Vom weissen Elefanten, dem Nordpol und den Schotten Über das Absurde zum Entwurf
Thesisbuch Herbstsemester 2020 Von Jana Mulle
Abstract Im Zentrum der Thesisarbeit steht die Auseinandersetzung mit dem Emmi-Areal in Luzern. In der vorliegenden Arbeit wird das bestehende Käselager der Emmi AG mit Wohnungen, Gewerbe und einem Flussbad ergänzt. Die Vorstellung, in einem Käselager zu wohnen, ist absurd, ebenso der Gedanke an eine «Badi» auf dem Dach des Lagers. Die unkonventionelle Aufgabe verlangt nach einer ebenso unkonventionellen Herangehensweise. Über das Absurde wird eine eigene Entwurfsmethode entwickelt. Als Steigbügel dient das absurde Theater von Eugéne Ionesco. Die daraus aufgegriffene Methode des Auseinandernehmens und neu Zusammenfügens wird auf das Arbeiten mit Bild und Text übertragen. Ausgehend von Ionescos Theaterstücken und inspiriert vom Kurzfilm Fischknusperli werden Szenen und Dialoge ausgearbeitet, wie sie auf dem neuen Emmi-Areal stattfinden könnten. Zu Beginn der Badesaison sind Rolf und Lisa in die Wohnungen im Käselager eingezogen. Gleichzeitig hat das Flussbad auf dessen Dach die Türen geöffnet. Heute ist der letzte Tag der Badesaison. Die Schatten sind lang, die Sonnenschirme geschlossen und die Stühle gestapelt. Die letzten Gäste tummeln sich auf den Flussbalkonen. Tamara trägt etwas Sonnenöl auf. Doch die Herbstsonne wird wohl nichts mehr ausrichten können. Verena möchte nochmals die Fischknusperli im Badi-Bistro bestellen. Lisa blickt auf den menschenleeren Fluss. Fast menschenleer. Rolf treibt zum letzten Mal dem Nordpol entgegen. Durch die entstehenden Zufälligkeiten im Bild und im Text wird das Projekt immer wieder hinterfragt und auf neue Wege gelenkt. Gewohntes kann in neue Zusammenhänge gestellt werden. Das Arbeiten mit Szenen und Dialogen führt zu einer vertieften Auseinandersetzung mit dem Projekt und lässt dessen Stimmung vermitteln. Die Theorie, die Collagen, die Szenenbeschriebe und Dialoge verschmelzen zu einem neuen Bild des Emmi-Areals.
«Theater machen heisst die Sprache zerbrechen, um auf das Leben zu stossen»1 Antonin Artaud
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Plocher 1987, S.56.
Vom weissen Elefanten, dem Nordpol und den Schotten
3
Über das Absurde zum Entwurf
Inhalt 1
Prolog
1.01
Der weisse Elefant
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Szene 1 - Badi Bisto - Sonntagnachmittag
8
1.02
Der Boden ist unten, die Decke ist oben
2
Von den Schotten zum Nordpol
Szene 2 - Hof Emmi Areal - Montagmorgen im Winter
12
Szene 3 - Käselager, erste Schotte - Montagmorgen im Winter
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2.01
Spezifische Strukturen sind nicht flexibel
14
2.02
Der Lake Shore Drive ist das ideale Käselager
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2.03 Häuser überleben ihre Funktion Szene 4 - Käselager, erste Schotte - Montagmorgen im Sommer
10
20 20
Jedes Haus ist wandelbar
36
Szene 5 - Käselager, zweite Schotte - Samstagabend
38
2.05
Mitten im Haus geht die Sonne auf
48
Szene 6 - Oberster Flussbalkon - Sonntagnachmittag
51
2.06
Die Reuss fliesst zum Nordpol
51
Szene 7 - Badi Bistro - Sonntagnachmittag
52
2.07
Der Missisippidampfer hat den Anker gelichtet
56
Szene 8 - Badi Bistro - Sonntagnachmittag
58
2.08
Nach dem Sommer kommt der Winter
60
2.09
Nach dem Sommer kommt die Sauna
62
Szene 9 - Badi Bistro Terrasse - Sonntagnachmittag
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2.10
Bilder beeinflussen Bilder
66
Szene 10 - Badi Bistro Terrasse - Sonntagnachmittag
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Begleitung Thesisprojekt Johannes Käferstein
Szene 11 - Unterer Flussbalkon - Sonntagnachmittag
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Szene 12 - Badi Bistro - Sonntagnachmittag
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Buchdruck Gegendruck GmbH Neustadtstrasse 26 6003 Luzern
Szene 13 - Oberster Flussbalkon - Sonntagnachmittag
72
Szene 14 - Unterer Flussbalkon - Sonntagnachmittag
72
Szene 15 - Oberster Flussbalkon - Sonntagnachmittag
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Szene 16 - Fluss vor dem Käselager - Sonntagnachmittag
74
3
Rückblick
79
5
Abbildungsverzeichnis
82
2.04
Thesisbuch Herbstsemester 2020 Vom weissen Elefanten, dem Nordpol und den Schotten - Über das Absurde zum Entwurf Verfasser Jana Mulle Burgweg 6 6402 Merlischachen Begleitung Thesisbuch Oliver Dufner
Lucerne University of Applied Sciences and Arts HOCHSCHULE LUZERN Technik & Architektur Technikumstrasse 21 6048 Horw Master in Architektur Herbstsemester 2020 Datum: 13.01.2021
Buchbinder Buchbinderei Notter St. Karli Strasse 71 6004 Luzern
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Literaturliste
Redlichkeitserklärung
Über das Absurde zum Entwurf
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Prolog
1.01 Der weisse Elefant Der Titel der diesjährigen Masterthesis lautet: White Elephants – Re-Programming Existing Fabric. Der Begriff des weissen Elefanten stammt von einer Geschichte aus Südostasien. Besass ein Monarch einen solchen heiligen Elefanten, zeugte dies davon, dass er mit Gerechtigkeit und Macht regierte und dass das Königreich mit Frieden und Wohlstand gesegnet war. Da die Tiere als heilig galten und nicht für die Arbeit verwendet werden durften, war das Geschenk eines weissen Elefanten Segen und Fluch zugleich. Der Beschenkte besass dann ein teuer zu unterhaltendes Tier, das er nicht nutzen konnte. Im Titel dieser Masterthesis steht der weisse Elefant für den Käse, welcher in der Stadt Luzern, am Ufer der 1 Reuss, gelagert wird. Im Rahmen der Thesisarbeit wird auf die Themen des Weiterbauens und des Aufwertens eingegangen - dies am Beispiel des Käselagers der Emmi AG. Das Gewerbe soll als Teil eines innerstädtischen Kontextes erhalten und nicht in die Agglomeration verdrängt werden. In diesem Sinne werden die 60`000 Laibe Sbrinz, die auf dem Areal gelagert werden, als geschenkten weissen Elefanten angenommen und der Emmi AG weiterhin ein Käselager mit dazugehörendem Umschlagplatz zur Verfügung gestellt. Das Potential des bestehenden Gewerbeareals soll gefunden und mit weiteren Nutzungen verdichtet werden. In der vorliegenden Thesisarbeit wird das Emmi-Areal mit Wohnungen, Gewerbe und einem Flussbad ergänzt. Die Vorstellung, in einem Käselager zu wohnen, ist absurd. Ebenso der Gedanke an eine «Badi» auf dem Dach des Lagers. Die unkonventionelle Aufgabe verlangt nach einer ebenso unkonventionellen Herangehensweise. Über das Absurde wird eine eigene Entwurfsmethode entwickelt. Als Steigbügel dient das absurde Theater von Eugéne Ionesco.
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Abb. 1. Collage: Der Blick aus dem Badezimmer.
Semesterprogramm 2020, S.63.
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Über das Absurde zum Entwurf
ROLF schreit Ich sage, dass…
Abb. 2. Der Mythos des weissen Elefanten.
VERENA Was ist das? TAMARA springt auf, stösst den Stuhl um, schaut nach unten. Oh, ein weisser Elefant! DIE BRAUT springt auf, stösst einen Stuhl um. Oh, ein weisser Elefant! ROLF bleibt sitzen Ein weisser Elefant! In umgekehrter Richtung. DER VATER VON MIA Oh, ein weisser Elefant! Ein Auschnitt aus dem
Szene 1 - Badi-Bistro - Sonntagnachmittag
VERENA springt auf, stösst einen Stuhl um. Oh, ein weisser Elefant, in vollem Lauf auf der Sankt Karli Brücke!
