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2.1 DAS KLIMA VERÄNDERT SICH
Die Folgen des Klimawandels wie wärmere Sommer, Extremwetterereignisse und Trockenheit belasten auch Winterthur. Das Stadtwachstum und die immer knapper werdenden Grünflächen verschärfen die Situation. Um die Lebensqualität zu erhalten, ist ein neues städtebauliches Denken erforderlich. So stellt sich die Frage, welche Massnahmen erforderlich sind, um Winterthur trotz immer intensiverer Hitzewellen lebenswert zu erhalten. Dafür wurde von der Stadt Winterthur ein Rahmenplan erstellt, welcher umfassende Ansätze zur Reduzierung von Hitze in der Stadt enthält. Dazu gehören die Sicherstellung einer ausreichenden Versorgung mit kühler Luft, klimafreundliche Gebäudegestaltung, die Schaffung von kühlenden Freiflächen sowie die Bereitstellung von Flächen für die Versickerung und Speicherung von Wasser. Der Rahmenplan basiert auf dem Grundsatzpapier «Anpassung an den Klimawandel», das vom Bundesamt für Umwelt erarbeitet wurde und konkrete Strategien für bauliche, gestalterische und räumliche Aspekte enthält. 4
Die bioklimatischen Belastungen bilden die Grundlage für die Hotspotanalysen. Sie zeigen Bereiche in der Stadt auf, die besonders stark von hohen Temperaturen belastet sind und wo Handlungsbedarf besteht. Gebiete der Stadt, in denen sich mehrere Kriterien überlagern, sind in Farbe hervorgehoben und werden als «thermische Hotspots» bezeichnet. Die Überlagerung der verschiedenen Hitzegrade zeigt deutlich, dass insbesondere die Bereiche des urbanen Rückgrats gemäss der «Räumlichen Entwicklungsperspektive Winterthur 2040» sowie das Quartier Neuwiesen stark von Hitze belastet sind. Besonders ist auf die Tagessituation achtzugeben, denn diese weist Extreme auf. Das Kaltluftsystem, das für nächtliche Abkühlung sorgt, funktioniert gut und sollte geschützt werden. Um die Tagessituation zu verbessern, soll besonderes Augenmerk auf Verschattung und Entsiegelung der Stadt gelegt werden. 5
Hitzebelastung am Tag heute - stark heute - sehr stark heute - extrem zukünftig - stärkste Zunahme
Abb. 08: Überlagerung der Kriterien der thermische Hotspots am Tag
Hitzebelastung in der Nacht heute - mässig heute - höhere heute - hoch
50 Hitzetagen pro Jahr abgebildet werden. Für die Nachtsituation wird die Klimaanalysekarte men aus der kantonalen Klimaszenarienkarte der de zeigt deutlich, dass vor allem die Bereiche des urbanen Rückgrats gemäss der Räumlichen Entwicklungsperspektive Winterthur 2040 sowie das Quartier Neuwiesen stark hitzebelastet sind. tremwerten hervor. Demnach funktioniert das lung verantwortlich ist, gut und muss geschützt fiehlt es sich, ein besonderes Augenmerk auf die Verschattung und Entsiegelung der Stadt zu le-
Abb. 09: Überlagerung der Kriterien der thermische Hotspots in der Nacht
Seit Messbeginn (1864) hat die durchschnittliche Temperatur in der Schweiz um gut zwei Grad zugenommen. Daher ist die Schweiz vom Klimawandel besonders betroffen. Laut Forschern werden die Temperaturen in allen Regionen des Landes in allen Jahreszeiten steigen. In Zukunft wird demnach ein grösserer Teil des Landes den von Palmen gesäumten Seen und dem mediterranen Klima des Kantons Tessin südlich der Alpen ähneln. 6 Um dem Klimawandel entgegenzuwirken ist in den 1990er-Jahren als politisches Konzept an der ETH die 2000-Watt-Gesellschaft entstanden. Sie schlägt vor, den Primärenergieverbrauch des durchschnittlichen Einwohners der ersten Welt bis zum Jahr 2050 auf maximal 2000 Watt zu reduzieren. Dabei geht es nicht nur um den Energieverbrauch einzelner Personen oder Haushalte, sondern um die Energieversorgung in ihrer Gesamtheit, also auch um Aspekte wie Mobilität, Ernährung sowie um graue Energie. Darüber hinaus soll die Nutzung fossiler Energieträger begrenzt werden, indem die CO2-Emissionen auf maximal eine Tonne pro Person und Jahr reduziert werden. 7 Ein Viertel aller CO2-Emissionen in der Schweiz stammt laut dem Bundesamt für Umwelt aus dem Gebäudesektor. Neben politischen Massnahmen braucht es ein technologisches Umdenken und Streben nach neuen Lösungen in der Energiebereitstellung, -speicherung und -verwendung. 8 6 SWI 2016 7 BAFU 2023 8 Energie Schweiz 2021
Heute verbraucht der durchschnittliche Schweizer Bürger circa 6000 Watt, während der weltweite Durchschnitt bei etwa 2500 Watt liegt. Die Stadt Winterthur hat sich am 28. November 2021 deutlich für das Klimaziel «Netto-Null Treibhausgasemissionen bis 2040» ausgesprochen. Das ehemalige Gelatine-Gelände soll im Rahmen dieses Modells entwickelt werden. 9
Während das Ziel für unsere Gesellschaft als Ganzes ehrgeizig ist, scheinen die Umsetzung und die Folgen eines nachhaltigeren Ansatzes zur Energieeinsparung im wirklichen Leben oft zu tristen und zu bedeutungslosen Konsequenzen für das tägliche Leben zu führen. Anstatt neue oder alternative Formen des Lebens und der Selbstverwirklichung zu schaffen, hat das Umdenken in Sachen Energie zu immer mehr Regeln und Vorschriften geführt, die oft mehr auf das Erreichen bestimmter Zertifikate als auf das Gesamtergebnis ausgerichtet sind.
