Brandenburger Blätter - Zeitzeugen erinnern sich

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Brandenburger Blätter Historie | Kultur | Natur | Gegenwart

Zertrümmertes Leben Flucht aus Danzig: Vor 70 Jahren wurde die bedingungslose Kapitulation der Wehrmacht unterzeichnet, nachdem der von den Nazis entfesselte Weltkrieg nach Deutschland zurückgekehrt war. Dieser Krieg hatte Millionen zu Flüchtlingen und Vertriebenen gemacht, und er stürzte Deutschland in ein Chaos, unter dem vor allem Frauen und Kinder zu leiden hatten. In diesem Heft erinnern sich Zeitzeugen an Foto: dpa/NDR den Zusammenbruch und den Neubeginn vor 70 Jahren.

Nr. 241 8. Mai 2015


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Brandenburger Blätter

Liebe Leser, Solche „Brandenburger Blätter“ gab es noch nie. Diesmal werden Sie nichts Kulturgeschichtliches hier finden und nichts Launiges über berühmte Brandenburger und Berliner. In dieser Ausgabe kommen Menschen zu Wort, die nicht berühmt sind, die aber Erschütterndes erlebt haben und davon berichten, nachdem unsere Zeitung Anfang des Jahres Zeitzeugen ermutigt hatte, uns ihre Erinnerungen an das Jahr 1945 zu schildern. Dutzende Männer und Frauen haben daraufhin ihre Erlebnisse aufgeschrieben und uns geschickt. Manche Berichte waren 20 Seiten lang. Angesichts dieser Resonanz entschlossen wir uns, die Idee einer wöchentlich in unserer Tageszeitung erscheinenden Serie um eine Ausgabe der Brandenburger Blätter zu erweitern, in der wir nur diese Zeitzeugentexte veröffentlichen. Und selbst dieses Heft kann nicht alles fassen, was uns zugesandt wurde. Geplant ist, alle Texte unter www.moz.de/1945 online zu stellen. Die hier veröffentlichten Berichte sind natürlich nicht immer hohe Literatur und manches ist ein bisschen mit schwerer Hand geschrieben. Um authentisch zu bleiben, haben wir aber in den Stil nicht eingreifen wollen. Manchmal mussten wir etwas kürzen und haben sachliche und sprachliche Fehler korrigiert. In diesen Texten ist viel über Vertreibungen und Vergewaltigungen zu lesen. Aber nichts liegt diesem Heft ferner, als damit alte Ressentiments zu nähren. Natürlich war der 8. Mai vor 70 Jahren auch ein Tag der Befreiung. Aber mit ihm waren die Ängste, die Gewalt, die Ungerechtigkeiten, Repressionen und seelischen Erschütterungen nicht von einem auf den anderen Tag vorbei. Diese Berichte zeigen, unter Kriegen haben jene am meisten zu leiden, die keine Waffe in die Hand nehmen: die Frauen und die Kinder. Mit ihren Berichten mahnen unsere Zeitzeugen, dass sich so etwas nicht wiederholen darf. Viele endeten deshalb mit denselben Worten: „Nie wieder Krieg!“

Brandenburger Blätter kostenlose Beilage für Oranienburger Generalanzeiger Henningsdorfer Generalanzeiger Gransee-Zeitung Ruppiner Anzeiger verantwortl. Redakteur: Uwe Stiehler Mitarbeit: Ann-Kathrin Jeske Telefon 0335 5530569 E-Mail: brandenburger-blaetter@moz.de

Freitag, 8. Mai 2015

Vor der Vereidigung zum Tode verurteilt Günter Debski wollte mit 16 nicht in den Krieg, sollte als Deserteur erschossen werden, kam in ein Strafbataillon und lief mit zwei gefangenen Russen zur Roten Armee über Am 12. April 1928 in Prenzlau geboren, wurde ich als 16-Jähriger am 5. Februar 1945 zum RAD (Reichsarbeitsdienst) nach Havelberg eingezogen. Bereits am 25. März wurde ich dort entlassen, erhielt aber gleichzeitig den Einberufungsbefehl. Ich bin nicht wie befohlen am 25. März nach Berlin zur Kaserne gefahren, sondern an diesem Tage per Anhalter zu meinen Eltern nach Prenzlau. In Anbetracht des sichtlich nahenden Kriegsendes vereinbarten wir, dass ich nicht als Kanonenfutter an die Frontlinie, sondern zu meinem Onkel nach Bertikow bei Prenzlau fahren und mich dort verstecken sollte. Es kam anders. Vor meiner Tour nach Bertikow kamen am 26. März drei Kettenhunde (Feldgendarmerie) mit dem Befehl in mein Elternhaus, mich wegen unerlaubten Entfernens von der Truppe abzuholen. In der Militärauffangstelle, nur fünf Häuser weiter, in der ehemaligen Gaststätte Felix Schmidt, erklärte ich dem SSHauptsturmführer Müller, durch Bombenangriffe in Oranienburg sei ich von der Truppe abgekommen und per Anhalter zu meinen Eltern gefahren. Das entsprach auch den Tatsachen. Zu fünf anderen Soldaten wurde ich in eine Zelle gesperrt mit der Ankündigung, am 28. März 1945 würde das Kriegsgericht verhandeln. Das Urteil lautete: „Tod durch Erschießen wegen versuchter Desertion und Wehrkraftzersetzung. Die Erschießung findet am 28. März 1945 um 15 Uhr statt“. Der Vorsitzende des Kriegsgerichts fragte, ob ich noch etwas zu sagen hätte oder jemand grüßen möchte. Ich habe darauf hingewiesen, dass noch bei der Urteilsfindung zu berücksichtigen sei, dass ich den Führereid nicht gebro-

chen habe, denn ich war noch gar nicht vereidigt. „Das spielt heute hier keine Rolle“, wurde erwidert. Meine Mutter kam und flehte kniend den SS-Hauptsturmführer um Gnade an. Ihr Sohn sei doch noch ein Junge, erst 16 Jahre alt. Die Antwort: Eine Schimpftirade und ein Tritt in das Hinterteil meiner Mutter. Ich musste das miterleben, und da kam bei mir ein Rachegefühl auf. Mein Entschluss: Einen gleichen Tritt werde ich dem SS-Führer geben. Ich wusste ja, dass ich in zwei Stunden erschossen werden sollte. Was konnte mir

Die Mutter bettelte um das Leben ihres Sohnes und bekam einen Tritt da schon passieren? Dem Posten sagte ich, dass ich zur Toilette muss. Nach dem Toilettenbesuch habe ich ihm die Tür hart an den Kopf gestoßen und bin in das Militärbüro gestürzt. Dem am Fenster stehenden SS-Offizier habe ich in den Hintern getreten. Ein anderer Offizier zog sofort die Pistole und wollte mich erschießen. Der kommandierende SS-Hauptmann jedoch winkte ab mit der Bemerkung: „In zwei Stunden ist er sowieso erledigt!“ Zeuge war Bodo Giard, auch ein verurteilter Prenzlauer. Am gleichen Tage gegen 14 Uhr fuhr ein Militär-Lkw mit Erschießungskommando vor. Wir waren sechs zum Tode Verurteilte, zwei 16-Jährige, die anderen zwischen 20 und 30 Jahre alt. Kurz vor der Abfahrt kam ein Offizier mit dem Befehl, dass wir zwei 16-Jährigen uns beim

SS-Hauptsturmführer melden sollten. Der teilte uns mit, dass wir wegen unserer Jugend vom Führer Adolf Hitler begnadigt wurden. Das Urteil sei jedoch nicht aufgehoben. Wir seien sofort zum Strafbataillon 999 an die Ostfront abkommandiert. Sollten wir uns noch einmal von der Truppe entfernen, würden wir gehängt. Bevor wir zum befohlenen Sonderzug des Strafbataillons 999 an die Ostfront versetzt wurden, wurden wir mit vielen Jugendlichen und Männern, die unsere Großväter sein konnten, zur „Ausbildung“ in die Berliner Ruhleben-Kaserne gesteckt. Alle erwarteten, dort „geschliffen“ zu werden. Sechs Tage lang mussten wir dort morgens zu einem 200 Meter entfernten Erschießungsplatz marschieren. Wir wurden gezwungen mit anzusehen, wie gefesselte Gefangene aus Transportwagen getrieben, ihnen ein Urteil verlesen wurde und sie, an Pfahle gebunden, im Feuer des Exekutionspelotons zusammenbrachen. Bei diesen Gefangenen handelte es sich überwiegend um Wehrmachtsangehörige, die auf ihre Art mit dem Krieg Schluss gemacht hatten. Aber nicht nur Soldaten wurden erschossen, sondern auch Zivilisten, die wegen „Plündern nach Bombenangriffen“ verurteilt waren. Darunter war eine Mutter mit ihren 14- und 16-jährigen Töchtern. Sie hatten nach einem Bombenangriff in zerstörten Wohnungen nach Brauchbarem gesucht, um zu überleben. Noch heute muss ich oft an diese Grausamkeit denken. Am 16. April 1945 lag unser Ersatzbataillon mit Sonderzug 999 in der Hauptkampflinie Richtung Dolgelin/Ratstock bei Seelow. Morgens um 5 Uhr begann die Schlacht um Berlin. Eine Kanonade

Sowjetisches Trommelfeuer: Kanonaden wie diese hat der Eisenhüttenstädter bei der Schlacht um die Seelower Höhen miterlebt, bei der auch dieses Foto entstanden sein könnte. Foto: Gedenkstätten Seelower Höhen


