64. Berlinale in der MOZ

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Schauspiel-Elite im Anmarsch Kurz vor Kinostart kommen die Stars der Gangster-Komödie „American Hustle“ zur Berlinale Klappe, die

Morgens haben sich alle lieb

KINO-KOPF

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„Bergmann ist zu verquer“

Noch sechs Tage, dann läuft „American Hustle“ auch schon in den Kinos an. Trotzdem lässt es sich die Berlinale nicht nehmen, die Stars des mit vielen Vorschusslorbeeren bedachten Oscar-Favoriten über den roten Teppich des Friedrichstadt-Palastes defilieren zu lassen. Aber sei es ihnen gegönnt! „American Hustle“ ist schließlich ein Schauspielerfilm. Amy Adams (l.), Bradley Cooper (2.v.l.), Jennifer Lawrence, Jeremy Renner (M.) – sie alle haben sich für David O. Russells Gangster-Komödie unfassbare 70er-Jahre-Kostüme und grauenhafte Frisuren verpassen lassen.

Frau Sell, was war Ihr frühestes Kinoerlebnis? Da erwischen Sie mich auf dem falschen Fuß. Als Kind habe ich, ehrlich gesagt, eher ferngesehen. Das Kino kam recht spät, und die wunderschönen Defa-Filme habe ich erst nach der Wende entdeckt. Als Teenager fand ich aber „Silkwood“ mit Meryl Streep faszinierend. Welcher Film ist Ihr absoluter Liebling? Als Filmhistorikerin habe ich eher einen Blick auf alte Filme. Beeindruckend finde ich, dass zum Beispiel die Filme von Ernst Lubitsch noch funktionieren. „Serenade zu dritt“ von 1933 glänzt immer noch durch seinen sprühenden, erfrischenden Witz. Welche Rolle in einem Film würden Sie selbst gern übernehmen? Obwohl ich den europäischen Film bevorzuge, fallen mir da die beiden Rollen aus dem Roadmovie „Thelma & Louise“ ein. Andere Frauenrollen – zum Beispiel bei Ingmar Bergman – sind nicht so attraktiv. Die sind so verquer. Sind Sie in diesem Jahr bei der Berlinale anzutreffen? Ich werde wahrscheinlich zur Aufführung der rekonstruierten Fassung von „Das Cabinett des Dr. Caligari“ gehen. Da bin ich natürlich als Filmhistorikerin sehr gespannt drauf. Zumal auch wieder die Originalmusik zum Einsatz kommen soll. Katrin Sell Filmhistorikerin, hält im HauptmannMuseum Erkner regelmäßig Vorträge

SPLITTER Gedenken an Schell, Hoffman und Jancsó Im Gedenken an die jüngst gestorbenen Schauspieler Philip Seymour Hoffman, Maximilian Schell und den Regisseur Miklós Jancsó ergänzt die Berlinale ihr Programm. Zusätzlich laufen „Meine Schwester Maria“ über Schells Schwester (9.2., 15 Uhr) und „Capote“ (11.2., 21 Uhr) mit Hoffman in der Hauptrolle. Ein Beitrag aus Jancsós Werk, „Ungarn 2011“, ist auf der Webseite des Festivals zu sehen: www.berlinale.de. (MZV)

Wes Anderson mag München lieber Normalerweise verkünden amerikanische Filmleute gerne „I love Bööörlin“, wenn sie in der Hauptstadt sind. Von Wes Anderson ist mal was anderes zu hören: Er hat ein Herz für München. Ihm gefalle, dass die Stadt ein wenig aus der Zeit gefallen sei. Sie habe „sich einen bayerischen Charakter bewahrt“, sagte Anderson dem Zeit Magazin. (dpa)

Doch Christian Bale (2.v.r.) überstrahlt die versammelte Schauspiel-Elite als bierbäuchiger Gauner. Er ist der Betrüger, der sich gezwungen sieht, mit dem FBI zusammenzuarbeiten, als sie ihn und seine große Liebe (Adams) auf frischer Tat ertappen. Was nun folgt, ist ein heillos überfrachteter Spaß, dem die Freude am Filmemachen in jeder seiner 138 Minuten anzumerken ist. (sir) Heute, 21 Uhr, Friedrichstadt-Palast; Sonnabend, 21.30 Uhr, Haus der Berliner Festspiele; ausführliche Kritik zum Kinostart am 13.2.