9 Stadt Winterthur 2023
2.2 DIE SCHWIERIGKEIT NEUER STADTZENTREN
Nicht weniger bedeutend zur in der heutigen Zeit omnipräsenten Energiefrage für eine neue Stadt- und Gebäudeentwicklung ist das Thema der dichter werdenden Städte und deren Nutzungsmischung, welche mit dem sozialen Aspekt verknüpft ist. Die Bevölkerungsszenarien des Bundesamts für Statistik zeigen, dass die Bevölkerungszahl in der Schweiz bereits im Jahr 2040 auf 10 Millionen und 2050 auf 10,5 Millionen Menschen ansteigen wird. Auch die Stadt Winterthur rechnet mit einem stetigen Bevölkerungswachstum. 10
Architekt:innen und Stadtplaner:innen beschäftigen sich seit der Moderne mit der Frage, wie die Stadt der Zukunft aussehen soll und wie dynamische Quartiere statt eintöniger Siedlungen geplant werden können. Leider wurde bei der Umsetzung von durchmischten Quartieren oft das Produktions-Gewerbe vernachlässigt oder sogar komplett ausgeschlossen. Das produzierende Gewerbe wurde stattdessen an den Stadtrand verbannt und in reine Gewerbe- und Industriegebiete verlagert, die viele Städte in den Aussenbereichen prägen. 11 Dieses Phänomen findet sich auch in Winterthur. Das Gebiet
Abb. 9. Verstädterung weltweit: Anteil der Stadtbevölkerung an der Weltbevölkerung.
Grüze, welches bisher hauptsächlich von Gewerbe- und Industrienutzungen geprägt ist und kaum Wohnflächen aufweist, soll zu einem lebendigen und durchmischten Quartier umgestaltet werden. Dabei geht es darum, das Gewerbe nicht erneut zu verdrängen und die vermeintlich unschöne Nutzung an andere Orte zu verschieben. Vielmehr soll versucht werden, das Gewerbe attraktiv in den Mix der Nutzung einzubinden und ein Koexistieren zwischen Industrie, Wohnen und Gewerbe zu ermöglichen.
In diesem Kontext könnte das Konzept der Gartenstadt eine Antwort liefern, um eine harmonische Integration von Wohnen und Gewerbe zu erreichen. Die Idee der Gartenstadt entstand Ende des 19. Jahrhunderts als Antwort auf die zunehmende Industrialisierung und die damit verbundenen schlechten Lebensbedingungen in den Städten. Die Vision war, eine Stadt im Grünen zu schaffen, in der Wohnen, Arbeiten und Freizeit in einer harmonischen Beziehung zueinanderstehen. Die Gartenstadt-Prinzipien wie eine gute Verkehrsverbindung, grosszügige Grünflächen, bezahlbarer Wohnraum und eine Mischung aus Gewerbe und Wohnen könnten auch in Winterthur angewendet werden, um ein lebenswertes und nachhaltiges Quartier zu schaffen. 12
2.3 DAS LEBEN IM INDUSTRIEZEITALTER
Um 1800 setzte die Winterthurer Gründerzeit ein. Weil die Fabriken schneller wuchsen als das Wohnungsangebot, herrschte rasch Wohnungsknappheit. Doch die Winterthurer Fabrikbesitzer lernten aus den benachbarten Industrienationen wie Deutschland oder Frankreich. In Mietskasernen herrschte vermehrt soziale Unruhe, und mit oft mangelhaften hygienischen Zuständen verursachten sie ein gesundheitsschädliches Wohnklima, was sich schlussendlich schlecht auf das Geschäft auswirkte. Also bauten die Winterthurer Industriellen nicht nur Fabriken, sondern auch Häuser für ihre Arbeiter. Diese meist freistehenden Doppeleinfamilienhäuser verfügten über kleine Nutzgärten für den Anbau von Lebensmitteln zum Eigenbedarf. Dies war die Geburtsstunde der Bezeichnung Winterthurs als «Gartenstadt».