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aus tausend Geschützen, zumeist Stalinorgeln, wirkte auf uns ein. Dazu folgten Flugzeugangriffe. Um 7 Uhr trat Stille ein. Dann kamen die Panzer der Roten Armee, die in einem Zuge über uns wegfuhren. Am Vormittag folgte ein Infanterieangriff der Roten Armee. Er konnte durch die stationierten Einheiten noch einmal abgewehrt werden. Von den etwa 220 Soldaten unseres Bataillons blieben ungefähr 80 am Leben. Viele drehten durch und sind weggelaufen. Alle Toten mussten beerdigt werden. Vom Volkssturm wurden bereits Massengräber ausgehoben. Sie hatten 30 Meter Länge und 20 Meter Breite. Ein Beerdigungskommando von sechs Mann, wozu ich gehörte, wurde befohlen. Am Spätnachmittag des 17. April und am 18. April morgens wurden die Toten mit Leiterwagen abgefahren. Als sie vom Wagen geworfen wurden, hörten wir einige noch stöhnen. „Da leben ja noch Kameraden, die können wir doch nicht einfach begraben“, sagten wir uns und legten die Schwerverwundeten in eine Reihe – etwa zehn bis zwölf Mann. Zur Kontrolle kam der leitende Oberleutnant. Er fragte uns, was es soll, Tote in einer Reihe abzulegen. Auf meine Antwort, es seien Schwerverletzte, denen man helfen müsste, kam die Erwiderung, alle die angefahren wurden, sind zu beerdigen. Wenn noch jemand stöhnt, ist dem mit der Spatenkante der Schädel einzuschlagen. Als zwei Soldaten unseres Beerdigungskommandos anfingen, dem ersten Schwerverwundeten den Schädel einzuschlagen, sagte ein Schwerverwundeter zu mir: „Tötet uns nicht. Wir sind doch Kameraden. Ich will weiterleben. Sollte ich jedoch sterben, grüßt meine Eltern!“ Ich versprach, ihn nicht zu töten und habe gebrüllt: „Aufhören! Wir sind keine Mörder! Wer weitermacht, den leg’ ich um!“ Mir war egal, was daraufhin kommen würde. Auf meine weitere Frage, ob man sie nicht wenigstens mit einem Schuss erlösen könnte, hieß es, Munition müsse gespart werden. Vier von uns widersetzten sich diesem grausamen Befehl. Da ich mit dem Oberleutnant gesprochen hatte, dachte er, ich sei der Rädelsführer. Er wollte mich gleich erschießen. Als er die Pistole auf mich richtete, fiel ein Schuss. Ein Kamerad hatte den Mut und erschoss ihn. Wir haben ihn sofort in dem Massengrab bestattet. Man muss immer davon ausgehen, dass ringsum die Hölle los war. Wir waren so abgestumpft, dass es für uns keine Menschenwürde mehr gab. Kurze Zeit später kam der Militärseelsorger. Er fragte uns nach dem Oberleutnant. Wir sagten ihm, er wäre bei uns gewesen und weitergegangen. Auch er sah die schwer verwundeten Soldaten und fragte, weshalb sie dort liegen. Ich erklärte, der Oberleutnant hätte befohlen, ihnen den Schädel einzuschlagen. Wir jungen Soldaten würden das nicht verstehen. Der „Seelsorger“ erklärte, der Befehl des Oberleutnants hätte Gottes Segen, sei also auszuführen. Von diesem Tage an habe ich mit der Kirche gebrochen. Das Massengrab befand sich in der Nähe von Lietzen bei Seelow. Aus russischer Gefangenschaft Anfang September 1945 zurückgekehrt, habe ich eine Postkarte an den Bürgermeister von Lietzen geschickt mit der Frage, ob ihm das Massengrab bekannt sei. Daraufhin bin ich selbst nach Lietzen gefahren (Anfang 1946). Ich ging mit dem Bürgermeister und einem Vertreter der Kirche zu der mir bekannten Stelle. Man brauchte nicht

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Hitlers Kindersoldaten: Günter Debski war nicht älter als dieser verängstigte Flakhelfer, als er für den Endkampf verheizt werden sollte. Repro: MOZ/Uwe Stiehler tief zu graben, um auf die Toten zu sto- probe meines Lebens am 4. Mai 1945 zu ßen, die anhand der Erkennungsmarken bestehen hatte. Ein deutscher Stoßtrupp identifiziert werden konnten. Ich wollte hatte zwei Rotarmisten gefangen genomerreichen, dass die Angehörigen dieser men. Es wurde vermutet, dass die AufMänner Nachricht erhielten, wo ihre Lie- klärer im Besitz wichtiger Informationen ben bestattet sind. Die Toten wurden um- seien. Mit mir bekam ein älterer Soldat namens Podgorski, der perfekt polnisch gebettet. Es war der 2. Mai 1945. Unsere Ein- sprach, den Befehl, die beiden nach Potsheit wurde vom Spandauer Wald abge- dam zum Stab zu bringen. Wir marschierzogen und innerhalb von ten mit den Gefangenen Spandau zu vielen andeEin Rotarmist sagte am Schluss der Einheit, ren Truppeneinheiten verdie Maschinenpistolen auf Deutsch: „Ihr legt. An der Spitze standen der Rotarmisten zusätznoch die letzten Panzer eilich zu den eigenen Kaseid anständige ner SS-Division. Die meisrabinern umgehängt. VorMenschen“ ten SS-Panzersoldaten sichtig verständigte ich waren angetrunken. Sie mich mit Podgorski. Wir wussten wohl, dass das Ende naht. In kamen zu dem Entschluss, die Gefangeder Mittagsstunde begann dann auch der nen unter keinen Umständen nach Potsgroße Durchbruch in Richtung Potsdam. dam zu bringen, wo diesen der Tod sicher Von dort sollte uns der General Wenk ent- sein würde. Gemeinsam mit ihnen wollgegenkommen. Den haben wir aber nicht ten wir uns zur sowjetischen Seite durchgesehen. Später erfuhren wir, dass die schlagen. Groß war unser Erstaunen, als Rote Armee schon am 27. oder 28. April einer der Rotarmisten, während wir vor 1945 in Potsdam war. Dieser Durchbruch pausenlosem Beschuss in einer Mulde Deforderte noch einmal viele Tote und Ver- ckung suchten, in gutem Deutsch sagte: wundete auf beiden Seiten. „Ich habe alles verstanden. Ihr seid anIch glaube, die Rote Armee hat nicht da- ständige Menschen. Wir werden gemeinmit gerechnet, dass die deutsche Armee sam weiterleben.“ Er forderte uns auf, die noch eine solche Kraft hatte. Bewacherrolle sorgfältig weiterzuspielen. Nordwestlich von Potsdam, nahe der Endlich gelang es uns, uns in Richtung kleinen Ortschaft Ketzin war es, wo ich als der Baumschulen Ketzin von der Einheit 17-Jähriger die erste große Bewährungs- abzusondern. Schon bald waren die ers-

ten Rotarmisten in Sicht. Die bisherigen unfreiwilligen Bewacher wurden nun freiwillige Gefangene. Nachdem die Kundschafter ihrem Kommandeur die Erlebnisse mit uns geschildert hatten, wurden wir als Freunde aufgenommen. Am 5. Mai 1945, drei Tage vor Unterzeichnung der bedingungslosen Kapitulation Hitler-Deutschlands, erhielt ich vom russischen Kommandeur folgendes Dokument: „Der Gefangene Soldat Debski, Günter Alexander, 1928 geboren, Wohnort Prenzlau, erhält die Erlaubnis, ungehindert seinen Wohnort Prenzlau aufzusuchen. Er hat der Roten Armee einen großen Dienst erwiesen. Soldat Debski setzte sich für das Leben von zwei Soldaten der Roten Armee ein. Alle Einheitsführer müssen ihn ungehindert passieren lassen.“ Dennoch wurden wir beide auf unserem Heimmarsch trotz Vorzeigen des Dokumentes von einer Einheit in den großen Gefangenenmarsch deutscher Soldaten eingereiht. Erst später in der Gefangenschaft zeigten wir dem Lagerkommandanten das Dokument und waren dann Ende August 1945 wieder zu Hause. Sieben Monate waren seit meiner Einberufung zum RAD und zur Wehrmacht vergangen, sieben Monate, die in meinem Leben vieles veränderten. Günter Debski, Eisenhüttenstadt


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Freitag, 8. Mai 2015

Überleben im U-Bahnschacht Eine Familie aus Tiefensee floh vor den Kämpfen nach Berlin und geriet dort mitten in die letzten Gefechte Weihnachten 1944 war vorbei, und es war Winter geworden. Die dunkle Jahreszeit. Eine dunkle Zeit war es auch im wörtlichen Sinn. Es musste alles verdunkelt werden. Vor jedem Fenster war eine Verdunkelung. Kein Licht durfte nach draußen dringen wegen des Fliegeralarms. Straßenbeleuchtung brannte nicht. Die Scheinwerfer der wenigen Autos oder Wehrmachtsfahrzeuge waren bis auf Schlitze abgedunkelt, und in den Abteilen der vorüberfahrenden Züge brannte auch kein Licht. Abends nach 20 Uhr kam gewöhnlich die Meldung über das Radio: „Achtung, Achtung. Starke feindliche Verbände im Anflug über Hannover–Braunschweig auf die Mark Brandenburg.“ Danach ertönte noch ein Vogelgezwitscher aus dem Lautsprecher, und der Sender verstummte. Zeit für die Stadtmenschen, in den Luftschutzkeller zu gehen. Wenig später konnte man in Tiefensee das Einschlagen der Bomben in Berlin hören, und der Himmel färbte sich von den Flammen rot. Es war Januar 1945 geworden. Die ersten Flüchtlinge kamen aus Ostpreußen. Da wir in der oberen Etage genügend Platz hatten, bekamen wir Einquartierung. Wir nahmen eine Frau mit zwei Kindern in meinem Alter auf. Ich fand

Der Feuerschein am Abend kam vom brennenden Wriezen das damals eigentlich ganz praktisch. Man hatte immer jemanden zum Spielen. Es war ein klarer Tag im Januar. Am Himmel flogen in großer Höhe große Geschwader feindlicher Flugzeuge mitten am Tag Richtung Osten. Wahrscheinlich ein Transport für die Russen aus dem Westen. Abends sahen wir einen Feuerschein. „Das ist Wriezen“, sagte man. Die Russen waren also längst über die Oder. Es war verabredet, dass Vater von seiner Dienststelle in Potsdam kommt und uns zu einer Bekannten nach Berlin in die Rosenthaler Straße bringt. Es war der 20. April 1945, und heute müsste er kommen. Vormittags ging meine Mutter mit mir noch einmal in den Ort zu Frau Mackenvods Lebensmittelladen, um etwas einzukaufen. Auf der Straße dahin kamen uns plötzlich Tiefflieger entgegengerast und schossen. Widerwillig ließ ich mich hinter einen Baum zerren. Ich konnte gar nicht begreifen, dass die auf uns schossen. Frau Mackenvod empfing uns voller Staunen. „Was machen Sie denn noch hier? Das Dorf wurde gestern schon evakuiert.“ Man hatte uns vergessen! Auf dem Rückweg wieder Tiefflieger. Jetzt wussten wir Bescheid. Vater ist angekommen. Es wurde mit Nachbar Müller vereinbart, abends im Dunkeln Richtung Berlin aufzubrechen. Das GendarmerieSchild am Haus wurde abgeschraubt und die weiße Fahne gehisst. Am 20. April 1939, zu Hitlers 50. Geburtstag, waren die Straßen mit Fahnen geschmückt, und es wurde viel marschiert. Das fand ich damals ganz toll. Heute wehten wieder Fahnen. Aber es

Die Waffen hingeschmissen: Nicht nur Zivilisten, auch deutsche Soldaten nutzen die Berliner U-Bahnschächte, um sich darin zu verstecken. Die Aufnahme zeigt, wie sie sich der Roten Armee ergeben. Foto: dpa waren weiße und wir wussten nicht, wohin wir marschierten. Es war schon abends, und Nachbar Müller wurde nicht fertig. Um 22 Uhr liefen wir drei schließlich allein los mit dem, was wir tragen konnten. Nachbar Müller lief irgendwann los und geriet in Werftpfuhl in einen Tieffliegerangriff. Der Mann starb, die Frau wurde verletzt. Gegen Morgen gelangten wir in Seefeld an. Dort kamen aus anderen Orten ebenfalls Flüchtlinge zu uns. Ein Lazarettwagen stand an einer Ecke. Ein Kastenwagen mit zwei Pferden davor. Meine Mutter konnte kaum noch laufen und ich daneben. Der Kutscher hatte Erbarmen. Er nahm uns beide mit auf den Bock. Weiter ging es Richtung Blumberg.