Theater «Die Nashörner» von Ionensco, angepasst auf das Thesisprojekt.
Von neuem hört man, wiederum rasch sich nähernd, den Galopp, das Schnauben, den heissen Atem eines weissen Elefanten. Doch diesmal in umgekehrter Richtung, von hinten nach vorne.
MARCO kommt mit einem Tablett und Gläsern heraus. Was ist los? Oh, ein weisser Elefant! Er lässt das Tablett fallen, die Gläser zerbrechen.
ROLF zu Tamara Kennen Sie das Avantgarde-Theater, von dem man so viel spricht? Haben Sie den neuen Ionesco gesehen?
LISA steckt den Kopf aus dem Fenster im ersten Stock Oh, ein weisser Elefant.
TAMARA zu Rolf Nein, leider nicht! Ich habe nur davon reden hören.
ROLF Noch lange kein Grund, die Gläser kaputtzuschmeissen.
ROLF sehr laut Er wird zurzeit gerade gegeben. Nehmen Sie die Gelegenheit wahr.
VERENA Er stürmt vor sich hin, knapp an der Kirche vorbei. MARCO Das ist die Höhe!
TAMARA zu Rolf Was sagen Sie? Grosser Lärm überdeckt die Stimmen.
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1.02 Der Boden ist unten, die Decke ist oben Beim absurden Theater handelt es sich um eine Abwendung vom klassischen Theater. Die klassischen Einheiten der Zeit, der Handlung und des Ortes werden aufgehoben. An ihre Stelle treten unlogische Szenarien, absurde Handlungen und wahllos 2 verknüpft erscheinende Dialogreihen. Das absurde Theater, auch Antitheater genannt, entstand in den 1950er Jahren. Den Autoren liegt die Angst einer der Apokalypse entronnenen Kriegsgeneration zugrunde. Ihre Stücke spiegeln eine von Sinnlosigkeit umzingelte Welt 3 wieder, eine Welt voller orientierungsloser Menschen. Einer der wichtigsten Vertreter des absurden Theater ist Eugène Ionesco. Die Entstehungsgeschichte seines Theaters ist selbst absurd: Ionesco lernte Englisch und musste banale und unwiderlegbare Mustersätze einpauken. «Der Fussboden ist unten. Die Decke ist oben». Dabei geschah etwas Seltsames. «Der Text verwandelte sich vor meinen Augen, unmerklich und gegen meinen Willen. Die simplen und einleuchtenden Sätze, die ich mit so viel Fleiss in mein Schulheft übertragen hatte, begannen sich von ganz alleine zu bewegen, sie zersetzten und deformierten sich. (...) Die Welt schien in ein 4 bizarres Licht getaucht, vielleicht in ein wahres Licht» Seine Werke «Die kahle Sängerin» und «Die Nashörner», mit denen im Rahmen der Thesisarbeit gearbeitet wird, gehören zu den Klassikern der Avantgarde.
Abb. 3. Collage: Die Dickhäuter auf der Sankt Karli Brücke. Im Theater Die Nashörner von Eugène Ionesco geht es um die Verwandlung einer ganzen Stadt in eine Schar schnaubender, mörderischer Dickhäuter.
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2
Plocher 1987, S.54.
3
Plocher 1987, S.57.
4
Plocher 1987, S.52.
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2 Von den Schotten zum Nordpol Szene 2 - Hof Emmi-Areal – Montagmorgen im Winter Rolf (63) fährt mit seinem kleinen Lieferwagen auf das Areal der Emmi AG. Wie jeden Morgen parkt er sein Wagen und bleibt noch einige Minuten sitzen, um seinen Kaffee aus der Thermosflasche zu trinken. Es ist ein kalter Wintertag, der das Areal trostlos erscheinen lässt. Das Käselager ist ein Reststück der einstigen Industrie entlang der Reuss. Mittlerweile hat die Stadt Luzern das Gewerbeareal mit seinen Aussenquartieren umschlossen. Das Areal scheint ein austauschbares Fragment zu sein, das ohne wesentliche Bezüge zu seiner Umgebung, wie eine Insel im Stadtraum steht. Gegen aussen entsteht ein Ausdruck von Geschlossenheit und Eintönigkeit, ausgelöst durch die grossmassstäbliche, flächige Struktur und die geschlossene Fassade. Der Ort ist nicht belebt. Rolf und drei weitere Angestellte arbeiten im Käselager. Der grosse Umschlagplatz bleibt weitgehend leer. Den Gebäuden gelingt es nicht, das charaktervolle, bodenständige Bild des Sbrinz-Käses gegen aussen zu tragen.
Abb. 5. Bilder von der Homepage des Sbrinz Käse. Das urchige Bild soll in den Köpfen der Konsumenten verankert werden.
Szene 3 - Käselager, erste Schotte – Montagmorgen im Winter Rolf arbeitet schon viele Jahre im Käselager der Emmi AG. Er weiss alles über den Sbrinz-Käse und führt auch dessen Qualitätskontrollen durch. Der Käse wird in 26 ausgewählten Talund Alpkäsereien in der Zentralschweiz hergestellt und dann 5 zum Reifen ins Käselager gebracht. Rolf zieht seine Schutzkleidung an, geht den Gang entlang und öffnet die erste Tür rechts. Der Geruch nach Käse wird intensiver. Er betätigt den Lichtschalter. Ein warmes Licht beleuchtet den langen schmalen Raum, jedoch nicht ganz hell. Die 40kg schweren Käselaibe stehen in Regalen aus Weisstannenholz. Rolf zieht den ersten etwas hinaus und reibt ihn mit einem rauen Leintuch ab. Sorgfältig schiebt er den Käse danach wieder ins Regal zurück. Er geht weiter und zieht den nächsten hinaus. Zu Beginn des Lagerns muss der Sbrinz alle zwei Wochen abgerieben werden, später noch einmal im Monat. Je länger die Reifedauer, desto würziger und aromatischer schmeckt der Käse. Rolf platziert eine Leiter und klettert geübt hinauf, um auch den zuoberst gelagerten Käse abzureiben. Als er alle Käselaibe abgerieben hatte, tritt er zurück und betrachtet stolz die Käsewand.
Abb. 4. Der bestehende Umschlagplatz des Emmi- Areals.
5 Sbrinz.ch
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2.01 Spezifische Strukturen sind nicht flexibel
schen Struktur. Da der Käse nicht dem Licht ausgesetzt werden sollte, braucht das Haus keine Fenster. Man kann so behaupten, dass die Strukturen des Käselagers spezifisch für die Nutzung geplant wurden und nicht flexibel sind. Interessant ist jedoch, dass die beiden Gebäudeteile, die innerhalb von weniger als dreissig Jahren entstanden sind, ganz unterschiedliche Strukturen aufweisen. Der Käse braucht also keine spezifische räumliche Struktur, um gelagert zu werden.
Das Käselager der Emmi AG wurde 1926 eröffnet. Das Gewerbehaus wurde im Heimatstil erbaut und stand auf einem als Stützmauer ausgebildeten, dreigeschossigen Sockelbau. Das Käselager wurde seit der Eröffnung mehrmals umgebaut und vergrössert. Heute lagert an der Reuss der gesamte SbrinzKäse. Vom ursprünglichen Gebäude ist nur noch der Sockelbau vorhanden. Abb. 6. Das ursprüngliche Käselager im Heimatstil.
Abb. 7. Axonometrie eines Regelgeschosses im Bestand.
Abb. 8. Bestehender Grundriss: Der Bau von 1961 ist in einer Schottenbauweise gebaut. Nicht jede Schotte hat eine tragende Funktion. Der Bau von 1985 weist ein Stützenplattensystem auf.
