur: Sie schaffe Arbeitplätze. Ein Unterschied, mal abgesehen von der inhaltlichen Diskussion, besteht also nicht wirklich zwischen den beiden Gebieten. Aber lassen wir das mal so stehen und bleiben wir noch beim Geld. Kulturförderung dreht und windet sich ja nur um Geld. Es gibt keine moralische oder inhaltliche Kulturförderung. Und sie nennt sich selber ja Kulturförderung und nicht Kunstförderung. Ich habe aber noch nie von einer Instanz gehört, die kulturellen Inhalt begleitet oder ausarbeiten hilft. Es gibt unterdessen Kulturmanager-Ausbildungen – aber deren AbsolventInnen sind eher für die Kommunikation, Planung, Produktion und für das Geld zuständig. In der Kunst haben wir wenigstens Hochschulen und Universitäten, die eine Basis schaffen helfen – aber ausserhalb dieser Institutionen ist dann auch mal Schluss. Zudem: Ein «kulturelles» Coaching ist nicht das Gleiche wie eine künstlerische Begleitung – auch die Kulturbüros, wie sie die MIGROS betreibt, helfen da nicht weiter. Wir definieren nicht jedes Musik-CD-Projekt als ein Kunstobjekt. Viele Arbeiten sind mehr im sozialen Zusammenleben zu definieren, also in der kulturellen Funktion. Ein Theaterfestival vermittelt sicher einen künstlerischen Wert und wird eine entsprechende Leitung vorweisen, aber wer überwacht die kulturelle Funktion? Die meisten Veranstalter fallen übrigens in die Kategorie Kultur und nicht in die Kunst. Doch auch hier reden wir selten über Funktion. Und die einzigen Institutionen, welche Kultur in der Funktion bewerten, sind also die öffentlichen oder privaten Kulturförderungsinstitutionen. Das sind aber oft reine Verwaltungsstellen, welche Budgets «verteidigen» müssen. Sie diskutieren nicht über kulturellen Inhalt und schieben diese Diskussion gar in die Politik.

ensuite - kulturmagazin Nr. 90/91 | Juni/Juli 2010

Für Kunstfragen werden dann im besten Fall Kommissionen eingesetzt und wir machen ein Kreuz an die Decke, wenn diese Kommissionen mit den «KulturförderInnen» die gleichen Gespräche auch noch einmal führen. Der Nachteil dieser Prozeduren liegt auch auf der Hand: Nur wer ein Projekt eingegeben und sich gut sichtbar gemacht hat, erhält eine Chance. Wer dazu nicht fähig ist, aber kulturell oder künstlerisch was Grosses bieten könnte, bleibt unsichtbar. Eben: Kultur und Kunst sind keine messbaren Werte – umso schwieriger die Wertung, Abgrenzung und eine faire Behandlung von Gesuchen – und «Nicht-Gesuchen». Schlussendlich können wir anhand der meist einigermassen öffentlich zugänglichen Förderlisten nachvollziehen, welche Kultur in welcher Region als solche anerkannt wird. Die Pop-Gruppe «So und So» hat also 2 000 Franken für die erste CD-Produktion, das Theaterensemble «XYZ» 10 000 für das Theaterstück, dieser schreckliche Film hat doppelt so viel wie der gute DOK-Film hier erhalten. Diese Listen sind dann eine Art Spiegel des kulturellen und künstlerischen Verständnisses – und jenes der zustimmenden PolitikerInnen –, repräsentativ für eine ganze Gesellschaft. Dafür wäre eigentlich auch ein Kulturkonzept brauchbar – allerdings sind diese Papiere oftmals sehr frei interpretierbar und zeigen nur Stossrichtungen auf – oder ein Budget. Mich würde jetzt interessieren, was in diesen Förderungsprozessen durch die Maschen fällt, wer oder was es in dieser pragmatischen Budgetwelt nicht schafft, sich einzunisten. Aus der bildenden Kunstszene wissen wir, dass die grossen Namen oftmals erst nach einem armseligen und erbärmlichen Leben zu Ruhm und Ehre gekommen sind – sprich, die Nachwelt sich am Leid eines Künstlers bereichert hat. Was verliert also eine Stadt, eine Region oder gar die Welt durch Absagen von Gesuchen? Was geschieht mit den Ideen, Projekten, wenn sie abgelehnt werden? Interessant wäre dann auch zu wissen, mit welchen Begründungen diese Absagen erfolgt sind und wer, oder welche Instanz, entschieden hat. Senden Sie mir also Ihre abgelehnten Gesuche zu, liebe LeserInnen. Wir würden uns freuen, mehr darüber zu erfahren. Ich vermute, dass, wie in der Musik, in der Stille ganz viel Musik schlummert.

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Kulturessays

SENIOREN IM WEB Von Willy Vogelsang, Senior

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ie viele Teile hat Ihr grösstes Puzzle, das Sie je zusammengesetzt haben? Meines hat 1 500. Es ist zwar schon eine lange Zeit her, als ich versuchte, es in tagelanger Sucharbeit zu einem Bild werden zu lassen. Aber ich erinnere mich noch an den Trick, mit den eindeutig erkennbaren Eck- und Randstücken zu beginnen und so den Rahmen abzustecken. Seit Ende März die Internetplattform für die Generation 50+, seniorweb.ch, das neue System und Layout aufgeschaltet hat, verfolge ich die Reaktionen der Benutzer, den alten wie den neuen. Es krabbelt wie in einem gestörten Ameisenhaufen, habe ich vor einem Monat geschrieben. Das Krabbeln hält noch an. Es scheint mir, als ob etliche Besucher der Seite wie vor einem Haufen Puzzleteile sitzen und nicht recht wissen, wo sie denn anfangen sollen, sich ein Bild zu machen. Das ist berechtigt. Internetseiten sind meist kompliziert und nicht immer so übersichtlich wie eine Zeitung. Warum? Weil man nicht alles sieht; weil die grafische Darstellung verwirrt; weil einzelne Funktionen nicht deutsch und deutlich genug bezeichnet sind; weil das Inhaltsverzeichnis (Kategorien, Bereiche) zu vielseitig und zu fein strukturiert ist. Klar, ich kann überall mit dem Mauszeiger draufklicken und mich informieren, was dahinter steckt. Oft stehen ja die neusten und wichtigsten Nachrichten und Artikel auf der Startseite. Aber dann bin ich schon mitten drin auf dem Weg, mich zu verlieren. Es gäbe ja auch den Hilfeknopf, Anleitungen für Neueinsteiger, sog. FAQs, immer wiederkehrende Fragen. Sie sind meist ganz oben auf der ersten Seite, also so quasi Eck- oder Randteile des Puzzles. Sie helfen mit, sich zurecht zu finden. Im neuen Seniorweb.ch gibt es dazu die Einrichtung «Mein Seniorweb». Finden Sie eine interessante Seite, ein für Sie wichtiges Forenthema, einen Artikel oder einen Blogbeitrag, den Sie sich merken und verfolgen wollen, können Sie diese Seite favorisieren. Unter «Mein Seniorweb» finden Sie den Pfad sofort wieder. Es bedingt jedoch, dass Sie sich mit einem Benutzernamen (kostenlos) registrieren und damit einloggen. «Mein Seniorweb» will einen Namen, damit es Ihre persönlichen Interessen und Präferenzen speichern kann. Mit der Zeit werden Sie sich so Ihr eigenes Bild gestalten – mit mehr oder weniger Puzzleteilen! Puzzeln Sie mit: www.seniorweb.ch informiert · unterhält · vernetzt

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Du oder ich Warum Kunst ein Gegenüber braucht. Von Jarom Radzik Bild: zVg.

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unst kann nicht mehr konstruiert, sondern nur noch gelebt werden. Es gibt heute keine Legitimation in der Kunst, neben den neuen Technologien, wie Computer und Internet, noch Raum und Zeit zu konstruieren. In der Sekundenschnelle, in der man sich heute in eine virtuelle Welt begeben kann, kann ein Künstler nicht einmal eine Leinwand bespannen. Kunst hat keine Legitimation mehr, Vorstellungen in einem konstruierten Raum- und Zeitverhältnis zu schaffen. Kunst muss heute Raum und Zeit verkörpern. Kunst ist also dann legitim, wenn sie nicht etwas Äusseres schafft, sondern Inneres abzubilden vermag. Dann wird die Kunst unmittelbar und gegenwärtig. Nur so kann dem Menschen der heutigen Zeit ein Medium geschaffen werden, das den Anforderungen an ein zeitgemässes Leben entspricht. Nebst all den künstlichen Welten, in denen der Mensch lebt, sucht er wieder das Unmittelbare, das Menschliche. Er sehnt sich nach Menschlichkeit. Der Künstler gewinnt in seinem Handeln also eine neue Bedeutung. Damit ist nicht gemeint, dass er als überzeichnete Karikatur in der Unterhaltungsspalte der Zeitungen mit seinem Lebenswandel in den Vordergrund tritt. Nein! Der Künstler begibt sich als lebender Schaffer mitten ins Werk. Er lebt seine Kunst. Wesentlich ist dabei die Kraft, mit der sich der Künstler mit seinem Handeln in der Kunst verbindet. Es geht um den Menschen im Künstler! Die Bedeutung, was das Menschsein denn wirklich ist, wird dabei manchmal ausser Acht gelassen. Mensch sein bedeutet nämlich Entwicklung. Leben bedeutet Entwicklung. Fehlt die Entwicklung, verliert ein Mensch über kurz oder lang die eigene Identität. Bringt eine Person Anteile ihrer selbst nicht mehr in eine Geschichte, verliert sie sich, spaltet Teile von sich ab – Schizophrenie. Genau dies geschieht in der Kunst. Gegenwartskunst wird heute als ein

Hüpfen von Idee zu Idee gelebt, ungebändigt und unkontrolliert. Dabei kann keine Kunstentwicklung mehr stattfinden. Denn Entwicklung ist am Ende immer nur ein Schritt von der Vergangenheit in die Gegenwart oder von der Gegenwart in die Zukunft. Immer aber nur ein Schritt. Die Kunstwelt leidet also kurz gesagt an Schizophrenie. Denn da sie keine Lebensgeschichte, Entwicklung ihrer selbst, mehr erzählen kann, hat sie ihre Identität verloren. Sie gibt sich auf und am Ende verlässt die Kunstwelt gezwungenermassen ihre eigene Disziplin. Warum Entwicklung nicht mehr von Interesse ist, sondern ein Hüpfen von «Neuheit» zu «Neuheit» angestrebt wird, liegt daran, dass die Kunstwelt glaubt, dass sie keine Künstler braucht – also keine Personen, die sich als Menschen mit ihrem inneren Konstrukt in der Bearbeitung von Materie ausdrücken. Die Handlung wird unterschätzt, ja gering geschätzt. Beschneidet sich Kunst ihrer Handlungen, so hat dies eine Auswirkung auf die Idee. Denn Idee und Tat stehen stets in einem Wechselspiel. Wird die Handlung gering geschätzt, so wird ganz am Ende auch die Idee gering geschätzt, denn wenn diese beiden Komponenten Idee und Tat Antagonisten der Kunst sind, so ist dies eine logische Schlussfolgerung. Am Ende dieses Wirkens steht die Auflösung. Denn die Spannkraft wurde selbst aufgelöst. Das sieht man darin, dass nicht wenige Werke heutiger Künstler weder tiefsinnig noch philosophisch sind. Auch wenn die Kunstwelt immer noch mit sogenannten «Neuheiten» beschäftigt ist, so hat der Puls der Kunst bereits geschlagen und eine neue Ära eingeläutet. Ungeachtet des vorherrschenden Diktats der Idee entstehen Kunstwerke als Ergebnis des Wechselspiels zwischen Idee und Tat. Erneut erinnern sich Kunstschaffende an die Geschichte der Kunst. Denn Kunst muss nicht neu sein, sondern lebendig. Das ist aber nur im Wechselspiel zwischen Idee und


Kulturessays Tat möglich. Daher ist lebendige Kunst stets die Manifestation des Wechselspiels und jedes Kunstwerk, das in diesem Geiste entsteht, treibt die Entwicklung der Kunst voran. Kunst ist Geschichte. Und sie ist mehr als der Spiegel der Menschheitsgeschichte, oft geht sie ihr sogar etwas voraus. Deswegen braucht sie auch die Nähe zu den Menschen, beobachtet sie und ist sich ihrer eigenen Rolle bewusst. Ohne dieses Bewusstsein kann sie ihre Aufgabe nicht erfüllen. Hingegen wird sie zur Verführerin. Sie folgt den Menschen in ihre Abgründe und zelebriert sie. Ein Problem, ist doch die Kunst ein machtvolles Instrument, dem Menschen zu zeigen, was er sein könnte. Zeigt sie statt dem Soll das Gegenteil, erschüttert sie die Menschen, ohne ihnen die Möglichkeit zur Besserung zu geben – trostlos und traurig. Das bedingt allerdings auch, dass Kunstschaffende und Gesellschaft in stetigem Diskurs stehen. Diskurs? Gegenwärtig wohl eher ein Wunschdenken. Ratlosigkeit wäre der bessere Ausdruck. Es braucht den Diskurs. Reicht es also nicht, dass sich Kunstschaffende selbst suchen? Nun, natürlich braucht es diese Suche. Doch ziehen sich diese Kreise nur um das Eigene, ergeht es dem Suchenden wie Narziss, der stirbt, weil er letztlich erkennen muss, dass er sich selbst gefunden hat, obwohl er eigentlich ein Gegenüber gebraucht hätte. Narziss stirbt ob der Erkenntnis, dass er im Spiegelbild sich selbst gefunden hat und eigentlich nur sich selbst liebt. So geht es auch der Gegenwartskunst. Betrachtet sie noch länger ihr eigenes Spiegelbild, verhungert sie an ihrer eigenen Überheblichkeit. Leben liegt im Gegenüber. Darum ist es so enorm wichtig, dass sich die Kunst mit ihrem Gegenüber, dem Menschen, auseinandersetzt. Und zwar nicht als reiner Beobachter oder gar Kritiker, sondern als echter Dialogpartner. Sehen wir doch einmal an, was ein Dialog bringt: Will sich ein Mensch mit einem anderen verstehen, so muss er sich dem anderen verständlich machen. Es wird eine gemeinsame Sprache gesucht, die der Gesprächspartner versteht. Wie kann man sonst von einem Dialog sprechen? Wir wollen kein Babel, in dem alle miteinander reden, ohne auch nur ein Wort voneinander zu verstehen. Das grosse Vorhaben, einen Turm bis in den Himmel zu bauen, musste laut der Legende aufgegeben werden, weil man sich nicht mehr verstand. Ohne Verständigung ist also kein Aufbau möglich, vielmehr herrschen Chaos und Verwirrung vor. Bemerkenswerterweise war der Zustand der Sprachverwirrung nicht von Dauer, sondern nur ein Übergang. Die Legende beschreibt nämlich, dass diejenigen, welche die gleiche Sprache redeten, sich zu Gruppen zusammenfanden und die anderen verliessen. Wer den anderen nicht versteht, hat auch keinen Nutzen vom Zusammensein. Im Gegenteil bringt es vor allem Missverständnisse mit sich. Kann ein Künstler deshalb kein Individualist

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mehr sein? Nein, aber man darf nicht meinen, dass, wenn sich eine Person nicht um eine gemeinsame Ebene oder Sprache bemüht, er Individualist sei. Wenn jemand sich in Schweigen und Missverständnissen übt, ist er vielmehr ein Einsiedler. Wer nicht verstanden werden will, ist am Ende alleine. Da die Kunst dem Menschen etwas zu sagen hat, muss sie eine Sprache sprechen, die die Menschen verstehen. Die Kunst muss also dem Menschen begegnen, ohne den eigenen Charakter aufzugeben. Sie muss einladen, ohne zu vergewaltigen oder zu ignorieren. Die Kunst muss anstossen, ohne nur abzustossen. Individualität, Freiheit und Unabhängigkeit sind kein Vorwand. Im Gegenteil: Kunst kann nur dann frei sein, wenn sie aus ihrer lähmenden Angst heraustritt und dem Menschen wieder begegnet und ihn mutig in einen Dialog verwickelt. Martin Buber sagte einmal, das Ich entsteht am Du. Und so ist es auch mit der Kunst. Am anderen wird die Kunst sich selbst. Der Künstler der Gegenwart muss deshalb bereit sein, sein Inneres im Kunstwerk nach aussen zu kehren und gleichzeitig den Dialog in sich hineintragen. Welche Erfüllung und gegenseitige Befruchtung! Der Stoff, aus dem Geschichte gemacht wird, der Boden starker Identitäten. Warum sollte sich die Kunst dem verschliessen? Warum sollte sie sich diese Chance entgehen lassen? Kein noch so intelligenter Computer und keine noch so gute Grafik können diese Fähigkeit der Kunst streitig machen. Denn in der Visualisierung des inneren Dialogs liegt ihre Einzigartigkeit. Entsteht die Lebendigkeit aus der inneren Haltung, aus dem inneren Dialog mit dem Gegenüber, so findet diese Begegnung auch in der Auseinandersetzung mit der Materie, in der Tat, ihre Entsprechung. Die Geste, sie hat nicht ausgedient, sie ist das ureigenste Gegenüber zur Idee. Wo sonst hätte der Mensch seiner Phantasie so konkret Ausdruck verleihen können? Und diese Formung ist eine gegenseitige. So wie der Künstler die Materie formt, wird auch er durch sie geformt. Und so wie sie ihm begegnet, schafft er durch seine Leidenschaft auch immer wieder Begegnungen. Wer könnte also behaupten, dass Kunst keine Tat mehr braucht? Idee ohne Tat ist wie das Gespräch ohne ein Gegenüber. Ein Monolog, der in der Luft verhallt, flüchtig, formlos und leer. Wir sind dankbar für alle Künstler, die ihr Leben dem Dialog mit der Materie und mit dem Menschen verschreiben. Sie haben im Verlaufe der Menschheit Werke geschaffen, die ständig mit den Menschen im Dialog stehen, selbst wenn ihre Erschaffer schon längst wieder zum Staub zurückgekehrt sind. Sie sind es, welche die Menschen inspirieren, den Dialog zur Kunst und untereinander aufrecht zu erhalten. Sie sind Zeugen davon, wie lohnend es ist, ein Gegenüber zu pflegen und sich mit ihm einzulassen.

KULTURINFO JAM - SAISON ABSCHLUSS PARTY

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er JazzBaragge Wednesday Jam ist der Zürcher Treffpunkt für die aktive KulturMusikszene. Jeden Mittwoch abend verwandelt sich der Musik Club Mehrspur im Herzen von Zürich zum «JazzBaragge Wednesday Jam» in eine Jazz Jam–Session für den praxisorientierten Meinungsaustausch zwischen lokalen, nationalen und internationalen MusikerInnen, MusikstudentInnen und Musik Interessierten. International wird der JazzBaragge Wednesday Jam im Herzen Zürichs durch DBC – Digital Broad Casting in die ganze Welt transportiert, was in der heutigen Zeit einzigartig ist. Zuschauer aus Paris, die den Jam live mit verfolgten mühten keine Scheu und nahmen den Weg auf sich von Paris nach Zürich zu reisen um die Einzigartigkeit des JazzBaragge Wednesday Jam live zu erleben! Ein grosses Stück Kultur, die auch Zürich in die ganze Welt streut. «JazzBaragge Wednesday Jam» - verspricht tolle Musik, gute Drinks und Lounge Atmosphäre mitten im Herzen Zürich. Wer nicht dort ist, verpasst was. Der Verein JazzBaragge hat das Ziel, die regelmässige Durchführung dieses öffentlichen Jams mit allen Mitteln zu fördern und aufrecht zu erhalten. JazzBaragge Wednesday Jam: jeden Mittwoch im «mehrspur club» an der Waldmannstrasse 12, Zürich. Bar ab 20:30 Uh bis 2 Uhr, 1. Set ab 21 Uhr, Jamsession ab 22 Uhr, freier Eintritt. Programm 2. Juni JazzBaragge Allstars 20:30 Uhr - Reggie’s Doo - Reggie Saunders & Band 22:00 Uhr - anschliessend JazzBaragge Wednesday Jam ca. 24 Uhr Danach: Sommerpause vom 3.6. – 14.9.10

ensuite dankt für die finanzielle Unterstützung:

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Kulturessays

E SSEN

UND TRINKEN

Blick ins Sandwich Von Barbara Roelli Was isch es Sandwich ohni Fleisch? – s’isch nüt als Brot. Was isch es Sandwich ohni Brot? – s’isch nüt als Fleisch.

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o beginnt Mani Matters Lied «Betrachtige über es Sandwich». Diese scheinbar einfache Erkenntnis verarbeitet der Berner Chansonnier in seinem Lied; dreht und wendet sie, bis das Sandwich vielschichtig ist – denkt man an alles, was es zu beachten gilt, dass ein Sandwich auch wirklich eines ist: Und zwar isch’s wichtig, dass du Folgendes ou weisch S’gnüegt nid dass du’s Brot eifach underleisch em Fleisch. S’brucht eis Brot undefür, versteisch Und eis wo d’obe drüber leisch Nume we d’so dra häre geisch Überchunnsch es Sandwich (eis mit Fleisch). S’problem vom Anke chäm das stimmt de no derzue. S’geit drum ne ja nid uf di lätzi Site z’tue.