Unten fuhren wir, und über uns jaulten die Artilleriegranaten. Ich hatte einfach Angst. Der Kutscher beruhigte mich, so gut es ging. „Die schießen drüber weg“, sagte er. So kamen wir nach Blumberg. In Blumberg stand zu unserer großen Freude ein Zug. Zum Teil aus Viehwagen, aber das war uns so was von egal. Also rein und wir kamen tatsächlich bis nach Berlin-Lichtenberg. Die S-Bahn fuhr nur stückweise. Zwischendurch mussten wir zwischen zwei Bahnhöfen laufen. Bahnhof Alexanderplatz–Rosenthaler Platz. Wir hatten unser Ziel erreicht und wurden sehr ungnädig aufgenommen. Flüchtlingsschicksal. Vater schlug sich weiter zu seiner Dienststelle nach Potsdam durch.

Die nächsten Tage bis zum 8. Mai 1945 verbrachten wir im Luftschutzkeller des Hauses oder im U-Bahnschacht. Schließlich wurde es ruhig. Man hatte keine Lust mehr auf Krieg. Mutter hatte keine Lust mehr auf Bunker und entschied: Wir gehen wieder zurück nach Hause. Ich hatte nichts zu entscheiden, denn ich war immer noch acht Jahre alt. Man riet uns, bis zum Alex zu gehen und dann die Landsberger Allee entlang bis Eiche. Unsere Habseligkeiten bestanden aus den kleinen Luftschutzkoffern und zwei Taschen mit etwas Kleidung, zwei Schlafdecken und einer Tüte Zucker, fast unsere einzige Nahrung. Bei einem alten Mann im Gartenhäuschen in Eiche verbrachten wir die Nacht.


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Der Mann hatte einen zweirädrigen Karren. Mutter schaffte es, ihm den Karren abzuschwatzen. Mit der Versicherung, dass er ihn wiederbekommt. So zogen wir jetzt etwas leichter weiter. Gegen Abend waren wir in Werneuchen. Auf dem Boden eines geplünderten Lebensmittelladens verbrachten wir die nächste Nacht. Jetzt weiter nach Tiefensee. Immer mit der bangen Frage, ob das Haus noch steht. Erleichterung dann, es stand noch! Aber unsere Befreier wohnten darin, hier wollte man uns also nicht haben. Wir sprachen mit den wenigen Leuten, die noch oder wieder da waren und sahen uns um. Die Gaststätte Löcheln, die der SS nahestand, war ausgebrannt. Die Familie und die beiden Mädels, mit denen ich noch zur Schule ging, hatten sich das Leben genommen. Fleischer Steffens’ Haus am Ende der Kreuzung war auch ausgebrannt. Nur das Schlachthaus stand noch. Lehrer Binskis Haus war ebenfalls eine Ruine. Er wohnte jetzt in der Schule und übernahm in diesen ersten Tagen die Leitung der Gemeinde. Wir wurden in einen als Gartenhaus genutzten Eisenbahnwaggon in der Eberswalder Straße eingewiesen. Außer unserem Haus und dem Gutsschloss waren noch vier oder fünf andere Häuser besetzt. In einem Haus waren die sowjetischen Kommandanten. Von dort aus kamen Anweisungen, das dörfliche Leben neu zu ordnen. Bei Fleischer Steffens wurde im Wurstkessel Fleisch für die Bewohner gekocht, sicherlich von notgeschlachteten Tieren. Nach einer Woche gab es kein Fleisch mehr. Es gab auch kei-

Das aus Schrot gebackene Brot war eigentlich ungenießbar nen Strom, um das Fleisch länger zu kühlen. Bei Kosses stand eine Schrotmühle. Sie war eigentlich für Vieh gedacht. Zum Antrieb besorgte man einen Bulldog und schrotete. Ich weiß nicht, wer versuchte, daraus Brot zu backen. Es war eigentlich nicht genießbar. Aber es gab ja nichts anderes. Später kam Bäcker Tilgner ins Dorf. Da war es anders. Der Sommer 1945 war heiß, und wir Kinder sahen sie als erste: einen Zug von Menschen, der aus Richtung Westen kam und Richtung Osten zog. Ein Lagerzug. Alle in der etwas türkisfarbenen Uniform der Gendarmerie. Von Posten bewacht, trieb man sie dahin. Sie schrien nach Wasser. So liefen wir zum Brunnen und holten ihnen Wasser. Die Posten ließen es geschehen. Mein Vater war nicht dabei. Sicher trieb man sie in ein Internierungslager. In Fünfeichen gab es ja so etwas. Viele kamen um. Aber das wussten wir damals nicht. Für den Winter mussten wir Holz zum Kochen und Heizen sammeln. Viel gab es nicht. Abends zur Beleuchtung dienten Hindenburglichter. Als Brennstoff konnte man fast alles nehmen. Ob Schuputz, Petroleum oder Stearin. 1946 dann eines Tages eine große freudige Überraschung. Das elektrische Licht brannte wieder! Abends gab es immer noch stundenlanges Stromsparen. Als das mit dem Stromsparen vorbei war, brachte man sogar die Straßenbeleuchtung in Ordnung. Für uns Kriegskinder war das ein unfassbarer Anblick: Licht mitten auf der Straße! Die Welt wurde wieder neu. H. Rummel, Neuenhagen

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Fanatisierte Jugend: Adolf Hitler zeichnet kurz vor Kriegsende diese HJ-Jungs aus, die sich zum Volkssturm gemeldet haben. Sie sind etwa so alt wie Heinz Machatzke, als auch er, der Nazi-Propaganda gehorchend, unbedingt gegen die Rote Armee kämpfen wollte. Foto: Deutsches Historisches Museum

Vom Meister gerettet Als 14-Jähriger meinte Heinz Machatzke, unbedingt mitkämpfen zu müssen Wie viele meines Alters war auch ich ein Pimpf und Hitlerjunge. Als ich im Februar 1945 von einem Heimatabend zurückgekommen bin, sah ich auf dem Weg zur Wohnung einen großen Treck auf den Straßen. Es waren viele Pferdewagen mit Flüchtlingen. Diese Menschen sind geflohen vor der Roten Armee. Tausende mussten damals die Heimat ungewollt verlassen. Diese Menschen hatten schon viele Kilometer hinter sich, als sie durch meine Heimatstadt Luckenwalde zogen. Als ich auf dem Bürgersteig an dieser Kolonne vorbeigelaufen bin, wurde ich mit faulen Kartoffeln beworfen. Nach einem Gespräch mit meiner Mutter wurde mir klar, warum. Ich war immer noch ein stolzer Uniformträger. Es wurde nicht meine Person, sondern die Uniform eines Hitlerjungen beworfen. Anfang März 1945 wurde ich 14 Jahre alt. Von diesem Tage an war ich kein Pimpf mehr, sondern wurde in die Hitlerjugend aufgenommen. In der Nähe von Jüterbog bei Luckenwalde wurden wir Kinder in einer Kaserne an Waffen ausgebildet. Gewehr, Panzerfaust und Pistole. Nach Ostern, es war Anfang April 1945, wollte ich eine Lehre als Klempner anfangen. Mitte März hatte mir der Meister mitgeteilt, es habe keinen Sinn mehr mit der Lehre, denn der Krieg ginge bald zu Ende und was danach käme, wüsste niemand. Vom Arbeitsamt habe ich erfahren, dass ein Bäckermeister in Jüterbog einen Lehrling sucht. Meine Mutter wusste vom Ersten Weltkrieg, was Hunger bedeutet und hat mich überredet, diesen Beruf zu erlernen. Nach Ostern, Anfang April 1945, fing ich die Lehre an. Gewohnt habe ich bei dem Meister, der dafür auch Gesellen-

stuben hatte. Am Wochenende bin ich mit der Bahn drei Stationen nach Luckenwalde gefahren. Die Bäckerei war ein moderner Betrieb mit elektrischer Mehlsiebanlage und modernem Dampfbackofen. Es waren auch ein französischer und ein polnischer Kriegsgefangener im Betrieb tätig. Der Franzose durfte in meinem Gesellenstübchen schlafen. Der Pole musste sich immer wieder in einem Gefangenenlager melden. Der Franzose hatte zu mir Vertrauen. Nach einer guten Woche sagte er zu mir: „Heinz, nicht mehr Uniform anziehen. Die Amerikaner sind schon an der Elbe.“