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1961 wurde das Käselager erweitert. Es entstand ein neues Lagerhaus mit einem Verbindungsbau zum bestehenden Haus. Der Erweiterungsbau wurde in einer Schottenbauweise aus Beton ausgeführt. Die Schotten haben ein Achsmass von drei Meter. Zwei Regalreihen und der Gang in der Mitte ergeben diese Breite. 1985 wurde das eingeschossige, im Heimatstil gebaute Gewerbehaus durch ein dreigeschossiges Lagerhaus ersetzt. Der Sockelbau in Schottenbauweise wurde belassen, darauf wurde ein Stützenplattenbau erstellt. Die Struktur scheint auf den ersten Blick flexibel. Das Stützenplattensystem ermöglicht eine freie Einteilung des Grundrisses. Die tragende, geschlossene Aussenwand aus Backstein, welche das Gebäude auch aussteift, macht das Gebäude jedoch wieder zu einer spezifi-
Abb. 9. Bestehender Grundriss: Der Sockel von 1926 wurde in einer Schottenstruktur gebaut und blieb bis heute erhalten. Die Untergeschosse des 1961 erbauten Lagerhaus wurde ebenfalls in einer Schosttenbauweise ausgeführt.
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2.02 Der Lake Shore Drive ist das ideale Käselager «Only a a clear expression of the structure could give us an 6 architectural solution which would last.» Mies van der Rohe Mies van der Rohe war überzeugt, dass eine modulare Ordnung, eine klare Struktur und ein flexibler Ausbau die Vorausset7 zungen für eine dauerhafte Architektur seien. Bauten bleiben bestehen, ihre Funktionen aber veralten. Darum soll ein Gebäude nicht seine Funktion abbilden, sondern eine flexible Struktur aufweisen. Die Struktur, nicht die Funktion, soll dem Gebäude seinen Charakter geben. Mit dem freien Grundriss wird auf tragende Wände verzichtet. Die Stützen tragen die Lasten ab, so dass die Trennwände frei gesetzt werden können. Der Grundriss ist so von konstruktiven Zwängen befreit. Auch eine tragende Fassade ist nicht mehr notwendig. Diese kann wie der Grundriss frei gestaltet werden. Bei den Bauten Lake Shore Drive, welche 1951 in Chicago entstanden, wandte Mies van der Rohe das modulare System an. Die Skelettkonstruktion wird zum Rahmen. Die Trennwände innerhalb der Wohnung sind verschiebbar. Diese Struktur aus Gerüst und Füllung ist ein Prinzip, das wechselnden Bedürf8 nissen gerecht zu werden vermag. Abb. 10. Collage: Das Käselager im Lake Shore Drive.
Abb. 11. Collage: Der Lake Shore Drive im Käselager.
Abb. 12. Collage: Der Lake Shore Drive als Käselager.
6
Jürgenhake/ Leupen 2005, S.22.
7 ebd. 8
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Blaser 1999, S. 10.
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Abb. 13. Die Türme des Lake Shore Drive von Mies van der Rohe.
18
Abb. 14. Das 1985 erbaute Käselager mit den Betonstützen und der tragenden Aussenwand aus Backstein.
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2.03 Häuser überleben ihre Funktion Für die Masterthesis soll das Areal der Emmi AG mit Wohnungen verdichtet werden. Es stellt sich die Frage, ob die bestehenden Strukturen noch den heutigen Wohnbedürfnissen der Gesellschaft entsprechen. Veränderungen in der Architektur passieren nur langsam. Wir leben in Strukturen, die in einer anderen Zeit entstanden sind. Aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen zeigen einen Trend zur Individualisierung und zu einer steigenden Vielfalt an Lebensstilen. Auch das Mobilitätsverhalten und die Arbeits9 strukturen verändern sich. Diese sozialen Veränderungen haben eine Auswirkung auf die Wohnbedürfnisse. Die Professur Mosayebi an der ETH Zürich stellte zwölf Thesen zur Architektur der zweiten Moderne auf. Eine These lautet: Die Architektur der Zweiten Moderne steht für Wandelbarkeit, Verschiebung, Auflösung und Flüchtigkeit. Ihre Eigenschaft ist 10 das Nicht-Feste. Dies spielgelt sich auch im oft verwendeten Begriff der Flexibilität wieder. Flexibles Bauen wird im Studium angesprochen oder in aktuellen Wettbewerbsprogrammen gefordert. Flexibilität kann unterschiedlich verstanden und erreicht werden. Zum Beispiel durch die Vielfalt des Wohnungsangebots, durch die Möglichkeit, Wohnungen zu erweitern und zusammenzulegen oder durch die Veränderbarkeit des Grundrisses innerhalb der Wohnung. Angetrieben vom Nachhaltigkeitsgedanken gilt heute: Unsere Bauten müssen wandelbar sein.
Er öffnet den Karton, nimmt das erste Buch hinaus und wischt es mit einem rauen Leintuch ab. Sorgfältig platziert er es im Regal aus Weisstannenholz. Er nimmt das nächste hinaus. Rolf platziert eine Leiter und klettert geübt hinauf, um auch das oberste Regal mit Büchern zu füllen. Als er alle Bücher abgewischt und im Regal platzierte hat, tritt er zurück und betrachtet stolz die Bücherwand. Dann blickt er aus dem grossen Fenster auf den Fluss. Das Rentnerleben kann beginnen! Morgen will Rolf einen Reusssack, einen wasserfesten Schwimmbeutel, kaufen. Diese werden nun auf dem Areal im neuen Gewerbehaus produziert. Abb. 15. Flussschwimmer mit wasserfesten Schwimmbeuteln.
Szene 4 - Käselager, erste Schotte – Montagmorgen im Sommer Pünktlich zu seinem 65. Geburtstag kann Rolf in seine neue Wohnung einziehen. Einen Umzugskarton tragend, geht er den Gang entlang und öffnet die erste Tür rechts. Der Geruch von frischer Farbe wird intensiver. Er betätigt den Lichtschalter. Ein warmes Licht beleuchtet den langen schmalen Raum, jedoch nicht ganz hell.
9
Breit 2018, S. 66/67.
10 Mosayebi
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Abb. 16. Die Ansicht auf das Käselager von der gegenüberliegenden Flussseite.
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Abb. 17. Längsschnitt durch das Käselager. Nächste Seite Abb. 18. Erdgeschossplan des ganzen Emmi-Areals.
BADI BISTRO
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Masterthesis | EG-1:400-möbliert | 1:400
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Abb. 19. Der Blick von der Sankt Karli Kirche.
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onalVersion
Abb. 20. Schnitt durch das Emmi-Areal.
Abb. 21. Ansicht des Emmi-Areals.
KÄSE KIOSK
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Abb. 22. Die Grundrisse des neuen Gewerbehaus auf dem Emmi-Areal. Im Erdgeschoss befindet sich ein Gemüseladen. Im zweiten Obergeschoss werden Reusssäcke produziert.
Abb. 23. Die Ansichten des Gewerbehauses.
Chäsigwärb
Chäsigwärb
GSEducationalVersion
GSEducationalVersion
Masterthesis | Gewerbehaus | 1:200 Masterthesis | Gewerbehaus | 1:200 GSEducationalVersion GSEducationalVersion
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Abb. 24. Der Hof des Emmi-Areals.
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2.04 Jedes Gebäude ist wandelbar
Der Industriekomplex aus der Jahrhundertwende, der aus über 30 Silos, unterirdischen Galerien und riesigen Maschinenräumen bestand, zeigt seine Geschichte. Immer wieder wurde um- und weitergebaut. So entstanden wahrscheinlich auch gewisse absurde Elemente. Es gibt Treppen, die ins Nichts führen, Bauteile, die ins Leere hangen, komisch proportionierte Räume und gross dimensionierte Betonstrukturen, die nichts mehr tragen. Es ist ein surrealer Ort mit dem Potential, für jede beliebige Nutzung genutzt werden zu können.
Ricardo Bofill kaufte in den frühen 1970er Jahren eine stillgelegte Zementfabrik in Katalonien, mit dem Ziel, das Areal zu seinem Wohn- und Arbeitsort zu machen. Zusätzlich entstand ein Arbeitsbereich für seine Mitarbeiter, ein Konferenz- und Ausstellungsraum, eine Modellwerkstatt und Archivräume. «In the Renaissance and Baroque periods, somebody would turn up and add a new bit on an existing building that remained in place. I wanted to repeat this experience, not only with a normal 11 building, but the most complicated one, a cement factory.»
«Dealing with an existing structure involves an additional dilemma, which is what to preserve and what should be demolished. Finding the balance is always the greatest challenge. A sensitive juxtaposition proves that contemporary architec12 tural interventions can enhance a building`s historical value.»
