KULTUR
Montag
21. Februar 2011
DIE 61. INTERNATIONALEN FILMFESTSPIELE IN BERLIN
Der Favorit räumt ab „Nader und Simin“ aus dem Iran überzeugte die Berlinale-Jury gleich dreifach Von Sandra Kurtz ■
Zum Schluss:
Lauter Fragen Nun ist sie aus, die 61. Auflage des Berliner Festivals. Der letzte PhotoCall ist verhallt, die Türen zur letzten Pressekonferenz wieder offen. Die Überreste des roten Teppichs werden eingerollt, während die Gewinner ihre brummenden Preise mit nach Hause nehmen. Festivalchef Dieter Kosslick wird schon an den nächsten Programmen für die unterschiedlichen Sektionen arbeiten. Und was bleibt mir? Außer meiner Plastekarte, ein paar bunten Presseheften, Augenringen und etlichen Erinnerungen? Zum Beispiel jene an die schönste Überraschung der vergangenen zehn Tage: mein Ausflug zum Kinderfilmfestival. Statt zwischen stummen und am Ende vielleicht mit spitzen Fingern ein wenig klatschenden Kritikern landete ich zwischen hüpfenden, lachenden und schubsenden Kindern. Was für eine Wonne! Echtes Leben statt intellektuellem Gehabe. Toll! Ich war sofort wach. Der dänische Film „Den kaempestore björn“ war es, den ich mir ausgesucht hatte. Englische Untertitel hatte er, was für die Siebenjährigen nicht sehr hilfreich war. Also wurde der Text von einem netten jungen Mann mit Brille auf Deutsch über die Lautsprecher live eingelesen. Zuletzt hatte ich so etwas, glaub ich, bei alten Pippi-LangstrumpfVerfilmungen gehört. Drei Sprachen kreuzten sich also im Raum. Die Kinder waren am Anfang etwas verwirrt, konzentrierten sich aber sogleich auf die Geschwister Jonathan und Sophie. Seine kleine Schwester, so Jonathan, sei wie ein Weihnachtsgeschenk, das man nicht haben möchte, aber auch nicht umtauschen kann. Wie es eben so ist. Die beiden treffen auf einen riesigen Bären im großen Wald. Der hatte ein so großes Maul, da hätte locker eine Kindergartengruppe reingepasst. Das kleine Mädchen neben mir wollte dann auch mindestens fünf Mal raus, aber Mini-Elche, Zauber-Blätter und eben Friedtjof, der Bär, hielten sie auf dem Sitz. Ich weinte dem Riesen zum Schluss sogar noch Tränen nach, obwohl er nur animiert war. Friedtjof lebt weiter, aber Festival-Fragen bleiben: Die jungen Leute, die an den Eingängen die Pressemenschen nach ihren Ausweisen fragten – fragten die auch Prominente nach ihren Ausweisen, wenn die auf den roten Teppich wollten, aber nicht erkannt wurden? Warum wurde der eine Kühlschrank mit dem Mineralwasser umsonst nie wieder aufgefüllt? Wem gehörten die Leitern, die am Hintereingang des Hyatt an das Absperrgitter gekettet waren? Warum lag ich bei manchen Kritiken so daneben? Und warum musste Kevin Spacey in einem Interview über die Bänker sagen, dass die gar nicht so viel Geld hätten, weil sie ja auch ihre Hypotheken und die Schule für ihre Kinder zahlen müssten? Ach, Kevin! Sandra Kurtz ■
Der große Favorit der 61., oft auch als iranisch bezeichneten Berlinale konnte am Samstagabend sogar drei Bären gewinnen: Silberne Bären für das weibliche und männliche Schauspielerteam sowie den goldenen Hauptpreis. Regisseur Farhadi, der bereits 2009 einen Silbernen Bären mit nach Hause nahm, gelang es, mit der Schilderung eines privaten Konfliktes einen tiefen Einblick in die politischen Verhältnisse des Iran zu geben. Publikum und Jury überzeugte er gleichermaßen. Die Filmemacher sollen eine Meinung haben, Position beziehen, sagte Festivalsleiter Dieter Kosslick bereits vor
Die Schauspielerinnen Sarina Farhadi, Sareh Bayat und Regisseurr Asghar Farhadi mit ihren Mitbringseln aus Berlin. Mit den Bären für sie verengt die Jury den Blick in diesem Jahr auf die politische Lage im Iran. Foto: dpa der Eröffnung der Berlinale. Dem ist auch die Jury gefolgt, nicht nur bei den dreifachen Lorbeeren für „Nader
und Simin“. Ob die Anfänger der RAF in Deutschland, das Problem der aus dem Mittelalter stammenden Blutrache
in Nordalbanien, das Leben unter der argentinischen Militärdiktatur oder Entwicklungshilfe in Kamerun – die
Berlinale nahm die sich in Menschen spiegelnden Konflikte der Welt in ihrem Programm auf.