Der Junge bekam kein Gewehr, sondern den Rat, sich zu verstecken Am 16. und 17. April 1945 haben die Russen einen Großangriff auf Berlin begonnen. Von uns hat das keiner gewusst. Es war der 20. April 1945 und Hitlers Geburtstag, da kamen die Russen nach Jüterbog. Ich stand am Nachmittag dieses Tages vor meinem Lehrbetrieb auf der Straße, als die Bahnhofswache angerannt kam. Im Laufschritt rannten sie zu der in der Nähe liegenden Kaserne und riefen ständig: „Die Russen sind da!“ In der großen Kasernenanlage gab es nur noch eine kleine Einheit zur Bewachung. In den Abendstunden klopfte es an die Toreinfahrt zum Grundstück. Zwei deutsche Soldaten standen mit ihren Waffen vor der Tür und haben um Brot gebeten. Ich habe zu den Soldaten gesagt,

sie sollten mir ein Gewehr geben: „Ich will auch gegen die Russen kämpfen.“ Es waren schon ältere Soldaten, vermutlich auch schon Familienväter, die mir keine Waffe gegeben haben. Ich sollte in den Keller gehen, es werde bald zu einem Kampf kommen. In den Morgenstunden des 21. April kamen einige Russen in Richtung Kaserne gelaufen. Von einem Bodenfenster aus habe ich das beobachtet. Es folgte kurz darauf ein heftiges Gefecht. Nach einer kurzen Zeit war plötzlich wieder Ruhe. Als ich aus dem Fenster sah, liefen deutsche Soldaten in Richtung Bahnhof. Die Russen hatten sich zurückgezogen. Am Morgen des 22. April setzte heftiges Maschinengewehrfeuer ein. Mein Meister und ich sahen von einem kleinen Kellerfenster aus auf die Straße. Zwei deutsche Soldaten standen in einem Hausflur und gaben ständig Gewehrfeuer ab. Plötzlich heulten Granaten heran. Mein Meister, der den Polenfeldzug mitgemacht hatte, drückte meinen Kopf sofort nach unten. Einige Meter vor unserem Fenster schlug die Granate ein und explodierte. Die Scheiben des Kellerfensters waren durchlöchert. Hätte mein Meister nicht meinen Kopf nach unten gedrückt, wäre ich tot gewesen. Ich habe meinem Lehrmeister mein Leben zu verdanken. Ein Soldat, der an der Ecke stand, war tot. Der andere war schwer verwundet und schrie ständig um Hilfe. Es kam keine Hilfe. Nach etwa zwei Stunden war auch dieser Soldat tot. Wir alle haben, der eine früher, der andere später, eingesehen, dass Europa und auch Deutschland von einem Diktator befreit wurden. Heinz Machatzke, Schwedt


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Lebenslange Uniformphobie Der Schriftsteller C. U. Wiesner begriff die Unmenschlichkeit des Nazi-Regimes durch einen geistig behinderten Freund Ein Gespräch mit C. U. Wiesner öffnet verschüttet. Da bekam ich auch als Kind den Blick in die Zeitgeschichte der letz- den Krieg das erste Mal richtig zu spüten Kriegsmonate. Aus den Augen eines ren. Die Bombenangriffe haben die Stadt Kindes erzählt er von der naiven Faszi- alleine 1652 Menschenleben gekostet. Bei nation für die Kriegsspiele des deutschen der Gelegenheit wurde auch das SaldernJungvolks, den Bombenangriffen auf seine sche Gymnasium an der Havel zerstört. Heimatstadt Brandenburg an der Havel Dabei sind der Direktor, seine Frau und und warum der Tod Adolf Hitlers für sei- die Schüler, die dort auf den Bus gewarnen Freund Erwin ein ganz besonderes tet haben, umgekommen.“ Glück war. Der 82-jährige Schriftsteller C. U. Wiesner ist zum Zeitpunkt des und gebürtige Brandenburger lebt heute Kriegsendes 1945 zwölf Jahre alt. Im Febin Wandlitz-Klosterfelde bei Bernau. Be- ruar des letzten Kriegsjahres gerät dem kannt wurde C. U. Wiesner vor allem mit Jungen ein Aufsatz über das Thema „Wie seiner Figur des Frisörs Kleinekorte und kann die Heimat auch in ihren Feldpostals Autor mehrerer Drehbücher für den briefen ihre soldatische Haltung beweiPolizeiruf 110. sen?“ so gut, dass er ihn vor der gan„Man hat das als Kind sehr interessant zen Klasse vorlesen darf. Die Erlebnisse gefunden: Geländespiele, Kriegsspiele. der noch folgenden Kriegsmonate maAber mir verging daran schnell der Ap- chen den späteren Schriftsteller zum Papetit. Ich bin in Brandenburg an der Ha- zifisten auf Lebenszeit. „Geborene Antivel aufgewachsen, eine Stadt mit damals faschisten und Friedenskämpfer sind wir etwa 80 000 Einwohnern mit vielen mit- nicht“, mahnt der Autor. telalterlichen Bauten und einem schönen, „Mein Vater, der nur noch ein Auge alten Stadtkern. Am 31. März 1945, am hatte, hatte insofern Glück, als er deshalb Ostersonnabend, kam der erste schwere nicht an die Front musste. Dafür musste Angriff auf Brandenburg. er einen sogenannten Ich hab’ als Junge die Luftschutztrupp führen. Im Hochbunker Toten aufgebahrt geseDas waren so vier, fünf zitterte der Männer, die auch nicht hen, die nur unter Wolldecken lagen. Dem Haus mehr so richtig frontzwölfjährige Junge meiner Großmutter hatte fähig waren. Die durften um sein Leben nicht in den Luftschutzein Bomber die Vorderfront weggerissen, das keller, sondern musssah aus wie ein Puppenhaus. Der Ter- ten Löschen helfen oder Leichen tragen. rier Flocki war noch oben geblieben und Die hatten aber nicht mal Helme. Ich als jaulte fürchterlich. Mein Onkel, der sehr Zwölfjähriger musste als Melder zum Ortsartistisch gewandt war, ist hoch gegangen gruppenleiter Weber, einem Nazi. Der saß und hat unter Lebensgefahr den Hund, das in einem sehr sicheren Keller mit Teppich Kleinradio und das Geschirr und Besteck und hatte einen Stahlhelm auf dem Kopf, sowie Bettwäsche und Handtücher geret- die Uniform an, und neben ihm stand eine tet. Unsere Schule wurde umfunktioniert Flasche französischer Cognac. Ich musste zum Lazarett, und wir machten Schicht- zu ihm gehen und sagen: ,Heil Hitler! Luftunterricht mit dem Gymnasium. Am schutztrupp 4c, Wiesner, bereit zum Ein20. April 1945, dem Geburtstag des Füh- satz.‘ ,Danke mein Junge, danke, danke, rers, kam der nächste schwere Angriff. Den heil Hitler‘, sagte Weber. Den haben die habe ich in einem Hochbunker erlebt, der Russen später abgeholt, der ist auch nicht bestand aus sechs oder acht Stockwerken. wiedergekommen. Mein Vater musste also Auf den Bunker fielen Bomben. Das fühlt draußen stehen und Wache halten. Am sich so an, als würde man das Ohr an ei- 24. April 1945 heulten die Sirenen dann nen Amboss legen und da haut einer mit aber auf Dauertouren. Der auf- und abdem Hammer drauf. Eine Bombe kratzte schwellende Ton hieß Fliegeralarm, das an der Außenwand vorbei. Der Bunker war Dauerheulen bedeutete: Feindalarm, jetzt völlig überfüllt, Wasser und Licht fielen ist der Russe da. Wir mussten fliehen. aus, und in der Panik hat man aus Angst Meine Eltern bewahrten eine erstaunlidie Luftschächte zugeschraubt, sodass die che Ruhe, nur ich verbreitete Panik. Meine Luft dünn wurde. Dann hieß es, die Luft- Mutter hatte mich bei dem Versuch erschächte sind von umgestürzten Häusern wischt, meinen Kater Ieze als blinden Pas-

Von Bomben getroffen: C. U. Wiesner hat die Zerstörung des Saldernschen Gymnasiums (links) in Brandenburg an der Havel miterlebt. Foto: privat

Wäre fast ausgereist: Seine Kriegserlebnisse machten den Schriftsteller C. U. Wiesner zum Pazifisten, weshalb er in der DDR Probleme bekam. Foto: Ann-Kathrin Jeske sagier in unserem Brötchenbeutel zu verstauen. Der musste aber zu Hause bleiben. Wir sind dann Richtung Elbe mit dem unbestimmten Gefühl, der Ami sei harmloser als der Russe. Am 2. Mai 1945 hörte ich zum letzten Mal die Nachricht des Reichsrundfunks. Eine Stimme verkündete, der Führer Adolf Hitler sei an der Spitze seiner um die Reichshauptstadt kämpfenden Truppen gefallen. Traurig war ich nicht, Vater hatte sich oft missliebig geäußert. Mir blieb nur der Gesprächspartner Erwin, denn Vater und Mutter kämpften in diesen Tagen um unser Überleben. Erwin war der 19 Jahre alte und geistig behinderte Sohn unserer Nachbarn. Den hatte ich mittlerweile schätzen gelernt und mir vorgenommen, ihn nicht mehr zu verspotten. Erwin half unser Gepäck schleppen, hörte immer zu, wenn ich mit ihm reden wollte und spielte sogar mit uns beiden Jungs im Wald Soldaten und überließ mir den Rang eines Oberleutnants, obwohl er sieben Jahre älter war als ich. ,Du, Erwin. Der Führer ist gefallen‘, teilte ich ihm mit. Erwin rauchte schweigend weiter. ,Wie kann man schweigend weiterrauchen, wenn doch der Führer tot ist. Erwin, wie findest du das?‘ ,Prima find ich das‘, erklärt er begeistert. ’Wenn er tot ist, kann ich ruhig weiterleben.‘ ,Wieso?‘, fragte ich. ,Mein Papa hat heimlich zu Mama gesagt, ich hab es genau gehört,

wenn Hitler nicht bald abkratzt, holt er unsern Erwin weg und lässt ihn totmachen‘, zwei dicke Tränen rollten über sein Gesicht. Ich war sehr froh, dass der Führer den Erwin nicht mehr holen konnte und begann an diesem Tag, ein bisschen zu verstehen.“ Seine pazifistische Einstellung muss C. U. Wiesner nach dem Krieg immer wieder behaupten. 1954 wird er in seiner Funktion als FDJ-Sekretär dazu aufgefordert, alle Jugendlichen für die kasernierte Volkspolizei, einem Vorläufer der NVA, zu werben. „Abdanken kann die englische Königin, aber nicht ein FDJ-Sekretär“, bedeutet ihm die Partei, als er seinen Unmut über die Aufforderung kundtut. C. U. Wiesner legt sein Amt trotzdem nieder. Er überlegt damals, in den Westen zu auszureisen; nur die Verwurzelung durch Familie und Freunde in Brandenburg an der Havel halten ihn zurück. Sein Verlagsleiter will ihn dazu überreden, wenigstens in eine Kampfgruppe einzutreten. „Willi, ich hab so ein Trauma vor Uniformen. Manchmal wird mir schon morgens schlecht, wenn ich in den Bus einsteige und die Uniform des Schaffners vor mir sehe“, erwidert er seinem Verleger. Auch heute noch muss der Schriftsteller schmunzeln, wenn er von dieser kleinen Übertreibung erzählt. aufgeschrieben von Ann-Kathrin Jeske


Freitag, 8. Mai 2015

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„Der Anblick war entsetzlich“ Annemarie Welz war dabei, als die Häftlinge aus dem KZ Buchenwald fliehen konnten und Weimar in Brand gebombt wurde