Mani Matter betrachtet das Sandwich und seine Teile, die einer bestimmten Ordnung unterliegen und macht es so zum wissenschaftlichen Objekt. Was nun folgt ist ein Blick auf das – oder vielmehr in das – Sandwich aus kulinarischer Sicht: Das Sandwich ist ein schneller, unkomplizierter Imbiss, der weder nach Messer noch nach Gabel verlangt. Das Sandwich soll vor allem eines: Den Hunger stillen, auch wenn man fürs Essen kaum Zeit hat. Dies scheint auch die Idee des Erfinders gewesen zu sein;

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Bild: Barbara Roelli

glaubt man der Legende über John Montagu, den vierten Earl of Sandwich. Dieser war ein britischer Staatsmann und sei angeblich ein passionierter Kartenspieler gewesen. 1762 soll er den handlichen Imbiss erfunden haben, um bei einem stundenlangen Spiel den Tisch nicht verlassen zu müssen. Er habe sich das Essen in zwei Brotscheiben legen lassen. Laut Wikipedia gibt es noch eine andere Version: John Montagu soll das Sandwich erfunden haben, um seine Schreibtischarbeit nicht unterbrechen zu müssen. Und: Das ursprüngliche Sandwich habe aus einer Scheibe Rindfleisch zwischen zwei Scheiben Toastbrot bestanden. Brot – Fleisch – Brot. Das System des Sandwichs gleicht einem Baukasten: Ob Fleischtiger, Käseliebhaber, Eierfan, Antipasti-Freak oder Gemüsevergötterer – ein Sandwich bietet die Plattform zur kulinarischen Selbstverwirklichung, denn alles ist mit allem kombinierbar; Käse mit Konfitüre, Speck mit Scampi und Erdbeeren mit Entenbrust. In die Füllung kommt, was der Zunge gefällt, der Nase passt und das Auge erfreut – obwohl: Nicht immer freut, was unter dem Deckel eingeklemmt liegt. Denkt man etwa an die Scheiben vom Stangenei; mit dem blassgelben Eigelb und der schwammartigen Konsistenz... Das in der Industrie hergestellte Stangenei hat den Vorteil, dass die Scheiben immer gleich viel Eigelb und Eiweiss enthalten. Die natürliche Form des Eis, bei der es eben auch Endstücke ohne Dotter gibt, fällt weg: Das Ei gibt’s am Meter – leider bleibt dabei der Geschmack auf der Strecke... Aber zurück zum Sandwich: Zu Beginn stellt sich erst einmal die Frage nach dem Brot und dessen Form: Bevorzugt man ein rundliches

Brötchen, was sich bei einem Hamburger oder runden Lyonerscheiben als Füllung fast aufzwängt? Oder eignet sich ein Baguette besser, um die gewünschten Zutaten der Länge nach zu verteilen? Wie füllt man eigentlich eine Brezel geschickt, mit all ihren teiglosen Zwischenräumen? Dazu kommt die Entscheidung, ob man Laugen- oder Ruchbrot für sein Sandwich möchte oder lieber das mit zehn verschiedenen Körnern... Ballaststoffe kontra Weissbrot? Ist die Frage ums richtige Brot einmal vom Tisch, geht’s darum, was darauf gestrichen wird: Die klassische Butter? Mayonnaise à la française, mediterranes Pesto oder den mexikanischen Avocado-Dip Guacamole? Mit der Wahl des Brotaufstrichs gilt bereits zu bedenken, was denn die eigentliche Füllung des Sandwiches ist: Kommt Käse, Fisch oder Fleisch ins Brot? Welches Gemüse harmoniert dazu? Kommt dieses roh oder gekocht ins Sandwich? Oder ist es in Öl eingelegtes Gemüse, das eine neue Geschmackskomponente mitbringt? Würden bestimmte Kräuter die Füllung geschmacklich abrunden? All diese Fragen zeigen, dass ein Sandwich doch etwas Komplexes ist. Dass die verschiedenen Bausteine nicht nur formal zusammenpassen, sondern auch geschmacklich harmonieren sollen... Und Mani Matter singt zum Schluss in seinem Lied: Und füllsch di Buch und wirsch nid gwahr, Was im ne Sandwich uf dim Tisch Für Dialektik drinnen isch.


Kulturessays

ÉPIS FINES

K LEIDER

Von Michael Lack

MACHEN

L EUTE

Gekommen, um zu bleiben Von Simone Weber

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ROSMARIN-HONIG PANNA COTTA Das vorsommerliche Dessert! Zutaten 500 gr 3 Bl/ 9 gr 25 gr 25 gr 10 gr

Rahm Gelatine Zucker Honig Rosmarin

Vorbereitung Rahm, Zucker und Honig zusammen mischen. Gelatine im Kalten Wasser einweichen. Rosmarin zerhacken. Zubereitung Rahm, Zucker und Honig zum Kochen bringen und den zerhackten Rosmarin dazu geben. Die aufgeweichte Gelatine ohne Wasser zu der Rahmmasse geben und nicht mehr kochen. In eine Form giessen und für circa zwei Stunden kalt stellen. Servieren oder aus der Form stürzen. Tipp: Passt hervorragend zu marinierten Erdbeeren.

ls Provokation und allgemeine Respektlosigkeit wurde er verschrien. Doch dem Minirock war das egal. Er wollte getragen werden und die rebellischen 60er-Jahre boten ihm dazu die ideale Bühne. Nachdem er 1962 in der britischen «Vogue» abgebildet wurde, ging es keine drei Jahre, bis das skandalöse Kleidungsstück auf der ganzen Welt getragen wurde. Dieses Fetzchen Stoff passte wunderbar zum neuen Selbstbewusstsein der sich von Zwängen befreit fühlenden Frauen der wilden 60er-Jahre. Der Rock endete mindestens 10 Zentimeter über dem nackten Knie und passte damit zur sexuellen Revolution wie das Tüpfchen aufs i. Er wurde in allen Gesellschaftsschichten getragen, von jung bis alt, in der High Society, von Teenies, Filmstars und Hausfrauen – sogar das britische Königshaus akzeptierte eine Kürze von bis zu sieben Zentimetern über dem Knie. Im Buckingham Palast wurde der englischen Erfinderin des Minirocks, Mary Quant, sogar der «Order of British Empire» für ihre revolutionäre Kreation verliehen. Schon Mitte der Fünfziger eröffnete sie in London einen Laden mit eigens kreierten Kleidern. Die Mode jener Zeit empfand sie als «beschränkt und hässlich» und ungeeignet, um einem Bus hinterherzurennen. Warum brachten es Marys Röcke in kürzester Zeit zu solch grosser Beliebtheit? Es war seine starke Symbolkraft. Als gewisse Kreise beim Anblick eines Minirocks noch beschämt nach Luft schnappten, wurde er zu einem Statement. Er sagte in etwa: «He, ich bin kein obszöner Lumpen, ich bin die luftige Freiheit, die eure Beine umgibt.» Und damit stand er für die sexuelle und gesellschaftliche Freiheit in den Köpfen der jungen Generation. Noch heute macht er aus seiner Trägerin eine unabhängige und selbstbewusste Frau. Die ganze Welt war also vom Minirock verzaubert. Nur der Vatikan nicht. Er sprach ein Verbot gegen das knappe Röckchen aus. Was hätten Sie auch erwartet! Die sexuelle Energie des knappen Stöffchens war in diesem Zusammenhang wohl eine Bedrohung, das Werk des Teufels quasi. Aber wen kümmert der Vatikan? Brigitte Bardot jedenfalls nicht. Mit ihrem kurzen Minirock verdrehte sie den Männern den Kopf. Und sie war nicht die einzige… Die Filmstars dieser Zeit transportierten den neuen Look direkt in das reale Leben. Als die Frauen ihre Beine nun nicht mehr hinter meterlangen Stoffbahnen versteckten, fielen die Herren beim Anblick der straffen nackten

ensuite - kulturmagazin Nr. 90/91 | Juni/Juli 2010

Schenkel plötzlich reihenweise in Ohnmacht. Sich seiner plötzlichen Macht freudig bewusst, ging das weibliche Geschlecht auf direktem Weg zum Mini-Mini über. Oder Mikro-Mini? Die Saumhöhe rutschte jedenfalls noch weiter nach oben, das Höschen wurde so – ob es wollte oder nicht - zum öffentlichen Bestandteil der Mode. So schnell war es vorbei mit Perlenkette und Bleistiftrock. Schon bald gab’s Mini- und Mikro-Röcke in allen Materialien und Farben, edel, lässig, aber auch billig. Und getragen wurden sie zu jeder Tageszeit und bei jeder Gelegenheit. Im Theater, zum Shoppen, zu Hause und im Büro, gerne auch mit Overknees. Dank der grandiosen Idee, Strumpfhosen anstelle von Nylonstrümpfen zu tragen, konnte Frau ihre Beine auch an kalten Wintertagen ins richtige Licht rücken. Noch heute schafft es der Minirock wie kein anderes Kleidungsstück, die Aufmerksamkeit seiner Umwelt zu erhaschen. Und je wärmer die Tage, desto kürzer die Säume. Der Minirock steht nach wie vor für Freiheit und Jugendlichkeit und besticht durch seinen erotischen Reiz. Nicht unter jeden Umständen jedoch! Auf keinen Fall sollte er mit einem knappen, weit ausgeschnittenen oder transparenten Oberteil kombiniert werden. Dieser Look gehört in die Langstrasse und dort soll er auch bleiben! Ausserdem ist der Minirock nichts für unrasierte Beine und im Büro hat er schon lange nichts mehr verloren. Etwas nervig ist übrigens das Velofahren mit so einem kurzen Teil. Auf- und Absteigen sind fast unmöglich, etwas weniger enge Minis aber auch total ungeeignet, weil solche Kleidchen den Launen des Windes hoffnungslos ausgesetzt sind. Lassen wir das Fahrrad also besser zu Hause. Auto ist auch nicht viel besser. Hier gibt’s zwar keine Windprobleme, aber Ein- und Aussteigen ist auch nicht ganz einfach. Frau Hilton steht zwar besonders drauf, ständig mit einem Mini aus irgendeinem besonders tief liegenden Auto rauszukrebsen – ohne Höschen versteht sich –, aber eine Frau mit einem Funken Intelligenz im Hirn verzichtet auf solche peinlichen Aktionen. Ein Minirock will mit Würde getragen werden. So schwierig kann das nicht sein, schliesslich ist er so vielfältig kombinierbar und lässt sich in jedes Outfit integrieren. Das weiss auch die Modeindustrie. In kaum einer Kollektion fehlt er, egal zu welcher Jahreszeit. Gerade erst hat er seinen 50. Geburtstag gefeiert. Und der Minirock wird noch lange weiterfeiern können, er ist gekommen, um zu bleiben.

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ALBERT ANKER Schöne Welt

Adam Avikainen, CSI:DNR, 2009, Fotodruck, Courtesy the Artist

07. 05. – 05. 09. 2010

Zum 100. Todestag HODLERSTRASSE 8 – 12 CH-3000 BERN 7 WWW.KUNSTMUSEUMBERN.CH DI/DO 10H – 21H MI/FR-SO 10H – 17H

Animism 15.5. – 18.7.2010

Kunsthalle Bern Helvetiaplatz 1 CH-3005 Bern www.kunsthalle-bern.ch


Kulturessays

K OLUMNE

AUS DEM

B AU

Adieu! Von Irina Mahlstein

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iebe Leser, dies wird meine letzte Kolumne. Zum Zeitpunkt, da ihr diese Zeilen lest, habe ich meine Doktorarbeit bereits eingereicht, und ein paar Tage, nachdem ihr dies gelesen habt, werde ich die Arbeit verteidigen müssen. Und egal, was dabei rauskommt, ob mir der Doktortitel verliehen wird oder nicht, ich bin danach keine Doktorandin mehr (Aber ich werde das schon schaffen… Ich muss… Ich muss…). Damit ist die Serie dieser Kolumne geschlossen. Tschüss! Adieu! Ein bisschen wehmütig wird mir schon, wenn ich an die vergangenen drei Jahre denke. Es ist viel passiert in der Zeit, aber irgendwie ist auch nichts passiert. Ein Schwarzer ist inzwischen Präsident der USA geworden. Aber die Erde dreht sich immer noch, das Geld regiert immer noch die Welt, es wird immer noch CO2 ausgestossen und ich werde immer noch gefragt, ob ich mein Medizinstudium jetzt beende. Als Doktor eben. Ich habe mich in den drei Jahren auch ein bisschen verändert, aber irgendwie auch nicht. Ich habe die ersten Fältchen unter den Augen bekommen, wohne an einer anderen Strasse und bin dreissig Jahre alt geworden. Aber ich bin immer noch launisch, jeder zweite Tag meines Lebens ist nach wie vor ein «bad hair day» und ich trage

ensuite - kulturmagazin Nr. 90/91 | Juni/Juli 2010

Bild: Barbara Ineichen

nach wie vor weisse Socken nur zum Sport. Die aufmerksamen und treuen Leser dieser Kolumne erinnern sich vielleicht an meine anfänglichen Befürchtungen, nach drei Jahren den Bau als Nerd zu verlassen. Inzwischen ist NerdSein Mode geworden und jeder Halbwegs-Szeni setzt sich eine dicke Brille mit unechten Brillengläsern auf und kämmt seine Haare nur noch jeden zweiten Tag. Nun bin ich mir nicht mehr sicher, ob ich stolz sein kann, dass ich immer noch ab und zu meine Linsen trage, um nicht jeden Tag die Welt durch meine dicken Brillengläser betrachten zu müssen. Aber die Mode ändert sich bestimmt wieder und deshalb halte ich zu mir selbst. Deshalb bin ich stolz darauf, die Zeit als Doktorandin einigermassen unbeschädigt überstanden zu haben (so ganz ohne Schaden kommt wohl keiner davon). Ein paar Ziele habe ich in den letzten drei Jahren auch erreicht: ein Postdoc im Ausland, ich bin keine kleine Nussschale im offenen Meer mehr (ich bin jetzt nämlich ein Gummiboot mit zwei Rudern!), und ich habe drei Paper in meiner Diss. Allerdings habe ich mein Ziel, weniger als fünfzig Seiten zu schreiben, verpasst. Hundert werden es wohl werden. Ich musste sie ja nur tippen, nicht korrigieren. Diese Freude steht nach wie vor mei-

nem Professor zu, dem ich sehr dankbar bin, dass er sich durch meine komischen Formulierungen durchkämpft, um irgendwann auf Wissenschaft zu stossen. Aber allgemein gesprochen darf ich zufrieden sein mit dem Gelernten und Erreichten. Und ich habe ganz bestimmt eine wichtige Lektion gelernt: Hab Demut vor den kleinen Schritten! Denn ein kleiner Schritt nach vorne ist immer noch besser als ein grosser nach hinten. Ich bin gespannt auf das Leben als Frau Doktor. Der Titel kommt auch gleich an meine Haustür und an den Briefkasten. Ich stelle mir vor, dass sich mein alltägliches Befinden durch die Erwerbung dieses Titels auf einen höheren Grundzustand begibt. Und deshalb danke ich all denjenigen, die etwas dazu beigetragen haben, dass ich es geschafft habe. Ich verzichte hier auf eine sentimentale Aufzählung, denn die, die etwas geleistet haben, die wissen das ohnehin. Aber eine Person möchte ich doch erwähnen: Ich danke meiner Prinzessin, für die besten Kolumnenfotos der Welt! Und ich danke dir, treuer Leser, dass du meine Sorgen und Leiden mit mir geteilt hast. Lasst es euch gut gehen, bleibt der Zeitschrift treu und seht gut aus dabei! Adieu, tschüss, ciao!

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Kulturessays

K ULTUR

DER

P OLITIK

Auch wenn es nicht Von Peter J. Betts

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Auch wenn es nicht so klingt, ist es ein Barockorchester, das Mozarts Ouvertüre zur ‹Zauberflöte› spielt», sagte der Moderator in der Mattinata und fuhr fort: «So ändert sich der Geschmack im Laufe der Zeit.» Ich nehme an, er wollte kaum andeuten, dass es leider nicht so klinge, mit der bedauernden (?) Erklärung, es handle sich halt um ein Barockorchester. Vermutlich wollte er uns die Einsicht vermitteln, dass ein Orchester, das sich auf Barockmusik eingeschossen hatte, in einer späteren Phase durchaus in beeindruckender Weise auf den Geschmack authentisch klingender, klassischer Musik kommen könne, was eine ihrer neueren Aufnahmen bezeuge. C’est le ton qui fait la musique? Die Betonung sinnentscheidend? Liest man die beiden Sätze, mit denen ich spiele, ohne Kursivschrift, unterscheiden sie sich nur insofern, als der erste in direkter Rede da steht, der zweite in indirekter; aussagemässig scheinen sie identisch. Erst die unterschiedliche Betonung zweier Einsilber beim Sprechen macht beispielsweise aus Anerkennung Verachtung, aus positiv negativ. «Denn was man schwarz auf weiss besitzt, / Kann man getrost nach Hause tragen», meint der Schüler im «Faust» – offenbar zu recht müsste man, wie Goethe in jener Szene anregt, auch diese Gewissheit cum grano salis nehmen. Und der Moderator hakt bei dem von ihm verfolgten Thema nach, indem er «sich» fragt, was wohl Mozart – falls er alt genug geworden wäre – beim Zuhören empfunden hätte, als ein viel jüngerer Kollege sein «Reich’ mir die Hand, mein Leben!» für Klarinette umgeschrieben hatte. Neben dem Vermitteln bewegender Musik ging es offenbar um das Reflektieren der beachtlichen Möglichkeiten und Resultate von Wertewandel. Das ausgerechnet an jenem Morgen, in dessen Verlauf die Entscheidungsträger in der UBS-Aktionärsversammlung darüber entscheiden sollten, ob die ehemalige Oberste Heeresleitung der UBS den Persilschein erhalten und mit blütenreinen, gestärkten Hemdsbrüsten in die irdischen Gefilde ewiger Glückseligkeit entschweben dürfe. Einen Klangakzent mit symbolischem Wert hatte die parlamentarische Kommission rechtzeitig für die Frühnachrichten gesetzt. Potentieller Wertewandel? Ob auch hier der Ton entscheiden würde, fragte ich mich, als ich hörte, dass Altbundesrat Villiger von der Politik eingeholt worden sei. Wertewandel? Gretchens Klage fällt mir ein: «Nach Golde drängt, / Am Golde hängt / Doch alles!» Ach, wir Armen. Wenigstens seit der Dichterfürst diese ergreifenden Zeilen geschrieben hatte, hat sich dies-

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bezüglich wenig geändert. Aber vielleicht wäre das Verweigern der Décharge für die Ospels dieser Welt für die AktionärInnen einträglicher und würde trotz allem erfolgen: eben kein Wertewandel, nur eine Frage der Betonung? Nur? Mein Blick fällt auf die Titelseite des «Kleinen Bund» vom 13. April 2010. Ein abstossendes Bild, vierspaltig, grell, laut. Gesellschaftskritik mit Highlighter hervorgehoben? Natalja Kliutscharjowa, in Sibirien geboren, deren erster Gedichtband und der Roman «Endstation Russland» 2006 bei Suhrkamp auf Deutsch erschienen sind, hat den Artikel: «Alles haben, ohne irgendetwas zu tun» als gekürzten Vorabdruck eines Vortrages, den sie an der Leipziger Buchmesse gehalten hat und der vollständig in «Sprache im technischen Zeitalter» erscheinen wird, dem «Bund» überlassen. «Verblendet von Gier», «Reichtum ohne Barmherzigkeit», «Jede Einmischung bleibt nutzlos» sind die drei Untertitel. Klingt nach Ospeliaden. Und «Auseinandersetzungen» bei Generalversammlungen der AktionärInnen. Die Autorin behauptet, alle wichtigen und wirkungsvollen Ideen in Russland seien von seit je von aussen übernommen worden, hätten sich dann allerdings, kaum angekommen, von abstrakten Ideen oder Philosophien in von allen konsequentestens praktizierte Handlungsanweisungen gewandelt: «Die letzte Idee, die wir nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion vom Westen übernommen haben, ist die Konsum-‹Philosophie›, die den materiellen Wohlstand zu einem unumstösslichen Wert des Seins erklärt.» Die Autorin glaubt, hier, «im Westen», sei die Quelle der Konsumgesellschaft aus der protestantischen Ethik der Arbeit hervorgegangen (wie lieb! wie freundlich! wie naiv! denke ich), «wo Verdienst und Arbeit in unmittelbarem Bezug zueinander stehen. In Russland dagegen traf die Ideologie des materiellen Wohlstandes auf die in der Sowjetgesellschaft entstandene Abneigung gegen jegliche Arbeit, ja, deren Verachtung». In Russland? Denke ich. Und ich denke an widerliche Kontaktanzeigen in durchaus braven Zeitungen, an die «Qualitäten» die man sich zuschreibt und von künftigen Partnerinnen und Partnern verlangt. Frau Kliutscharjowas Beispiele mögen für hiesige Verhältnisse vielleicht (noch) etwas übertrieben erscheinen: «Die Helden des Massenbewusstseins sind Oligarchen und Diebe, die sich nur durch das Ausmass ihres Diebstahls voneinander unterscheiden.» Herr Ospel ein Oligarch? «Die Regenbogenpresse wetteifert in der Beschreibung der Häuser von Popstars mit goldenen Klos und speziellen Autolifts, eigens dafür

gedacht, dass man mit den Autos bis ans Bett heranfahren kann.» Ich greife zum Wirtschaftsteil der «NZZ» vom 3. April, Seite 29. Otfried Höffe - Professor für Philosophie, Uni Thübingen und Gastprofessur, Uni St. Gallen - schreibt unter dem Haupttitel: «Was ist ein ‹verantwortlicher› Wirtschaftsführer?» zur Absichtserklärung «Wider die Verkürzung des Konzepts ‹Profit› auf seinen pekuniären Aspekt» (Untertitel). Professor Höffe schreibt: «Philosophen sind aber weder Moralisten noch Prediger. Ihr Metier ist nicht Schelte; es besteht in Begriff und Argument.» Er schilt nicht. Er predigt nicht. Er versucht, dem nachzugehen, was «Führen» sein, bedeuten und bewirken könnte. Er spricht über sinnvolle, gesellschaftsnotwendige Aufgaben der Wirtschaftsführer. «Aus Selbstinteresse des gesellschaftlichen Teilsystems, der Wirtschaft, gehören an die Spitze bedeutender Unternehmen Personen, die integer, daher glaubwürdig sind. Integer sind sie nur, wenn sie ihr ökonomisches Führungsdenken von ihrem Selbstverständnis als ehrbare Kaufleute und als rechtschaffene Bürger nicht abkoppeln.» Er spricht auch über unanständig hohe Löhne: «Der Ausdruck ‹Profit› bedeutet weit mehr als nur das Geld. Er bezeichnet jedweden Nutzen, Gewinn oder Vorteil. In der Tat ist der pekuniäre Profit nur eine der vielen Währungen, in denen die Menschen das messen, worauf es ihnen letztlich ankommt.» Zur Finanzkrise, in die wir uns hineingewirtschaftet haben: «Für die Finanzkrise werden unsere Kinder, ja sogar die Kindeskinder zahlen müssen. Schon jetzt sind die finanziellen Mittel für deren Zukunft gefährdet: Mittel für Bildung und Ausbildung, für Wissenschaft und Forschung. Und besonders stiefmütterlich behandelt man die Kultur. Während man für den Strassenbau...» Ein kleiner Mangel sei vermerkt: Herr Professor Höffe verwechselt Donald Duck mit Dagobert Duck, und die «NZZ» hat das nicht bemerkt: Pfui! Die richtige Betonung finden? Wertewandel nicht nur eine Frage wechselnder Geschmacksdominanzen? Wer findet die wirksame Betonung? «Kaum jemand in Russland fühlt sich verantwortlich für das, was im Land vorgeht», schreibt Frau Kliutscharjowa. Mir scheint, Bern oder Zürich sind nicht weit weg von Russland: «Etwas zu tun, was man liebt, Nutzen zu bringen, sein Talent zu realisieren, Freude und Befriedigung bei der Arbeit zu empfinden – das alles sind für die meisten meiner Landsleute altmodische Anachronismen.»