Ricardo Bofil Abb. 25. Die umgebaute Zementfabrik von Ricardo Bofil.
Ricardo Bofil
Der Umgang mit einem bestehenden Bauwerk bringt die Frage mit sich, was erhalten und was abgerissen werden sollte. Das Gleichgewicht zu finden, ist die größte Herausforderung. Eine Gegenüberstellung von Alt und Neu beweist, dass zeitgenössische architektonische Eingriffe den historischen Wert eines 13 Gebäudes steigern können. Die Begrünung des Fabrikgebäudes war ein wichtiger Schritt, um den Ort zum Leben und Arbeiten brauchbar zu machen. Die Dächer wurden begrünt und verschiedene Gärten innerhalb des Fabrikgeländes angelegt. Eukalyptusbäume, Olivenbäume und Palmen wurden gepflanzt. Zypressen stehen in den Backsteinhöfen, Kletterpflanzen umschlingen die filigranen Fensterelemente und wachsen an den Fassaden empor. Kiefer verdecken den Blick auf die Umgebung und umgekehrt. Die Pflanzen haben die Gebäude im Laufe der Zeit verschlungen und die Grenze zwischen dem Gebauten und der Natur verwischt. Das einst karge Monument wird in die Landschaft 14 eingebettet.
12 Bofil/Klanten/Niebius/Marinai 2019, S.242. 13 ebd. 11
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Bofil/Klanten/Niebius/Marinai 2019, S.238.
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14 ebd.
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Abb. 26. Die Gärten auf den Dächern der Zementfabrik von Ricardo Bofil.
Abb. 27. D er Blick auf den Fluss.
Morgen ist der letzte Tag der Badesaison. Das heisst Lisas letzter Tag als Badeaufsicht. Danach beginnt die Saunasaison auf dem Dach des Käselagers. Um die Wintersaison einzuläuten, hat sich Lisa beim KäseKiosk im Erdgeschoss ein Fondue gekauft. Mit dem Brot im Käse schwenkend, lässt sie die Sommermonate vor ihren Augen passieren. Delfine, Flamingos und Wassermelonen schwimmen im Käse. Einmal mit dem Brot umrühren und sie versinken. Ein Mann mit Schnorchel taucht auf. Ein anderer wirft seine Fischerrute hinein und zieht ein Brotstück hinaus. Lisa schwenkt ihr Brot im Uhrzeigersinn. Eine Frau in sportlichem Schwimmanzug krault gegen den Strom. Das Fondue riecht gut. Lisa mag Käse – glücklicherweise. Lisa überlegt. Soll sie nochmal nach unten gehen und sich das letzte Mal vom Fluss treiben lassen? Doch mit vollem Bauch sollte man nicht ins kalte Wasser. Bald öffnet die Sauna auf dem Dach des Käselagers. Lisa sieht sich schwitzend im sprudelnden Fonduebad.
Szene 5 - Käselager, zweite Schotte - Samstagabend Lisa (35) sitzt in Badeaufsichtsuniform am Esstisch und kreist ihre Gabel im Fondue. Sie wohnt im Käselager der Emmi AG. Die Wohnung hat sie über ihren Onkel Rolf bekommen. Dieser arbeitete im Käselager und wohnt nun auch nebenan. Die Wohnungen wurden in die bestehende Schottenstruktur des Käselagers eingefügt. Früher wurde hier Käse gelagert. Die Wohnungen sind lang und schmal. Etwa so wie eine Schwimmlänge im Hallenbad, in dem Lisa trainiert. Zum Teil werden die Schotten aufgebrochen und wellenartige Wände öffnen den Raum oder stossen in ihn hinein und zonieren ihn so. Von ihrem Esstisch sieht Lisa die Reuss.
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Abb. 28. Querschnitt. In den Untergeschossen bleibt das Käselager bestehen. Die Wohnungen entstehen in den oberen Geschossen. Ein neues Dachgeschoss entsteht.
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Abb. 29. Grundrisse vom Untergeschoss zum Dachgeschoss.
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Masterthesis | A3-EG | 1:200
GSEducationalVersion
Masterthesis | A3-2OG | 1:200
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Masterthesis | A3-UG | 1:200
SEducationalVersion
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Über das Absurde zum Entwurf Masterthesis | A3-1OG | 1:200
Masterthesis | A3-4OG | 1:200
GSEducationalVersion
Abb. 30. Der neue Dachgarten auf dem ehemaligen Käselager.
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45 Masterthesis | A3-Dach-Sommer | 1:200
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Abb. 31. Zwei Wohnungen. Die Wohnungen werden über das erste ObergeGSEducationalVersion schoss erschlossen.
Mast
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2.05 Mitten im Haus geht die Sonne auf «Stellen Sie sich ein tiefes Haus vor, in alle Richtungen wirklich tief, vielleicht zwanzig Meter. In seiner Mitte ist es nicht dunkel, sondern mit Tageslicht hell beleuchtet. Das Licht der Sonne wird über gerichtete Spiegel in das Innere des Hauses geführt. So strahlen aus der Tiefe des Hauses zarte Sonnenaufgänge, die gleissende Mittagssonne oder rosafarbenes Abendlicht. – Was wie Science-Fiction klingt, wäre in Alltagsbauten möglich und 15 folgt den physikalischen Gesetzen der Optik.» Elli Mosayebi Elli Mosayebi kritisiert, dass Energiefragen viel zu lange ein Schattendasein führten. Ein gutes Raumklima wird vorausgesetzt, die Energiequellen und die Gebäudetechnik bleiben aber möglichst unsichtbar. Standardlösungen werden gebaut, ohne Alternativen getestet zu haben. Der Umgang mit erneuerbaren Energien soll zum integralen Bestandteil der Planung werden. Neue Techniken könnten unsere Architektur nicht nur konzeptionell, sondern auch in ihrem Ausdruck grundlegend verändern. Das gewählte Energiesystem kann Raum und Form erzeugen 16 und hat somit ein grosses architektonisches Potential. Im oben aufgeführten Zitat geht Elli Mosayebi auf das Thema der Belichtung ein. Das Sonnenlicht bringt nicht nur Licht, sondern auch Wärme. An kalten Tagen können die Wärmestrahlen über Spiegel ins Hausinnere gelenkt werden. Die Sonneneinstrahlung kann direkt in Wärme übersetzt werden. Häuser, die ihre Wärme nur von der Sonne und von Abwärme beziehen, werden bereits gebaut. Durch das Arbeiten mit Spiegeln könnte die Effektivität weiter erhöht werden. Wird die Energieproduktion und ihre Verteilung sichtbar gemacht, gewinnt die Architektur an physischer Präsenz, bewirkt Teilhabe und 17 schafft Identität. Abb. 32. Der Sonnenaufgang in der Wohnung.
15 Mosayebi 2019 16 ebd. 17 ebd.
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Szene 6 - Oberster Flussbalkon - Sonntagnachmittag Die Pflanzen auf dem Liegedeck des Flussbads haben ihre Blätter abgeworfen. Die Schirme sind bereits geschlossen und die Stühle gestapelt. Die Schatten sind lang, am letzten Tag der Badesaison. Tamara (56) liegt auf ihrem Badetuch auf dem obersten Flussbalkon. Ihr Körper im Bikini ist schlank, so jung gehalten wie möglich aber für ihren Geschmack noch nicht braun genug. Die Herbstsonne wird wohl nichts mehr ausrichten können. Trotzdem trägt sie etwas Sonnenöl auf und richtet sich die Sonnenbrille. Seit das Flussbad auf dem Dach des Käselagers eröffnet wurde, liegt Tamara fast jeden Tag auf dem obersten Flussbalkon. Das Flussbad ist ihr Garten, ihr Balkon. An heissen Tagen hat sie sich auch einmal in den Fluss gewagt, jedoch nur bis zur ersten Ausstiegsstelle. Der Gärtner geht, den Boden schruppend, hinter Tamara durch. Sie presst die Augen hinter ihrer Sonnenbrille zusammen und krallt sich in den Stoff des Tuches, als könnte sie mit genügend Konzentration den kratzigen Ton verschwinden lassen. 2.06 Die Reuss fliesst zum Nordpol Die Publikation «Swim City», die im Rahmen einer Ausstellung des schweizerischen Architekturmuseums entstand, lenkt erstmals den Blick auf ein zeitgenössisches Phänomen im urbanen Raum: das Flussschwimmen als Massenbewegung. Das urbane Schwimmen in der Schweiz ist keine nationale Bewegung, sondern in den verschiedenen Städten relativ unabhängig voneinander entstanden. Jeder Ort hat eine eigene Tradition, die von den topografischen und kulturellen Gegebenheiten einer Stadt abhängt. Tatsache ist, dass der Fluss durch das alltägliche Schwimmen zu einem wichtigen öffentlichen Raum 18 wurde. Die Möglichkeit, sich am Flussufer aufzuhalten, stellt 19 eine grosse Qualität innerhalb einer Stadt dar. Das Baden hat in Luzern eine lange Tradition.