Am 11. April 1945 geKrank sehen sie aus, an den Kampf rät Annemarie Welz in ums Überleben im einen Pulk fliehender Häftlinge aus dem geKZ schließt sich für sie rade befreiten Konzender Kampf ums Übertrationslager Buchenleben vor den Bomwald. Den Anblick der ben an. „Wenn ich ausgemergelten Körheute Bilder von KZper wird die spätere Häftlingen sehe, weiß ich, so sahen sie aus. Lehrerin nie vergessen, die KZ-Besuche Der Anblick war entmit ihren Schulklassetzlich“, erinnert sen wegen des Schresich auch Annemarie ckens der eigenen Welz. Zu Besuchen Erinnerung stets gevon Konzentrationsmieden hat. Doch an lagern ihrer Schulklasdiesem Tag im April sen kommt sie nicht 1945 ist das Mädchen mit, denn sie hat das selbst auf der Flucht: Elend selbst gesehen. Und dennoch: „In der mit ihrem Vater befindet sie sich auf dem Luft lag schon auch Weg von Greußeneine Art JubelstimClingen in Thüringen mung, aber: Wohin? nach Fürstenwalde. Die Menschen wussIn dem thüringiten es nicht. Es war ein schen Dorf nahe Erfürchterliches Chaos.“ furt hatte AnneDas Ziel Fürstenwalde klar vor Aumarie die letzten Kriegsmonate bei ihgen, gelangen Vater rer Großmutter verund Tochter nach eibracht. Zu unsicher nem mehrtägigen Fußwar es der Mutter im marsch nach Königs Wusterhausen, wo Januar 1945 für ihre Tochter im umkämpfsie ein Feldjägerkomten Odergebiet gewormando aufgreift. Ein den, wo das Kind mit einzelner Mann mit seinen Eltern bis zu Dieses Foto entstand kurz nach der Befreiung des Konzentrationslagers Buchenwald. Der Anblick solcher Häftlinge, einem jungen Mäddie dem Tod näher waren als dem Leben, hat Annemarie Welz als Kind tief erschüttert. diesem Zeitpunkt gechen ist in diesen TaFotos: dpa lebt hatte. Die Eltern gen eine Seltenheit auf arbeiteten im Fürstenwalder Reifenwerk, der Straße und weckt die Skepsis der Midas ein kriegswichtiger Betrieb war und litärpolizei. Der Vater wird aufgefordert, auch in den letzten Kriegsmonaten nicht sich auszuweisen. Doch die beiden haben stillstand. Bei Bombenalarm musste Glück. Das Feldjägerkommando nimmt Annemarie den Weg in den Luftschutzsie im Lkw mit bis nach Fürstenwalde. Die Mutter ist heilfroh über die Rückkeller deshalb immer öfter alleine bewältigen. „Die Häuser haben geschaukelt, als kehr der beiden, aber die Freude über die würde man in einer Hollywoodschaukel Familienzusammenführung währt nicht sitzen. Ich hatte fürchterliche Angst“, erlange. Dem Vater droht die standrechtliche Erschießung wegen unerlaubten Entinnert sich die 81-Jährige, die auch heute noch in Fürstenwalde lebt. fernens vom Betrieb, denn Urlaub hatte Im beschaulichen Greußen-Clingen war er für das riskante Unterfangen nicht gedie Lage hingegen verhältnismäßig runehmigt bekommen. Der Familie bleibt daher nur die Möglichkeit, in den Wald hig. Auch dort ist zwar das Essen knapp, zu fliehen. „Packt eure Sachen, das sind aber Gefechte finden andernorts statt. Als sowieso die letzten Stunden hier“, proim April 1945 das Ende des Krieges abphezeit der Vater, und so verleben sie die sehbar wird, entscheidet die Mutter über letzte Kriegswoche unter freiem Himmel das Schicksal der Familie: Der Vater soll nahe einer Quelle im Wald. Weil sie dort das Kind zurück nach Fürstenwalde holen, die Familie soll zusammenleben nichts zu essen haben, stiehlt sich der Vaoder sterben. So geschieht es, dass er am ter nachts heimlich in die Wohnung, um 11. April 1945 vor der großmütterlichen Einer der Überlebenden: Der ehemalige ukrainische KZ-Häftling Petro Mischtschuk Lebensmittel für den Tag zu holen. Auch Wohnung in Thüringen steht. Die Flucht kam anlässlich des 70. Jahrestages der Befreiung des Lagers vor wenigen Tagen das wird ihm zum Verhängnis, denn ein Nachbar sieht ihn dabei und verrät ihn von Vater und Tochter wird die beiden nach Buchenwald. Foto: dpa/Sebastian Kahnert über Weimar nach Fürstenwalde führen, prompt, sodass die Familie erneut fliedoch Weimar brennt an diesem Tag lichter- Konzentrationslager Buchenwald. Bis in diesem Tumult vielen Häftlingen die hen muss. In einem winzigen Dorf verloh. Amerikanische Flieger werfen Phos- heute ist unter Historikern umstritten, Flucht gelingt, die in Weimar sogleich in steckt sie ein polnischer Schäfer noch phorbomben: 1300 Grad heiße Sprengkör- ob diese Befreiung auch eine Selbstbefrei- die Luftangriffe der Amerikaner geraten. zwei Tage lang in seinem Keller, bis der per, die sich allein durch den Kontakt mit ung war. Gegenüber der „Süddeutschen Von oben dröhnen die Bomben: Schaut Krieg schließlich vorbei ist. Sauerstoff entzünden. Was aussieht wie Zeitung“ berichtete der heute 102 Jahre man gen Himmel, sieht man die GesichBis heute begleitet Annemarie Welz das ein Neujahrsfeuerwerk, setzt die ganze alte Zeitzeuge Marko Feingold, an diesem ter der Piloten, die aus den Tieffliegern Gefühl der Beklemmung in engen Räumen. Stadt in Brand. „Links und rechts standen Tag keine Schüsse gehört zu haben. Ei- Schüsse auf die fliehenden Menschen ab- „Die Angst stecken zu bleiben, nicht raus die Häuser in Flammen, mitten durch das nen Kampf gegen die SS hätte der kom- geben. Rennen, hinwerfen, weiterrennen. zu können, das rührt aus dem Jahr 1945. Feuer rannten die Menschen.“, erzählt die munistisch dominierte Lagerwiderstand „Komm’, Mäuschen, wir müssen weiter“, Meine Enkelkinder verstehen das nicht. Sie Rentnerin, und man merkt ihr an, dass ohnehin nicht gewinnen können, so Fein- sagt der Vater zu Annemarie, auch wenn können es auch nicht verstehen, denn sie sich die Bilder in diesem Moment vor ih- gold. Sicher ist, dass gegen 11 Uhr am neben den beiden einer nicht mehr auf- haben es nicht erlebt“, hält sie ohne jeden 11. April 1945 in Buchenwald der Feind- steht. Abgemagert und ausgezehrt rennen Vorwurf fest und lächelt dann. „Die Stufen rem geistigen Auge abspielen. Die Menschen, das waren nicht nur alarm ertönt. Er ruft die SS-Angehörigen auch die KZ-Häftlinge um ihr Leben. „Wo des Eiffelturms in Paris mussten sie trotzdie Einwohner Weimars, sondern auch zum Verlassen des Lagers auf, weil sich geht es nach Westen? In welche Richtung dem ohne mich hinaufsteigen.“ die gerade befreiten Häftlinge aus dem US-Truppen nähern. Sicher ist auch, dass müssen wir?“, fragen sie. aufgeschrieben von Ann-Kathrin Jeske