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VON MENSCHEN UND MEDIEN

Zwei Sichtweisen Von Lukas Vogelsang D a haben wir jetzt also einen neuen SRGDirektor, und irgendwie wurden wir mit der Wahl so überrumpelt, dass wir nicht wissen, ob wir glücklich sein sollen. Einerseits überrascht, dass die SRG das journalistische Gewicht verstärkt, ja, sogar ernst nimmt und durch Roger de Weck eine hervorragende Galionsfigur gefunden hat. Endlich erhalten wir das Gefühl, dass Fernsehen und Radio auch intellektuell sein können und nicht nur Unterhaltungsmedien, es eben auch um Inhalte gehen könnte. Es besteht die Hoffnung, dass sich durch de Wecks Wahl die SRGsche Vitamin-B-Kultur verändern wird und neu Menschen mit Qualitäten für die SRG und nicht für die eigene berufliche Laufbahn und deren Freundeskreise angestellt werden. Andererseits ist gerade er selber ein Vitamin-B-Problem. Roger de Weck ist ein guter und respektierter Freund in der Medienwelt. Die SRG, gebeutelt durch langjährige Kritik an den Sendern und deren Personen, wird neu also von einem Freund der Kritiker dirigiert. Dabei gibt es ein scheinheiliges neues Problem: Wer will hier noch kritisch bleiben? Wer wird es wagen, wenn Roger de Weck Mist baut, ihm mit den richtigen Worten auf die Finger zu hauen? Strategisch gesehen hat die SRG einen perfekten Plan gut umgesetzt. Aus ihrer Sicht ist

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diese Wahl eine Glanznummer, die eigene Reputation ist gelungen. Und da de Weck auch im Ausland ein gutes Aushängeschild macht – immerhin war er als Chefredaktor bei der «Zeit» in der obersten Klasse in diesem Berufstand angelangt –, dient er der SRG gleich doppelt. Unser nationales Fernsehen und Radioprogramm ist mit einem Schlag zu einem europaweit ernstzunehmenden Medienkanal geworden. Da gibt es natürlich auch Fragen. Roger de Weck kann in seiner Biographie keine betriebswirtschaftlichen Qualitäten ausweisen. Er, der jetzt auf einen Schlag Chef von 6 100 Angestellten, acht TV- und 18 Radioprogrammen geworden ist, hat keinerlei wirtschaftliche Führungskompetenzen vorzulegen. Und dies ausgerechnet jetzt, wo die SRG finanziell am kriseln ist. Ich habe sogar etwas Angst, dass die SRGLawine den «gutabsichtigen» Roger de Weck einfach umrollen wird. Persönlich glaube ich, an dieser Position braucht es ein Narbengesicht und keinen schönen Geist – obwohl ich an das Zweite auch mehr glauben will. Etwas ist noch gar nicht wirklich erwähnt worden – dies sicher, weil niemand sich getraut, es anzusprechen: Roger de Weck hat einen gut sichtbaren Augenfehler. Das tut sehr viel zu seinem Charme und unterstreicht seine inhaltlichen

Kompetenzen. So kann er nicht einfach mit dem Satz «Schau mir in die Augen, Kleines» überzeugen, sondern muss klar mit Inhalt trumpfen. Und das ist ja eben gut so. Ein weiterer Vorteil hat dieser Augenfehler, da man nie so recht weiss, wohin de Weck blickt. Mehr rechts oder links? Schaut er jetzt mich an oder den Nachbarn? Das wird ihm in der SRG bestimmt helfen – die Angestellten werden verunsichert und seine natürliche Autorität wächst dadurch wunderbar. Und es ist ja nicht so, dass Roger de Weck sich dadurch verstecken würde – im Gegenteil: Als Moderator der SF1-Sendung «Sternstunden Philosophie» steht er ja bereits im Mittelpunkt. Das Geschrei der rechten Parteien zur Wahl ist übrigens unbegründet. Diese haben mal wieder Angst, dass sie zu kurz kommen könnten. Das haben die ja immer und deswegen schaffen sie es auch nie, selber Kandidaten aufzustellen, die ein gesundes Selbstbewusstsein und eine ebenso gesunde Sichtweise auf die Nation werfen können. «Zwei Sichtweisen auf einen Blick» – so haben ein paar Scherzkekse in Anspielung auf de Wecks Augen in einer lustigen Aktion eine Medienkonferenz angekündigt, die natürlich gefaked war. Aber der Spruch könnte durchaus als Motto für die neue SRG dienen.

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Literatur L ITERARISCHE F RAGMENTE 7

Seit jeher unterwegs Von Konrad Pauli

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n jungen Jahren gelang dem Zeichner Z. der Einstieg in die Kunstszene. Jahr für Jahr warb irgendwo ein Ausstellungsplakat für seine neuesten Werke, die freilich allem bisher von ihm Geschaffenen beinah aufs Haar glichen. Gleichwohl behaupteten Vernissageredner das Gegenteil, beschwörten mit unwiderstehlichen Worten die verblüffenden Entwicklungsstufen, die weiss nicht wohin und in welche Bezirke des künstlerischen Ausdrucks vorzudringen vermöchten. Also war dieser nicht nur vordergründig wahrnehmbare Wiederholungseffekt für des Künstlers Ruf keineswegs ein Nachteil - vielmehr wurden seine bildnerischen StrichSinfonien geradezu als sein Markenzeichen verstanden und gehandelt. Die Neugier richtete sich in der Folge bloss noch auf kleinste Unterschiede und Abweichungen zu vorangegangenen Arbeiten. Akribisch gestrichelte Gitter durcheilten die Bildfläche, fischgrätartig, sich

LESEZEIT Von Gabriela Wild

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Lernen Sie Aristoteles Metaphysik auswendig und kommen Sie dann wieder», antwortete der Philosophieprofessor seinen Studenten auf die Frage, wie sie sich auf die Vorlesungen vorbereiten sollten. Auswendig! Einst Reizwort ehrgeiziger Reformpädagogen. Auswendiglernen war der Inbegriff von stupidem Datenfressen ohne Verstand. Heute ist eher das Gegenteil der Fall. Zu jeder Zeit ist jede Information zugänglich – wozu sich noch etwas im Kopf behalten? Die angeblich intelligente Generation wirft ihre gescheiten Gehirne dem Computer zum Frass vor. Das Französische geht liebevoller mit dem hierzulande verschrienen Auswendiglernen um. Da studiert man, bis der Text par coeur bekannt ist. Das ist Textverinnerlichung, die dem Leser ans Herz rührt. Auswendiglernen ist eine durchaus praktische, vielleicht etwas aufwendige Methode der Schrifterhaltung - in Zeiten von totalitärem Zwängen und einsei-

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bisweilen kreuzend. So regelmässig, dass die Ausgewogenheit, von aller Sprengkraft, allem Aufruhr befreit, dem Auge und Gemüt des Betrachters Stille und Gleichmut vorführten. Mit ungefährdeter handwerklicher Sicherheit, unbelastet von gleichwelcher Vision, durfte hier einer einzig auf die Ausdauer vertrauen; hielt er durch (und daran war niemals zu zweifeln), kam er, gehend am Stock der Beharrlichkeit und Sorgfalt, auf jeden Fall an ein (Bild)Ende - und der Weg war frei zum nächsten Muster. Strikt hielt er sich viele Jahre lang an solche Strukturen - sie waren ihm Ein-und-Alles. Allmählich gewöhnte man sich daran, dass Z. in seinen neuen Arbeiten nichts Neues mehr unterzubringen wusste. Irgendwo blieb er stecken - und die Zeit ging über ihn hinweg. Aber unbeirrt (zumindest dem Anschein nach) tat er so, als bleibe sein Ansatz ein für allemal unangefochten, als käme er im Kreisherumge-

tigen Tendenzen möglicherweise die effizienteste, wie es Ray Bradbury in «Fahrenheit 541» darstellte. Bevor wir unser gesamtes kulturelles Schrifterbe der digitalen Maschinerie überlassen, sollten wir vielleicht noch einige Sätze auf die organische Festplatte speichern. Zugegeben, ganze Bücher – den ganzen «Don Quichote» etwa – da wird einem Sturm allein beim dran denken. Aber zum Beispiel die ersten Sätze könnte man sich einprägen, um die wichtigsten Werke der Weltliteratur vor dem kollektiven Vergessen zu retten, falls es einmal einen globalen Stromausfall geben sollte. Deshalb schlage ich vor, einen Kanon der erhaltenswerten Buchanfänge aufzustellen. Hier eine Auswahl: Edith liebt ihn. Hievon später mehr. (sic!) Agnes ist tot. Eine Geschichte hat sie getötet. Anfang Juli, es war ausserordentlich heiss, trat gegen Abend ein junger Mann aus einer Kammer, die er in der S.-Gasse zur Untermiete bewohnte, auf die Strasse hinaus und ging langsam, als wäre er unentschlossen, auf die K.-Brücke zu.

hen mit Sicherheit voran. Die Kunstwelt hatte genug von ihm, man hatte vergessen, dass er eine Zeitlang etwas galt und vom Erfolg ziemlich verwöhnt gewesen war. Nun magerte er ab, innerlich und äusserlich, ging seine Wege bald nur noch als Schatten seiner selbst. Sein Gesicht versteinerte sich, alle Lebendigkeit erlosch. Schliesslich klammerte er sich an seine Stricheleien wie an eine letzte Möglichkeit, nun als Diktat der Gewohnheit und dürftiger Ausgleich für ein nicht gelebtes Leben. Nahe am Abgrund, doch unfähig zur Selbstzerstörung, setzte er mit zusehends zittriger Hand Strich an Strich, produzierte bloss noch das Immergleiche, ja, was ihm zuvor geglückt war, gelang ihm nicht einmal mehr. In stummer Verzweiflung blieb er dennoch dabei, er wusste nicht, was anderes er sonst noch zu tun gehabt hätte.

Er hat nie darüber nachgedacht, was es heisst, dass die Toten uns überdauern. Er stand vor dem Tor des Tegeler Gefängnisses und war frei. Um das Jahr 1850 liess sich im Elsass ein Lehrer mit allzu grosser Kinderschar dazu herab, Krämer zu werden. Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten. Am Himmelfahrtstage, nachmittags um drei Uhr, rannte ein junger Mensch in Dresden durchs Schwarze Tor und geradezu in einen Korb mit Äpfeln und Kuchen hinein, die ein altes hässliches Weib feilbot, so dass alles, was der Quetschung glücklich entgangen, hinausgeschleudert wurde und die Strassenjungen sich lustig die Beute teilten, die ihnen der hastige Herr zugeworfen. Robert Walser, Räuber Peter Stamm, Agnes Fjodor Dostojewski, Verbrechen und Strafe Arno Geiger, Es geht uns gut Alfred Döblin, Berlin Alexanderplatz Jean-Paul Sartre, Wörter Johann Wolfgang Goethe, Faust I E.T.A. Hoffmann, Der Goldene Topf


Literatur-Tipps

Irving, John: Letzte Nacht in Twisted River. Roman. Aus dem Amerikanischen von Hans M. Herzog. Diogenes. Zürich 2010. ISBN 978 3 257 067747 7. S. 730.

Jacobson, Roy: Das Dorf der Wunder. Roman. Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs. Osburg Verlag. Berlin 2010. ISBN 978 3 940731 34 0. S. 237.

Katastrophen um irvingsche Gestalten John Irving: Letzte Nacht in Twisted River. Roman. Aus dem Amerikanischen von Hans M. Herzog.

Von einem, der zu Hause blieb, um menschlich zu bleiben. Roy Jacobson: Das Dorf der Wunder. Roman. Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs.

Die Geister, die ich rief… Alexandra Kui: Wiedergänger. Roman.

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ir kennen sie alle, jene oft in New Hampshire beheimateten, aus disfunktionalen Familien stammenden Männer und Frauen, die an ihren Schicksalsschlägen nicht zerbrechen, sondern wachsen. Sie sind nicht anders geworden, weder besser noch schlechter. Natürlich sind der Witwer Dominic Baciogalupo, «Wolfskuss», und sein Sohn Danny noch nie Dagewesene; und doch scheint die Szenerie des rauen Lebens in einer Holzfällersiedlung, die man keinesfalls Dorf zu nennen wagt, beispielsweise aus «Gottes Werk und Teufels Beitrag» nicht allzu fern. Und gerade weil sie uns scheinbar so vertraut sind, lieben wir sie. Nun ist es natürlich kein Waisenhaus, wo diese Geschichte ihren Lauf nimmt, sondern das Haus des Kochs Dominic, der seinem Klientel, bestehend aus bärbeissigen Holzfällern und Flössern, ausserordentliche Gerichte vorsetzt. Eine Mischung der mütterlichen Italianita seiner Mutter Nunzi, einer gebürtigen Sizilianerin, und der ländlichen amerikanischen Küche der 1950er-Jahre. Sein langjähriger Freund Ketchum, ein Flösser mit dem üblichen weichen Kern unter rauer Schale, hat wie der Witwer den Tod dessen Frau Rosie bis heute nicht überwunden. Danny, der die Geschichte um den Ertrinkungstod seiner Mutter nur bruchstückhaft kennt und auch dies nur dank der Küchenhilfe seines Vaters, «Indianer»-Jane, brennt mit seinen zwölf Jahren auf weitere Details, die ihm sein Vater beharrlich vorenthält. Die übergewichtige, dennoch hübsche «Indianer»-Jane teilt mit seinem kleinen, hinkenden, schlanken Vater das Bett. Und ebendieses aufkeimende Idyll soll Danny zerstören, indem er Janes Leben mit einer Bratpfanne ein Ende setzt, da er sie fälschlicherweise für einen Bären hält. Eine erste Klimax ist erreicht, viele weitere sollen im Leben der beiden Baciogalupo-Männer folgen. Solide Unterhaltung à la Irving.

uomussalmi, ein finnisches Dorf 1939 kurz vor dem Einfall der russischen Truppen. Die Bewohner legen alles in Schutt und Asche, nur einige wenige entschliessen sich dazu, ihre Häuser den Invasoren zum Geschenk zu machen, herausgeputzt wie zu einem Fest. Timo Vatanen, der Holzfäller des Dorfes, bleibt als einziger neben unzähligen Katzen zurück und erwartet in aller Seelenruhe die Russen. Diese vermuten nach ihrem Eintreffen zunächst eine Falle und lassen sich von ihrem Übersetzer Timos Beweggründe für sein Dableiben immer und immer wieder erklären. So unglaublich scheinen seine Worte, dass er da sei, damit es die Menschen warm haben. Die Russen machen ihn zu einem Teil ihres Regiments, vermutlich zu ihrem Glück, denn nur Timo weiss, wie man dem finnischen Winter die Stirn bietet, er, der den Menschen nicht nur mit seinem Holz, sondern mit seiner Freundlichkeit Wärme schenkt. Der eigenbrödlerische Holzfäller hat in seinem Herzen eine kindliche Unschuld bewahrt, die ihn selbst in diesen dunklen Zeiten nichts Böses erwarten lässt, ihm aber die Kraft gibt, das Alltägliche zu tun, ohne die die entbehrungsreichen Jahre wohl kaum zu überstehen gewesen wären. Ein Held an der Heimatfront und dies ohne jeden kitschigen Unterton. Dem norwegischen Autoren Roy Jacobson, der in seiner Heimat einer der meistgelesenen Schriftsteller ist, zeichnet hier ein Bild des Krieges, das uns für einmal nicht die Greuel der Front oder diejenigen der Plünderungen schildert, sondern vielmehr eine Nähe zeigt zwischen feindlichen Nationen, die sich in Friedenszeiten einst nahe waren. Dass dies auch im Krieg möglich ist, verdeutlicht «Das Dorf der Wunder» einmal mehr.

Kui, Alexandra: Wiedergänger. Roman. Hoffmann und Campe. Hamburg 2010. ISBN 978 3 455 40253 7. S. 320.

n einem der nördlichsten Zipfel Deutschlands, Heimatstadt der Familie Mann, lebt die Familie Engel, deren Familienverhältnisse so gar nichts Engelhaftes an sich haben. Die Enkelin Liv hat von ihrem Grossvater Tönges die Firma für Sprengungen übernommen, abends aber spielt sie mit ihrer Band in eben jenen der Sprengung geweihten Gebäuden zum Konzert auf und bezaubert, sonst eher eine nüchterne Persönlichkeit, mit ihrem knabenhaften Gesang das Publikum. Ihr Sohn Aaron, der bei seinem Vater und dessen neuer Frau in gutbürgerlichen Verhältnissen lebt, versucht ebendiesen zu entfliehen und bei seiner Mutter die Freiheit zu finden, welche ihm in seinem behüteten Heim versagt bleibt. Da ist aber auch Fritzi Hartmann im fernen Island. Seit sechzig Jahren hat sie keinen Fuss mehr nach Deutschland gesetzt und schickt nun ihren Enkel vor, der sich in der alten Heimat auf Spurensuche macht. Ihr, die einst als Landmagd der deutschen Kriegsschuld zu entfliehen suchte, ist es nicht gelungen, ihre für isländische Verhältnisse ohnehin lächerlich kleine Familienschar auf Dauer um sich zu scharen. Und nicht zuletzt ist da der titelgebende Wiedergänger, jener 1942 bei lebendigem Leibe Begrabene, der keine Ruhe findet. Alexandra Kui - Norddeutsche, Schriftstellerin, Musikerin, Journalistin -, welche bisher vor allem Kriminalromane schrieb, hat auch die Familiensaga in «Widergänger» wie einen Krimi aufgebaut. Einen Krimi um Lebende und Tote und jene dazwischen, um Freiheit und Bürgerlichkeit, um nordische Sagen und Legenden und nicht zuletzt um eine Familie, welche einen durch ihre Nähe und Distanz zugleich ganz besonders fasziniert. Hinzu kommt Kuis melodiöser Sprachrythmus, der einen durch emotionale Höhen und Tiefen trägt und nicht so schnell wieder loslässt.

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55 gesch채fte | 11 kinos | 10 restaurants | 1 erlebnisbad & spa | 1 hotel

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Tanz & Theater

Steps# 12 Von Kristina Soldati - Das wohl attraktivste Tanzfestival der Schweiz findet alle zwei Jahre statt. ensuite berichtet über fünf Veranstaltungen. Bild: Bruno Beltrão & Grupo de Rua, Brasilien / B. Beltrão

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ie Schweizer können stolz sein auf ihr Migros-Kulturprozent, denn es ist wohl weltweit einzigartig, was der Unternehmer Gottlieb Duttweiler im Jahr 1957 ins Leben rief. Einmalig deshalb, weil die soziale und kulturelle Wohltätigkeit in den Unternehmensstatuten steht. Automatisch, ohne argumentieren zu müssen, geht Jahr für Jahr ein Prozent des Umsatzes des Grossunternehmens an die Gemeinschaft, unser Gemeinwohl: unsere Kultur, Bildung, Freizeit und wirtschaftpolitische Fragen. Duttweiler war nicht Pionier heutiger Prestige-Events oder PR-Promotion. Duttweiler war schlicht gottesfürchtig. Die Verantwortung für den Schwächeren folgte daraus. Weil das Prozent umsatz- und nicht gewinnabhängig ist, kommen wir auch in Krisenzeiten zu einem ungeschmälert attraktiven Programmangebot. Das Schweizer Tanz-Festival Steps gibt es zweijährlich seit 1988. Im Geiste des Migros-Kulturprozents versucht es zum Wohle der Gemeinschaft, die gesamte Schweiz zu erreichen. Es bespielte dieses Jahr 29 Städte drei Wochen lang mit zwölf Companien. Mit Erfolg, denn gut die Hälfte der Veranstaltungen war ausverkauft. 1. Aus den Flughafenhallen zum Symposium Ein ganz wertvoller Beitrag des Festivals ist jeweils das Symposium. Sein Sinn? Die erlesenen, meist ausländischen Gäste des Festivals,

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die durch das gesamte Land gelotst werden, sollten sich nicht nur in den Flughafenvorhallen treffen, meint Hedy Garber, Leiterin der Direktion Kultur und Soziales des Migros Genossenschaftsbundes. Nein, sie sollten einbezogen werden in inhaltliche Debatten. Zwei Drittel der Companieleiter von Steps #12 war auch zur Stelle, dieses Jahr in den Vidmarhallen von Bern. Migros wünscht, aktiv Akzente in der Schweizer Kulturlandschaft zu setzen. Dass Migros fördert und organsiert, das wissen wir, aber mit solchen thematisch gefassten Festivals und Symposien «investiert sie in Inhalte». «Geld!» Und was ist der Inhalt dieses Jahr? Zum ersten Mal sollte der Tanzmacher (Heinz Spoerlis Begriff) im Mittelpunkt eines Symposiums stehen, sein künstlerischer, aber auch existentieller Werdegang. «Kreativität und Karriere in der Choreografie» war der Titel. Neben den doch wenigen Schweizer Choreografen und natürlich Tänzern, waren Veranstalter, Förderer und Medienschaffende geladen. Die Presse glänzte durch Abwesenheit. Das visuelle Medium art-tv wird aber auf seine Kosten gekommen sein, als er Hans van Manen ins Visier nahm. Der Star der Geladenen war augenscheinlich in Höchstform. Humorvoll schilderte er, wie er zum Beruf kam. Wie er als Maskenbildner in die Tanzproben lugte - und bald für jemand einspringen sollte... Was wün-

sche Hans van Manen für den Tanz von heute? Der Rat eines der erfolgreichsten Choreografen adressiert an den heutigen Tanz könnte für die Anwesenden und jungen Choreografen unschätzbar sein. Doch auf die Frage ertönte es schlicht: «Geld!» Dieser beschwörende Ruf wurde nach Manen-Manier aber sogleich humorvoll umgewandelt: «Wenn man den Tanz gerahmt an die Wand hängen könnte, sässen lauter Millionäre hier...» Gelehrsam und mit Goethe-Zitaten gespickt sprachen «Kreativitätsforscher» und Kunsthochschulrektoren von Kreativität und seinen Durststrecken. Ob den Betroffenen das von der Kanzel Gesagte hilft oder sie nur verstimmt, bleibe offen. Die Definition von Kreativität als Neukombination von Information im Wechselspiel von Konvergenz und Divergenz mag zwar biologische, psychologische und psychiatrische Erfahrungen auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Sie trifft auf Zellen nicht minder zu wie auf Choreografen -, und hilft in der Not keinen Schritt weiter. So wenig wie die müssigen Worte zur Sorge um den Nachruhm. Dies ist die einzige Sorge, die die ephemere Kunst nicht plagt. Repertoirpflege als Chance Eine Rednerin vom Fach, Karin Hermes, konstatierte - zwar in anderen Worten - wie der Tanz von heute