Abb. 33. Collage: Baden auf den Flussbalkonen.
18 Ruby / Shinohara 2019, S.9. 19 Ruby / Shinohara 2019, S.14.
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MARCO So, was wünschen Sie, Verena?
Das Flussschwimmen, wie es in anderen Städten praktiziert wird, ist jedoch erst am Entstehen. Die entsprechende Infrastruktur für das Flussschwimmen in der Reuss war bis vor kurzem noch nicht vorhanden. Nun entsteht eine Flussschwimmzone, bei deren Einrichtungen auf Sicherheitsmassnahmen zurückgegriffen wird, die sich in anderen Städten 20 bewährt haben. In Zusammenarbeit mit der Schweizerischen Lebensrettungsgesellschaft liess die Stadt eine Reusskarte erstellen. Diese informiert über empfohlene Ein- und Ausstiege in die Reuss und über Naturschutzzonen, die zum Schutz der Fische, Vögel und Pflanzen gemieden werden sollten. Neben den Rettungsgeräten, die entlang dem Ufer positioniert wurden, gibt es zwei neue Treppen, die für einen sicheren Einstieg in den Fluss sorgen. Die Stadt will verhindern, dass selbstständig ein Weg ins Wasser gesucht wird. Ausserdem können durch zusätzliche Ein- und Ausstiegsstellen auch kürzere Strecken 21 geschwommen werden.
VERENA Ich hätte gerne die Fischknusperli. MARCO (seufzt) Wie gesagt, Verena, wir haben nichts Warmes mehr. Verena schaut ihn fragend an. MARCO Nur noch Snacks. Verena schaut etwas verloren auf die Karte. MARCO Ich gebe dir nochmals eine Minute. Marco watschelt davon.
Szene 7 – Badi Bistro – Sonntagnachmittag Verena (82) sitzt als einzige Besucherin an einem Tischchen im Badi Bistro. Sie studiert die Karte. Im Hintergrund sind laute Geräusche hörbar. In der Küche wird wohl aufgeräumt. Verena kommt regelmässig ins Flussbad. Obwohl sie nicht mehr schwimmen geht, geniesst sie die Badi-Stimmung. Als Kind war sie gerne im Wasser. Sie erinnert sich an den Mississippidampfer, das frühere Flussbad in der Reuss. Es war ganz anders. Oder nicht? Verena studiert die Menükarte. Flip-Flop-Geräusche kündigen den Kellner an. Marco (23) geht auf den Tisch zu. Er trägt Badehosen und ein Hawaiihemd mit dem Logo des Flussbads auf der Brust. In der Hand hält er einen Notizblock.
Abb. 34. Verena und Marco im Badi Bistro.
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20 Ruby / Shinohara 2019, S.37. 21 Stadt Luzern
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2.07 Der Mississippidampfer hat den Anker gelichtet Zu Beginn des 19. Jahrhunderts versuchte die Luzerner Regierung die aufgekommene Badelust in einen geordneten Rahmen zu lenken. Das Baden wurde nur an bestimmten Orten, zu 22 bestimmten Zeiten erlaubt. Die erste Badeanstalt in Luzern wurde 1827 in Betrieb genommen. Danach war das Eis gebro23 chen und es entstanden weitere Bäder. Auch entlang der Reuss wurde gebaut. 1860 und 1862 entstanden die Reussbäder im Sankt Karli-Quartier und bei der Geissmatt. Diese kleinen Badeanstalten waren nur im Sommer 24 geöffnet. Das Sankt Karli-Bad war ein eingeschossiger Holzbau, der 14 Meter in den Fluss hinausragte. Es gehörte zum Kurhaus Sankt Karli, das Molkenkuren, russische Dampfbäder und aromatische Räucherungsbäder anbot. Das Kurhaus und das Bad wurden über die Reuss mit einer Fähre erreicht. 1907 wurde das baufällige Bad abgebrochen.
Frauen. Dem Gebäude war ein Badebassin für die Männer angefügt, das von Latten eingefasst wurde und das Schwimmen im Fluss ermöglichte. Dieses wurde auch von den Schülern der Stadt- und Kantonsschulen genutzt. Später wurde das Bad von der Stadt aufgekauft und eine Badeordnung mit Tarifen erlassen. Das Bad wurde 1899 mit dem Ausbau des Stankt Karli-Quais 25 entfernt. 1868 wurde mit dem Bau der Bade- und Waschanstalt Spreuerbrücke eine Lücke in der hygienischen Versorgung der Stadt Luzern geschlossen. Diese stellte kalte und warme Bäder in Badewannen zur Verfügung und war während des ganzen 26 Jahres geöffnet. Links befand sich der Eingang zur Badeanstalt, rechts jener der Wäscherei. Die schiffähnliche Konstruktion, die unterhalb der Spreuerbrücke im Fluss stand, war unter 27 dem Namen «Mississippidampfer» bekannt. Abb. 37. Die Bade- und Waschanstalt unterhalb der Spreuerbrücke.
Abb. 36. Das Sankt Karli Bad, Lithographie der Gebrüder Eglin.
Das Geissmattbad am Sankt Karli-Quai wurde etwas flussaufwärts beim Nölliturm errichtet und ragte ebenfalls in den Fluss hinaus. Das Gebäude enthielt Separatbäder für Männer und 25 Horat 2008, S.100. 22 Horat 2008, S.32.
26 Horat 2008, S.36.
23 Horat 2008, S.34.
27 Horat 2008, S.102.
24 Horat 2008, S.36.
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Verena durchsucht die Karte.
Das Gefühl, sich auf einem Schiff zu befinden, das jeden Moment den Anker lichten könnte, liess den Aufenthalt in der Badeanstalt zu einem abenteuerlichen Erlebnis werden. Der Ort wurde zum beliebten Volksbad mit Bädern aller Art. Es gab Schwefel-, Meersalz-, Kiefernadel- und Kleienbäder sowie Eisen- und parfümierte Seifen- und Schwitzbäder. Die Gäste kamen mit der Reuss jedoch nie direkt in Berührung. Zum Baden standen Badekästen, später Duschen und in den Boden eingetiefte Badewannen zur Verfügung. Die städtische Reinigungsanstalt, mitten in der Stadt, schnell erreichbar und praktisch eingerichtet, fand ebenfalls zu grosser 28 Beliebtheit. 100 Jahre nach der Eröffnung wurde der Betrieb der Badeanstalt wegen Personalmangels und technischer Schwierigkeiten eingestellt. Zudem besassen immer mehr Haushalte eigene Badezimmer und auch die Wäsche musste nicht mehr an öffentlichen Orten gewaschen werden. Trotzdem sammelte ein Komitee Unterschriften für die Erhaltung des Bades. Es forderte die Renovation oder einen Neubau an gleicher Stelle. 1971 wurde das Bad jedoch abgebrochen und bis 29 heute nicht ersetzt.
VERENA Das hat Hermann immer... MARCO Verena, wir haben nur noch Snacks und Getränke. Sorry. Verena reagiert nicht. Marco überlegt. MARCO Ich bin gleich zurück. Marco geht ab.
Szene 8 – Badi Bistro – Sonntagnachmittag Verena studiert noch immer die Karte. Die Flip-Flop-Geräusche werden lauter. MARCO So, hast du dich entschieden? VERENA Ja, wenn es die Fischknusperli nicht gibt, dann nehme ich wieder einmal das Eglifillet mit Bratkartoffeln. Marco stösst Luft aus. MARCO Das ist auch warm. GSEducationalVersion
28 Horat 2008, S.108.
Abb. 38. Das Flussbad auf den Käselager. Verena bestellt Fischknusperli im Badibistro. Tamara verbringt die letzten Stunden auf dem obersten Flussbalkon.