Dank dem Anschluss ans schweizerische Eisenbahnnetz am 14. Mai 1855 schaffte Winterthur innert weniger Jahrzehnte den Sprung ins Industriezeitalter und wurde zur führenden Adresse Europas für Textilmaschinen, Lokomotiven und Schiffsmotoren. Die Wohnbautätigkeit der Industriellen für ihre Arbeiter zu Beginn des 19. Jahrhunderts war jedoch nur ein Tropfen auf den heissen Stein. Die Wohnungsnot war seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein Dauerthema. Diesen Mangel bekämpfte die 1872 gegründete Gesellschaft für Erstellung günstiger Wohnhäuser in Winterthur (GEbW). Dabei entstanden vor allem Doppelzwei- und Doppeldreifamilienhäuser, wobei immer darauf geachtet wurde, sie voneinander abzusetzen und mit einem Garten zu versehen. Ernst Jung, welcher für das architektonische Gesicht der Arbeiterhäuser verantwortlich war, verwendete verschiedenfarbige Sichtbacksteine, die ihm auf einfache Art dekorative Fassadengestaltungen gestatteten. Die qualitativ hochstehenden, relativ kleinen Mehrfamilienhäuser mit ihren typischen Gärten, prägten die Siedlungsstruktur der «Gartenstadt Winterthur» nachhaltig. Die offenen Arbeitersiedlungen, die auf mehrere Quartiere verteilt waren, liessen einen gleitenden Übergang zu Mittelstandshäusern und zu kleinen Villen zu. Mit ihrer Wohnbauphilosophie trug die GEbW wesentlich dazu bei, dass es trotz des hohen Anteils an Arbeiterfamilien zu einer sozialen und beruflichen Durchmischung kam.
Um 1900 wurde ein starker Kontrast zwischen den Lebens- und Wohnverhältnissen der Arbeiterschicht auf der einen und denen der Industriellen und Kaufleute auf der anderen Seite sichtbar. In Winterthur herrschten die typischen Wohnverhältnisse einer Industrie- und Arbeiterstadt. Die kleinen Unterschichten-Wohnungen waren überfüllt, und für die Wohnungen der Oberschicht wurde die Belegungsdichte nicht ausgeschöpft. Es fehlte in Winterthur noch immer an günstigem und gesundem Wohnraum für die unteren Schichten. Unter dem Druck dieser Krise bildeten sich zahlreiche Reformbewegungen, die nach neuen Horizonten strebten. Den entscheidenden Anstoss für den Städtebau im 20. Jahrhundert gab der Brite Ebenezer Howard, welcher die Gartenstadtidee propagierte. 13
Die Siedlungsform der Gartenstadt hat in Winterthur eine lange Tradition. In den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts hatte Stadtbaumeister Albert Bodmer versucht, die Gartenstadtidee im ersten Zonenplan von Winterthur zu implementieren. Nachdem sie Anfang der sechziger Jahre mit den modernistischen Städtebaukonzepten verschwand, besann man sich in den achtziger Jahren auf die speziellen Qualitäten der durchgrünten Winterthurer Quartiere und revidierte den Zonenplan. Dafür wurde der Stadt 1999 der Wakkerpreis verliehen. 14
Die Vor- und Hintergärten der Arbeitersiedlungen waren der Ursprung Winterthurs als Gartenstadt. Die Hintergärten wurden als Nutzgärten zum Anbau von Obst und Gemüse zur Selbstversorgung gebraucht. Durch das Verdichten wird dieses System in Städten immer mehr verdrängt. Die Folgen sind Importprodukte aus der ganzen Welt. Der Konsument weiss nicht mehr, von wo seine Früchte überhaupt stammen. Hauptexporteure von Zitronen in die Schweiz sind Spanien mit einem Weltmarktanteil von knapp 25 Prozent sowie Mexiko und Südafrika. Pro Kopf wurden in der Schweiz Im Jahr 2021 durchschnittlich 4,4 Kilogramm Zitronen verbraucht. 15
14 Wiskemann 2010
15 Statista 2023
Das Konzept der Gartenstadt steuert in Winterthur heute auf eine lebendige und funktionale Stadtumgebung an. Bestandteile sind dabei ausreichend Grünflächen und Erholungsmöglichkeiten in naher Umgebung für die Menschen. In der Gartenstadt werden Wohnen, Arbeiten, Freizeit und Natur vereint, um eine ausgewogene Mischung zu erzielen. Die Stadtrandparks sind Winterthurs grüne Rahmen, Grünzüge, die privaten Gärten und die durchgrünten Siedlungen wichtige innerstädtische Elemente. Stärker gewichtete ökologische Fragen, die zunehmende Mobilität und die steigende Einwohnerzahl und die damit verbundene zunehmende Verdichtung der Stadt steigern den Qualitätsanspruch an den begrenzten Frei- und Grünraum. Die Stadt Winterthur will Nachhaltigkeit und Umweltbewusstsein in das Konzept der «Gartenstadt Winterthur» integrieren und so eine angenehme und gesunde Lebensumgebung für die Menschen schaffen. 16
Abb. 13. & Abb. 14. Collagen Neuinterpretation der Gartenstadtidee in die bestehenden Strukturen der Gelatinefabrik.