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Tanz & Theater rechts und links klaut. Für die Postmoderne der mobilsten aller Künste, des Tanzes, ist das durchaus legitim, doch besser wäre es, wenn man auch noch wüsste, was man klaut. So plädierte die Tanzrekonstrukteurin (sie holt notationgenau Tänze aus der Vergessenheit) und Choreografin für die Kenntnis aller Stilfrüchte, die auf dem Markt feilgeboten werden - und für deren Fairetrade. Damit aber die Früchte, noch bevor sie genetisch verändert (oder geklaut) werden, gekostet und ihren Namen in die Welt tragen können, bedürfen sie der Märkte. Dafür brauchen, wenigstens die Früchte der Stilprägendsten, einen wiederkehrenden Stand, an dem sie immer wieder als «Repertoir» hervorgeholt und aufgetischt werden können. Wir Konsumenten könnten so auf den Geschmack kommen und sie unterscheiden lernen, bevor sie weiter zubereitet werden. Intensive Tischgespräche Wertvoll ist die integrierende Idee der Tischgespräche, eine Rarität in der Tanzszene. Da Förderer und Veranstalter so zahlreich zur Stelle waren wie die Künstler selbst, entstand ein sehr intensiver, zutiefst professioneller und erfahrungsgeladener Austausch. Träumte jemand, z.B. gegenüber Sidi Larbi Cherkaoui sitzen zu dürfen? Dem Belgier Fragen zu seinen künstlerischen (Um) Wegen zu stellen? Das Symposium bot an diversen moderierten Tischrunden mit den Companieleitern des Festivals dazu Gelegenheit. Anerkennung, so ward an diesem Tag wissenschaftlich dargelegt, ist ein fester Pfeiler der Kreativität. Nämlich für ihre Motivation. Doch woher nehmen? Die belgische Tanzförderung ist weltweit vorbildlich. Der Schweizer Choreograf der freien Szene bettelt (abendfüllende!) projektweise um Geld, wird kaum angekündigt oder besprochen (die Schweizer Presse ist im Abbau und fusioniert) und Fachblätter gibt es keine mehr (die letzten drei gingen die vergangenen zehn Jahre ein). Was zunehmend den Ton angibt, ist die PR der Veranstalter und ihr Geschmack... Wie gut tut da so ein Symposium, das wieder alle um den Tisch sammelt! 2. «Beautiful Me», ein Stück mit afrikanischer Leuchtkraft Steps stellt dieses Jahr seine Tanzstücke thematisch unter den Stern stilprägender Choreografenschicksale. Und da leuchtet Gregory Maqomas Stück bunt und hell. Es grenzt an ein feierliches Wunder, dem wir beiwohnen dürfen, wenn Maqoma sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf des Townships Soweto gezogen ein so positives und suggestives Werk schafft wie «Beautiful Me». Wie er in der Kindheit seinen Namen buchstabieren lernt (Gregory ist ein Zungenbrecher für die Xhosa, dem Volk, dem Nelson Mandela und Desmond Tutu angehören), hundertmal, lernt er auch die Liste der Namen, die in seinem Land (traurige) Geschichte schrieben. Doch er sucht nicht Rache noch Spuren seiner Ahnen, sondern verspielten Dialog. Die Spuren quellen ihm oh-

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nehin aus den Gliedern: Bevor er sich versieht und eine ausholende Spirale uns auffächert, ward schon die Erde angestampft und ihrem Geist die Kraft entliehen. Die Spirale selbst ist ein Geschenk des Inders Akram Khan, einem Schicksalsgenossen und gefeierten Choreografen in London. Auch er lernte die Kunst der Ahnen, den von den britischen Kolonialherren verpönten klassischen Tanz Kathak. Auch er fand zu einer fruchtbaren Auseinandersetzung im Tanz von heute. Gregory sog den Kathak seines Freundes in sich auf wie begnadete Tänzer es tun: wie ein Schwamm. Wenn er mit einem weiten Rumpfkreisen die anvertraute Spirale in die Luft zeichnet, säumen feingliedrige Hindutanz-Finger die Shiva-fürchtige Pose. Doch dann folgt die Transformation: Greogorys Handflächen beginnen zu schwirren und zu flattern, ein weisender Zeigefinger verlässt das indische Symbolgebilde erzählender Geste, um auf die eigene Stirn zu pochen (in Kathak ist Eigenberührung tabu), und auf die Brust, sie als Büsser nach dem Gewissen abzuklopfen. Die Beine beben, doch sie folgen, mitgerissen, dem weisenden Finger, der ihnen den fernen Horizont deutet. In wenigen Minuten ist eine Geschichte erzählt, die Kontinente und ihre Identitäten verknüpft. Die Musik tut es ohnhin, denn das partiturlose Zusammenspiel der vier Musiker auf der Bühne verbindet die indische Sitar, Violine, Cello und Schlaginstrumente. Wen interessiert, wo die zwei Minuten Material des Co-Choreografen Akram Khan stecken? Wen interessieren die virtuosen Verwandlungskünste, wenn Gregory von Vincent Mantsoe (einem weiteren Mit-Choreografen) anvertraute Tierahmungen vollbringt, stelzt wie ein Flamingo oder heranpirscht wie ein Tiger? Es ist der Dialog, der interessiert, den er webt und pflegt, auch mit dem Zuschauer. Wir helfen ihm am Ende, seinen Namen zu buchstabieren. Wiederholt. «Neunundneunzig», heisst’s, und ein stürmischer Applaus bricht los. 3. Limón-Dance-Company José Limóns Werke leben fort. Seine fünfzigjährige Companie ist vitaler denn je. Sie brachte viel Schwung und Atem in das Festival Steps #12. Auf dem Programm stand neben Limóns Klassiker «A Moores Pavane», einem dichten choreografischen Meisterwerk von 25 Minuten, sein biblisches Stück «There is a Time». Es ist ein programmatischer Tanz zu Salomos bekannter Textstelle «Alles hat seine Zeit». Doch neben dem nachvollziehbaren ausdrucksstarken Inhalt gilt für Schritt wie Schrift: die Form ist so sprechend wie des Predigers Wort. In der Form liegt Programm. Schon Salomo wand die Weisheit in einen Reigen. Wie die grössten Kontraste im Leben dicht an dicht ihren Platz haben, so reihen sie sich bei Salomo Vers an Vers. Weinen und Lachen reichen sich die Hand. Wen wundert’s, wenn die Kreisform José Limóns Stück «There is a Time» durchwebt? Sie ist am Anfang und Ende, vereint sinnbildlich die Kon-

traste und nimmt jeden einzelnen auf. Die getanzten Lebensphasen gliedern sich in ihr ein wie in den wiederkehrenden Zyklus der Natur der Mensch. Nach vielem hin und her, auf und ab mündet bei Salomo das Ende der Reihung, der Hass und Krieg, in den Frieden. Bei Limón wiegt sich da ein Kreis von Menschen, einander zugewandt, und formt das entsprechende Schlussbild. Die Verwendung eines starken Sinnbilds allein ist noch nicht genial. Genial bei José ist, dass Kreise wie unmerkliche Kettenglieder die Choreografie durchziehen. Es kreist der Oberkörper oder ein imaginäres Gewicht rollt im Halbrund der Arme. Es kreisen die Köpfe, die durch die Fliehkraft einer Drehung ausschwingen. Wenn der Drehpunkt nicht in einem Körper liegt, sondern in der Mitte vieler, etwa beim Reigen, so schweissen die Tänzer sich gegen die Fliehkraft zusammen. Eine so ansteckende Erscheinung, die beim Kreistanz zum Einreihen einlädt: fest am Nachbarn verankert ist solch kraftvoller Schwung nur in Gemeinschaft zu erfahren und vor allem: wieder einzufangen. Ein in Wogen auspendelndes Phänomen, das in der Aus-Zeit von Kreistänzen ein seltener Blickfang ist. Die Limón-Dance-Company pflegt aber nicht nur das Erbe. Sie belebt auch die Geschichte, die um José herum die Grossen prägte. Beispielsweise mit Anna Sokolovs Stück aus dem Jahr 1955, das in Bern zu sehen war. Es macht uns das politisch und gesellschaftskritische Engagement des modernen Tanzes wieder bewusst. Stilistisch eckt und schreit es, und kündet vom (deutschen) Ausdruckstanz. Und schliesslich vermittelt die Companie ihre jüngsten Sprosse, wie in Zürich zu sehen war: eine fliessende Choreografie des ehemaligen Solisten Clay Taglioferro. 4. Hip Hop wird Kunst Was wünscht man sich mehr, als dass ein Durch-und-durch-Künstler wie Bruno Beltrao sich einem Sprachkodex wie dem Break Dance annimmt, noch bevor dieser gänzlich zur Attraktion verkommt? Bruno Beltrao lernte den Kodex auf den Strassen der Vorstadt von Rio de Janeiro 1980. Mit 16 barst seine Kreativität und er gründete seine eigene Companie. Mittlerweile setzt er den Break Dance dem choreografischen Know-how von heute aus. Das wird am Programmheft deutlich, wo er grossen Wert auf den Einsatz von Raum legt. Dieser mag für den Break Dance der Hinterhöfe eine immense Errungenschaft sein, der Zuschauer nimmt ihn gelassen für ein Apriori. Doch Beltrao setzt damit Massstäbe: Nie wieder werden wir durchgehen lassen, wenn Break-Dance-Figuren sich auf der Bühne in schäbigen Formationen (womöglich geometrischen..) gesellen. Wenn ehedem provokative Einzelkämpfer beim Batteln zu gereihten Showdancern verkommen. Dank sei also dem Helden der Kunst wie Beltrao, der neue (Raum)


Tanz & Theater Wege sucht. Atemberaubend ist ein Weg, den er seine neun Tänzer flitzen lässt. Man kennt ihn zwar, es ist die Manege, doch auf die Richtung kommts an: Rückwärts rasen die athletischen Körper ohne Geschwindigkeitsbeschränkung. Überholen gibt’s durchaus. Doch besonders beeindruckend sind die Ausweichmanöver des Gegenverkehrs. Nein, sie schauen nicht zurück. Auch nicht im Rückspiegel. Ihr blindes Abgestimmtsein ist die Quintessenz des Abends. Hatten die Individuen von Anbeginn an Kommunikationsprobleme, gegen Ende läuft’s reibungslos. Waren zu Beginn die Phrasen der Einzelnen monologisch selbst im Duett, gegen Ende tanzen neun gemeinsam. Hatten die Phrasen anfangs unabsehbare Schlusspunkte - ein Kopf, der statt einem i-Tüpfelchen nur abknickt, eine Schulter die verkrampft in die Höhe zuckt -, sind sie nach einer Stunde abgerundet. Lief zu Beginn der Austausch über missglückte Übersprunghandlungen, das zuckende Handgelenk, das ausbüchst und am Hinterkopf des Nebenmann zur Ruhe kommt, kreiste am Ende ein seliger Reigen. Auch wenn das vierbeinige Kreiseln ohne anzuecken an die wortlose Verständigung unserer langarmigen Vorfahren erinnert... 5. Trilogieabschluss: Babel(words) Der gefeierte Choreograf Sidi Larbi Cherkaoui hat unlängst in Brüssel das Abschlusswerk seiner Trilogie präsentiert: «Babel(words)». Das Tanzfestival STEPS holte es taufrisch in die Schweiz. Die Trilogie handelt mit humanistischem Anspruch von den Höhen und Tiefen menschlicher sowie religiöser Beziehung. «Babel(words)» ist ein theatralisches Werk, dessen Eklektik wohl Programm ist. Am Anfang war das Wort. So beginnt die Bibel. Am Anfang war die Geste, so beginnt dagegen Cherkaouis «Babel». Die Geste ging dem Wort voran, heisst es da. Doch Geste und Wort, die das behaupten, sind synthetisch wie eine Roboterstimme und die abgenutze Zeichensprache einer Stewardess an Board. Wie aber mag die Geste ehedem unverbraucht gewesen sein? Da ertönen Trommeln (der fünf grossteils orientalischen Musiker) und die bunte Arbeitertruppe des Turms zu Babel hinter der Startlinie setzt ihre erste Geste: Sie markiert ihr Gelände. Eine gute Elle bis zum Nachbarn, an den man stösst. Der wiederum reagiert und markiert: sein Territorium, eine Elle. Und so

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fort. Kurzgefasste Drohgebärde reiht sich wie der Trommelschlag, zunehmend aggressiv. Diagonal in den Lüften arretierte Fusssohlen grenzen ihren Raum ab und wandeln rhythmisiert sich zum Kampfsport ohne Berührung. Die Eigenräume überschneiden sich, eine Elle greift bis in die Kernzone des andern, die Glieder dringen ein wie Enklaven. Schon früh lernt der Mensch, wie man mit andern den selben Raum teilt. Respektfordernd. Gewaltig. Dann kommt die Neugier und Entdeckung des anderen. Die Entdeckung auch der Manipulation. Die synthetisch wirkende Stewardess-Figur, eine Überspitzung unseres Schönheitsideals, ist nämlich steuerbar. Gelenke und jedwede Auswölbung sind eine Klaviatur, an der sich genüsslich zwei Asiaten bedienen. Ein Hebeln bewirkt den Knick im Ellbogen, ein Druck das Drehen des Halses. Die passende neurowissenschaftliche Rechtfertigung liefert uns wortreich ein Intellektueller - doch leider hat er uns zuvor schon erfolgreich die praktischen und metaphysischen Vorzüge des gigantischen Würfel-Designs (Bühnenbild: Antony Gormley) verkauft. Wir werden misstrauisch... Jede Geste des Redners sitzt, der Tonfall ist einstudiert wie der abgebrühter Vertreter. Auf dessen Rhythmus echot das Ensemble synchron seine Gebärde. Im Rhythmus findet jede Gebärde ein Gegenüber, an dem sie angeheftet wird. Wie eine Brosche, oder eben - ein Manöver. Denn jeder Druck manipuliert: Er knickt Ellbogen und dreht einen Hals. «Das Frontalhirn feuert dieselben Neuronen, ob wir berührt werden oder andere berührt sehen. Was auf die Empathieleistung des Menschen hinweist» säuselt der Sprecher. Oder auf das Know-how seiner Manipulation. Einfühlung und Einwirkung gehen oft Hand in Hand wie Cherkaouis Paare es zeigen: Ineinander vertrackt und verzahnt hantieren sie aneinander herum, kein Mensch weiss mehr, wer steuert und wer reagiert. Eine Bewegungsmaschinerie mit vier Ellbogen und zwei Hälsen, Impulsgeber und -empfänger in einem. Faszinierend. Als letztes, nach schwindelerregend gedrehten und getürmten Riesenwürfel auf der Bühne, erfasst eine sehr erdene Bewegung das Ensemble. Eva (Navala Chaudhari) verführte bereits Adam, schlangengleich wand sie sich an ihm hoch und runter, umschlang ihn mit den Beinen und zog ihn, den Erschöpften, schliesslich zu Boden. Ein fulminanter erdverhafteter Tanz breitet sich da aus. Mit nacktem Oberkörper ist

die Eva-Figur mal Nymphe, mit glänzender Haut dann wieder Schlange. Sie bäumt und wölbt sich in alle erdenkliche Richtungen, sie schleudert die Extremitäten des einen Körperendes zum anderen, ein vielseitiges Vorankommen (wüsste man nur, wo das Ziel ist). Beugen und schwingen lässt es sich vorzüglich auch mit anderen, und so steckt sie im Nu die Meute um sie herum an, alles kreucht und fleucht, übersät den gesamten Boden. Der Atem verbindet sie und schweisst die Bewegung zu einem Guss. Er macht die Energie hörbar, wie sie in einer fliessenden Spirale im Überschwang die Körper immer wieder hochschraubt und sich mannshoch entlädt. Oder saugt der Atem samt hochfliegender Arme an diesen Wendepunkten dem Himmel Kraft ab, um sie im Kreis auf den Boden gewunden zu erden? Eine Trance der Wiederholung zwischen den Gegensätzen. Ekstatisch. Doch wie folgt eine Bewegungssprache aus der anderen? Wie löst die faszinierende die gewaltige ab, warum folgt die ekstatische danach? Chronologie im Werk ist seit Cunningham & Cage als ein Zufallsspiel entlarvt. Doch im Gegensatz zu jenen schürt Sidi Larbi Cherkakoui mit viel Symbolik unsere Erwartung. Verknüpft sind die verschiedenen Bewegungssprachen lediglich durch Worte, die wohlweisslich lose perlen können, nicht nur seit dem Fall von Babel. Wir finden keine Stringenz in der Bewegungsdramaturgie, noch eine choreografische Handschrift (zumal zwei zusammenarbeiten: Damien Jalet ist langjähriger Co-Choreograf). Die stilistische Eklektik ist Merkmal der Choreografen-Garde, die wie Cherkaoui aus der Wiege der Companie C de la B stammt. Wir lassen die Eklektik, spektakulär an diesem Abend dargeboten, dem gefeierten Wunderkind Sidi Larbi Cherkaoui des Themas zuliebe gern durchgehen. Zur Sprachverwirrung paart sich Tanzvielfalt. Doch nach dieser Trilogie warten wir auf eine Läuterung. Auch Genies, nicht nur arabische, vertragen ein Fasten. Das Festival Steps ist und bleibt einer der Höhepunkte im Tanzangebot der Schweiz, das durchaus auch im Ausland als solcher wahrgenommen wird. Wir freuen uns auf die nächste spannende Ausgabe. Der Ausblick auf einige ausgewählte Tanzevents für den Sommer lesen Sie auf

tanzkritik.net

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Informationsveranstaltung MAS Arts Management Dienstag, 22. Juni 2010, 18.15 Uhr Stadthausstrasse 14, SC 05.77, 8400 Winterthur Start der 12. Durchführung: 21. Januar 2011 ZHAW School of Management and Law – 8400 Winterthur Zentrum für Kulturmanagement – Telefon +41 58 934 78 70 www.arts-management.zhaw.ch Building Competence. Crossing Borders. Zürcher Fachhochschule


Literatur

THEATERFESTIVAL

Belluard Bollwerk International 24.06. – 3.07.2010 in Freiburg - Zum ersten Mal in der Schweiz: The Human Library Von Gabriela Wild Bild: zVg.

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ass Bücher sprechen können überrascht seit es Hörbücher gibt nicht mehr. In der Human Library kann man sich aber sogar Bücher ausleihen, die Fragen beantworten und gewillt sind, sich mit dem Leser auf eine Diskussion einzulassen. Die menschlichen Bücher sind öffentliche Vertreter einer bestimmten soziologischen Gruppe. In der Human Library stehen sie dem interessierten Leser je zu 30 Minuten zur Verfügung. Sie erzählen aus ihrer Perspektive und lassen sich gerne von dem Leser unterbrechen, um die Narration im Dialog voranzutreiben. Das Konzept der Human Library entstand 2000 in Dänemark. Seitdem wurde das Projekt in zahlreichen Ländern durchgeführt und findet nun auf Initiative des Belluard Bollwerk International zum ersten Mal in der Schweiz statt. Für 2010 hat das Belluard Festival zusammen mit dem Migros-Kulturprozent unter dem Titel URBAN MYTH Projekte ausgeschrieben, die sich Stadtmythen widmen. Gesucht wurden spielerische und radikale Ideen, die moderne Legenden verbreiten, entlarven, entwickeln oder sich auf andere Art mit ihnen auseinandersetzen. Zu den Wettbewerbsgewinnern gehören unter anderem Nicolas Galeazzi und Joël Verwimp. Sie werden dem Festivalpublikum in einer fortlaufenden Redaktionsarbeit mit einem Kopiergerät vor Augen führen, wie Mythen entstehen. Ihre performende Zeitung Coytl Yournal dementiert und verlinkt Gerüchte um den Künstler Damien Hirst, dessen Werk – der mit Diamanten besetzte Totenschädel - das aktuell teuerste Kunstwerk der Welt ist – und Gerüchte um den Lockerbie-Attentäter und lybischen Geheimdienstoffizier Abdel Basset Ali al-Megrahi, der von der britischen Regierung unter dem Vorwand einer unheilbaren Krankheit aus

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lebenslanger Haft entlassen wurde. Das Kollektiv United Patriotic Squadrons of Blessed Diana (UPSBD), ebenfalls Wettbewerbsgewinner, vergleicht Mythen aus Frankreich mit solchen aus der Schweiz. Wer ist in Freiburg der Terrorist? Worüber redet man am Stammtisch im Greyerzerland? Wovor hat der Schweizer Angst? UPSBD entwickelte eine urbane Choreografie, in der es um Politik, Manipulation, Wahrheit und Verschwörung geht. Zufall und Willkür kollidieren mit den Plänen der Künstler. Jonathan Drillet und Marlène Saldona sind die Gründer von UPSBD. Das Kollektiv wurde 2008 ins Leben gerufen als Antwort auf die Frage: Wenn man bedenkt, dass der Mensch Kunst macht, um zu verhindern, dass er an der Wahrheit stirbt, warum dann Künstler sein, wenn man doch auch einfach seine Katze Angora Olson und seinen Hund Muddy Waters nennen kann? In dem Tanzstück Logobi04 von der Regisseurin Monika Gintensberger und dem Bildenden Künstler Knut Klassen treffen traditioneller afrikanischer Tanz und europäische Tanztradition aufeinander. Der ivorische Tänzer Franck Edmond Yao und der Deutsche Jochen Roller demonstrieren, warum z.B der afrikanische Strassentanz Logobi, auch wenn er urban und modern aussieht, dem Regentanz aus dem Dorf näher ist als dem europäischen zeitgenössischen Tanz. Sie zeigen, wie sie ihre Körper auf einem national-afrikanischen und einem internationalen Markt anders einsetzen. Dabei vermitteln sie ihre unterschiedlichen Lebens- und Arbeitsbedingungen, Traditionen und Ästhetiken. Als Plattform für aufkommende Künstler aus dem In- und Ausland will das Festival Künstler nachhaltig in ihrem Schaffen unterstützen. Dadurch ergibt sich auch für das Publikum die Möglichkeit, an der künstleri-

schen Entwicklung teilzuhaben und die Veränderungen in der Arbeit eines Künstlers zu beobachten. In diesem Sinne verfolgt das Festival auch die choreografische Arbeit von Christoph Leuenberger, der bereits 2008 in dem Stück b.o.b@fribourg von Dick Wong in Freiburg zu Gast war. Das Kollektiv White Horse um Leuenberger geht in dem Tanzstück «Trip» auf Spurensuche auf historischen Schlachtfeldern und stiehlt die grossen Gesten von Kampfesgeist und Pathos aus Eisensteins «Panzerkreuzer Potemkin». Kulinarisch wird das diesjährige Festival wieder von dem Gastro-Küchenkonzept kitchain – dem letztjährigen Wettbewerbsgewinner – abgerundet. www.belluard.ch

Zingg Ein filosofisches Gespräch:

Ohne Transzendenz gibt es nur die Gegenwart. (...) Das Paradies ist der Gutschein für die Armen und Unterdrückten. Max Frisch 1982 Mittwoch, 30. Juni 2010, 19.15h, Kramgasse 10, 3011 Bern, im 1. Stock