Zu guter Letzt: Unsere Meinungen zu all den Bären Barbara Jasper: „Viel Spielraum für ihre Entscheidung hatte die Jury in diesem Jahr wohl nicht. Angesichts der Situation im Iran und des frei gehaltenen Jury-Stuhls für Jafar Panahi stand der iranische Wettbewerbsbeitrag sozusagen von vornherein unter besonderer Beobachtung. Es ist schön, dass es einen so guten iranischen Film im Programm gab, der die Auszeichnung sicherlich verdient hat. Es bleibt aber schade, dass die Wahlfreiheit der
Jury und damit die Spannung im Vorfeld der Preisverleihung gegen Null ging. Eigentümlich mutet die Gruppen-Auszeichnung der männlichen und weiblichen Darsteller im Gewinner-Film an. Fehlte hier der Mut, einzelne hervorzuheben? Oder galt es hier, mehrere Preise für diesen einen Film zu verteilen? So war es nicht möglich, Schauspieler aus anderen Filmen auszuzeichnen. Es erscheint fragwürdig, einen Kamera- und Produktions-
Design-Preis für den Film ,El Premio‘ von Paula Markovitch zu vergeben. Verdient hätte nämlich die sehr junge Hauptdarstellerin einen Preis. Merkwürdig auch der Silberne Bär für die beste Regie: ,Schlafkrankheit‘ von Ulrich Köhler ist kein schlechter Film, lässt aber seine Zuschauer am Ende allein. Eine tolle Regiearbeit sieht anders aus. Bei dem RAF-Stück ,Wer wenn nicht wir‘ von Andres Veiel darf man fragen, welche neuen „Per-
spektiven der Filmkunst“ es eröffnet. Denn genau dafür wurde es ausgezeichnet.“ Antje Jusepeitis: „,Nader und Simin‘ hat den Goldenen Bären verdient. Es ist ein großartiger, eindringlicher Kinofilm. Die Schauspieler sind allesamt überzeugend, ganz anders als Diane Kruger, die einfach langweilig spielt. Der Film eröffnet dem Zuschauer die politischen Verhältnisse im Iran auf sehr feinsinnige, hintergründige Art.“
Sandra Kurtz: „Die Jury hat den Fokus auf die Politik gesetzt, nicht auf die Kunst. Das ist folgerichtig, denn auch das Kino nimmt die politischen Erruptionen im arabischen Raum auf. Für mich hätte dennoch ,Forgiveness of blood‘ den Hauptpreis bekommen müssen. Gleichzeitig bin ich froh, dass der spröde, unzugängliche Film „Das Turiner Pferd“ nicht den Goldenen Bären bekommen hat.Da bin ich nämlich rausgegangen!“
„Ich bin beides, türkisch und deutsch“ Die Dokumentation „Rotkohl und Blaukraut“ begleitet zwei deutsch-türkische Familien in ihrem Alltag BERLIN (ja) Solch eine Einladung bekommt man nicht alle Tage: einzutreten ins Wohnzimmer einer wildfremden Familie und teilzuhaben an ihrem Alltag. „Rotkohl und Blaukraut“ hat sogar zwei solche Einladungen im Rahmen der Perspektive Deutsches Kino parat. Denn es sind zwei Familien, die ihre Türen für die Dokumentarfilmerin Anna Hepp weit öffneten. Die Einladung abzulehnen, wäre dumm. Denn hier zeigen zwei deutsch-türkische Familien, wie es sich gemischt-kulturell und -religiös so lebt. Und siehe da, es sind die kleinen Dinge, die diese ■
Familien beschäftigen wie Millionen andere auch. Da geht es um die Lautstärke
des Radios oder um das richtige Fernsehprogramm. Die unterschiedliche Her-
Hakan und Jens zeigen, wie Männer in der Türkei gemeinsam spazieren gehen – in Deutschland so nicht üblich. Foto: Hepp
kunft spielt kaum eine Rolle. Familienvater Jens sagt: „Da denke ich gar nicht mehr drüber nach, dass ich mit einer Türkin verheiratet bin. Das ist eben die Özen.“ Mitten im Film gibt es dann doch noch einen kleinen Reibungspunkt. Das macht ihn auch authentisch. Der türkischstämmige Familienvater ärgert sich, dass seine Frau nicht mit zur HennaNacht der Cousine kommen möchte. Alle anderen werden da sein, sie wird fehlen. Die Familie wird nach ihr fragen. Sie möchte nicht hingehen, weil sie sich bei solchen Anlässen beobachtet fühlt von der Großfamilie. „Vielleicht