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Neue Heimat Oderbruch Roswitha Klahs hat als Fünfjährige die Flucht und Bombardierungen erlebt Jenseits der Oder damit wir nicht verin Grabow, Kreis hungerten. Nachts kamen die Russen, Königsberg, wurde wollten nach den ich 1940 geboren. Frauen, aber meisMeine Eltern hatten eine große Bautens waren sie so betrunken, dass sie weernwirtschaft. Vader Tür noch Fenster ter war im Krieg, er kam selten auf gefunden haben – nebenan war eine Urlaub, aber wenn, war die Freude Schnapsbrennerei. groß. Wir hatten Die Frau aus Bernoch einen Polen lin ist dann von dort und einen Franmit dem Kinderwagen zosen zum Arbeilosgelaufen, Züge fuhren noch keine. ten, und diese zwei Wir mussten dann machten uns auch auch wieder weiter den Leiterwagen für die Flucht fernach Gandenitz. Da tig und haben ihn hat uns dann unser mit Teppich überVati auch gefunden, spannt. Alles kam und die Familie war da rauf, was wir wieder gesund zunötig brauchten. sammen. Was damals In einer eisig kalvielen nicht mehr verten Nacht mussgönnt war. ten wir los auf den Meine Eltern machTreck, und keiner ten sich auf die Suche wusste, ob wir unnach meiner Tante, sere Heimat noch sie hat vor dem Krieg schon im Oderbruch einmal wiedersehen würden. gewohnt, war aber Am 4. Februar auch auf dem Treck. 1945 kamen wir Das Haus meiner in Schwedt an, und Tante war zerschosda hatte ich dann sen durch die schweren Kämpfe. meinen fünften 1946 holten meine Geburtstag. Auf dem Wagen waren Eltern meine Schwesnoch Oma, Tante, ter und mich dann aus Gandenitz ab, ein Knecht mit einer Frau, Mutti, ins Oderbruch, nach meine Schwester, Güstebieser Loose. ich und eine evaOma und Tante bliekuierte Frau aus ben noch ein paar Berlin mit dem Jahre dort, es war kleinen Sohn, der ja kein Platz, waren ein Jahr alt war. Zu Im tiefsten Winter losgezogen: Die Wagen der Trecks waren bis zur Belastungsschon drei Familien in dem Haus, aber ihr haben wir den grenze mit Menschen und der letzten Habe beladen. Repro: MOZ/Uwe Stiehler damals ging alles. Kontakt gehalten, bis sie im Jahre 2000 starb. ben sich vergiftet. Die Russen räumten 1950 baute mein Vater noch ein Haus Dann ging die Wagenkolonne weiter uns den Wagen leer, spannten uns die an, und dann kam auch Oma. 1946 hab nach Menz, das bei Rheinsberg liegt. Da schönen Pferde aus, Mutti weinte, sie ich im Oderbruch die Schule angefanstanden wir alle auf einem großen Markt- sollten sie uns doch lassen, aber nichts. gen. Als wir das erste Mal wieder nach platz, dort kamen dann die Flieger und Wir mussten froh sein, dass sie uns ei- Hause, nach Polen, fahren durften, stanwarfen Bomben, wir mussten alle ren- nen alten Klepper gegeben haben, aber den meine Eltern fassungslos vor dem gronen und uns in den umliegenden Häu- der schaffte nicht einmal, den leeren Wa- ßen Schutthaufen, der ihr Gut war, und sern in den Kellern verstecken. Als wir gen zu ziehen. weinten. Ein Kastanienbaum war das Einnach Stunden wieder raus konnten, lagen Irgendwie kamen wir doch in das zige, was von dem schönen großen Bauauf dem Platz tote Menschen, Pferde, die Dörfchen Metzelthin bei Wusterhausen/ ernhof noch stand. Und so haben wir nun im Oderbruch Wagen brannten. Ich war noch ein Kind, Dosse. Dort hatten wir unser erstes Notaber den Anblick vergisst man sein Le- quartier in einer Schule. Da waren lau- unsere zweite Heimat gefunden. Hier ben lang nicht. Unser Wagen war noch ter Strippen gezogen, wo Decken drüber haben wir Verwandte, Freunde und Beganz, aber die Pferde waren so aufgeregt, hingen, und hinter jeder Decke wohnte kannte, und es lebt sich auch in Güstedass wir alle Mühe hatten, sonst wären eine Familie auf Stroh. Wir Kinder hatten bieser-Loose ganz gut. Zu meinem 60. Geburtstag schenkten sie mit uns durchgegangen. alle ganz schlimm Ziegenpeter und MaAls wir ein paar Kilometer weg waren sern und Läuse. Läuse hatten die Großen mir unsere Freunde eine Fahrt durchs schöne Brandenburger Land. Ich wollte merkten wir, dass Oma und Tante fehl- auch. Medikamente gab es keine. Dann zogen wir auf den Boden einer gerne noch einmal dahin, wo wir 1945 ten. Mutti ist dann zurück und hat sie gesucht. Sie waren in einem anderen Keller. Schnitterkaserne. Da waren kleine runde auf dem Treck waren, und das haben wir Jetzt fuhren wir in einen Wald, dort haben Fenster wie auf einem Schiff, und aus den auch gemacht. Habe auch alles wiedergeuns die Russen eingekesselt. Wir muss- Fenstern sahen wir, wie die Russen einen funden, sogar die Schnitterkaserne und ten alle ein weißes Handtuch raushängen, Deutschen geschlagen und erschossen ha- die Schnapsbrennerei stehen noch. Die als Zeichen, dass wir uns ergeben. Geld, ben. Er soll angeblich was verraten ha- Dörfer sehen dort noch so aus, als wenn die Zeit stehen geblieben wäre. Auf dem Schmuck, Papiere, Uhren und alle Wert- ben, und so könnte es jedem ergehen. Dann zogen wir um in ein anderes Friedhof in Metzelthin hab’ ich noch den sachen wurden in aufgestapelten Holzstößen versteckt, wer das später einmal Haus. Mutti ging auf einem Gutshof ar- Stein gefunden von unserem ehemaligen alles gefunden hat, war so zu einem Ver- beiten, und so brachte sie mal ein biss- Knecht aus Grabow. Roswitha Klahs, Güstebieser Loose mögen gekommen. Ein paar Frauen ha- chen Milch und ein paar Kartoffeln mit,

Freitag, 8. Mai 2015

Die Menschen krochen vor Angst zusammen

Tief eingeprägt sind in meinem Kopf die Schrecken nach Januar 1945. Mein Vater war in Afrika im Krieg. Wir wohnten damals in Berlin, wo ich auch geboren bin. Da die Stadt schrecklich bombardiert wurde, wurden wir, meine Mutter und ihre zwei Kinder – meine Schwester ist Jahrgang 1935 – nach Frankfurt (Oder) evakuiert. Wir wohnten auf dem Gieshof. Mutter half dort aus, und ich erfreute mich an den Tieren, verirrte mich an einem Tümpel, fiel ins Wasser und drohte zu ertrinken. Da rettete mich ein Mischling, der Nelli hieß. Dann kam 1945 die Befreiung durch die Rote Armee, und im Treck ging es zurück nach Berlin. Tage, Nächte waren wir unterwegs, natürlich zu Fuß und bei klirrender Kälte. Wir zogen auf der Straße, durch Wälder und Orte. Fanden wir verlassene Wohnhäuser, versuchten wir, etwas Essbares zu finden. Es war aber alles ausgeräubert und stark beschmutzt.

Die Frauen wurden nachts vor den Augen ihrer Kinder vergewaltigt

Die erwachsenen Frauen kamen nicht in den Schlaf. Denn sie wurden vor unseren Augen vergewaltigt. Die Menschen sind vor Angst zusammengekrochen. Wenn die Befreier kamen, mussten wir auf Kommando brüllen. Die Frauen haben sich als Großmütter vermummt, um vor ihnen sicher zu sein. Kein Wasser, nichts zum Essen, dann ging es weiter. Schnee war die Ernährung. Rechts, links lagen die Toten an den Straßenrändern. Meine kleinen Füßchen, ich war erst vier, fünf Jahre, konnten nicht mehr laufen. Mutter hat mich ab und zu getragen. Die Brücken waren gesprengt. So sind wir auf Bohlen und Brettern zu Hause angekommen. Das Wohnhaus, in dem Oma und Opa geblieben waren, war bombardiert worden, hatte Einschüsse. Das Dach war entzwei. Noch Jahre später, wenn ein Flugzeug etwas tiefer über unser Grundstück flog, ist Oma mit mir in den Keller gelaufen. Solange sie lebte, lief sie in den Keller, wir wohnten in der Nähe von Schönefeld. Meine Mutter wäre jetzt 101 Jahre alt. Ich kann mich entsinnen, dass sie damals, um etwas zum Essen zu ergattern, für die Bauern in Schönefeld gestrickt hatte und ich ihr den Rücken massiert habe. Als ich 1946 eingeschult wurde, hat sie Nudeln durch die Kaffeemühle gedreht und mir aus diesem Mehl einen Kuchen gebacken. Bitte, bitte nie wieder Krieg. Ich wünsche mir, dass unsere Nachkommen so ein Leben nie erleben müssen. Darum Rücksicht und Liebe für die Alten, die haben den Lebensstandard erarbeitet und schwer dafür gelitten. Brigitte Stein, Neu Golm


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Freitag, 8. Mai 2015

„Der Todesmarsch“: Mit dieser Kreidezeichnung verarbeitete der tschechische Häftling Josef Dobeš das Grauen, das er durchleben musste. Christa Schneidewind hat während ihrer Flucht erlebt, wie Gefangene des KZ Sachsenhausen auf so einem Marsch ermordet wurden. Foto: Kreuzberger Gedenkstätte

Den Todesmarsch gesehen Nachts, berichtet Christa Schneidewind, wurden die KZ-Häftlinge, die zu erschöpft zum Weiterlaufen waren, von ihren Wachen erschossen In den ersten Tagen und Wochen des Jahres 1945 war das Grollen des Kanonendonners unüberhörbar. Die Rote Armee stand östlich der Oder. Die deutschen Truppen bereiteten sich auf schwere Kämpfe vor. Durch unser Dorf Podelzig wurden bei Tag und Nacht Panzer und Kanonen transportiert. Soldaten der Wehrmacht bauten Schützengräben und Flackstellungen, gleich hinter unserem Haus ging es damit los. Wir Kinder waren jeden Tag draußen und schauten zu. Der Volkssturm übte den Umgang mit Waffen. Dann kam der 31. Januar 1945, mein sechster Geburtstag. Ich bekam einen gebrauchten Puppenwagen geschenkt, den ich mir schon so lange gewünscht hatte. Richtig freuen konnte ich mich trotzdem nicht, weil die Erwachsenen seit Tagen sehr aufgeregt waren. Grund dafür war der Aufruf zur Flucht, weil die Front schon nahe war. Nur mit Handgepäck mussten sich die Landarbeiterfamilien auf dem Hof des hiesigen Rittergutes am Morgen des 4. Februar 1945 sammeln. Meinen Puppenwagen durfte ich nicht mitnehmen. Ich erinnere mich, dass wir unsere Ziegen, Kaninchen und Hühner aus den Ställen freiließen; das Vieh war sich nun selbst überlassen. Unsere Familie bestand damals aus meiner Mutter Martha, sie war gehbehindert, aus Großmutter Auguste, 70 Jahre alt, meinem Bruder Willi, Tante Emma und mir. Bevor der Abmarsch erfolgte, geschah etwas Schlimmes: Offiziere der Deutschen Wehrmacht erschossen vor unseren Augen vier russische Soldaten, die tags zuvor im Reitweiner Wald gefangen genommen worden waren. Ihr Blut tropfte in den Schnee. Ich ergriff Groß-

mutters Hand und zitterte. Dann setzte sich der Treck in Bewegung. Da die gesamte Gegend Großkampfgebiet wurde, mussten wir fort. Ein langer Flüchtlingszug transportierte uns von Fürstenwalde durch Berlin, wo wir eine Nacht lang hielten. Schwere Luftangriffe tobten über der Stadt. Der helle Feuerschein, die Geräusche der Bomber und die Detonationen machten uns große Angst, Kinder weinten und die Erwachsenen beteten. Die Fahrt ging weiter Richtung Nord-Westen. Im Ort Grieben bei Löwenberg bekamen die Podelziger Familien Unterkunft und Arbeit bei den Bauern zugewiesen. In dieser Gegend sahen wir den Todesmarsch der Häftlinge des KZ Sachsenhausen. Ich höre heute noch das Klappern ihrer Holzpantoffeln auf der Straße. Häftlinge, die vor Erschöpfung nicht mehr weiterlaufen konnten, wurden in der Nacht von den uniformierten Begleitmannschaften erschossen. Wir sahen am nächsten Morgen die Toten am Straßenrand liegen. Auch die Fliegerstaffeln der Alliierten Richtung Oranienburg und Berlin hörten wir fast jeden Tag und jede Nacht. Dann ging in unserer Gegend ein Phosphorhagel nieder, Tote und Verletzte wurden aus Grieben transportiert. Die Flüchtlingsfamilien besuchten sich gegenseitig und tauschten Informationen vom Kriegsgeschehen im Oderbruch aus. Tante Emma bekam die Nachricht, dass ihr Mann seit den Kämpfen am Weichselbogen als vermisst galt. Aus unserer Familie waren vier Angehörige an der Ostfront. Jahrzehnte später wurde auf Nachfrage von der Wehrmachtsauskunftsstelle Berlin mitgeteilt, dass mein Onkel Walter Gieslinski, am 22. Januar 1945 an