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Tanz & Theater

T HEATER

AKTUELL

Das Original ist optimal Von Alexandra Portmann

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ie wird ein Berner Stadtoriginal zum Musicalstar? Die Antwort ist leichter als gedacht: Mit Einkaufstüten von Coop, auf denen das Gesicht von Hanspeter MüllerDrossaart als neuer Dällebach Kari abgelichtet ist, einem Musical-Trailer im Fernsehen, der grosse Gefühle und monumentale Erlebnisse verspricht, und einer menschengrossen Bronzestatue des Dällebach Kari, die die Berner vor die Frage stellt, ob nun der Antrag des SVP Stadtrats Peter Bühler, dem Stadtoriginal ein Denkmal zu errichten, angenommen wurde. Fakt ist, Dällebach Kari als Musicalstar ist in aller Munde. Am 14. Juli 2010 feiert die Gigantenproduktion der Thuner Seespiele Premiere. Doch ist eine Umdeutung eines Stadtoriginals zum Musicalstar möglich? Die Produktion «Die Dällebach-Macher. Das Musical zum Musical» von Pascal Nater, Michael Glatthard und Olivier Bachmann macht diese Frage zum Programm und ist ab dem 30. Juni, knapp zwei Wochen vor dem grossen Musicalspektakel, im Tojo Theater in Bern zu sehen. Dällebach Kari war ein tragischer Trinker, der sich nur dank seines beissenden Humors im sozialen Umfeld behaupten konnte und sich zu einem Stadtoriginal entwickelte. Die traurige Geschichte Dällebachs, die in den engen Gassen Berns spielt, war schon oft Motiv für verschiedene Bearbeitungen. So erschien 1970 der Film «Dällebach Kari» von Kurt Früh mit der Musik von Tibor Kasics. Auch Mani Matter schrieb ein berühmtes Chanson über ihn. Diese ruhigen, feinen Bearbeitungen des Stoffes stehen in klarem Kontrast zur gross aufgezogenen Medienkampagne im Vorfeld der Thuner See-

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Foto von Manuel Uebersax

spiele sowie den monumentalen Musicalsongs, wie sie auf der Homepage zu finden sind. Für die aktuelle Bearbeitung des Stoffes über das Berner Stadtoriginal wurde die Berliner Creative Agency engagiert. Ganz nach dem Motto «Das Original ist optimal» gehörte es zu ihren Hauptaufgaben, neue Musicals und Theaterstücke aus lokalen Geschichten zu kreieren und umzusetzen. Doch Form und Inhalt der jüngsten Version des «Dällebach Kari» passen für Pascal Nater, der die Produktion «Die Dällebach-Macher» ins Leben gerufen hat, nicht zusammen. Deshalb hat er angefangen, über die Thuner Produktion zu recherchieren und festgestellt, dass das Musicalmachen selbst ein Thema ist, über das man ein Stück machen kann. «Die Dällebach-Macher» ist ein Abend mit zwei ineinander verstrickten Ebenen. Die erste Ebene bildet ein Vortrag über die recherchierten Ergebnisse, die zweite ist ein Musical über die Musicalmacher selbst. Durch das Hineinrutschen in die Musicalform wird das Musical als Genre thematisiert. «Es handelt sich nicht etwa um eine alternative oder bessere Darstellung des Dällebach-Kari- Stoffs, sondern darum aufzuzeigen, wie das Creative Team in Thun zu diesem Thema arbeitet, wie ein Musical aus diesem Stoff entsteht», erzählt Olivier Bachmann. Die Geschichte des Dällebach Kari rückt somit in den Hintergrund. «Dass wir selber ein Musical über das Musicalproduzieren machen, ist mitunter ein Mittel, gerade die Inkonsistenz aufzuzeigen, die die Thuner Produktion hat», so Pascal Nater. Pascal Nater und Michael Glatthard wollen bezüglich ihrer selbst komponierten Musik

alles offen lassen. «Die Spannweite geht von sehr feinen, einfachen Melodien wie im Film über Mani Matter bis zu überorchestrierten Fortissimo-Tiraden, wie sie in Thun von einem 40-köpfigen Orchester und einem Chor umgesetzt werden. Das alles gehört zum Thema und macht riesig Spass, es zu zweit auf der Bühne herzustellen» erzählt Pascal Nater. Obwohl die Bühne mit Dia- oder Hellraumprojektor eher am dokumentarischen Teil ausgerichtet ist, geht es Michael Glatthard nicht um die trockene Wiedergabe der Rechercheergebnisse: «Neben der Musik entstehen immer wieder witzige Situationen, die den Abend bunt gestalten. Wir gehen spielerisch mit dem Thema um und versuchen zu zeigen, wohin uns unsere Recherche und unsere Ideen treiben.» So vielfältig wie die Musik, ist also auch das Bühnengeschehen, für das viele Tricks des Theaters, wie Lichtund Soundeffekte, eingesetzt werden. Von der Frage geleitet, ob das Original wirklich auch «optimal» ist, entsteht ein humorvoller und lebendiger Theaterabend, den man nicht verpassen darf.

Vorstellungen: 30. Juni, um 20.30 Uhr im Tojo Theater Bern (Premiere) 1. Juli, um 20.30 Uhr im Tojo Theater Bern. 4. Juli um 19.00 Uhr im Tojo Theater Bern. 5. Juli um 20.30 Uhr im Tojo Theater Bern. Reservation: kari@pascalnater.ch Info: www.tojo.ch


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«Ein Kulturmagazin ist selbst ein Stück Kultur - und Kultur ist Kultur und bleibt diese im Herzen. Es geht dabei nicht um Unterhaltung oder Nachrichten, sondern um die dauernde Definition und Standortbestimmung unseres Selbst.»

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estellen Sie noch heute Ihr Abonnement und tun Sie damit nicht nur etwas für Ihr persönliches Sozialleben: Ein Verlag lebt von der Unterstützung der Abonnenten und damit wird Kulturellem und der Kunst weiterhin ein wichtiger Platz in der Medienwelt garantiert. Die kulturelle Berichterstattung wird in den Tagesmedien zum Massenprodukt gekürzt. Berichtet wird noch, was alle oder nur Insider interessiert - nicht aber, was entdeckt werden muss. Täglich hören und sehen wir in den Ta-

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inkl. Kunstmagazin artensuite

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gesmedien und Fernsehstationen Glimmer und Glamour, Stars und Sternchen. Das Kleine, Feine, Sensible geht dabei oftmals verloren. ensuite kann natürlich nicht alles thematisch auffangen. Aber wir versuchen zumindest, ohne zu Werten Themen darzustellen und sichtbar zu machen. Wir sind sozusagen die Nase im Wind: Viele KünstlerInnen und Kulturschaffende haben wir entdeckt, bevor diese in der Masse vorgestellt wurden. Dass uns dabei die Tagesmedien über die Schultern gucken, ist kein Geheimnis mehr. Ein Kulturmagazin ist selbst ein Stück Kultur. Tragen wir Sorge darum - mit einem Abonnement, welches uns selbst verpflichtet, unsere Kultur weiterhin im Dialog zu behalten. Für jene, die ein ensuite-Abonnement verschenken, haben wir auch ein kleines Geschenk bereit: «The artist’s residence: Donal McLaugh-

lin». Donal war von Februar bis Juli 2004 in Bern und hat seine Erlebnisse in einem kleinen Büchlein verewigt. Das «artist’s-in-residence»Programm wurde von der Stadt Bern und dem Kanton Bern mitfinanziert. Das Büchlein ist mehrheitlich in englischer Sprache geschrieben - in original Irisch-Schottisch eben -, bis auf das Interview von Stephan Fuchs mit dem Autor. Füllen Sie einfach den untenstehenden Talon aus und überlassen Sie uns den Rest. Apropos: Mit einem Geschenk kann man auch ohne Abonnement bei ensuite jemandem eine Freude machen - das Büchlein gehört auf jeden Fall Ihnen.

Lukas Vogelsang Chefredaktor

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Das Abonnement Monatlich, 11 Ausgaben,

Ja, ich will ab sofort ensuite abonnieren (nur im ABO inklusive Beilage artensuite)! Pro Jahr 11 Ausgaben (Juni/Juli ist eine Doppelnummer)

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Music & Sounds

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Where The Lion Sleeps Tonight Von Hannes Liechti Und wieder rollt der Ball. Die FIFAWeltmeisterschaft in Südafrika ist Gesprächsstoff des Monats. Andere brisante Themen wie Banken, Griechenland, Euro oder Libyen haben es schwer, gegen König Fussball anzutreten. Anstelle von Krieg, Krisen und Katastrophen berichten die Medien nun über Südafrika und das runde Leder. Warum sollte sich das Kulturmagazin ensuite dieser Logik entziehen? Anlass genug also, ein Stück Kultur des Landes am Kap vorzustellen: Der Musikstil Isicathamiya.

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iele kennen Isicathamiya, ohne sich dessen bewusst zu sein. Es gibt vermutlich nur wenige, denen das Lied «The Lion Sleeps Tonight» oder der Soundtrack zu Walt Disneys «Lion King» noch nie zu Ohren gekommen ist. Unbegleitete und basslastige Männerchöre sind es, die sogleich an Afrika erinnern: Bilder mit blutroten Sonnenuntergängen in der Savanne schiessen uns durch den Kopf. Diese kitschigen Assoziationen lassen vermuten, dass hinter diesem Musikstil mehr steckt. Und so ist es: Isicathamiya ist ein Stück Zulugeschichte, ein Stück Arbeitergeschichte; aber auch ein Teil der Globalisierungsgeschichte. Pirschen wie eine Katze Isicathamiya entstand anfangs des vergangenen Jahrhunderts in den urbanen Gegenden der südafrikanischen Provinz KwaZulu-Natal, hauptsächlich in und

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um die Küstenstadt Durban. In dieser Region lebt bis heute der überwiegende Teil der Zulus, der grössten ethnischen Gruppe Südafrikas. Die fortschreitende Industrialisierung trieb immer mehr Wanderarbeiter vom Land in die Städte. Sie suchten in den zahlreichen Minen Arbeit. Hier schlossen sich Familienmitglieder oder sog. «Homeboys», Arbeiter, die aus dem gleichen Homeland stammten, zu ersten Isicathamiya-Chören zusammen. Die Musik ermöglichte ihnen, einerseits durch die anderen Chormitglieder eine Verbindung in die Heimat herzustellen und andererseits, sich auf diese Weise mit dem städtischen Leben auseinanderzusetzen. Damit ist aber noch nichts über die musikalischen Eigenschaften dieses Musikstils gesagt. Hierbei ist das Aufeinandertreffen von ländlichen und städtischen Traditionen zentral: Auf der einen Seite standen Kriegs- und Hochzeitslieder der Zulu, die oftmals eng mit speziellen Tanzformen verbunden waren. Auf der anderen Seite beeinflussten die damals äusserst populären afroamerikanischen Vaudeville- und Ragtimetruppen die schwarze Arbeiterschaft. Vaudeville war eine Form von Unterhaltungstheater mit einer losen Abfolge von Musik-, Tanz- und Akrobatiknummern. Ein drittes, sehr gewichtiges Einflussfeld stellten christliche Hymnen dar, die durch Missionare bis in die entferntesten ländlichen Zipfel verbreitet wurden. Aus diesen Einflüssen entstand Isicathamiya. Die Hauptmerkmale dieses einzigartigen und rein durch Männer praktizierten Stils waren der Acapella-Gesang, die Vierstimmigkeit, das über-

proportionale Gewicht der Bassstimmen sowie die traditionelle Verbindung von Musik und Tanz. Aus letzterem lässt sich die Bedeutung des Wortes Isicathamiya ablesen: Es leitet sich nämlich vom Wortstamm «cathama» ab, was soviel wie «Pirschen wie eine Katze» bedeutet, und einen Tanzstil beschreibt, bei welchem es darum geht, auf möglichst leisen und leichten Sohlen wie auf Zehenspitzen zu tanzen. Wettbewerbe lange vor Musicstars Langsam entwickelte das Arbeitermilieu ein eigenes Kulturleben mit Gewerkschaften, Tanz- und Sportklubs. Ein zentrales Element waren dabei die bis heute regelmässig stattfindenden Gesangswettbewerbe. Sie finden Samstagabends in den Arbeiterhostels von Johannesburg und Durban statt und dauern bis in die frühen Morgenstunden des Sonntags. Jeder teilnehmende Chor präsentiert in der Regel drei Songs: Den ersten während des Einzugs, den zweiten als Hauptsong auf der Bühne und den dritten während des Auszugs. Bewertungskriterium ist nicht nur der Gesang an sich, sondern auch die einheitliche Kleidung sowie die Choreografien. Die Jurymitglieder werden unmittelbar vor dem Wettbewerb direkt von der Strasse weg rekrutiert. Es sind oft Weisse, da bei Schwarzen die Gefahr besteht, in irgendeiner Weise befangen zu sein. Häufig sprechen diese Jurymitglieder folglich kein isiZulu, die Sprache der Zulu, in welcher die Songtexte üblicherweise geschrieben sind. Deswegen wurde schon früh damit begonnen, den Liedern englische Titel hinzuzufügen oder gar ganze Songs auf Englisch zu schreiben. Der Inhalt der Texte ist von tradi-


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tionellen Kriegs- und Hochzeitsliedern der Zulu, christlichen Inhalten sowie von für die Wanderarbeiter aktuellen Themen wie Heimat und Liebe geprägt. Schon lange vor dem Musicstars-Zeitalter also waren Wettbewerbe ein zentraler Bestandteil dieses südafrikanischen Chorstils. Der erste Star: Solomon Linda Immer wieder wurden Neuerungen in den Isicathamiya eingebracht. In den 30er-Jahren war es Solomon Linda, der Leadsänger eines Chores mit dem Namen Evening Birds, welcher den Stil entscheidend veränderte. Er verstärkte beispielsweise das Bassregister. Während dies noch als Rückgriff auf die Zulutradition gewertet werden kann, waren die nächsten zwei Innovationen eine direkte Folge des Wunsches der Wanderarbeiter nach mehr Modernität. Linda führte einheitliche Uniformen ein: Gestreifte Anzüge, schwarze Schuhe und Hüte sollten das Bild des kultivierten und modernen Städters vermitteln. Weiter benutzte er ein simples, westliches Harmonieschema als Grundlage für seine Songs. Dieses Schema wurde zur Hauptstütze aller weiteren stilistischen Entwicklungen des Genres überhaupt. Unter anderem benutzte es Linda in seinem Song «Mbube» (Löwe). Die originale Aufnahme von 1939 wurde in Südafrika mehr als 10 000 mal verkauft und wurde zum erfolgreichsten südafrikanischen Hit aller Zeiten. Er wurde gar namensgebend für das ganze Genre: Oft wird Isicathamiya schlicht Mbube genannt. Auch die weitere Geschichte des Songs ist erwähnenswert: 1952 übersetzte der amerikanische Folk-Musiker Pete Seeger den Text und machte aus dem «Uyimbube» im Refrain den Ausruf «Wimoweh». Eine weitere Übersetzung und textliche Ergänzung von George David Weiss wurde alsbald von den Tokens und über 150 weiteren Interpreten unter dem Titel «The Lion Sleeps Tonight» eingespielt und weltberühmt. Obwohl «Mbube» dazu beitrug, dass Gallo zur grössten Plattenfirma Südafrikas wurde, bekam Linda nur eine Pauschalgebühr von weniger als 5£ für seine Kompositionsrechte. So kam es, dass die Nachkommen sich keine würdige Bestattung des ersten richtigen Stars des Isicathamiyas leisten konnten. Ladysmith Black Mambazo und der Sprung auf die internationale Bühne Ende der 50er-, Anfang der 60er-Jahre geriet Isicathamiya in eine Krise. Ohne die Gruppe mit dem Namen Ladysmith Black Mambazo wäre der südafrikanische A-capella-Chorstil wohl langsam ausgestorben. Der 1965 gegründete Chor sollte später die erfolgreichste Isicathamiya-Formation aller Zeiten werden. Der Name verdeutlicht derweil die Verankerung in der Tradition:

«Ladysmith» bezeichnet den Herkunftsort des Leadersängers Joseph Shabalala und auch das Wort «Black» stellt eine Verbindung zum Land her: Traditionell wurden Musiker dort Ochsen genannt. Die wirklichen Ochsen wiederum trugen verschiedenfarbige Gespanne, wobei das schwarze darunter das stärkste war. «Mambazo» schliesslich stammt vom Wort «Axt» und soll die Übermacht des Chores bei Wettbewerben verdeutlichen. Diese Überlegenheit gegenüber anderen Chören führte für Ladysmith Black Mambazo bald Konsequenzen mit sich. 1973, nach dem Erscheinen ihres Débutalbums «Amabutho» (Krieger), das als erstes afrikanisches Album Gold-Status erreichte, musste der Chor auf die weitere Teilnahme an Wettbewerben verzichten und sich vorwiegend konzertanten Aufführungen widmen. Dies ist für das Genre bis heute mehr Ausnahme denn Regel. So ist Ladysmith Black Mambazo nach wie vor der einzige professionelle Isicathamiya-Chor. Der internationale Durchbruch gelang Joseph Shabalalas Gruppe 1986 durch die Kollaboration mit Paul Simon und dem daraus entstandenen Album Graceland. Es wurde eines der erfolgreichsten Alben der 80er-Jahre, löste jedoch auch viel Kritik aus: Simon wurde der Vorwurf gemacht, er nütze die südafrikanischen Musiker aus und betreibe einen musikalischen Imperialismus. Des Weiteren wurde der amerikanische Singer-Songwriter damit konfrontiert, mit dieser Zusammenarbeit den gegen das Apartheid-Regime verhängten Kulturboykott zu unterlaufen. Fakt ist aber, dass Ladysmith Black Mambazo dank Graceland den Sprung auf die internationale Bühne langfristig schaffte. Bis heute veröffentlichte der Chor über 40 Alben, gewann drei Grammys, arbeitete mit namhaften Musikern wie Peter Gabriel, Stevie Wonder, Ben Harper oder George Clinton zusammen und trat auf der ganzen Welt auf, u.a. in der Royal Albert Hall in London und am Jazzfestival Montreux. Ein Aushängeschild der Weltmusiksparte 1987 definierten Musikjournalisten und Vertreter der wichtigsten Plattenfirmen «Weltmusik» als neues Verkaufssegment. Dahinter stand der Versuch, unabhängige Musik anderer Kulturen ausserhalb der westlichen Musikindustrie ebenda zu vermarkten. So problematisch dieses Konzept auch sein mag, Ladysmith Black Mambazo hat seinen Erfolg massgeblich dieser Entwicklung zu verdanken. Heute wird der Chor als kultureller Botschafter Südafrikas präsentiert und gilt als Aushängeschild der Weltmusiksparte. Es ist undenkbar, dass Ladysmith Black Mambazo in den zahlreichen TV-Specials, welche diesen Monat zur Regenbogennation ausgestrahlt werden, keinen Platz findet. Die

Formation um Joseph Shabalala gehört ebenso zu Südafrika wie Nelson Mandela. Die Musikindustrie verpasst es derweil nicht, Isicathamiya als authentisches südafrikanisches Musikgenre zu vermarkten. Schon nur der Blick auf die Geschichte hat aber gezeigt, dass dies keineswegs so ist. Elemente wie die Vierstimmigkeit, das Harmonieschema oder die einheitliche Kleidung gehen eindeutig auf westliche Einflüsse zurück. Der Stil ist nur insofern authentisch, als dass er Teil der Kultur der Zulu-Arbeiterklasse ist, die sich mit der beginnenden Globalisierung arrangieren mussten, einen eigenen Ausdruck suchten und gleichzeitig nach Modernität strebten. Es ist nicht überraschend, dass gerade dieser Stil mit seiner Synthese aus traditionellen, exotischen und westlichen, vertrauten Elementen im Westen in diesem Masse Anklang findet. Allerdings ist es interessant, dass Isicathamiya bei uns nur dank westlichen Kollaborationen (Paul Simon) oder Adaptionen («The Lion Sleeps Tonight») bekannt wurde. Der vermeintlich authentisch-traditionelle Stil Isicathamiya wird zu einem Produkt der musikalischen Globalisierung. Diese kritischen Anmerkungen sollen aber keineswegs die musikalische Ausdruckskraft dieses stimmungsvollen A-cappella-Gesangs schmälern. Joseph Shabalala setzt sich mit einem Slogan zum Ziel, mit Ladysmith Black Mambazo auf der ganzen Welt «Love, Peace and Harmony» zu verbreiten und liefert somit selbst die treffendste Beschreibung seiner Musik. Mitunter ein guter und willkommener Kontrast zu den «Seven Nation Army»-Fangesängen, die uns diesen Monat wieder erwarten. Südafrika bietet allerdings noch weit mehr als Isicathamiya. Insbesondere im Bereich der Rock- und Pop-Musik hat im vergangenen Jahr das Débutalbum der Indie-Rockband BLK JKS (sprich: Black Jacks) Aufsehen erregt. Musikmagazine wie Spex wählten After Robots mit seinem Mix aus Afro-Jazz, Postpunk und Mbaqanga-Blues zum Album des Monats und verglichen die Südafrikaner mit TV on the Radio. Wem hier immer noch zu viel Weltmusik drin ist, dem sei der Auftritt der über und über britisch anmutenden Parlotones aus Johannesburg am Gurtenfestival 2010 ans Herz gelegt.

Tip Toe Guys: A Story of Zulu Harmony – The Soul of Ladysmith Black Mambazo, Doppel-CD, Nascente 2009. BLK JKS: After Robots, Secretly Canadian 2009. The Parlotones, Gurtenfestival 2010, Sonntag, 18. Juli 2010, 15:15 Uhr Zeltbühne.

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FILOSOFENECKE Von Ueli Zingg Ohne Transzendenz gibt es nur die Gegenwart. (...) Das Paradies ist der Gutschein für die Armen und Unterdrückten. Max Frisch 1982

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ine Antinomie, diese Notwendigkeit der Dimension ins Jenseitige, um sich überhaupt als zeitlich zu begreifen; auf der anderen Seite (hier zynisch) die Verführung in der Vorstellung vom Garten Eden über alle Diesseitigkeit hinaus. «Wenn ich mich in Begrifflichkeit einlasse, so schwimme ich und fühle mich als Schwätzer. Ich bin auf Erfahrungen angewiesen, die mich begrifflich hilflos machen und von daher narrativ.» (Frisch) Spätestens seit Lyotards «Grande Narration» liegt zwischen Begrifflichkeit und Erzählung keine Trennschärfe mehr vor: Das Erfahrbare ist nur begrifflich zu kommunizieren und das Begriffliche erhält bei seinem Vereinbarungscharakter Erzählqualität. Der Widerspruch wird zum Existenziellen, zum Eigentlichen. An der Realität geht vorbei, wer nach Eindeutigkeit verlangt, das Einseitige als das Ganze einfordert. Transzendenz - Illusion und Hoffnung - Glaubensfrage so oder so, konfrontiert uns mit der erfahrbaren Endlichkeit (Narration), wogegen das Ewige nur denkbar ist (Begrifflichkeit). Aber wie ist das Eine ohne das Andere zu erahnen, erzählend auf den Begriff zu bringen? Eine Abwesenheit von Transzendenz bedeute permanente Gegenwart, nur das, wäre also der Verlust jeder Perspektive, und entspricht darin der Danteschen Hölle «Lasst jede Hoffnung, wenn ihr eingetreten!», wird so zur Sartreschen Pein des Gleichen auf immer und ewig in «Huis clos». Immerhin eine Form von Existenz, wogegen der «Gutschein», der uns auf später vertröstet, das diesseitige «Huis clos» als notwendige Erträglichkeit kaschiert und sich vielleicht nicht als Illusion erweisen wird, sondern möglicherweise gar nicht. Die Glaubensfrage, wie gesagt. Eine Existenz zwischen genötigter Transzendenz und paradiesischer Illusion zeigt sich als Aporie, als Ausweglosigkeit, die sich letztlich als Weg erweist, erweisen muss. So liegt das Glück in der Fähigkeit zur Aufrechterhaltung der Illusion, wohl wissend, dass es sich um eine Illusion handelt, die uns vor der Perspektivenlosigkeit bewahrt. Es sei denn, die absolut gesetzte These irre sich. Wir treffen uns Mittwoch, 30. Juni, Kramgasse 10, im ersten Stock, um 19.30 Uhr zu einem illusionslosen Gespräch! 26

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Elektro-Swing-König erneut in Bern Parov Stelar begibt sich am 16. Juli auf den Gurten. Von Luca D’Alessandro Bild: zVg.