liegt es auch nur daran, dass ich einen Kopf größer bin als alle und immer über alle hinausrage“, lacht die blonde, große Frau. Die kleine Tochter der Familie fühlt sich in der Schule nicht etwa benachteiligt, sondern privilegiert. „Ich bin beides, türkisch und deutsch“, erzählt Emma. Im Religionsunterricht sei sie die einzige, die genau wisse, was die Muslime so machen. „Meine Eltern haben mir gesagt, dass ich später, wenn ich groß bin, entscheiden kann, was ich sein möchte. Ich möchte Christ werden. Aber die haben kein Zuckerfest...“, sinniert Emma.
Die welke Schönheit „Late Bloomers“ mit Isabella Rossellini und William Hurt gab der Berlinale noch einmal Glanz – und Witz Von Sandra Kurtz
BERLIN Ach, das war schön! Nachdem nun alle Wettbewerbsfilme bis zum Freitag gezeigt worden waren, wurde der Friedrichstadtpalast am Freitagabend herausgeputzt für die Weltpremiere von „Late Bloomers.“ In dem liebevoll komischen Film übers Älterwerden spielt Jury-Vorsitzende Isabella Rossellini die Hauptrolle und wurde dann auch von Festivaldirektor Dieter Kosslick an ihren Platz begleitet. Kaum dass sie neben der französischen Regisseurin Julie Gavras Platz genommen hatte, begonnen unterhaltsame anderthalb Stunden, in denen sich Mary (Rossellini) auf charmante und sehr schöne Weise ihrer 60 nähert. Gemeinsam mit ihrem Ehemann Adam (William ■
BERLIN (dpa) Die Jury der 61. Internationalen Filmfestspiele Berlin unter Vorsitz von Isabella Rossellini hat am Samstagabend folgende Preisträger bekanntgegeben: 1 Goldener Bär: „Jodaeiye Nader az Simin“ (Nader und Simin, Eine Trennung) von Asghar Farhadi (Iran) 1 Silberner Bär, Großer Preis der Jury: „The Turin Horse“ (Das Turiner Pferd) von Béla Tarr (Ungarn) 1 Silberner Bär für die beste Regie: Ulrich Köhler (Deutschland) für „Schlafkrankheit“, mit Pierre Bokma, Jean-Christophe Folly, Jenny Schily 1 Silberner Bär für die beste Darstellerin: Gesamtes weibliches Team von „Jodaeiye Nader az Simin“ (Nader und Simin, Eine Trennung) von Asghar Farhadi (Iran) 1 Silberner Bär für den besten Darsteller: Gesamtes männliches Team von „Jodaeiye Nader az Simin“ (Nader und Simin, Eine Trennung) von Asghar Farhadi (Iran) 1 Silberner Bär für eine herausragende künstlerische Leistung: Wojciech Staron (Kamera) und Bárbara Enríquez (Produktionsdesign) für „El Premio“ (Der Preis) von Paula Markovitch (Argentinien/Mexiko) 1 Silberner Bär für das beste Drehbuch: Joshua Marston und Andamion Murataj (USA/Albanien) für „The Forgiveness Of Blood“ (Blutrache) 1 Alfred-Bauer-Preis: „Wer wenn nicht wir“ von Andres Veiel (Deutschland), mit August Diehl, Lena Lauzemis und Alexander Fehling 1 Bester Erstlingsfilm: „On the Ice“ (Auf dem Eis), von Andrew Okpeaha MacLean (USA) 1 Goldener Bär für den besten Kurzfilm: „Paranmanjang“ (Nachtangeln) von Parking Chance (Park Chanwook und Park Chan-kyong) (Korea) 1 Silberner Bär für den besten Kurzfilm: „Pu-Seo-Jin Bam“ (Gebrochene Nacht) von Yang Hyo-joo (Korea) 1 Leser- und Publikumspreise: Panorama Publikumspreis, Kategorie Spielfilm: „También la lluvia“ (Even The Rain), von Icíar Bollaín; Panorama Publikumspreis, Kategorie Dokumentarfilm: „Im Himmel, Unter der Erde. Der Jüdische Friedhof Weißensee“ (In Heaven Underground – The Weissensee Jewish Cemetery), von Britta Wauer 1 Teddy Awards: Bester Spielfilm: „Ausente“ (Absent), von Marco Berger; Bester Dokumentarfilm: „The Ballad of Genesis and Lady Jaye“ (The Ballad of Genesis and Lady Jaye), von Marie Losier; Bester Kurzfilm: „Generations“ (Generations), von Barbara Hammer, Gina Carducci; Teddy Jury Award „Tomboy“ (Tomboy), von Céline Sciamma ■
BERLIN Böse Zungen könnten behaupten, der Film von Asghar Farhadi sei auch ungesehen schon der halbe Sieger gewesen. Unverdient bekommt der iranische Beitrag „Nader und Simin“ den Goldenen Bären der diesjährigen Berlinale dennoch nicht.