Masterthesis | A3-Dach-Fischknusperli | 1:200
29 Horat 2008, S.109.
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Badi Bistro - Sonntagnachmittag Flip-Flop- Geräusche - Marco rennt erfreut zu Verenas Tisch zurück.
Abb. 39. Filmstill aus dem Kurzfilm Fischknusperli. Lisa überblickt das leere Schwimmbecken.
MARCO Verena! Sie können die Fritteuse nochmals heiss machen. Das heisst, ich kann dir die Portion Fischknusperli mit PommesFrites bringen. Verena ist immer noch mit der Menükarte beschäftigt. MARCO Was meinst du? VERENA Hm, aber diesen Röstiteller hatte ich auch schon lange nicht mehr..
Abb. 40. Filmstill aus dem Kurzfilm Fischknusperli. Marco nimmt die Bestellung auf.
Marco schlägt seinen Block auf die Tischplatte. Verena erschrickt. MARCO Es gibt Fischknusperli oder nichts, Verena!
2.08 Nach dem Sommer kommt der Winter Der Kurzfilm Fischknusperli entstand im Rahmen des Projektseminars Figur und Konflikt an der Zürcher Hochschule der Künste. Die Personen aus dem Film stecken in einer Phase der Trauer über anstehende Veränderungen und haben Mühe loszulassen. Dies in dem nostalgischen, leicht surrealen Setting eines Freibades im Herbst, am letzten Tag der Badesaison. Abwechselnd werden einzelne Szenen aus dem Freibad gezeigt. Es gibt nur wenige Dialoge, doch die Bilder sprechen für sich. Starke Farben und Texturen lassen die Filmszenen wie bewegte Gemälde erscheinen. Durch die horizontale Bildsprache, die durch die architektonischen Elemente zum Ausdruck kommt, entstehen grafische Kompositionen.
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Abb. 41. Filmstill aus dem Kurzfilm Fischknusperli. Mia zeigt zum Himmel.
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2.09 Nach dem Sommer kommt die Sauna Das Seebad Enge wurde 1960 als zweiteilige Badeanlage auf dem Zürichsee konzipiert. Sie war unterteilt in ein Frauen- und ein Männerbad. Heute besteht noch die Frauenseite. Der Männerteil ist einem gemischten Bereich gewichen. Im Winter bietet das Seebad Enge einen Saunabereich an. Ich besuchte das Seebad an einem Freitagabend im November. Ich bezahlte die Eintrittsgebühr für die Sauna an der Theke des kleinen Bistros, wo auch Suppe und Kuchen verkauft wird. Da es mein erster Besuch war, wurde mir die Infrastruktur kurz erklärt. Im Untergeschoss befinden sich die Garderoben, Duschen und Toiletten. Umgezogen und geduscht ging ich im Bademantel nach oben. Es war kalt draussen. Ich betrat den Vorraum der Sauna, der mir als Ruheraum erklärt wurde und in dem auch einige Liegestühle zum Ausruhen einladen. Es gibt drei Saunakabinen in verschiedenen Grössen. Je nach Wochentag sind die Kabinen entweder gemischt oder nur für Frauen zugänglich. Ich streifte meinen Bademantel ab, legte ihn in die vorgesehene Ablage im Vorraum und öffnete die Tür der ersten Saunakabine. Die Hitze umgab mich sogleich. Durch die höher gelegten Fenster sieht man die Lichter auf der anderen Seeseite. Der See erscheint wie eine schwarze Flüssigkeit. Trotzdem sprang ich, direkt aus der Sauna kommend, ins kalte Nass. Danach schlüpfte ich wieder in meinen Bademantel und wärmte mich am Feuer, welches in der Feuerschale nahe am Wasser entzündet wurde. Das Winterangebot des Seebads Enge weist ein sehr simples, schlichtes Konzept auf, mit einem fast temporären Charakter. Trotzdem oder darum wirkt es sehr zugänglich, einladend und gemütlich. Ich blicke durch die Flammen auf den See. Vielleicht sogar mystisch.
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Abb. 42. Die Sauna auf dem Käselager.
Masterthesis | A3-Dach-Winter | 1:200
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Abb. 43. Schnitt durch das Käselager mit dem Flussbad auf dem Dach.
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Die Glocken der Sankt Karli Kirche läuten. Eine Hochzeitsgesellschaft verlässt die Kirche und überquert die Strasse in Richtung Käselager. Szene 9 – Badi Bistro Terrasse – Sonntagnachmittag Mia (8) tanzt in festlicher Kleidung vor dem Badi Bistro. Sie umarmt dabei einen Luftballon mit angebundener Ballonkarte. Stimme aus dem Hintergrund Mia, komm! Die kleine Hochzeitsgesellschaft versammelt sich auf der fast leeren Bistro-Terrasse. Alle tragen Ballone an Schnüren, mit daran befestigten Ballonkarten. Mia strahlt ihren Ballon an.
2.10 Bilder beeinflussen Bilder David Hockney ist ein britischer Maler, Fotograf, Grafiker und Bühnenbildner. Sein Denken und Arbeiten kreist sich um die 30 Frage, wie die Welt aussieht und wie der Mensch sie darstellt. Diese Suche kommt in seiner Kunst zum Ausdruck. «Bilder beeinflussen Bilder, aber Bilder bringen uns auch dazu, 31 Dinge zu sehen, die wir sonst vielleicht nicht sehen würden» David Hockney
Hockney arbeitet sehr experimentell und wendet verschiedene Techniken und Medien an. Seine Kunst ist figurativ und sprüht durch kräftige Farben. Er malt Porträts, Landschaften, Tiere und Stillleben in Gemälden, Lithografien, Zeichnungen und Aquarellen. Er arbeitet mit Fotocollagen und Polaroidfotos. Neben den riesigen Leinwänden malt er auch auf seinem iPhone. David Hockney ging auch den alten Problemen der künstleri32 schen Darstellung nach.
Abb. 44. Collage: Baden neben der Sankt Karli Kirche.
30 Gayford 2011, S.10. 31 Gayford 2011, S.85. 32 Gayford 2011, Einband.
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«Es scheint mir interessant, die Transparenz zeichnen zu wollen, denn es geht – optisch – um etwas, was fast nicht da ist. Im meinen Swimmingpool-Bildern ging es um Transparenz: Wie malt man Wasser? Ein interessantes Problem. Im Gegensatz zum Teich reflektiert der Swimmingpool das Licht. Diese tanzenden Linien, die ich früher auf die Pools gemalt habe, gibt es wirklich auf der Wasseroberfläche. Das ist eine zeichnerische 33 Herausforderung.» David Hockney David Hockney erwähnt oft das Wort „Schichten“, wenn er über die Malerei spricht. Neue Gedanken und Beobachtungen führen dazu, dass Vorangegangenes fortlaufend berichtigt wird. Er vergleicht diesen Vorgang mit dem Schreibprozess. Das Nachdenken über ein Thema führt zum Korrigieren und Erweitern 34 dessen, was wir zuvor geschrieben haben. Oft entsteht dadurch ein neuer Blickwinkel auf die Dinge. Eine Fotografie zeigt eine bestimmte Perspektive, aufgenommen zu einer bestimmten Zeit. David Hockney wendet sich von den Einschränkungen der Zeit und eines einzigen Blickpunkts ab. Mit Polaroidcollagen versucht er, die Zeit auszudehnen und sich nicht auf einen Blickwinkel festzulegen. Er fügte die fotografischen Bilder, die über Stunden und von unzähligen Positionen im Raum aufgenommen sind, zu 35 Collagen zusammen. Hockneys Bühnenbilder sind ein weiterer Bestandteil seines Werks. Er hat an verschiedenen Opernproduktionen mitgearbeitet. Unteranderem für die Metropolitan Opera in New York 36 oder für Covent Garden in London. «Das Theater liebe ich schon immer, ja, ich war an ihm interessiert, schon bevor ich zum ersten Mal gebeten wurde, Produktionen auszustatten, weil ich Theaterideen in meiner Malerei verwandte. Vor langer Zeit sagte ich, ich hielte alle meine Gemälde für Schauspiele. Ich war immer am Theater interessiert, weil es bei ihm um das Erschaffen 37 von Illusionen im Raum geht.» David Hockney
Abb. 45. Collage: Auf der Luftmatratze am Käselager vorbeitreiben.