Foto: Tobis

Wes Andersons „Grand Budapest Hotel“ ist ein kleines Meisterwerk und ein würdiger Festivalstart

Von Gitta Dietrich Die lilafarbene Uniform ist maßgeschneidert, das Haar perfekt gescheitelt, und dann dieser unverwechselbare schwere ParfümDuft, der ihm schon vorauseilt. Mit grandioser Anmut wandelt Concierge Monsieur Gustave (Ralph Fiennes) durch sein Refugium – durch das „Grand Budapest Hotel“, gelegen im Bergort Nebelsbad in der fiktiven Republik Zubrowka. Sein persönlicher Service gilt den älteren, betuchten und vor allem blonden Damen, die für ihn „würziger, eben geschmackvoller“ als die junger Dinger seien. Im Inneren wohl eher „unsicher und bedürftig“, bringt er mit moralisch-angehauchter Prosa seine Untergebenen auf den rechten Weg. So auch Protegé Zero (Tony Revolori), den neuen Lobby Boy. Die Geschichte gerät zur Farce, als Gustave unverschuldet der Erbschleicherei bezichtet wird.

Mit „Grand Budapest Hotel“ ist Regisseur Wes Anderson, dem Experten für skurrile Verbandelungen, erneut ein kleines Meisterwerk gelungen – wohl sein bestes. Mit Stechschritt durch eine wundersame Welt: Schnell geschnitten, versprüht der 100-minütige Film alles andere als Langeweile. Keinen Moment des Zurücklehnens gönnt der Texaner seinem Publikum. Jede Geste, jedes Wort sind bis ins kleinste Detail choreografiert. Auf mehreren Spielebenen skizziert er minutiös ein Tableau verschrobener Persönlichkeiten und setzt sie vor opulenter Ausstattung in Szene – ein Fest für die Sinne, für welches sich das Studio Babelsberg verantwortlich zeigt. Der rote Samt scheint schier von der Leinwand zu quellen. Gedreht wurde hauptsächlich im verschneiten Görlitz; eine ideale Spielkulisse bietet sich dort für die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen.

Ein überaus fotogenes Leben „Yves Saint Laurent“ eröffnet das Panorama Berlin (sir) Der Zoo Palast ist zurück im Kreis der BerlinaleKinos. Er soll zum Hort der Sektion Panorama werden, die sich als Schaufenster in die Welt etablierter Filmemacher versteht. Zum Auftakt hat sich das Festival ein Schmuckstück von einem Film ausgesucht: die Biografie „Yves Saint Laurent“. Das Werk bietet schöne Menschen in schönen Kulissen und noch schöneren Kostümen. Im Zentrum stehen die 20 Jahre des Aufstiegs und Durchbruchs des Modeschöpfers und seine Freude an der Selbstzerstörung. Dass das Ganze nicht nach Mummenschanz aussieht, verdankt „Yves Saint Laurent“ seinen hervorragenden Darstellern. Der 24-jährige Pierre Niney fängt die Zerrissenheit des mit Talent gesegneten Laurents gut ein. Auch Guillaume Gallienne ist großartig in der Rolle

des Pierre Bergé. Er spielt den Lebensgefährten und Manager Laurents nuanciert, mit wunderbarem Understatement. Überhaupt: Das Geschehen ist mit Gespür und Eleganz inszeniert. Schnitt, Kamera, Musik, nichts drängt in den Vordergrund. Nichts wagt aber auch einen Ausbruch aus dem bewährten Filmbiografie-Schema. Die Szenen folgen größtenteils chronologisch aufeinander, dazu kommentiert Bergé aus dem Off das Geschehen. Der Zuschauer wird an die Hand genommen und entlang der Schaufenster eines überaus fotogenen Lebens geführt. Vorstellungen: heute, 18 Uhr, Zoo Palast 1; Sonnabend, 8.2., 10 Uhr, Cinemaxx 7; Sonntag, 9.2., 14.30 Uhr, Cubix 9; Sonntag, 16.2., 21.30 Uhr, Zoo Palast 1

Meister und Muse: Laurent (Pierre Niney) nestelt am Outfit von Victoire (Charlotte Le Bon). Foto: Tibo & Anouchka, SquareOne/Universum

Das „Who is Who“ Hollywoods: Wes Andersen spickt seinen Film mit Stars – so auch Adrian Brody. Foto: Twentieth Century Fox Die Besetzungsliste liest sich wie ein „Who is Who“ Hollywoods, von Jeff Goldblum bis Owen Wilson haben alle ihren Auftritt. Andersen hat zudem seine Lieblingsschauspieler um sich geschart. So dürfen Edward Norton und Dauermuse Bill Murray brillieren. Zur Groteske gezeichnet ist die herrliche Tilda

Swinton, die nur schwer unter ihrer Altersmaske auszumachen ist. Willem Dafoe bringt als Bösewicht Advokaten und Katzen um die Ecke. Der Witz des Films resultiert oft aus dem deutschenglischen Sprachgewirr. Da darf man sich über Textstellen wie ein hölzernes „gespannt wie ein Flitzebogen“ amüsieren.