KLAPPE, DIE 9.
Preise der Berlinale im Überblick
Hurt) erkennen sie im Spiegel, am Arbeitsplatz und am Auszug des letzten der drei Kinder, dass nun etwas Neues beginnt. Mary begegnet dem erst einmal mit einem MRT, weil sie eine Gedächtnislücke hatte und denkt, von Alzheimer befallen zu sein. Sie kauft Einstiegshilfen für die heimische Wanne, ein elektrisch senkbares Ehebett und sucht dringend ein Ehrenamt. William hingegen versucht sich an einem neuen, letzten Architekturprojekt, lässt eine junge Truppe von Nachwuchstalenten dafür zusammenstellen, statt sich dem vorgegebenen Projekt eines Seniorenheims zu stellen, kauft sich einen Sweater, trinkt Red Bull und schläft im Büro. Zu seiner Frau sagt er, du machst mich alt. Sein weißhaariger Boss sagt ihm wiederum, alt wer-
den sei nichts für Weicheier. Er selbst brauche eine Stunde, um seine Prothesen und Hilfsmittel abends abzuschnallen. Die beiden selbstironisch und uneitel vor der Kamera agierenden Profis Hurt und Rossellini stellen mit Würde, Witz und Esprit den Spagat zwischen Annehmen und Abwehr des neuen Lebensabschnittes dar. Sie registrieren, vorerst jeder für sich und eine geraume Zeit auch sehr weit voneinander entfernt, dass sie alsbald die nächsten in der Reihe sind, für die ein Platz auf dem Friedhof gesucht werden muss. Aber bis es soweit ist, können die beiden erstens versuchen, wieder zueinander zu finden und zweitens die neuen Seiten ihres Sexlebens genießen, weil auch der eingerostete Partner ganz neue Bewe-
Der Stuhl blieb leer BERLIN (dapd) Der JuryStuhl des zu sechs Jahren Gefängnis verurteilten iranischen Regisseurs Jafar Panahi ist auch bei der Preisverleihung leer. „Es ist schade, dass er nicht hier ist, das ist traurig genug“, sagte Festival-Leiter Dieter Kosslick vor den rund 1 600 Gästen im Berlinale-Palast. Der letzte Satz des von Jury-Präsidentin Isabella Rossellini am Eröffnungstag der Berlinale vorgelesenen Briefs von Panahi habe gelautet, jetzt sage er (Panahi) nichts mehr, erklärte Kosslick. Tatsächlich habe er selbst nichts mehr von Panahi gehört. ■
Jury-Vorsitzende Isabella Rossellini zeigt sich in „Late Bloomers“ von ihrer schönen, alten Seite. Foto: dpa gungsmuster offenbart. Mit der sehr gelungenen Komödie, die sich nie lustig macht über die Alten, verabschiedet sich Isabella Rossellini von der Berlinale. „Danke für den herzlichen Applaus“, sagte sie noch und
verschwand von der Bühne des Palastes, in eine der schwarzen Limousinen, die an den vergangenen Tagen einen Hauch von Glamour in die Hauptstadt gebracht hatten. Mal sehen, wer im kommenden Jahr so aussteigt.