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Wir alle haben nur ein Wochenende pro Woche, die restlichen Tage müssen auch gelebt werden», ist das Motto von Marcus Füreder alias Parov Stelar, dem Musiker und DJ aus Wien, der sich mit seinem unverwechselbaren Sound-Mix aus Elektronik, Jazz- und Swing-Samples seinen ganz eigenen Platz auf der Musiklandkarte gesichert hat. Diese Karte will er gemeinsam mit seiner Band ausdehnen: Mit einem Auftritt auf der Hauptbühne des Gurtenfestivals. Am 1. Mai war Parov Stelar mit seiner Band bereits in Bern unterwegs: Das Konzert im Dachstock der Reitschule war restlos ausverkauft, jene, die da waren, haben noch heute einen Brummschädel. Kein Wunder, wo Parov auftritt, geht die Sause. Diese wird auch auf dem Gurten abgehen: «Es wird eine wilde Party werden», sagt er, «die Leute dürfen sich auf eine Mischung aus elektronischem Swing, Monsterbeats Dingsbums freuen… Ich kann es sehr schwer beschreiben, auf jeden Fall wird es in die Beine gehen.» Im September hat Parov Stelar die DoppelCD «Coco» lanciert, die an die Alben «Rough Cuts», «Seven And Storm» und «Shine» anknüpft. «Ich swinge um die Stile herum», sagt er. Tatsächlich lässt sich Parovs Musikstil nur schwer beschreiben; trotzdem ist er unverkennbar. Wer ein Lied von ihm hört, merkt, dass es von ihm kommt. Parov Stelar bewegt sich zwischen JazzSwing und Elektronik. Einen offiziellen Begriff dafür gibt es nicht. Oder doch? «Am ehesten bin ich im Elektroswing anzutreffen. Ich glaube sogar, den Begriff habe ich vor drei Jahren in einem Interview geprägt. Schon bald danach ist

er rund um die Welt gegangen. Einige findige Labels aus Frankreich haben ihn übernommen und ein eigenes Genre daraus gemacht.» Das Leben der Zwanziger, die wilden Partys und Tanzanlässe, die Schwarzweissfilme aus der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen haben es Parov angetan. So sehr, dass er ihnen sein musikalisches Repertoire widmet. «An oldfashioned man», könnte man meinen: «Nein. Wenn du schaust, was die Leute in den Zwanzigern gemacht haben – in den Golden Twenties in denen dieses Swing-Ding gross war. Was haben die gefestet! Das war damals wie bei uns heute die ersten Raves. Es war eine Revolution, Party, die Leute wollten feiern. Diesen hundertjährigen Partyansatz wollte ich mit dem Jetzt und Heute verbinden, um zu sehen, was dabei rauskommt. Im Endeffekt kam wieder Party heraus, was ich sehr interessant finde.» Das Leben ist eine einzige Party, also? «Absolut nicht, ich kann schon sehr professionell in eine Depression verfallen.» Für Depression wird der Österreicher auf dem Gurten nicht sorgen. Parov Stelar wird seinem Gefühl für Soundästhetik Ausdruck verleihen, seinen Ideenreichtum in Klänge umwandeln. Unterstützt wird er von seiner Band, die mit ihm eine pompöse Show garantiert. Schade nur, dass diese wilde Party für Freitagmittag, 13 Uhr angesetzt wurde. Parov Stelar und Band gehören definitiv ins Nachtleben. Freitag, 16. Juli: Gurtenfestival – Hauptbühne, 13.00 bis 14.00 Uhr CD: «Coco» (Etage Noir / Disques Office) Info: www.parovstelar.com


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Bonzzaj Recordings Von Ruth Kofmel Gerade mal sechs Veröffentlichungen innerhalb von vier Jahren - darf man ein solches Plattenlabel überhaupt ins Rampenlicht rücken? Ich finde ja, wenn es sich dabei um Bonzzaj Recordings handelt - eine kleine Schweizer Exklusivität, mit Strahlkraft über die Landesgrenze hinaus.

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onzzaj sind ein mehr oder weniger fester Zusammenschluss von Wallisern, die vor bald zehn Jahren ihren Heimatkanton etwas prickelnder für die Jugend gestalten wollten, und also eine Club-Nacht ins Leben riefen. Unregelmässig veranstalten sie bis heute Tanznächte, von Anfang an mit grossem Erfolg, an ungewöhnlichen Orten, wie in Schlössern oder Freibädern, und die einzige Linie, die sich durch das Ganze zieht - sie mögen alle Jazz. Ich treffe mich mit Chris Studer, einem der Bonzzaj-Aktivisten und Hauptverantwortlicher für die Labelarbeit. Aber um es gleich vorne weg zu nehmen: Musik aufzuspüren, diese auf Vinyl zu pressen, hübsch zu verpacken und unter Menschen zu bringen, ist nur ein Teil des Bonzzaj-Aktivitäten-Kataloges. Sie kümmern sich eben auch um die erwähnten Party-Serien, darunter play more Jazz im Sous Soul in Bern oder der Bon Voyage Abend in der Cargo Bar in Basel. Ebenso um die Wiederaufnahme einer eigenen Radio-Sendung; waren sie früher bei Radio Rabe an den Reglern, ist jetzt ein Podcast von zu Hause aus geplant, und bald klettern sie in Rebbergen rum, um ihren hauseigenen Bonzzaj-Wein für das kommende zehnjährige Jubiläum zu lesen und zu keltern - als Walliser ist so ein eigener Rebberg natürlich nicht völlig abwegig. Ja, eigentlich machen die ja auch nicht viel anderes und anders als Berner oder Zürcher Musikbesessene, aber mit diesem sensationellen Akzent und dieser etwas hinter dem Berg haltenden, aber doch charmanten Art, bekommt das Ganze direkt einen exotischen Touch. Ich weiss nicht einmal sicher,

ensuite - kulturmagazin Nr. 90/91 | Juni/Juli 2010

Bild: zVg.

ob man den Wallisern eine besondere Sturheit nachsagt, es ist jedenfalls nicht von der Hand zu weisen, dass bei ihnen nur ganz genau das gemacht wird, was ihnen Freude macht. Sie bewegen sich nach dem Lustprinzip durch die Musikwelt - oberstes Gebot ist, Genregrenzen nach Möglichkeit zu übersehen und bei diesem in alle Richtungen gleichzeitig Gucken, ergibt sich ein breites aber in sich stimmiges Spektrum. Gemeinsamer Nenner ist also der Jazz, der sich auch in der Namensgebung niedergeschlagen hat, aber das heisst nun noch lange nicht, dass Jazz auf diesem Label zu finden ist. Vielmehr ist es die zeitgenössische, tanzbare Weiterentwicklung des Jazz, das heisst: Begriffe wie Broken Beat, Down Tempo, Hip Hop, House, Afro Beat oder sogar Techno beschreiben den Labelsound wohl treffender und damit ist auch klar, dass sich dieses Label nicht an einer Stilrichtung festmachen lässt, sondern Freude an den grossen Bögen hat, die es in der Musik zu schlagen gibt. Und natürlich; betrachtet man es von der Musikgeschichte her, entwickelten sich alle diese Stilrichtungen aus diesem einen grossen Strom des Jazz oder sind mit diesem verlinkt. Wie jedes kleinere und unabhängige Label hat auch Bonzzaj nicht die Möglichkeit, mit der grossen Kelle anzurichten, aber trotzdem gelang ihnen bereits mit ihren paar wenigen Veröffentlichungen der eine oder andere gelungene Streich. Die vor kurzem veröffentlichte EP des Berner Kollektivs Jagged verkaufte sich so gut, dass die Produktion selbstragend war; eher eine Seltenheit heutzutage. Schön auch, dass ein bei ihnen erschienener Künstler wie Dorian Concept sich mittlerweile in der Szene einen Namen erspielt hat, was dem Label jetzt rückwirkend zu Gute kommt. So ist das Netzwerk einmal mehr das allerwichtigste, gerade für Musik weg vom Mainstream, und es erstaunt darum nicht, dass es Chris zufolge alles Freunde sind, die auf ihrem Label veröffentlichen - oder spätestens bei der Zusammenarbeit zu Freunden werden. Speziell an diesem

Label sind sicherlich auch die guten Kontakte ins Ausland, so sind Musiker aus Österreich, Frankreich oder Amerika mit dabei. Zwar erschwert gerade das die Arbeit, weil eine Förderung von Stadt oder Kanton meist nur dann möglich ist, wenn die Künstler hauptsächlich aus der Schweiz stammen. Glücklicherweise setzen sich aber Leute wie Chris darüber hinweg und versuchen, die Musik, die sie gerne eingefangen wissen, aufzufinden - egal wo. Der im elektronischen Bereich eher kleinen Schweizer Musikszene tut eine Vernetzung mit den grösseren Umschlagplätzen im Ausland sicherlich gut. Schlussendlich ist es bestimmt nicht unmöglich, mit dieser Philosophie der Unabhängigkeit und der Maxime, dem treu zu bleiben, was einem gefällt, Erfolg zu haben Labels wie Ubiquity oder Stones Throw zeugen davon. Chris geht es demzufolge auch nicht darum, möglichst illustre Namen auf seinem Label zu wissen, vielmehr ist er begeistert von der Idee, Neues zu entdecken und dem eine Plattform zu geben. Er und seine Mitstreiter sind fasziniert davon, ihre Lieblingsmusik - so unterschiedlicher Herkunft die auch sein mag - zusammen zu bringen und unter die Leute. Er sagt treffend, dass sie ja nicht müssen, aber eben können. Und auch wenn sie sich immer mal wieder fragen, warum sie so viel Arbeit, die ja ganz und gar nicht nur aus Spassigem besteht, auf sich nehmen, landen sie doch immer wieder bei der simplen Antwort, dass sie es aus Freude am Resultat tun und dass sie wohl Musikliebhaber der engagierteren Sorte sind.

Bonzzaj präsentiert PLAY MORE JAZZ! LIVE: Assemblage Ensemble (Oli Hartung «g», Jürg Schmidhauser «b», Sam Bauer «dr», Menzel Mutzke «tr») DJs: Bonzzaj Soundsystem Freitag , 4. Juli, SOUS-SOUL, Bern Info: www.bonzzaj.ch

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LISTENING POST Von Lukas Vogelsang

CD-T IPP

ANTON BATAGOV – MUSIC FOR FILMS

Aufstieg in die Königsklasse

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ures Glück: Mir wurde das Album «Music for Films» von Anton Batagov, einem 1965 geborenen Russen, geschenkt. Ich hatte weder eine Ahnung, wer das ist, noch was mich erwarten könnte. Bei russischen CDProduktionen muss man auf alles gefasst sein. Doch aus einigen Internetinformationen entnehme ich, dass Anton Batagov ein begnadeter Pianist ist. Die «Los Angeles Times» nennt ihn sogar «a Russian Terry Riley» (Mark Swed, «Los Angeles Times», 200). Auf Amazon.ch entdecke ich weitere Musik und ich bin fasziniert, endlich wieder einmal eine Ecke von einem Musikuniversum berühren zu können. «Music for Films» ist die Sammlung der Musik von fünf Filmprojekten (1998 – 2003), die Batagov komponiert und gespielt hat. Es sind allesamt «Minimal-Music»-Stücke, die von stark repetitivem Charakter leben. Eine ähnliche Musik komponiert der Belgier Wim Mertens – doch ist bei ihm der Wohlklang oft durch sehr experimentalistische Konstrukte abgelöst. Für meine romantische Seele oft zu experimentell. Anton Batagov bleibt da gelassener und spielt unesoterisch nüchtern. Minimal Music zerfällt oftmals in esoterischer Huddelei, doch davon ist hier nichts zu hören. Hier entstehen Bilder, Bewegungen, Farben. Es ist das Repetitive, welches den Sog dieser Musik stark macht. Die Aufnahmequalität brilliert geradezu und Batagov zeigt sich als äusserst sensibler Musiker, der mit feinsten Nuancen in der Spieltechnik die Musik beseelt. Auch sein Umgang mit elektronischen Instrumenten beeindruckt, denn diese wirken nie platt. Diese Sorgfalt spiegelt sich im Klang wieder. Das Doppelalbum mit dreissig Kompositionen ist natürlich kaum am Stück so durchzuhören. Dafür wurde die Musik auch nicht geschaffen. Aber es gibt immer wieder eine Melodie, die zu einem unserer Alltagsbilder passt. Nur manchmal schiebt der Vorhang der Ohren sich lautlos auf -. Dann geht eine Melodie hinein, geht durch der Glieder angespannte Stille und hört im Herzen auf zu sein. (eine freie, aber zur Musik passende Interpretation des Gedichtes «Der Panther» von Rainer Maria Rilke)

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Von Luca D’Alessandro

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ass sich Latino-Musiker auch in der Schweiz entfalten können, beweist Rodry-Go. Der «Schweizermeister» des Merengue und Reggaeton veröffentlicht rechtzeitig auf den Sommer hin sein zweites Solo-Album «Con Clase». Der in Zürich sesshafte Kolumbianer mischt die Latin-Szene derzeit gehörig auf: Rodrigo Rodriguez alias Rodry-Go hat sich vom lokalen Reggaeton-Baron und Timba-Sideman der Schweizer Salsaband Mercadonegro zum LatinSternchen mit eigenem Brand entwickelt. Seine zweite Solo-CD «Con Clase» ist diesen Frühling erschienen und hat in der Latino-Szene für ziemlichen Wirbel gesorgt. So sehr, dass Rodrigo von Musikergrössen wie Papi Sanchez oder Don Omar für ihre beiden Auftritte am AfroPfingsten-Festival und im Zürcher Spirgarten angeheuert wurde. Sein Genre umspannt Merengue und Reggaeton. Oder «Reggaelove», wie er seinen Stil selber bezeichnet. «Es ist eine Liebeserklärung an meine Kultur und die schnellen Rhythmen», sagt er. Wo er auftritt, geht die Post ab. Das

GEHÖRT:

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in Troubadour geht, ein Neuer kommt - die Troubadour-Kultur bleibt. Fritz Widmer, ein Weggefährte von Mani Matter und Verbündeter von Jacob Stickelberger, ist am 28. April nach langer Krankheit gestorben. Seine letzte CD «Wohär u wohi?» und das Buch «Wo geit das hi, wo me vergisst?» sind erst noch im 2009 erschienen. Das war doch gestern. Und bereits im 2010 steht ein Erbe auf der Bühne und mit ei-

Handwerk hat er in den vergangenen Jahren als Perkussionist bei der Schweizer Salsaband Mercadonegro perfektioniert. Mit der Salsakönigin Celia Cruz stand er auf der Bühne, aber auch mit Cheo Feliciano, Josè Adalberto «El Canario», Richie Ray, Tito Nieves und Ray Sepulveda. Musiker aus der Pop- und Soul-Sparte haben ihn für Studioproduktionen engagiert, allen voran George Benson, Carlos Santana, Anastasia und Barry White. In seinem zweiten Album beweist Rodrigo, dass er es nicht nur als Sideman und Entertainer draufhat, sondern auch als Arrangeur und Leader. Ein Mann, der in nächster Zukunft vermehrt im Rampenlicht stehen wird. Das Potenzial dafür hat er. Wir sind gespannt. Rodry-Go auf CD... 2010: Con Clase (Bibomusic) 2006: Mr. Reggae & Roll (Bibomusic) …und on stage 28. Juni: Support Act von Don Omar – Neues Theater Spirgarten, Zürich

gener CD bereit, den Troubadouren-Weg nicht austrocknen zu lassen. «We Meitschi Buebe...» - so die erste CD von Oli Kehrli, einer, den wir in Bern eigentlich hinter der Bar und nicht vor dem Mirofon erwartet hatten. Aber siehe da: We Buebe... dann kommen 25 gute und erfrischende Berner Chansons zum Vorschein. Songs, die Bern braucht, damit wir nicht vergessen. Dinge, wie der letzte Songtitel von Oli Kehrle: «Ig läbe no». Oli Kehrle, «We Meitschi Buebe...», CHOP Records, 2010


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INSOMNIA RÖMER UNTUGENDEN Von Eva Pfirter

Laibach: Die Kunst der Fuge Von Heinrich Aerni

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chon seit Jahren trieb mich die Frage um, wie die Messe de Notre Dame von Guillaume de Mauchaut (ca. 1300-1377), mit harten Gitarren gespielt, klingen würde. Die für heutige Ohren archaische Klanglichkeit des vierstimmigen Satzes drängt sich regelrecht auf, durch das an Pathos unübertroffene Instrumentarium einer Metalband zu neuem Leben erweckt zu werden. Polyphone Feinheiten einer vokalen Aufführung mit historischen Instrumenten gingen freilich verloren, zugunsten einer Überhöhung der grundtonlastigen Harmonik. Eine ähnlich faszinierende Verbindung ging nun die slowenische Band Laibach ein, als sie vor zwei Jahren mit ihrer Fassung von Johann Sebastian Bachs «Kunst der Fuge» an die Öffentlichkeit trat. Laibach, ihres Zeichens Teil des slowenischen Künstlerkollektivs Neue Slowenische Kunst (NSK), positiv zu bewerten, wohnt immer die Gefahr inne, sich um Kopf und Kragen zu schreiben, zu oft und zu eindimensional haben Laibach seit über 20 Jahren mit optischen und klanglichen Codes des deutschen Nationalsozialismus gearbeitet, diese gleichzeitig aber wieder gebrochen, etwa bei der Veröffentlichung von Krst Pod Triglavom-Baptism aus dem Jahr 1987 auf Walter Ulbricht Schallfolien oder, im gleichen Jahr, mit einer martialisierten Coverversion eines der absoluten Tiefpunkte der Popgeschichte, Live is live, der immer noch tourenden österreichischen Band Opus. Seit einigen Jahren fahren Laibach sogar mehrgleisig, sie treten gleichzeitig mit verschiedenen Programmen auf, namentlich Volk, einer Sammlung diverser Nationalhymnen in der recht heterogenen Interpretation Laibachs, 2006 veröffentlicht auf CD, seit neuestem Volkswagner, einer Bearbeitung von Werken Richard Wagners, u.a. der Tannhäuser-Ouvertüre und des SiegfriedIdylls, für Orchester und Band, die allerdings, Live-Aufnahmen nach zu urteilen, gehörig missraten ist, und eben Bachs «Kunst der Fuge», diesem sperrigen Werk, das in der Fachwelt aufgrund seines kombinatorischen Übermasses so etwas wie den heiligen Gral der klassischen Musik darstellt oder zumindest zum allerhärtes-

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ten Kern des Werkkanons gezählt wird. 2006 im Rahmen des Leipziger Bach-Fests uraufgeführt als LAIBACHKUNSTDERFUGE – Konzert für das Kreuzschach und vier Schachspieler, szenisch angereichert durch die schachspielende Band und diverse Filmprojektionen, erschien 2008 die gleichnamige CD LAIBACHKUNSTDERFUGE BWV 1080, auf dem Umschlag Bachs selbst entworfenes Wappen recht kunstvoll in eine Computerprintplatte eingearbeitet. Während im E-Musik-Bereich in der Bearbeitung von bestehenden Werken die raffinierte Verfremdung als oberste künstlerische Maxime steht, erwartet man bei Popmusikern einen eindimensionaleren Zugang, etwa einen Remix, der der Komposition etwas mehr Sex-Appeal verleiht. Was tun also Laibach? Der Synthesizer ist von jeher ihr Stamminstrument, und mit dem Computer finden sie einen perfekten Zugriff zu Bachs Werk. Wenngleich vieles darauf hindeutet, dass «Die Kunst der Fuge» für die Ausführung auf einem Tasteninstrument gedacht war, so bietet doch der Computer das ideale Instrument, um dem virtuellen Charakter der einzelnen Fugenstimmen gerecht zu werden. In den meisten der 14 Fugen und Kanons übernehmen Laibach die originale Struktur, die äusseren Proportionen und auch der Kunstcharakter bleiben gewahrt. Die Mittel sind: Rhythmisierung der Notenwerte, was die Musik unheimlich tänzerisch, ja beinahe tanzbar macht, Unterlegung eines Schlagzeugs, Variierung der Klangfarben, von trance-artigen Klängen der 1990er-Jahre über rein perkussive Nummern bis hin zu Gessangssamplings. Innerhalb erfahren die Stücke aber teils starke Veränderungen, indem etwa Mittelstimmen ob des Geräuschhaften nicht mehr erkennbar sind und letztlich die polyphone Struktur ganz aufgegeben wird. Das Resultat ist stellenweise nervig, im besten Fall aber recht überzeugend, wie in Contrapunctus 1 und 2, wo Laibachs grossangelegte Industrialklänge eine glückliche Ehe eingehen mit Johann Sebastian Bachs Erfindungskunst und so der eingangs formulierte Machautsche Traum zumindest ein wenig wahr wird.