33 Gayford 2011, S.195. 34 Gayford 2011, S.115. 35 ebd. 36 Gayford 2011, S.208. 37 ebd.
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Szene 11 – Unterer Flussbalkon – Sonntagnachmittag
Abb. 46. Pearblossom Hwy. 11-18th April 1986 (Second Version) Eine Fotocollage von David Hockney.
Lisa steckt sich routiniert die Trillerpfeife in den Mundwinkel und überblickt den Fluss. Die Bäume dahinter tragen braune und gelbe Blätter. Kein Schwimmer weit und breit. Lisa schaut sich etwas unsicher um. Vorsichtig bläst sie einen Testpfiff durch die Trillerpfeife. Der Ton hallt mit einem leisen Echo nach. Ein Echo, das eigentlich von lachend-schreienden Menschen mit Schwimmringen und Reussäcken übertönt werden sollte. Lisa setzt zu einem erneuten Pfiff an, hält aber kurz vor dem Ausstoss inne. Sie hört Geschrei. Sie blickt nach oben - schaut sich um. Die Schreie verstummen. Sie traut der Stille nicht. Dann sieht sie es, mit den Reflexen eines jagenden Raubtiers springt sie auf und erzeugt den lautesten Pfiff ihrer Karriere als Bademeisterin.
Szene 10 – Badi Bistro Terrasse – Sonntagnachmittag Man hört, wie die Hochzeitsgesellschaft im Chor von drei runter zählt.
Abb. 47. Der untere Flussbalkon.
Die Hochzeitsgäste lassen ihre Ballone steigen. Alle ausser Mia. Sie hält den Ballon noch immer ängstlich fest und schaut unsicher um sich. Sie scheint mit sich zu kämpfen. Ein Mann, vermutlich ihr Vater, sieht es und eilt zu ihr. VATER Du musst loslassen Mia! Er nimmt ihr den Ballon aus den Händen und lässt ihn lächelnd steigen. Mia schreit auf, versucht nach dem Ballon zu greifen – ohne Gelingen. Der Vater hält sie zurück. Mia wird zur Furie und schlägt weinend auf den Vater ein, der sie jetzt zu beruhigen versucht. Einige Gäste und das Brautpaar lächeln angespannt. Mia reisst sich vom Vater los und rennt ihrem Ballon hinterher. Der Vater und einige Gäste rufen ihr nach.
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Szene 12 – Badi Bistro - Sonntagnachmittag Ein lauter Pfiff mit Echo ertönt. Verena und Marco schauen sich an. Sie ängstlich, er misstrauisch. Szene 13 – Oberster Flussbalkon - Sonntagnachmittag Der Gärtner verharrt in seiner Bewegung. Tamara horcht auf. Szene 14 – Unterer Flussbalkon – Sonntagnachmittag Lisa, eine Hand an der Trillerpfeife und die andere zu einem Stoppsignal erhoben. Mia, auf die Metallkonstruktion des Flussbads kletternd, schaut zu Lisa. Sie schauen sich eine Weile an. Mia verbittert – Lisa etwas verwirrt. Mia zeigt zum Himmel. Lisa schaut nach.
Abb. 48. Filmstill aus dem Kurzfilm Fischknusperli. Tamara horcht auf.
Abb. 49. Collage: Der Blick ins Käselager.
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Szene 15 – Oberster Flussbalkon – Sonntagnachmittag Tamara schaut über den Rand ihrer Sonnenbrille. Ein Ballon mit angebundener Ballonkarte steigt gemütlich zum Himmel. Szene 16 – Fluss vor dem Käselager – Sonntagnachmittag Rolf treibt im Fluss. Er lässt sich von seinem Reusssack tragen, in dem er ein Badetuch und seine Schuhe verpackt hat. Er blickt zurück zum Käselager, ein Reststück der einstigen Industrie entlang der Reuss. Mittlerweile hat die Stadt Luzern das Gewerbeareal mit seinen Aussenquartieren umschlossen. Das Areal ist neben der Sankt Karli-Kirche und dem Sankt Karli Schulhaus ein eigenständiges Fragment im Quartier, eine belebte Insel im Stadtraum. Gegen aussen entsteht ein Ausdruck von Offenheit und Gastfreundlichkeit, ausgelöst durch das präzise ausgearbeitete, farbige Flussbad, das dem Käselager ein neues Gesicht gibt, aber auch durch die Wohnungen im ehemaligen Käselager, die das Leben im Gebäude erahnen lassen. Die Rohheit und der industrielle Charakter des Areals sowie das Käselager als Fundament bleiben spürbar. Das Verweben der unterschiedlichen Nutzungen macht das EmmiAreal zu einem spannungsvollen Ort, von dem die einzelnen Nutzungen, das Quartier und die ganze Stadt profitieren. Der Ort hat eine neue Identität bekommen. Über dem Käselager steigt ein Ballon mit angebundener Ballonkarte gemütlich zum Himmel. Rolf schaut ihm nach und treibt im kühlen Fluss langsam dem Nordpol entgegen.
- ENDE - der Badesaison
Abb. 50. Collage: Das Flussbad durchdringt das Käselager.
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Abb. 51. Rolf schwimmt zum Nordpol.
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3 Rückblick Über das Absurde versuchte ich mich der Aufgabe anzunähern. Die Herangehensweise entwickelte sich aus dem absurden Theater von Ionesco. Wie er beschrieb, begannen sich die simplen und einleuchtenden Sätze, die er im Englischunterricht lernen musste, zu zersetzen, zu deformieren und etwas Neues zu formen. Das Auseinandernehmen und neu Zusammenfügen wurde als Entwurfsmethode aufgegriffen und konnte auf das Arbeiten mit Bild und Text angewendet werden. Durch das Aufstellen und Kombinieren von banalen, gar absurden Thesen und das Überführen dieser in einen neuen Kontext konnte Gewohntes in neue Zusammenhänge gestellt werden. Die Thesen ergaben sich aus der Analyse des Ortes, der bestehenden Struktur, der Auseinandersetzung mit dem Käselager sowie den neu geplanten Nutzungen und bildeten eine wichtige theoretische Grundlage für den Entwurf. Die Methode wurde auch zum Entwerfen im Bild aufgegriffen. Die erstellten Collagen wurden immer wieder auseinandergeschnitten, neu kombiniert und mit hinzugekommenen Elementen ergänzt. Durch die entstandenen Zufälligkeiten im Bild und im Text wurde das Projekt immer wieder hinterfragt und auf neue Wege gelenkt. Die Herangehensweise über das Absurde ermöglichte mir das unbeschwerte, von Normen und Regeln losgelöste Arbeiten. Es ermöglichte mir einschliesslich zu denken und nichts auszuschliessen. Ausgehend vom absurden Theater und inspiriert vom Kurzfilm Fischknusperli wurden Szenen und Dialoge ausgearbeitet, wie sie auf dem Emmi-Areal stattfinden könnten. Dies erlaubte eine vertiefte Auseinandersetzung auf einer neuen Ebene. Über die Szenen und Dialoge wurde zusätzlich ein Weg gefunden, die Stimmung des Projektes zu vermitteln. Die Theorie, die Collagen, die Pläne, die Szenenbeschriebe und Dialoge verschmolzen zu einem neuen Bild des Emmi-Areals.
Abb. 52. Collag: Das Käseregal als Flussbalkon.
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4 Literaturverzeichnis Blaser, Werner: Mies van der Rohe. Lake Shore Drive Apartments. High-Rise Building/ Wohnhochhaus. Basel 1999.
Bofill, Ricardo / Klanten, Robert / Niebius, Maria-Elisabeth / Marinai, Valentina: Ricardo Bofill. Vision of Architecture. Berlin 2019.
Breit, Stefan: Gesellige Individualisten. Sechs Thesen zur künftigen Entwicklung des Wohnens In: Archithese, 2/2018, S. 66-75.
Gayford, Martin: A Bigger Message. Gespräche mit David Hockney. London 2011.
Horat, Heinz: Seelust. Badefreuden in Luzern. Luzern 2008.
Hochschule Luzern. Semesterprogramm. 2020. S.63-71.
Ionesco, Eugène: Die Nashörner. Frankfurt am Main 1964.