der Weichsel gefallen war. Ich verneige mich in Gedenken. Unsere Flucht ging Mitte April weiter. Zusammen mit einer Podelziger Familie waren wir acht Personen auf einem kleinen Pferdewagen. Täglich verfolgten uns Tiefflieger, sie schossen aus allen Rohren auf die Trecks, weil sich dazwischen auch Truppenteile der Wehrmacht befanden. Wenn wir sie kommen hörten, retteten wir uns ganz schnell in nahe Schonungen und Straßengräben. Oft gab es Tote und Verletzte, blutende und schreiende Menschen. Essbares und Futter für die Pferde erbettelten wir bei Bauern in den Dörfern, die wir durchfuhren. Die meisten Gehöfte blieben verschlossen. Ganz selten durften wir an einer Hofpumpe Wasser entnehmen oder in einer Scheune schlafen. Auf einem großen Sammelplatz für Flüchtlinge kurz vor Hagenow rasteten wir. Hier gab es lediglich ein paar Wasserstellen, keine Toiletten und keine Möglichkeit, etwas zu essen zu kaufen. Und immer wieder tauschten die Erwachsenen Informationen über das Kriegsgeschehen aus, besonders über die Kämpfe um Berlin. Am 8. Mai 1945 hieß es: Der Zweite Weltkrieg ist aus! Die Menschen lagen sich in den Armen. Es war der Tag der Befreiung vom Faschismus. Wir wollten versuchen, nach Hause zu kommen, irgendwie. Tagelang waren wir unterwegs. Je näher wir der Heimatregion kamen, umso schlimmer sahen die Städte und Dörfer aus. Um Berlin machten wir einen Bogen und fuhren mit unserem Gespann durch Bernau, Werneuchen, Strausberg, Müncheberg. Straßen und Wege waren oft unpassierbar. Am 1. Juni 1945 nah-

men wir die letzten 30 Kilometer unserer Heimfahrt in Angriff, nun mit einem klapprigen Handwagen. Es wurde ein beschwerlicher Weg, aber die Sehnsucht nach zu Hause gab uns die Kraft für den Fußmarsch. Ich bin die ganze Strecke fleißig getippelt, weil meine kranke Mutter mit dem Handwagen transportiert werden musste. Um uns herum von einer furchtbaren Schlacht verwüstetes Land. Allenthalben lagen Reste von Kriegsmaterial, vereinzelt auch Leichen. Die Sonne ging unter, als wir Podelzig erreichten. Unser Dorf lag in Trümmern, auch unser Haus. Der Schreck war groß und ich dachte plötzlich an meinen Puppenwagen. Doch wer sollte mich trösten! Die Erwachsenen hatten andere Sorgen: Wo können wir unterkommen und schlafen und wie soll es weitergehen? Es herrschte große Not: Hunger, Elend und Krankheiten wie Typhus forderten ihre Opfer. Trotz allem packten die Menschen an, vor allem die Frauen, weil noch viele Männer fehlten. Brot war rationiert, man wurde nie satt. Manchmal bekamen wir Kinder auch von sowjetischen Soldaten ein Stückchen Brot. Bis sich das Leben etwas normalisierte, verging die Zeit, man musste eine Menge Geduld haben. Und wir wollten lernen, auch unter primitivsten Bedingungen. Wir Kinder sind im Krieg und danach durch eine harte Schule des Lebens gegangen und konnten das Erlebte nicht verarbeiten; es ist in unseren Hirnen und Herzen. Eine verlorene Kindheit? Ja und nein! 1945 hieß es: nie wieder Krieg, nie wieder Völkerhass! Diese Worte sollen für uns eine Mahnung sein. Christa Schneidewind, Frankfurt (Oder)


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Ruinenlandschaft: Ein Vierteljahr wurde 1945 um Küstrin gekämpft. Danach war die Altstadt ein Trümmerfeld.

Freitag, 8. Mai 2015

Foto: Gedenkstätte Seelower Höhen

Heimatstadt in Trümmern Als Horst Herrmann nach Küstrin zurückkehrte, war der Ort völlig zerstört. Nach zwei Monaten kam der Befehl, die Stadt wieder zu verlassen Die Propaganda des Nationalsozialismus hat über das russische Volk viele Gräueltaten vermittelt und diese Menschen als eine minderwertige Gesellschaft eingestuft, sodass die Menschen in den deutschen Ostgebieten mit der Annäherung der Roten Armee sich ab Herbst 1944 auf den Weg in Richtung Westen machten. Die Bewohner von Ost- und Westpreußen begaben sich in eine ungewisse Zukunft, zum Teil freiwillig, zum Teil nach Aufforderung der Behörden. Auf dieser Flucht verloren Tausende Menschen ihr Leben und ihr Hab und Gut. Als das Jahr begann, wusste keiner in meiner Heimatstadt Küstrin, was uns erwarten würde. Aber der Vormarsch der Roten Armee ging unaufhörlich weiter in Richtung Berlin, sodass die Rote Armee am 31. Januar 1945 mit ihren Panzertruppen Küstrin erreichte. Die noch vorhandenen historischen Festungswerke wurden nun genutzt, hier den Kampf bis zum letzten Mann durchzustehen, um einen Sturm auf Berlin zu verhindern. Dafür setzte man den Generalleutnant Reinefarth von der Waffen SS als Festungskommandant ein. Küstrin hatte man bereits vorher schon zur Festung erklärt. Etliche Einwohner hatten in den ersten Tagen des Jahres die Stadt bereits verlassen, aber viele waren noch geblieben. Da

gab es einen Räumungsbefehl von Bür- wöhnt, mit fast gar nichts auszukommen, germeister Körner, dass sich alle Zivilisten aber man kam schon zurecht und suchte – außer den wehrfähigen Männern – am in den verlassenen Ruinen und WohnHornwerk zu sammeln haben, um Küstrin häusern nach brauchbaren Lebensmitüber den letzten Ausweg in Richtung Alt- teln, die man ab und zu noch fand, wie bleyen mit den dafür bereitgestellten Mi- eingeweckte Gläser und weißes Blechfett. litärfahrzeugen zu verlassen. Am 22. Juni 1945 kam der AufDer Zweite Weltkrieg war noch nicht be- ruf über die polnische Stadtverwalendet, als ich mich mit eine Gruppe von tung, dass alle Deutschen Küstrin bis Küstrinern am 27. oder 28. 10 Uhr verlassen müssen, April 1945 von Rahnsdorf um sich westlich der Oder bei Berlin auf den Weg nach Man suchte in den wieder anzusiedeln. Ungläubig nahmen wir alle Küstrin machte. Wir wussRuinen nach ten nichts davon, dass sich diesen Aufruf an und packbrauchbaren ten schnell unser weniges die Alliierten und Sowjetunion über eine neue deutHab und Gut wieder ein und Lebensmitteln sche Ostgrenze verständigt bepackten erneut unseren hatten und die Oder bald Handwagen, um die Stadt der Grenzfluss werden sollte. Wäre mir zu verlassen. Als ich noch einmal in die das bewusst gewesen, ich wäre nicht nach Wohnung gehen wollte, um zu sehen, ob Küstrin zurückgekehrt. auch alles mitgenommen wurde, hat man Am 30. April waren wir in Küstrin- uns daran gehindert, denn die neuen EinAltstadt angekommen, in eine unüber- wohner haben bereits in die Wohnung einschaubare Ruinenlandschaft, und zogen ziehen wollen, und so wurden wir in der am 1. Mai 1945 nach Küstrin-Neustadt, aufbrechenden Kolonne von polnischen um dort eine Unterkunft zu finden, wel- Bürgern oder Milizen bis zur Oder beche uns von der russischen Kommandan- gleitet, über die uns erneut der Weg nach tur in der Landsberger Straße auch zuge- Deutschland führte. Für diese Ausweisung aus meiner Heiwiesen wurde. In den ersten Wochen des Neubeginns matstadt Küstrin im Jahre 1945 gilt für war man zufrieden, wenn man Arbeit und mich das Wort „Vertreibung“, und ich Essen hatte. Jeder hatte sich daran ge- sehe dabei auch keinen Hass gegenüber

den polnischen Einwohnern, die zu dieser Zeit dem gleichen Schicksal ausgesetzt waren, weil auch sie von ihrem Land vertrieben wurden. Entweder von den Deutschen oder der Sowjetunion, die den östlichen Teil Polens okkupierte. Wer die Stadt Küstrin bis zum Jahre 1945 gekannt hat, fand sie nach dem Ende dieses Krieges, in dem fast ein Vierteljahr um sie gekämpft wurde, verbrannt und in Ruinen vor. Fast 50 Jahre verharrte die untergegangene Altstadt von Küstrin in diesem grauenvollen Zustand. Aber nach 1989 ging es mit der Stadt so richtig los. Plätze, Straßen und frühere Hauseingänge wurden freigeräumt. Wenn man heute durch die Gassen und Straßen der Altstadt und zu den restaurierten Festungswerken geht, hat sich an diesen Stellen vieles bewegt. Die Festungswerke zeigen einem an, dass man auch aus den alten, zerstörten Bauwerken etwas machen kann. Dadurch entwickelt sich allmählich auch hier das geschichtliche Leben von Kostrzyn/Küstrin und die Erinnerung an die Vergangenheit dieser Stadt, die mir Heimat geblieben ist. Was ich einst hier erlebte in all den Jahren, habe ich zusammengetragen, damit man einmal zeigen kann: So ist alles einmal gewesen Horst Herrmann, Frankfurt (Oder)


Freitag, 8. Mai 2015

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Misshandlung eines 14-Jährigen Auch Kinder traf mitunter die Rache der Sieger. Edgar Müller aus Neuruppin musste das erleben