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om ist eine unglaubliche Stadt und ich werde wohl nie aufhören, Neues zu entdecken. Es gibt aber auch Dinge, die ich nie verstehen werde. Dazu gehören die Autofahrer und die Benutzer der öffentlichen Verkehrsmittel. Wenn ich in Rom den Fussgängerstreifen überquere, muss ich trotz der auf grün stehenden Ampel um mein Leben fürchten. Oder zumindest um meine Fersen. Der römische Autofahrer nutzt jede Gelegenheit, noch schneller vorwärts zu kommen, und während er am telefonino der mamma verspricht, am Sonntag zum pranzo zu erscheinen, rast er so knapp hinter meinem Fussabsatz vorbei, dass ich das Gefühl habe, er hätte mich gar nicht gesehen. Hat er aber wohl. Es ist einfach normal hier, dass sich der Stärkere durchsetzt. Und der Autofahrer ist in Rom nun mal der Platzhirsch. Selbst wenn eine nonna mit gekrümmtem Rücken und einem carrello voller Gemüse den Fussgängerstreifen überquert, lässt der automobilista keinen Respekt walten. Was passiert, wenn das alte Müeti umfällt? Der Römer würde sie glatt überfahren, weil er parallel zum Kurven-Schneiden mit seiner Beifahrerin flirtet oder eben am geliebten telefonino hängt. Ohne Freisprechanlage, notabene. Das andere Übel ist die maleducazione vieler Benutzer von Bus und Metro. In der Stazione Termini werde ich fast überrannt von der Masse, die, kaum öffnen sich die Türen der Metro, wie eine wilde Horde in den Wagen drängt. Schon einmal etwas von «Warten, bis die Leute ausgestiegen sind» gehört? Ich bekomme in diesen Momenten regelmässig – so italophil ich auch bin – einen «Schweizer Reflex» und denke gerne an den korrekten Helvetier, der immer etwas Distanz wahrt und einen in Ruhe aussteigen lässt. Doch die Römer haben nicht nur Panik, keinen Platz in der ankommenden Metro zu finden, sondern auch davor, den Ausstieg zu verpassen. Der Tramwagen kann noch so leer sein: Herr und Frau Römer postieren sich gerne eine Station vor der erwünschten Destination breitbeinig an der Tür und fragen, wenn nötig: Scende la prossima? So ist il romano ganz sicher, dass die Person vor ihm sofort Platz macht. Das Spiel kann ganz schön absurd werden: Dann nämlich, wenn die ängstlichen ÖV-Benutzer bereits ZWEI Stationen zu früh die Türe blockieren, und ich, flinke Schweizerin und frei von «Ausstiegs-Panik», kaum mehr aus dem Wagen komme, weil die Türe blockiert ist von ängstlichen Mitfahrern. Da kann ich dann jeweils nicht anders, als auch etwas zu ellböglen. Und wünsche mir still mein liebes Berner Stadtvelo herbei, auf dem ich mich seelenruhig und alleine fortbewegen kann. 29


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Claude Eichenberger, Opernsängerin, im Gespräch Interview Karl Schüpbach Fotos: zVg. In ihren wohl durchdachten Überlegungen spricht Frau Eichenberger von einer vertieften, von gegenseitigem Respekt getragenen Zusammenarbeit zwischen dem Stadttheater Bern und dem Berner Symphonieorchester, sowie von persönlichen künstlerischen Perspektiven.

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ls Mitglied des Berner Symphonieorchesters (BSO) hat meine Frau an der Premiere der Bizet-Oper «La Jolie Fille» mitgewirkt (Samstag, 8. Mai). Sie hat mich darüber informiert, dass Sie und Robin Adams mit engagierten Voten das Publikum eingeladen haben, dem Stadttheater Bern (STB) die Treue zu halten. Wie kam es zu dieser schönen und wichtigen Geste, die – meiner Meinung nach – genau zum richtigen Zeitpunkt erfolgte, weil sie allen den negativen Schlagzeilen den Rücken zuwendet und einen Neubeginn signalisiert? Claude Eichenberger: In den letzten Wochen waren die Pressenachrichten über das Stadttheater Bern vor allem von strukturellen und personellen Themen geprägt. Es ist eine Tatsache, dass wir alle vor, hinter und unter der Bühne Abend für Abend Bestleistungen erbringen möchten, damit unser Publikum erfüllt nach Hause geht und ein Theaterbesuch möglichst lange nachhallt. Das ist unser primäres Anliegen. Wir wollten uns mit unserer kurzen Rede ganz einfach bei unserem Publikum bedanken, dass es uns Künstlern bis jetzt die Treue gehalten und die Unterstützung gegeben hat, die wir so dringend brauchen. Bizets «La Jolie Fille de Perth», welche in konzertanter Form stattgefunden und so die MusikerInnen des BSO und die SolistInnen des Stadttheaters auf ein und derselben Bühne vereint hat, war der ideale Anlass, uns auch als eine Art neues grosses Ganzes zu zeigen, das wir ja ab Sommer 2012 auch sein sollen und wollen. Es ist jetzt besonders wichtig, eine Art Wir-Gefühl zu entwickeln. So ein schönes Projekt unter ebenbürtigen Partnern spendet sicher neuen Schwung und Identifikation, für uns auf der Bühne wie auch für das Publikum im Saal. Es passt wunderbar zusammen, dass am Tag vorher auch der neue Chefdirigent des BSO unmissverständlich für einen Neuaufbruch plädiert: Wenn alle zukunftsgerichteten Kräfte ihre Energie auf die künstlerische Arbeit konzentrieren und nicht so sehr auf Kommis-

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sionssitzungen, werden sich die nötigen zeitgemässen Strukturen von selbst ergeben. Teilen Sie diesen ansteckenden Optimismus? Ich bin sehr optimistisch, was die Zusammenführung von BSO und Stadttheater angeht. Veränderungen machen natürlich immer auch Angst. Ich denke jedoch, dass jede Veränderung immer auch die Chance zur Verbesserung birgt. Im besten Falle entstünde mehr als nur die Summe der vorhandenen Elemente. Die Kreation eines neuen Gefässes braucht aber gewiss einige helle Geister, die sich in einer Kommission in konstruktivem Sinne zusammenraufen und austauschen. Die künftigen Partner sollen gleichberechtigt sein und ihre Bedürfnisse einbringen können. Das ist ganz wichtig für das gute Gelingen einer solchen Fusion von Kräften. Mit Jürg Keller, dem Leiter der Projektgruppe «MusikTheater Bern», haben wir sicher einen sowohl sachlich wie auch menschlich kompetenten Ansprechpartner gefunden. Diese Projektgruppe leistet meiner Meinung nach bis jetzt sehr gute Prozessarbeit, trotz grossem Zeitdruck. Die Aufgabe von uns Künstlern sehe ich nun darin, erstens weiterhin besonders gute und motivierte Leistungen zu erbringen, damit uns Publikum und auch Politik über die Zeit der Fusion hinweg tragen, und zweitens unsere Bedürfnisse zu eruieren und zu kommunizieren, damit die Verantwortlichen nach bestem Wissen und Gewissen tätig sein können. Dies verlangt also von uns allen viel Wachheit und Austausch. Was wird der Übergang zur neuen Struktur «MusikTheater Bern» für Sie persönlich bedeuten? Ein Führungswechsel bedeutet für die Ensembles oftmals die Kündigung, das ist Teil unserer beruflichen Realität. Aber ich denke, dass eine Stadt von der Grösse Berns ein Schauspiel-, Opern- und Balletensemble braucht, dessen Gesichter und Namen einem mit der Zeit geläufig sind und dessen Mitglieder man in Tram, Bus und Restaurant wiedererkennt. Dieser Wiedererkennungseffekt ist enorm kundenbindend und nicht zu unterschätzen. Ich werde sehr oft auf der Strasse angesprochen und bekomme so direkte Rückmeldungen oder Anregungen. Es ist sehr wichtig, dass SchauspielerInnen, SängerInnen und BallettänzerInnen die Möglichkeit haben, sich über einen längeren Zeitraum hinweg in die Herzen und Leben ihres Publikums zu spielen. So wird Theater persönlich. Und so entsteht eine Identifikation mit einem Kulturbetrieb. Und ge-

nau dies braucht Bern meiner Meinung nach. Bevor es soweit ist, noch eine gegenwartsträchtige Frage, die mir seit Jahren am Herzen liegt: Teilen Sie meine Behauptung – sie beruht auf 37 Jahren Arbeit im BSO –, dass die Hauptschuld an den Reibereien zwischen STB und BSO auf der Unkenntnis der Sorgen und Nöte des Partners liegt, vor allem auch in künstlerischen Belangen? Verständnis kann ja nur auf der Basis von Kenntnis entstehen. Solange alle nur in ihrer persönlichen Realität verbleiben, ist kein Konsens möglich. Dies ist in jeder Freundschaft, jeder Liebesbeziehung und auch in jeder geschäftlichen Allianz so. Nur offene Kommunikation und guter Ton versprechen im Endeffekt Einklang. Je näher sich die beiden Klangkörper BSO und Stadttheater also kommen wollen, desto transparenter muss ihr Umgang miteinander sein. Da ist sicher nicht nur der Austausch auf einer Führungsebene gut, sondern auch freundschaftliche Verbindungen bei der Basis. Ich denke, dass wir da auf gutem Wege sind. Hier ertappe ich mich selbst bei einer Wissenslücke: Wie würden Sie als Künstlerin die unterschiedlichen Herausforderungen beschreiben, wenn Sie als Mitglied eines Ensembles oder aber mit einem Stückvertrag arbeiten? Seit drei Spielzeiten bin ich nun als festes Mitglied des Opernensembles am Stadttheater Bern beschäftigt. Zusammen mit Marc Adam (Intendanz), Srboljub Dinic (Musikalischer Direktor) und meinem Agenten (Manager) bilde ich eine Art Interessensgemeinschaft, mit dem Ziel, mein künstlerisches Potential optimal auszubauen und einzusetzen. Im Idealfall haben alle Beteiligten etwas davon, weil es ein Geben und Nehmen ist. Das heisst, das regelmässige Fordern und Fördern zahlt sich für das Haus insofern aus, dass ich inzwischen grössere (also teurere) Partien zum gleichen moderaten Gehalt übernehmen und meistern kann. Für mich sind diese Partien wichtig, um an ihnen zu wachsen, und ein regelmässiges Gehalt hält mir die ärgsten existentiellen Sorgen fern. Für meinen Agenten sind meine Erfolge interessant, weil er mich damit weiter vermitteln kann, was für eine nächste Etappe, also meine Zeit nach Bern, sehr wichtig ist. Dieses System funktioniert im Moment gut, es ist jedoch keine Lösung für die Ewigkeit. Dass eine SängerIn heutzutage an einem Haus über mehrere Spielzeiten wachsen darf und aufgebaut wird, ist eher selten. Dass eine SängerIn an einem Haus alt wird oder


sogar das Pensionsalter erreicht, kommt eigentlich schon gar nicht mehr vor. Wie gesagt steht es in den Sternen, ob unser Opernensemble von einem künftigen Operndirektor übernommen wird. Ich bin mir in meinem Fall noch nicht klar darüber, ob ich mich nach meinem Engagement in Bern nicht freiberuflich ausprobieren möchte. Es reizt mich, die Opernlandschaft Europas zu bereisen und mit neuen Menschen an neuen Häusern zusammen zu arbeiten. Dieser Schritt vom Festengagement hinein in die freiberufliche Tätigkeit ist gewiss nicht einfach. Die Kontinuität in allen Bereichen, von den künstlerischen Aufgaben bis hin zu ganz profanen Themen wie zum Beispiel den gedeckten Sozialversicherungsabgaben, ist dann nicht mehr automatisch gewährleistet. Wie sich das alles entwickeln wird, weiss ich also noch nicht, ich bin aber guter Dinge, dass sich alles optimal zurechtschütteln wird. Wenn Sie Ihre bisherige Laufbahn überblicken, welches sind die herausragenden Ereignisse, sei es auf der Bühne, beim Oratorium oder im Liedgesang? Gleichzeitig der Blick in die Zukunft: Welcher Gesangspartie sehen Sie mit besonderer Spannung entgegen? Diesen Sommer singe ich zum ersten Mal eine Carmen an den Murten Classics. Ich freue mich sehr darauf, diesen Meilenstein des Mezzo-Repertoires in konzertantem Rahmen ausprobieren zu dürfen und bin gespannt, ob mir diese Partie auch einmal auf der Opernbühne begegnen wird. Hier am Stadttheater war bis jetzt etwa der Octavian in Strauss «Rosenkavalier» ein grosser Schritt für mich. Leider habe ich mir aufgrund eines Bühnenunfalles eine arge Knieverletzung zugezogen, weswegen ich eine Woche vor der Premiere für 12 Wochen aussteigen musste (was die grösste Krise meines beruflichen Lebens dargestellt hat). Ich war aber an jedem der acht Abende, die ich nach meinem Wiedereinstieg noch singen konnte, ein sehr glücklicher Octavian und hoffe, dass ich diese Partie noch oft werde singen dürfen. Vielleicht das nächste Mal mit Premiere und Premieren-Presse – das wäre schön! An eine rundum gelungene h-Moll-Messe im Berliner Konzerthaus erinnere ich mich besonders gern, wenn ich an meine Tätigkeit als Oratoriensängerin denke. Als in Berlin unbekannte Sängerin war ich ziemlich überwältigt, dass einige Leute aus dem Publikum vor meiner Garderobe auf ein Autogramm von mir gewartet haben. Abschliessend bitte ich Sie um die Beantwortung der folgenden Vision: Nach einigen Jahren künstlerisch bedingter Abwesenheit kehren Sie nach Bern zurück. Wie finden Sie das Musiktheater, wie die Sinfoniekonzerte, wie das Zusammenwirken von STB und BSO, vor? Ich wäre sehr positiv überrascht, wenn sich nach meiner fiktiven Rückkehr im Jahre 2020 alle MitarbeiterInnen unter diesem neuen Dach mit Namen kennen und grüssen würden! Und sicher würden die gemeinsamen Premierenfeiern bis in die Morgenstunden mit angemessener kulinarischer Umrahmung schon weit vor der Premiere

sehnsüchtig erwartet! Gemeinsame Betriebsausflüge und Weihnachtsfeiern hätten schon längst zu Eheschliessungen unter den Sparten geführt und der erste Nachwuchs der musikalischen Elite Berns hätte die betriebseigene Kinderkrippe geflutet… Im Jahre 2020 wäre bereits eine von mehreren neuen gemeinsamen Traditionen, die Aufführung zum Beispiel der 9. Symphonie von Beethoven an Silvesterabend und am Neujahrsmorgen mit dem BSO, dem Chor und den SolistInnen des «MusikTheater Bern» auf die Bühne zu bringen. Wie schön wäre es, wenn sich solche gemeinsamen Projekte im Kulturangebot der Stadt Bern etablieren könnten! Im Jahre 2020 wäre die Renovation und der Ausbau des Theaters am alten Standort in die Tiefe und Breite bereits Vergangenheit und das «MusikTheater Bern» würde dann nicht nur über eine technisch tadellos funktionierende Bühne, bequeme Sitzplätze, einen geräumigen und akustisch angenehmen Orchestergraben, sondern auch über eine ordentliche Anzahl Übungszimmer und eine tolle lichtdurchflutete Betriebskantine verfügen, wo sich OpernsängerInnen und OrchestermusikerInnen täglich bei der Arbeit begegnen. Frau Eichenberger, ich danke Ihnen sehr herzlich für das Gespräch, und – toi, toi, toi…

Die Nacht ist nicht allein zum schlafen da

Ex oriente lux Eine musikalische Nachtschwärmerei im Zeichen des Orients

Sa, 19. Juni 2010 ab 19h30, Kultur-Casino Bern

Claude Eichenberger, Opernsängerin Geboren 1974 in Zürich Aufgewachsen in Schaffhausen Lehrerseminar Kreuzlingen (1990 bis 1995) Studium an der Hochschule der Künste Bern bei Prof. Elisabeth Glauser (1996 bis 2003) Solistendiplom mit Auszeichnung und Eduard Tschumi Preis (2003) Preisträgerin mehrerer nationaler Wettbewerbe Spezialisierung im Fachbereich Lied bei Irwin Gage an der Hochschule der Künste Zürich Internationales Opernstudio Zürich am Opernhaus Zürich (2004 bis 2006) Erste Partien am Opernhaus Zürich (2004 bis 2006) Mercedes in «Carmen» am Opernfestival Avenches (2004) Fenena in «Nabucco» am Opernfestival Avenches (2005) Gast an der Staatsoper Unter den Linden Berlin mit 2. Dame «Zauberflöte» (2006) Engagement am Stadttheater Bern seit 2007 Hier unter anderem Prince Charmant in «Cendrillon», Rosina in «Barbiere di Siviglia», Octavian in «Rosenkavalier», Hänsel in «Hänsel und Gretel», Mère Marie in «Dialogues des Carmélites», Ramiro in «Finta Giardiniera» Nebst der Oper internationale Tätigkeit als Konzertsängerin im Bereich Oratorium und Lied Wohnt in Bern

Es wird garantiert wieder eine unvergessliche Nacht – eine musikalische Reise in den Orient, nach Arabien, Israel und Palästina

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Kino & Film

M ENSCHEN & F ERNSEHEN

Die scheinbare Lust am Voyeurismus Von Guy Huracek Sex und Gewalt im Fernsehen. Will man das wirklich sehen? Kurt Aeschbacher ist der Meinung, die Medien würden mit solchen Skandalen nicht das Interesse der Zuschauer treffen. Mit Guy Huracek spricht Aeschbacher über die Boulevardisierung, das Zeitungssterben und warum er lieber ein Buch als Zeitung liest.

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Wenn sie das so schreiben, werden mich einige hassen», sagt Kurt Aeschbacher und fährt mit der Hand über die dunkle Holztischplatte, lehnt den Arm über den Polsterstuhl und ergänzt: «Aber es ist mir egal.» Der SF-Moderator Kurt Aeschbacher scheint mit der Medienentwicklung in der Schweiz nicht einverstanden zu sein. Die gedruckte Presse würde das Interesse der Leute zunehmend verfehlen, alle Zeitungen seien boulevardisiert und es fehle grundsätzlich an Recherchen und Analysen. Die Wirtschaftskrise hätte dazu geführt, dass jeder schreiben dürfe – Hauptsache man ist eine billige Arbeitskraft. «Ich will sie jetzt nicht angreifen, Herr Huracek», sagt Aeschbacher und lässt sich mit der Antwort lange Zeit. «Aber früher hätte nicht jeder Zwanzigjährige einfach so für eine Zeitung schreiben dürfen.» Auf die Frage, was die Zeitungen anders machen sollen, meint Aeschbacher, dass sie wieder einen eigenen Stil finden und für klare Positionen einstehen müssen. Als Beispiel fügt er an: «Das Burnout. Plötzlich wird es in allen Medien als eine Krankheit bezeichnet. Dadurch wird es zu einer Modeerscheinung, die nicht mehr hinterfragt wird. Jeder, der müde ist, leidet nun plötzlich unter einem Burnout.» Ande-

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Bild: zVg.

re Gesichtspunkte oder auch Erläuterungen und Hintergründe gäbe es in den Medien kaum mehr zu lesen. Jeder schreibe dem anderen ab und dadurch entstehe ein Einheitsbrei. «Inzwischen lese ich lieber ein Buch, das erfüllt mich mehr», sagt Aeschbacher und nippt an seiner Tasse Kaffee. Hinter ihm, in einem anderen Zimmer, ist ein prall gefülltes Büchergestell zu sehen. «Bei den Chefredaktoren mangelt es an Persönlichkeiten mit klaren Meinungen. Es sind primär Manager, die genauso Schrauben produzieren könnten.» Für Aeschbacher ist das Fernsehen der Inbegriff der Boulevardisierung. «Die optischen Reize zählen und weniger der Inhalt», sagt er. Wenn während seiner Sendung, auf einem anderen Kanal «Germany’s next Topmodel» läuft, hat Aeschbacher massiv weniger Zuschauer. Doch das TV hat im Vergleich zu den Printmedien wenigstens für die Macher einen technischen Vorteil: Ob den Zuschauern eine Sendung gefällt oder nicht, kann man minutengenau an den Einschaltquoten erkennen. Aeschbacher meint dazu: «Vielen Zeitungsjournalisten fehlt diese direkte Messbarkeit und niemand weiss, was die Leser wirklich im einzelnen schätzen.» So würden besonders in Boulevardzeitungen laufend Skandale herbeigeschrieben, wofür sich die Leute eigentlich gar nicht interessieren. Die Empathie, das Interesse an positiven Geschichten sei nämlich bei den Menschen grösser als die Lust am Voyeurismus. Doch die Medien sind das Bindeglied zwischen Gesellschaft und Politik. Sie wiederspiegeln das Interesse der Menschen. Aeschbacher fügt hinzu: «Bedingt. Denn der heutige Journalismus hat eine komische Ansicht, was relevant ist und was nicht.» Die Menschen hätten einen viel gesünderen Menschenverstand und ein besseres

Gespür für wichtige Fragen, als die Journalisten annehmen. Onlinenachrichten sind für den Printjournalismus eine starke Konkurrenz. Wer eine Zeitung lesen will, kann dies längst gratis auf seinem iPhone tun - man kann selber entscheiden, wann und wo man welche Nachrichten liest. Eine Entwicklung, die Aeschbacher nicht fremd ist. «Genauso wenig wie das Buch durch die Erfindung des Fernsehens verschwunden ist, werden Zeitungen aussterben.» Während Aeschbacher diesen Satz sagt, ertönt mehrmals der Klingelton seines iPhones, als wollte es seine Aussage mit der Fanfare unterstützen. «Die Zeitungen müssen sich bewusst werden, dass heute das Internet Aktualitäten schneller anbietet», sagt Aeschbacher, «und dadurch die Zeitungen andere Aufgaben haben». Er ist der Meinung, dass die Printmedien mit weiteren Verlusten rechnen müssen, wenn sie ihre Qualität nicht verbessern. Um sich vom ganzen Medienwirbel zu erholen, geht Aeschbacher mit seinem Hund spazieren. In der Natur fühlt er sich sehr wohl; er ist gerne in seinem Garten und liebt seine Pflanzen. Vor rund 20 Jahren hat er sich einen «Steinhaufen» mit einem grossen Garten in Frankreich angeschafft und geniesst dort die Anonymität. Doch Aeschbacher ist der Meinung, dass niemand, der bekannt ist, sich beklagen soll, dass er im Rampenlicht steht. «Als Moderator kann man selber kontrollieren, was man von sich preisgibt und was nicht.» Auf der Strasse wird er von vielen Leuten angesprochen und er habe Verständnis dafür. «Übers Fernsehen bin ich in vielen Wohnzimmern. Die Leute bauen so eine private Beziehung zu mir auf.» Aeschbacher lehnt sich nach vorne, stützt beide Ellbogen auf die Tischplatte und sagt: «Moderator sein ist für mich eine Lebenseinstellung.»


F ILMPODIUM

Utopia lebt Von Florian Imbach

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s gibt sie. Jene Geschichten, die als grosse Ideen in irgendwelchen intelligenten Köpfen umhergeistern und uns Zuschauern als verwirklichte Vorstellung auf der Leinwand begegnen. Diese Filme übernehmen eine spezielle Aufgabe. Sie beantworten in ihren Geschichten die Frage «Wie könnte unsere Welt aussehen, wenn…?». In seltenen Fällen trifft die künstliche Welt einen Nerv der Gesellschaft, wird die Geschichte gerade zum richtigen Zeitpunkt erzählt. Manchmal wird sie Jahrzehnte später von einer neuen Generation entdeckt, die sich von der Idee anstecken lässt. Die geschaffenen Welten können idealisierte alternative Realitäten sein. Die Vorstellung liefert einen Einblick in eine «bessere Welt». Utopia lebt, wir leben in Utopia, für zwei Stunden. Oder die Welten sind beängstigende Entwürfe. Vielfach mit einem moralischen Unterton. Die Nachricht könnte lauten: «Wenn wir weitermachen wie bis anhin, wird diese Utopie Realität.» Filmische Utopien. Das Filmpodium zeigt in seiner Juni-Reihe eine Auswahl filmischer Utopien. 19 alternative Welten haben Andreas Furler und Corinne Siegrist ausgewählt und mit dem Untertitel «Es wär einmal» versehen. Im Rahmen dieser Reihe will die städtische Kulturinstitution nicht weniger, als die Frage beantworten: «Wozu Utopien?» Die Frage darf sicher gestellt werden; mutig, dass hier der akademische Zugang gewählt wurde. Zum Auftakt der Reihe hält der Uni-Professor Bernd Roeck eine Einführung (Beim Erscheinen dieses Heftes wird diese schon vorbei sein). Roecks Vorlesungen sollen den Anstoss für die Reihe im Podium gewesen sein. Wenn dem so ist, ist dem Mann zu danken. Um die gestellte Frage zu beantworten, sind am 2. Juni unter der Leitung Bernd Roecks der Zürcher Autor P. M. und der Regisseur Fred van der Kooij zu einer Podiumsdiskussion eingeladen. Ein lobenswerter Ansatz, setzt hier das Filmpodium doch einen bewussten Akzent und fördert die Auseinandersetzung mit einem Thema, das eben mehr als einen filmischen Aspekt aufweist.