Jürgenhake, Brigit / Leupen, Bernard: Flexibilität und Wohnungsbau. Historische und typologische Entwicklungen. In: Bauwelt, 5/2005, S. 22-25. Verfügbar unter: https://www.bauwelt.de/dl/742105/10795717_694512d946.pdf
Mosayebi, Elli: Energie als Ästhetik: Mitten im Haus geht morgens die Sonne auf. In: NZZ, 16.09.2019
Abb. 53. Collage mit Filmstills aus dem Kurzfilm Fischknusperli.
Mosayebi, Elli: Zwölf Thesen zur Architektur der Zweiten Moderne. Verfügbar unter: https://mosayebi.arch.ethz.ch/zwoelf-thesen/
Plocher, Hanspeter: Nachwort. In: Eugène Ionesco die kahle Sängerin. München 1987.
Ruby, Andreas / Shinohara, Yuma: Swim City. Basel 2019.
Sbrinz: Die Käsereien. Verfügbar unter: https://www.sbrinz.ch/herkunft
Stadt Luzern: Reussschwimmen. Verfügbar unter: https://www.stadtluzern.ch/ dienstleistungeninformation/26092
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5 Abbildungsverzeichnis
Abb.26: Die Gärten auf den Dächern der Zementfabrik von Ricardo Bofil. Aus: Bofil/ Klanten/Niebius/Marinai 2019, S.238. Abb.27: Der Blick auf den Fluss. Von Autor.
Abb.1: Collage: Der Blick aus dem Badezimmer. Von: Autor.
Abb.28: Querschnitt. In den Untergeschossen bleibt das Käselager bestehen. Die Wohnungen entstehen in den oberen Geschossen. Ein neues Dachgeschoss entsteht. Von Autor.
Abb.2: Der Mythos des weissen Elefanten. Aus: Semesterreader 2020, S.64 Abb.3: Collage: Die Dickhäuter auf der Sankt Karli Brücke. Im Theater Die Nashörner von Eugène Ionesco geht es um die Verwandlung einer ganzen Stadt in eine Schar schnaubender, mörderischer Dickhäuter. Von: Autor.
Abb.29: Grundrisse vom Untergeschoss zum Dachgeschoss. Von: Autor. Abb.30: Der neue Dachgarten auf dem ehemaligen Käselager. Von: Autor.
Abb.4: Der bestehende Umschlagplatz des Emmi- Areals. Von: Autor.
Abb.31: Zwei Wohnungen. Die Wohnungen werden über das erste Obergeschoss erschlossen. Von: Autor.
Abb.5: Bilder von der Homepage des Sbrinz Käse. Das urchige Bild soll in den Köpfen der Konsumenten verankert werden. Aus: https://www.sbrinz.ch/herkunft/#die-kaesereien (09.01.2021)
Abb.32: Der Sonnenaufgang in der Wohnung. Von: Autor.
Abb.6: Das ursprüngliche Käselager im Heimatstil. Aus: Semestergrundlagen.
Abb.34: Verena und Marco im Badi Bistro. Von: Autor.
Abb.7: Axonometrie eines Regelgeschosses im Bestand. Von: Autor.
Abb.35: Reusskarte. Von: Autor.
Abb.8: Bestehender Grundriss: Der Bau von 1961 ist in einer Schottenbauweise gebaut. Nicht jede Schotte hat eine tragende Funktion. Der Bau von 1985 weist ein Stützenplattensystem auf. Von: Autor.
Abb.36: Das Sankt Karli Bad, Lithographie der Gebrüder Eglin. Aus: Horat 2008, S.99.
Abb.33: Collage: Baden auf den Flussbalkonen. Von: Autor.
Abb.37: Die Bade- und Waschanstalt unterhalb der Spreuerbrücke. Aus: Horat 2008, S.103.
Abb.9: Bestehender Grundriss: Der Sockel von 1926 wurde in einer Schottenstruktur gebaut und blieb bis heute erhalten. Die Untergeschosse des 1961 erbauten Lagerhaus wurde ebenfalls in einer Schosttenbauweise ausgeführt.Von: Autor.
Abb.38: Das Flussbad auf den Käselager. Verena bestellt Fischknusperli im Badibistro. Tamara verbringt die letzten Stunden auf dem obersten Flussbalkon. Von: Autor.
Abb.10: Collage: Das Käselager im Lake Shore Drive. Von: Autor.
Abb.39: Filmstill aus dem Kurzfilm Fischknusperli. Lisa überblickt das leere Schwimmbecken. Aus: Kurzfilm Fischknusperli.
Abb.11: Collage: Der Lake Shore Drive im Käselager. Von: Autor. Abb.12: Collage: Der Lake Shore Drive als Käselager. Von: Autor.
Abb.40: Filmstill aus dem Kurzfilm Fischknusperli. Marco nimmt die Bestellung auf. Aus: Kurzfilm Fischknusperli.
Abb.13: Die Türme des Lake Shore Drive von Mies van der Rohe. Aus: https://explore.chicagocollections.org/image/artic/85/z89363d/ (09.01.2021)
Abb.41: Filmstill aus dem Kurzfilm Fischknusperli. Mia zeigt zum Himmel. Aus: Kurzfilm Fischknusperli.
Abb.14: Das 1985 erbaute Käselager mit den Betonstützen und der tragenden Aussenwand aus Backstein. Von: Autor.
Abb.42: Die Sauna auf dem Käselager. Von: Autor.
Abb.15: Flussschwimmer mit wasserfesten Schwimmbeuteln. Aus: Ruby/Shinohara 2019, Cover.
Abb.43: Schnitt durch das Käselager mit dem Flussbad auf dem Dach. Von: Autor.
Abb.16: Die Ansicht auf das Käselager von der gegenüberliegenden Flussseite. Von: Autor.
Abb.45: Collage: Auf der Luftmatratze am Käselager vorbeitreiben.
Abb.44: Collage: Baden neben der Sankt Karli Kirche. Von: Autor.
Abb.46: Pearblossom Hwy. 11-18th April 1986 (Second Version) Eine Fotocollage von David Hockney. Aus: Gayford 2011, S.114.
Abb. 17. Längsschnitt durch das Käselager. Von: Autor. Abb. 18. Erdgeschossplan des ganzen Emmi-Areals. Von: Autor.
Abb.47: Der untere Flussbalkon. Von: Autor.
Abb.19: Der Blick von der Sankt Karli Kirche. Von: Autor.
Abb. 48: Filmstill aus dem Kurzfilm Fischknusperli. Tamara horcht auf. Aus: Kurzfilm Fischknusperli.
Abb.20: Schnitt durch das Emmi-Areal. Von: Autor. Abb. 21: Ansicht des Emmi-Areals. Von: Autor.
Abb.49: Collage: Der Blick ins Käselager. Von: Autor.
Abb.22: Die Grundrisse des neuen Gewerbehaus auf dem Emmi-Areal. Im Erdgeschoss befindet sich ein Gemüseladen. Im zweiten Obergeschoss werden Reusssäcke. Von: Autor.
Abb.50: Collage: Das Flussbad durchdringt das Käselager. Von: Autor. Abb.51: Rolf schwimmt zum Nordpol. Von: Autor. Abb.52: Collag: Das Käseregal als Flussbalkon.
Abb.23: Die Ansichten des Gewerbehauses. Von. Autor.
Abb.53: Collage mit Filmstills aus dem Kurzfilm Fischknusperli. Von: Autor.
Abb.24: Der Hof des Emmi-Areals. Von: Autor. Abb.25: Die umgebaute Zementfabrik von Ricardo Bofil. Aus: Bofil/Klanten/Niebius/Marinai 2019, S.238.
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6 Redlichkeitserklärung Hiermit versichere ich, dass die vorliegende Arbeit mit dem Titel: Vom weissen Elefanten, dem Nordpol und den Schotten Über das Absurde zum Entwurf selbstständig durch mich verfasst worden ist, dass keine anderen Quellen und Hilfsmittel als die angegebenen benutzt worden sind und dass die Stellen der Arbeit, die anderen Werken - auch elektronischen Medien - dem Wortlaut oder Sinn nach entnommen wurden, unter Angabe der Quelle als Entlehnung kenntlich gemacht worden sind. Mulle Jana
Luzern, 13.01.2021
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