Doch allen voran ist natürlich Fiennes das Herz des Films, ihm wurde die Rolle des Concierge auf dem Leib geschrieben, wie Andersen auf der Pressekonferenz verriet. Dem Charme Gustaves kann man sich nicht entziehen, insbesondere wenn er seine Fassade, sein distinguiertes Gehabe, mit einem kraftvollen „ach, sch… drauf“ für einen Moment sausen lässt. Mit dem „Grand Budapest Hotel“ in Lubitsch-Manier hat die Berlinale einen würdigen Eröffnungsfilm gefunden, der nicht nur mit einer Riege von Stars glänzt, sondern vor allem durch seine unkonventionelle Machart überzeugt. Dass der Film im Wettbewerb läuft ist wohl verdient. In Andersons Fantasiewelt muss man einfach eintauchen. Heute, 12 und 18 Uhr, Friedrichstadt-Palast; heute, 19 Uhr, Haus der Berliner Festspiele; Sonnabend, 21.30 Uhr, Eva-Lichtspiele

Experimente mit starken Kontrasten Licht- und Schattenspiele im Film bei der Retrospektive

Berlin (mph) Die Retrospektive der Berlinale ist ausnahmsweise keiner Person und keinem Genre gewidmet, sondern einem filmischen Gestaltungsmittel: der Beleuchtung. Unter dem Motto „Ästhetik der Schatten“ werden 40 europäische, japanische und amerikanische Filme aus den Jahren 1915 bis 1950 gezeigt, die sich durch besondere Beleuchtungsstile auszeichnen und in denen die Licht-und-Schattenspiele mal poetische, mal heitere, mal bedrohliche Wirkungen entfalten. In Schwarz-Weiß-Dramen wie Friedrich Wilhelm Murnaus Liebesfilm „Sunrise“ (1927) und Orson Welles’ „Citizen Kane“ (1941) spielt die ausgeklü-

gelte Lichtdramaturgie eine entscheidende Rolle für die atmosphärische Gestaltung der Filme. Insbesondere im deutschen Stummfilmdrama experimentierten die Filmschaffenden mit starken Kontrasten. Über die „Dirnentragödie“ mit Stummfilmstar Asta Nielsen schrieb die Kritikerin Lotte H. Eisner nach ihrer Uraufführung 1927, dass „Laternenlicht von düsteren Ecken herströmt, halbdunkle Hausflure sich geheimnisvoll auftun“. Für den Horrorklassiker „Das Cabinet des Dr. Caligari“ (1920), der als brandneue Digitalkopie am Sonntag mit Live-Orgelmusik aufgeführt wird (am 12.2., 23 Uhr, auch auf Arte), malten

twas verschroben ist die Berlinale-Jury ja schon. Gestern haben sich die acht Film-Größen präsentiert. Michel Gondry völlig durch den Wind, dauernd den Faden verlierend. Die talentiertfeurige Aktrice Greta Gerwig unduldsam auf die Herausforderung jiepernd. Und dann der zweifache Oscargewinner im feinen Woll-Sacko, der wie ein Schuljunge seinen Stuhl zurechtrückt, hier und da mimische Zuckungen hat und eine Journalistin süffisant abkanzelt, weil sie ihn einen Ex-Charlottenburger nennt.

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Stechschritt durchs Wunderland

Grütters ermuntert zu mehr Mut Zum Auftakt der Berlinale hat die neue Kulturstaatsministerin Monika Grütters Künstler zu Kritik und Ungeduld ermuntert. „Kunst darf und soll Zumutung sein. Und wenn sie darüber auch noch unterhält, umso besser“, sagte die CDUPolitikerin zur Eröffnung des Festivals. (dpa)