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Vom Stummfilm zur WM. Die ältesten Filme in der Reihe sind die beiden russischen Stummfilme «Aëlita» von Jakow Protasanow und «Generalnaja linija/Staroje i nowoje» von Sergej Eisenstein. Sicherlich ein Erlebnis. Nicht, dass «Aëlita» der breiten Masse ein Begriff wäre. Das Erfolgsrezept dieses Filmes beschreibt sich nach Georg Seesslen folgendermassen: ein sympathischer Held, schöne Frauen, Abenteuer mit fremden Wesen, verblüffende Tricks und fantasievolle Dekors. Weiter ist da etwa «Things To Come» aus dem Jahre 1936. Das Katastrophenszenario: Ein dreissigjähriger Krieg wirft die Zivilisation in ihrer Entwicklung zurück und führt zu einer Diktatur. Georg Seesslen erwähnt hier die Angst vor einem drohenden Weltkrieg und die «ungebrochene Hoffnung auf den technologischen Fortschritt». Denn plötzlich wird das Katastrophenszenario zu einem Science-Fiction-Szenario, als ein Fremder aus der Zukunft landet, der von einer utopischen Welt in 100 Jahren berichtet. Nicht verpassen sollte man «Fahrenheit 451» von François Truffaut. Die Geschichte handelt von einem Feuerwehrmann in einem fiktiven Polizeistaat, in dem Bücher verboten sind. Wer liest und erwischt wird, wird bestraft. Der Feuerwehrmann ist zuständig dafür, beschlagnahmte Bücher zu verbrennen. Ein dunkles Szenario mit einer absehbaren Entwicklung. Wer «Stalker» von Andrej Tarkowskij noch nicht gesehen hat, sollte dies unbedingt im Rahmen dieser Reihe nachholen. Die Reihe schliesst chronologisch ab mit «Long Night’s Journey Into Day» von Frances Reid und Deborah Hoffmann. Aus aktuellem Anlass hat dieser Film einen Platz gefunden. Die Geschichte handelt von der «Truth and Reconciliation Commission» in Südafrika, mit der Opfer und Verfolger des zerfallenen Regimes versöhnt werden sollen. Sicherlich, auch wenn dies eine utopische Vorstellung ist, so doch ein langfristigeres Rezept als eine Fussball-Weltmeisterschaft. Die Reihe «Filmische Utopien» läuft im Filmpodium Zürich seit dem 16. Mai - 30. Juni 2010.

kulturagenda.ch

Kino & Film

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Kino & Film

TRATSCHUNDLABER

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Von Sonja Wenger

lso echt. Wie funktioniert das beim «Blick»? Sitzen da Leute in der Redaktion, die Agenturbilder durchsehen und dann frei assoziieren? Kommt man so auf Titel wie «Der First Po von London – Samantha Cameron: hier zeigt die First Lady, was sie drunter trägt» oder zum neuen Mister Schweiz Jan Bühlmann: «Schön, kein Papierschweizer»? Ist das noch verbale Kreativität oder bereits zerebraler Schwund? Fragen über Fragen, die einen zum Umblättern treiben. Aber besser wird’s auch so nicht. Da überschneiden sich Standards bei der BurkaVerbots-Debatte, die eigentlich gar keine sind, weil den VertreterInnen die Ratio fehlt, um die Ironie im Ganzen zu Erkennen. Denn was ist die Burka oder der Nikab oder welcher Schleier auch immer anderes, als das spiegelverkehrte Äquivalent zum Busenbild auf Seite eins – im «Blick» und anderswo? Ist das noch falschgemeinte Emanzipationsrhetorik oder bereits Heuchelei? Aber egal ob buntes Revolverblatt, das Häme ausgiesst und Neid hofiert; egal ob Castingshow und öffentliches Wäschewaschen; egal ob künstliche News mit Informationsgehalt Zero passend zur Welt von Size Zero oder Cola Zero: Auch der extremste Promiklatsch erscheint harmlos im Vergleich zu dem, was man aus Washington, Bern, Berlin, Kapstadt oder Athen zu hören bekommt. Die Hegemonie der Gehirnwäsche erzählt uns immer dieselben Märchen, die beginnen mit «Es war einmal ein ausbeuterisches/ungerechtes/rücksichtsloses System, das zu gross ist, um zu scheitern», und die damit enden, dass «alle für immer dafür zahlen werden» – die Bösen sind dabei Banken, Staatshaushalte oder Ölfirmen, aber anders als bei den Brüdern Grimm werden diese nicht der gerechten Gerechtigkeit zugeführt, sondern bekommen bestenfalls einen Klaps auf die gierigen Pfoten. Ist das noch die Herrschaft der Halbwahrheiten oder bereits die Diktatur der Habsucht? Natürlich sagen sie einem das nicht so, es könnte ja sein, dass doch mal jemand begreift, was bei den Mächtigen abgeht. Der Hund liegt nämlich in der Semantik begraben: Deshalb ist die Fifa als «gemein-nütziger» Verein eingetragen, «König» Fussball ist Volkssport und Unternehmensverantwortung kann man so oder so verstehen. Gewinn privatisieren, Kosten sozialisieren und darauf vertrauen, dass die Masse zu beschäftigt ist, sich den letzten Schrei oder das neueste Gadget zu besorgen, als so etwas Anstrengendes zu tun wie die Initiative zu ergreifen. Das alleine reicht aber nicht, oder um es mit den Worten des britischen Strassenkünstlers Bansky zu sagen: «Even if you win the rat race, you’re still a rat» – nur den Konkurrenzkampf zu gewinnen, macht niemanden zum Gewinner. Das ist nicht banale Wortklauberei, das ist bereits Realität. 34

THE PRIVATE LIVES OF PIPPA LEE

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s ist ein seltsam Ding, dieser Film «The private lives of Pippa Lee»: Es ist eine Geschichte übers Schlafwandeln, über Psychopharmaka und über die Angst vor dem Sterben. Zum einen bietet er eine Paraderolle für Robin Wright Penn als Pippa Lee, eine Frau im mittleren Alter auf der Suche nach ihrem verlorenen Selbst. Der Film ist auch eine Fingerübung für Alan Arkin als Herb, Pippas dreissig Jahre älterer Ehemann, der sich noch einmal nach dem Jungsein sehnt. Und er ist zudem Tummelplatz für eine ganze Serie teils hochkarätiger Nebendarsteller wie Julianne Moore als lesbische Fotografin, Maria Bello als Pippas manisch-depressive Mutter, Keanu Reeves als der «junge» Liebhaber oder Winona Ryder, die einmal mehr alle Register neurotischer Heulanfälle zieht. Pippa Lee ist perfekt: als Ehefrau, als Köchin, als schöne Trophäe. Doch genau davon hat sie die Nase voll – spätestens seit sich ihr Mann Herb nach dem dritten Herzinfarkt widerwillig zur Ruhe setzen muss und sie beide aus der Grossstadt in eine ländliche Alterssiedlung ziehen. Die beiden längst erwachsenen Kinder kämpfen noch immer mit dem Abnabeln und sehr schnell spürt man, dass sich hinter der Maske des Alltäglichen, zwischen den Zeilen der intellektuellen Gespräche, unter der Oberfläche der funktionierenden Ehe allerhand emotionaler Ballast angesammelt hat. Doch bevor Pippa ein neues Leben beginnen kann, muss sie sich erst von den Geistern ihrer wilden Vergangenheit befreien – und damit auch von ihrem Ehemann. Der Film der Regisseurin Rebecca Miller nach ihrem gleichnamigen Roman aus dem Jahr 2008 ist ein kleines Kammerstück, einer jener Filme, die auf den wichtigen Filmfestivals reüssieren, aber allgemein ihren Weg nur schwer ins normale Kinoprogramm finden. Im Falle von «The private lives of Pippa Lee» dauerte es beinahe eineinhalb Jahre seit der Weltpremiere an der Berlinale 2009. Mit ein Grund dafür dürfte sein, dass die Geschichte dem Publikum wenig abverlangt, weder Sitzleder noch grosse emotionale Betroffenheit. Dennoch ist die Geschichte erstaunlich unterhaltsam – hat man sich erst einmal an den bedächtigen Erzählton, an den kruden Humor und an die Tatsache gewöhnt, dass es im Leben immer erst schlimmer werden muss, bevor sich etwas verbessert. Der Film dauert 93 Minuten und kommt am 24. 6. ins Kino. (sjw)

THE YOUNG VICTORIA

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m es gleich vorweg zu nehmen: Es ist ein Ding der Unmöglichkeit, sich dem Charme und der Schönheit von Emily Blunt als die junge Königin Victoria von Britannien zu entziehen. Mit atemberaubender Haltung trägt Blunt – die durch ihre Rolle als ehrgeizige Modeassistentin in «The devil wears Prada» bekannt wurde – die Hauptrolle in «The Young Victoria», einem dezenten Filmchen über die Jahre vor und nach der Krönung jener Frau, deren Name ein ganzes Jahrhundert prägen sollte und deren weit verzweigte Nachkommenschaft noch heute in den meisten europäischen Adelshäusern zu finden ist. Doch «The Young Victoria» ist weit davon entfernt, ein ernst zu nehmender Historienfilm zu sein – auch wenn ihm zugute kommt, mit einfachen Mitteln die Bedeutung der britischen Monarchie Mitte des 19. Jahrhunderts aufzuzeigen. «The Young Victoria» ist in erster Linie ein Liebesfilm, der die Beziehung zwischen Victoria und ihrem zukünftigen Ehemann Prinz Albert von Sachsen-Coburg und Gotha (Rupert Friend) romantisiert, in den Mittelpunkt stellt und dafür die historischen Tatsachen entsprechend zurecht biegt. Hinzu kommt ein wenig Familienzwist in Adelskreisen, etwas politische Erziehung durch den Premierminister Lord Melbourne (Paul Bettany) und Victorias Kampf, sich aus der Isolation ihrer Kindheit und von ihrer dominanten Mutter (Miranda Richardson) zu lösen, um sich zu einer willensstarken Monarchin zu mausern. Der kanadische Regisseur Jean-Marc Vallée hat dabei mit viel Symbolik und einer cleveren Kameraführung gearbeitet, die gekonnt verdeckt, dass die Filmcrew weder an Originalschauplätzen drehen konnte noch das Budget für Massenszenen zur Verfügung hatte. Stattdessen fokussierten die Macher auf die Ausstattung, was zur Folge hat, dass «The Young Victoria» ungeniert als opulente Praline für die Augen bezeichnet werden kann: Seinen Oscar wie auch Bafta Award für beste Kostümausstattung hat der Film wahrhaft verdient. Hinzu kommt, dass auch kleine Nebenrollen mit ausgezeichneten britischen Schauspielern besetzt sind, so der gerade im Kino omnipräsente Mark Strong, aber auch Jim Broadbent, Michael Maloney oder die wunderbare Harriet Walter. Sie alle tun ihr Bestes, um das relativ schwache Drehbuch aufzufangen und dem Film trotz seiner Kürze auch etwas Würze zu verleihen. Der Film dauert 105 Minuten und kommt am 17. 6. in die Kinos. (sjw)


Kino & Film

G ROSSES K INO

Kick Ass - Eine postmoderne Perle in der Flut der Multimedien Von Morgane A. Ghilardi

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ir im 21. Jahrhundert haben den zweiten Big Bang miterlebt, und zwar den der Medien. In der Welt der Bücher, Comics, Games, Filme und des Internets können wir von Medium zu Medium springen auf der Suche nach Unterhaltung in Form simulierter Gewalt oder vorgetäuschter Liebe. Die irrealen Multimediawelten, wie zum Beispiel die der Superhelden, verschachteln sich dank der Geldmaschinen dahinter immer mehr, so dass wir diesen Monat die Fortsetzung der Comicverfilmung «Iron Man» oder die Verfilmung des Videospiels «Prince of Persia» geniessen können. Da das Merchandising natürlich einen wichtigen Teil dieser expandierenden Medienmultiversen darstellt, werden auch bald Comics und Bücher zum Film erscheinen, die dann von den Fans auch brav gekauft werden. Kommentar von uns Zuschauern, Lesern und Spielern? Wenn es gut gemacht ist, macht es uns ja eigentlich Spass. Wir sind schliesslich die Kinder der Postmoderne, wir können mit der medialen Flut an Superhelden und anderer fiktiver Helden umgehen. Wieso eigentlich so viel darüber nachdenken? Die Antwort: Wegen «Kick Ass», der Filmperle, welche dank praktisch nicht-existenter Werbetrommel fast völlig ignoriert wird. Der Film erzählt vom siebzehnjährigen Dave (Aaron Johnson), einem unauffälligen Highschoolschüler und Comicfan, der sich eines Tages fragt, wieso bei dem ganzen Getue um Superhelden noch niemand auf die Idee gekommen ist, selbst in ein Kostüm zu schlüpfen und für Gerechtigkeit zu

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Bild: Choë Grace Moretz alias Hit Girl / zVg.

sorgen. Er entschliesst sich, gleich selber zur Tat zu schreiten und als Kick Ass die Strassen von New York etwas sicherer zu machen. Dank YouTube und MySpace wird er über Nacht berühmt. Bizarrerweise trifft er tatsächlich auf andere maskierte Helden: Das zwölfjährige Hit Girl (Choë Grace Moretz), die wie Luc Bessons Mathilda im Superformat wirkt, und den Batman-Nachahmer Big Daddy (Nicolas Cage). Zusammen müssen sich die drei schlussendlich auch gegen einen gemeinsamen Feind durchsetzen, den skrupellosen Mafioso D’Amico (Marc Strong). Das ganze nach dem Motto: «This town ain’t big enough for both of us.» Was vielleicht als Teenagerphantasie anfängt, stellt sich als die hundertmal originellere und spannendere Superheldengeschichte heraus, als es die Marvel- und DC-Verfilmungen jemals waren, weil sie in der quasirealen Welt der Handykameras und des Internetwildfeuers stattfindet. Die Stärke des Films liegt zweifellos darin, dass es sich um einen Genremix handelt, der auf allen Ebenen aufgeht. Er funktioniert als Actionfilm, Teeniekomödie, Satire und als Comicverfilmung (tatsächlich basiert der Film auf dem gleichnamigen Comic). Er kann einen durch ehrlich witzige Situationskomik Tränen in die Augen treiben, doch auch durch die teils unglaublich brutalen Prügeleien. Man wird konstant überrascht, ohne durch das Tempo völlig überfordert zu werden. Wieso macht es solchen Spass, einer Zwölfjährigen beim Abschlachten von Gangstern zuzusehen? Weil es eben so gut gemacht ist? In seiner Machart verweist der Film auf den ästhetischen

Sturm, den die sich gegenseitig beeinflussenden Medien auslösen. Hit Girls Actionsequenzen erinnern an Egoshooter-Spiele, verweisen aber auch auf die ästhetische Schule à la John Woo. Man darf den Film auch ruhig mit Tarantinos Pastichen vergleichen, wobei «Kick Ass» kein ödes Wiederkäuen des schon Vorhandenen ist, wie die letzten paar Filme des Kultregisseurs, sondern eine Kulmination unserer Erwartungen an das Kino. Regisseur Matthew Vaughn hat mit «Kick Ass» ein Hybrid seiner Zeit erschaffen, welches mit viel Ironie und genialer Action die perfekte Unterhaltung für Comicfans bietet, aber auch für Actionliebhaber, die auf etwas so Erfrischendes wie damals «Matrix» gewartet haben. Dabei schafft er es auch noch, eine nicht zu aufdringliche Prise Sozialkritik hineinzubringen. Denn Dave alias Kick Ass versteht es, einem die Leviten zu lesen. «With no power comes no responsibility», sagt er, «Except, that wasn’t true». Spiderman widersprechend, sagt er, was er von einer Gesellschaft hält, in der Zivilcourage als Dummheit abgetan wird. Vaughn hat übrigens schon seine nächste Comicverfilmung im Sack, denn 2011 soll er das nächste «X-Men»-Prequel herausbringen. Man darf hoffen, dass er das Marveluniversum aufzupeppen vermag und weitere Comicfans begeistern wird. Ganz in der Tradition der Comicverfilmungen, steht natürlich auch eine «Kick Ass»-Fortsetzung auf dem Plan. Man darf hoffen. «Kick Ass» jetzt läuft in den Kinos. Der Film dauert 117 Min.

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Kulturessay

IMPRESSUM

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Neues Altes Von Pascal Mülchi

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Bild: Jennifer Jordan alias Abigail Leslie / zVg.

ie hätte da so einen trashigen Film gesehen. Auf Arte. Sagte sie. Sogar eine FilmSerie namens Trash gäbe es da. Ah ja. Sagte ich. Und rums war der nächste anstehende Trash-Film auf Arte schon einverleibt. «Abigail Leslie is Back in Town». So hiess der Film. Eine Sexploitation-Soap aus dem Jahr 1975. Von Joseph W. Sarno. Einem Pionier dieser in urbanen Grindhouse-Theatern gezeigten Filme. Eine wunderbar dramatische Liebesgeschichte. Mit viel Sex. Und so. Mit Orgien. Und einer bisexuellen Liebesgöttin. Namens Abigail. Fünf Drehorte, vier männliche und sechs weibliche Charaktere. Lange Kameraeinstellungen. Leidenschaftliche Phrasen wie «Did he get into your pantys?». Männer, die sagen: «I never had time for no girls!» Aber der Trash in diesem Film? Arte schreibt, dass sie die Trash-Serie im Rahmen des Mitternachtkinos zeigen würden (der Film lief in der Nacht von Sonntag auf Montag um 03:00 Uhr in der Nacht...). Gedacht sei diese Plattform als Spielwiese für durchaus abseitige Filme, die eine zweite Chance verdienen würden. Schreibt Arte. Spielwiese, ja. Zweite Chance: Neues Altes. Sozusagen. Es sollten Filme gezeigt werden, die den herrschenden Normen entgegenstehen. Les-

ben in den 70ern. Oh ja. Und wie. Jahre bevor gleichgeschlechtliche Liebe zu einem Trend wurde. Eingebettet in der sexuellen Revolution. Der Film ebnete so dem Hardcore den Weg. Er ignoriert lustvoll die damals herrschenden moralischen Vorstellungen. Sarno lässt die Frauen vom Höhepunkt erzählen. Und lässt sie ihn dann erleben. Lässt sie mit Dildos spielen. Gleichzeitig kennt Sexgöttin Abigail ihr sexuelles Streben und Verlangen ganz genau. Trägt es verführerisch weiter. An offenbar gelangweilte Frauen. Und begeistert sie. Bringt die sexuelle Heilung. Den Frauen. Aber auch den Männern. Als Ganzes stellt sich der Film quer. Ist frech. Direkt. Provoziert. Schert sich nicht um Konventionen. Stellt sich dem Mainstream gegenüber. Schnell und billig seien die Trash-Filme produziert worden. Und würden sich mit Vorliebe auch noch an der Grenze zwischen Kitsch und Kunst bewegen. Schreibt Arte auch noch. Ersteres trifft zu, das zweite könnte zutreffen, weil vieles nach Jahren womöglich zu Kitsch wird. Und dann mit Kunst in Verbindung gelangt. Oder dann als das bezeichnet wird. Trash eben. Neues Altes. Etwas, das sich die Spielwiese nimmt. Und sich austobt. Oder es damals getan hat. Um heute wiederentdeckt zu werden.

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Kommunikationskultur in der Kulturkommunikation

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Herausgeber: Verein WE ARE, Bern Redaktion: Lukas Vogelsang (vl); Anna Vershinova // Heinrich Aerni, Peter J. Betts (pjb), Luca D’Alessandro (ld), Morgane A. Ghilardi, Isabelle Haklar, Till Hillbrecht, Guy Huracek (gh), Florian Imbach, Nina Knecht, Ruth Kofmel (rk), Michael Lack, Hannes Liechti, Irina Mahlstein, Pascal Mülchi, Fabienne Nägeli, Konrad Pauli, Eva Pfirter (ep), Alexandra Portmann, Jarom Radzik, Barbara Roelli, Anna Roos, Karl Schüpbach, Luca Scigliano, Christoph Simon, Kristina Soldati (kso), Sarah Elena Schwerzmann, Willy Vogelsang, Ralf Wetzel, Simone Wahli (sw), Simone Weber, Sonja Wenger (sjw), Gabriela Wild (gw), Ueli Zingg (uz). Cartoon: Bruno Fauser, Bern; Kulturagenda: kulturagenda.ch; ensuite - kulturmagazin, allevents, Biel; Abteilung für Kulturelles Biel, Abteilung für Kulturelles Thun, Werbe & Verlags AG, Zürich. Korrektorat: Lukas Ramseyer Abonnemente: 77 Franken für ein Jahr / 11 Ausgaben, inkl. artensuite (Kunstmagazin) Abodienst: 031 318 6050 / abo@ensuite.ch ensuite – kulturmagazin erscheint monatlich. Auflage: 10 000 Bern, 20 000 Zürich Anzeigenverkauf: inserate@ensuite.ch Layout: Lukas Vogelsang Produktion & Druckvorstufe: ensuite, Bern Druck: Fischer AG für Data und Print Vertrieb: Abonnemente, Auflage in Bern und Zürich - ensuite 031 318 60 50; Web: interwerk gmbh Hinweise für redaktionelle Themen erwünscht bis zum 11. des Vormonates. Über die Publikation entscheidet die Redaktion. Bildmaterial digital oder im Original senden. Wir senden kein Material zurück. Es besteht keine Publikationspflicht. Agendahinweise bis spätestens am 18. des Vormonates über unsere Webseiten eingeben. Redaktionsschluss der Ausgabe ist jeweils am 18. des Vormonates (www.kulturagenda.ch). Die Redaktion ensuite - kulturmagazin ist politisch, wirtschaftlich und ethisch unabhängig und selbständig. Die Texte repräsentieren die Meinungen der AutorInnen, nicht jene der Redaktion. Copyrights für alle Informationen und Bilder liegen beim Verein WE ARE in Bern und der edition ensuite. «ensuite» ist ein eingetragener Markenname. Redaktionsadresse: ensuite – kulturmagazin Sandrainstrasse 3; CH-3007 Bern Telefon 031 318 60 50 Fax 031 318 60 51 E-Mail: redaktion@ensuite.ch Web: www.ensuite.ch


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