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die Ausstatter sogar künstliche Schatten direkt auf die schräg gebauten Kulissen. Die von der Deutschen Kinemathek Berlin mit dem New Yorker Museum of Modern Art kuratierte Retrospektive verweist durch die Auswahl der Filme auf internationale Querverbindungen. Die japanischen Vor- und Nachkriegsfilme, die hierzulande teils noch nie zu sehen waren, bilden einen Schwerpunkt der Reihe. An ihnen ist die Weiterentwicklung von hell-harmloser zu düster-dramatischer Ausleuchtung besonders gut erkennbar. Retrospektive bis 16.2., Programm: www.berlinale.de

ie Rede ist von Christoph Waltz, der bereits im vorigen Jahr in Cannes urteilen durfte. Einen offensichtlichen Unterschied gäbe es zu Berlin, den fehlenden Strand. Naja, dafür wage die Berlinale mehr, meint er fast schon verschämt. Jury-Chef James Schamus ist der BigDaddy der Truppe und findet, die sei wie eine Familie: Abends werde man sich heftig streiten, um am Morgen festzustellen wie sehr man sich doch lieb habe. Bleibt zu hoffen, dass es am Ende keine „unüberbrückbaren Differenzen“ gibt, die zur Scheidung führen. Mehr zu diesem Thema: www.moz.de/berlinale

Gitta Dietrich

Alternativen zum Festival

Parallel zur Berlinale finden in der Hauptstadt zwei weitere Filmfestivals statt. Die Genrenale konzentriert sich am 12. Februar auf den deutschen Genrefilm. Die Boddinale zeigt bis 16. Februar LowBudget-Produktionen. (MZV) www.boddinale.de www.genrenale.de

FILM-Wertung Grand Budapest Hotel (USA/Deutschland)

★★★★★ 5 Sterne: herausragend, 4 Sterne: sehenswert, 3 Sterne: annehmbar, 2 Sterne: uninteressant, 1 Stern: indiskutabel

Tiefes Interesse fürs Elend Festival würdigt Regisseur Ken Loach mit Goldenem Ehrenbären und einer Filmreihe Von Katrin Hartmann Berlin (MZV) Er ist einer der wenigen Regisseure, die dem Ruf aus Hollywood widerstanden haben. Irgendwie auch undenkbar, dass ein Film des Engländers Ken Loach in die US-Schickeria passt. Seine Werke beschreiben eine andere Welt: Armut, Gewalt, die Lebensverhältnisse der Arbeiterklasse. Ohne zu werten, spielt er den Unsichtbaren hinter der Kamera, der alle Charaktere und ihre Situationen genau betrachtet. Dadurch kann sich der Zuschauer mit den Protagonisten identifizieren. „Sozialen Realismus“ nennen Kenner diesen Stil. Loachs tiefes Interesse für Menschen und sein soziales Engagement werden am 13. Februar mit dem Goldenen Ehrenbären gewürdigt. „Wir ehren Ken Loach als Regisseur, und wir ver-

ehren ihn als einen Menschen, der in seinen Filmen oft humorvoll gesellschaftliche Missstände widerspiegelt“, so Berlinale-Direktor Dieter Kosslick. Angefangen hat alles in Nuneaton unweit von Brimingham. Weil sich sein Vater in einer Fabrik in die Führungsetage hocharbeitet, lernt Loach zu schätzen, was es heißt in einem warmen Bett zu schlafen und einen vollen Kühlschrank zu haben. Obwohl er sich anfangs der vom Vater gewünschten Jura-Karriere zuwendet, wechselt er bald das Fach und wird Regisseur. Zunächst im Theater, dann bei der BBC. 1966 sorgt er mit seinem ersten TVDrama für Aufsehen. Nachdem „Cathy Come Home“ über die Bildschirme geflimmert ist, folgen unzählige Anrufe, sodass die Telefonleitungen der BBC zusammenbrechen. Alle wollen der Ar-

Ken Loach

Foto: dpa

beiterfamilie helfen, die in dem Doku-Drama in die Obdachlosigkeit abgleitet. Die Auswirkungen des Films sind so stark, dass der soziale Wohnungsbau auf die politische Agenda gesetzt wird. Mit dem Film „Kes“ gelingt ihm 1969 der Durchbruch. Eine

rührende Geschichte über einen Jungen und seine einzige Freude – einen Turmfalken. Nach einer Pause während der ThatcherJahre schafft es Loach 1993 trotz Verbote und geringer Einkünfte „Raining Stones“ zu vollenden. Verzweifelt versucht darin ein arbeitsloser Vater den Wunsch seiner Tochter zu erfüllen: ein Kommunionskleid. Die Berlinale-Hommage zeigt weitere Loach-Filme wie „Ladybird Ladybird“, „Mein Name ist Joe“, „The Navigators“ und „Looking for Eric“. Auch in seinen aktuellen Produktionen versteht es der 77-Jährige, das Publikum mit einer authentischen Geschichte, Laiendarstellern und Humor auf soziale Missstände aufmerksam zu machen. Programm der Hommage: www.berlinale.de


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