Nach Abschluss meiner Brandenburg, ein, wo Schulzeit nahm ich die wir übernachten wollLehre als Schmied und ten. Hier wurde ich Landmaschinenschlosvon den Russen festgeser bei meinen Großnommen, weil man bei eltern in Grunow im Juli mir als 14-jährigem Jun1944 auf. Mein Vater war gen bei der körperlichen im Krieg. Mitte Januar Durchsuchung mein Arbeitsbuch gefunden 1945 hat meine Mutter hatte, welches mir als mit Geschwistern DrosLehrling ausgehändigt sen verlassen und fand bei meiner Schwester in worden war, denn auf Grunow Unterschlupf. dem Arbeitsbuch war Am 2. Februar 1945 in Nazi-Deutschland wurde Grunow von der der Adler mit HakenRoten Armee besetzt. Gekreuz eingedruckt. Ich gen 9 Uhr waren mein war zu jener Zeit schon Opa, mein Onkel und ich 1,70 Meter groß und daauf dem Hof. Die Hoftür mit verdächtig, ein Nazi ging auf und es kamen zu sein. Man verhörte drei Russen. Der Hund mich unter dauernden bellte und wurde auf der Schlägen, unter anderem auch mit FußtritStelle erschossen. Meine Uhr wurde mir von der ten, die ganze Nacht. Hand gerissen, auch die Ich musste mich auch Uhr meines Onkels. Opa völlig entkleiden. Die hatte eine Taschenuhr Verhöre und Misshandmit Kette, die war an seilungen wurden von deutsch sprechenden ner Weste, man riss die Uhr aus der Weste raus. sowjetischen UniforDas Grundstück bemierten vorgenommen. Sie glaubten mir nicht, fand sich 500 Meter vom Dorf und etwa 150 Meter dass ich erst 14 Jahre alt vom Wald entfernt. Zur und Lehrling war. Man gleichen Zeit kamen drei warf mir vor, ich sei Soldeutsche Soldaten aus dat und bei der SS. Man schaute unter die Arme dem Wald und wurden von den drei Russen erund suchte nach der schossen, wir haben sie für SS-Angehörige typihinter unserem Grundschen Blutgruppen-Tästück begraben. Da sind towierung. die drei ins Haus geAm 10. Februar gangen und haben mit 1945 wurde ich mit eidem Bajonett die Federner Gruppe von etwa 100 Mann ohne Essen betten aufgerissen und Matratzen umher geworund Trinken in Marsch fen, Schränke umgerisgesetzt. Die Nacht hasen. Die Wurst aus der ben wir in einer Scheune Räucherkammer mitgeverbracht und am nächnommen, so auch eisten Tag ging es weinige Hühner. Der Vandater. Wer nicht mitkam, lismus nahm drei Tage wurde an der Straße erkein Ende. Frauen und schossen, so auch drei Mädchen, einige waren Schulfreunde von mir. In einem Lager angezwölf Jahre, wurden vergewaltigt. Jetzt konnten Leichte Beute: Deutsche Frauen wurden von vielen, aber nicht allen Soldaten der Roten Armee wie Freiwild bekommen, mussten wir handelt. Eine Szene wie diese wirkt da beinahe noch harmlos angesichts der Vergewaltigungen, deren Zeuge sie ihren Hass an den uns entkleiden und die Edgar Müller wurde. Frauen, Mädchen und Misshandlungen ginFoto: Lebendiges Museum Online Dorfbewohnern so richgen weiter. Nach einer tig auslassen. ich die Erkennungsmarken abschneiden, mit Hunderten Panzern besetzt und bis Woche kamen wir in ein anderes Lager Meine Großeltern hatten zwei Schweine mein Opa wollte sie nach dem Krieg der zur Oder waren es 18 Kilometer, aber die bei Posen, nach zwei Wochen von dort aus direkt nach Posen. Im Lager bekam und zwei Kühe, die man zwei Tage später Roten Armee übergeben, aber es war kei- Front ist zum Stehen gekommen. aus dem Stall geholt hat. Im Keller waren ner mehr an der Stelle, wo man die SoldaIm Dorf gingen die Vergewaltigung und ich die Ruhr. Ich habe sie überstanden Kartoffeln und Obstgläser sowie Konser- ten erschossen hat, die zwischen 25 und Plünderungen weiter. Das Ehepaar Golze und wurde im September 1945 mit eivenbüchsen mit Wurst und Fleisch, alles 30 Jahre alt waren. hat sich nach Tagen das Leben genom- nem Transport nach Deutschland verhat man davongetragen. In der Dorfmitte Am 5. Februar 1945 vormittags kam men und vorher seine dreijährige Toch- legt. Aus dem Lager Bützow-Vierburg hat man Schweine geschlachtet und in ein Russe zu uns auf den Hof. Er war ter umgebracht. Den Bauern Sprenger hat wurde ich am 15. November 1945 als Gulaschkanonen gebraten und gekocht, sauber gekleidet und sprach meinen Opa man erschossen, und so gingen die Ver- kranker Junge entlassen. Meine Mutman sagte zu uns: „Faschisten bekom- auf Deutsch an und sagte, er sei Deutsch- brechen bis zum 9. Februar 1945 weiter. ter habe ich durch meine Tante, die in An diesem Tag wurden alle Bewohner Berlin wohnte, am 17. November 1945 men nichts!“ Russe, Jude und in Hamburg 1924 geAm 4. Februar 1945 gegen 9 Uhr hat boren. Seine Familie war 1936 nach Li- von den Russen um 14 Uhr aufgefordert, wiedergefunden. Bruder, Schwester und man an der Gartenmauer des Bauern Brü- tauen und 1940 nach Moskau gegangen. bis 15 Uhr das Dorf zu verlassen und zwar Oma waren in Rüdow, Kreis Ruppin. Ich ning 35 deutsche Soldaten durch Genick- Er sagte, ich bleibe bei euch bis es wei- in Richtung Osten, weil rundherum noch wurde als 14-, 15-jähriger Junge in Interschuss erschossen, ich war Zeuge dieses tergeht, ihr braucht keine Angst mehr ha- Kampfgebiet war. Mit meiner Mutter, mei- nierungslagern gebracht und der FreiVerbrechens, man brachte mich zum Kom- ben, und ich heiße André. Nun hatten nen Geschwistern, den Großeltern, Onkel heit beraubt. Ich habe am Körper drei mandanten und sie wollten mich erschie- wir endlich Ruhe. Er sagte auch, wenn und Tante verließen wir zur angegebe- Narben zurückbehalten. Alles das habe ßen, ich war in einem Keller unter Bewa- ein Russe erschossen wird, werden zehn nen Zeit Grunow auf einem Pferdewagen ich dem Nationalsozialismus und den chung. Nach ein paar Stunden hat man deutsche Soldaten erschossen, das hat der meiner Tante. Gegen 18 Uhr trafen wir in NSDAP-Mitgliedern zu verdanken. mich laufen lassen. Gegen Abend wollte Kommandant festgelegt. Das Dorf war Kirschbaum, Kreis Weststernberg, Land Edgar Müller, Neuruppin


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Neubeginn zwischen Ruinen Eine Familie aus Stollberg bei Küstrin durfte nach einer Irrfahrt Richtung Mecklenburg nicht mehr auf ihren Hof zurück

Wir wohnten in schlimm kann es Stollberg, einem ja nicht werden. Dorf bei Küstrin. Ein paar Tage nur, Hinter unserem dann ist der Russe Grundstück führzurückgeschlagen und wir können ten die Gleise der wieder in unsere Ostbahn vorbei. Wenn ich nachts Häuser.“ So sprach mal auf das Plumpsauch die offizielle Propaganda. Wir klo musste, fuhren Güterzüge mit abzogen durch ungemagerten Menser liebes Küstrin, schen darin Richwo sich unsere Eltung Osten vorüber. tern gut auskannMein Vater sprach ten, weil sie dort manchmal mit dem auf dem Markt wöNachbarn darüber, chentlich unsere er verbot uns aber Landwirtschaftsprodukte verkaufdarüber zu sprechen. Ab 1945 waten. Aber auf der ren dann die Züge Brücke war Stillin Richtung Berlin stand, nichts ging mit Flüchtlingen mehr. Ein Offizier und Verwundeten zu Pferde rief ganz übervoll. laut: „Macht euch Der Januar bereit, der Russe ist 1945 war kalt und hinter uns, der erste schneereich. Wir Panzer ist am Neuhörten schon Gestädter Bahnhof“. schützdonner, aber Na sollen sie doch man sagte uns, kommen, uns war sie sprengen das alles egal, nur vorEis auf der Warwärts. So zogen wir the. Im Dorf spraschleppend weichen bald alle dater bis Seelow, wo von, dass wir wohl wir in der Kälte ein auch flüchten müsNotquartier fanden. Dort trafen wir eisen. Die in unserer Landwirtschaft einnen Landwirt, der quartierten Franzoauf uns schimpfte. „Die Tiere im Stall sen haben sich als sehr hilfsbereit erschreien nach Futwiesen. Auf die ter, und ihr haut Russen waren sie einfach ab“, sagte nicht gut zu spreer zu uns. chen, die AmerikaIn Seelow wollner seien gut, aber ten wir bleiben, zu weit weg, sagten bis der Russe zusie. Sie vertraten die Im Chaos einrichten: Wer Haus und Hof zurücklassen musste, war nach dem Krieg gezwungen, sich in Notquartieren wie rückgeschlagen ist. diesem einzurichten – und notfalls auf Stroh zu schlafen. Meinung, dass wir Doch am NachmitRepro: MOZ/Uwe Stiehler alle in unserem grotag mussten wir räußen Keller überleben könnten, in dem es Schwester, unsere Mutter und ich – al- der vom Wagen herunter und bleiben hier men für die neu angekommenen Flüchtauch die große Küche mit Pumpe und lein. Unsere Dorfstraße war schon ver- im Keller.“ linge aus dem Osten. Am Wagen durften wir Doch als der Nachbar um 4.30 Uhr ans kein Licht anmachen, weil der Feind uns Treppe nach draußen gab. Die Franzosen stopft mit Flüchtlingen, die aus den noch hatten uns schon seit Tagen eine große östlicher gelegenen Gebieten Deutsch- Fenster klopfte und rief: „Na, wollt ihr sonst sehen könnte. In Kienitz tobte schon Badewanne mir Frischwasser in den Kel- lands geflohen waren und Richtung Wes- nicht aufstehen, alle haben schon an- der Kampf, das hörten wir. Man sagte, dort ler gestellt. Aber dann mussten sie sel- ten strömten. Meine Schwester Hilde, sie gespannt“, waren auch wir aus den Bet- sei ein Luftangriff im Gange. Wir kamen bei ber weg und wussten nicht wohin. Mut- war 23, und ich waren in angespann- ten. Unser Haus war seit Nächten voll- Sturm und Glatteis nur noch bis Platkow. ter hat ihnen noch ordentlich zu Essen ter Situation und heizten den Backofen gestopft mit Notquartierflüchtlingen für In einer Massenunterkunft verbrachten wir eingepackt. mit allem, was den Russen verdächtig eine Nacht, die aber um diese Zeit schon auf Strohlager die Nacht. Am nächsten Am 25. Januar 1945 bekam Vater den vorkommen konnte, so auch mit Vaters aufgebrochen waren. Ganz traurig ging Va- Tag zogen wir weiter erst mal in Richtung Stellungsbefehl für den Volkssturm. Er Feuerwehruniform. Er hatte das vor- ter in den Stall, um seine Pferde zu versor- Berlin. In Klosterfelde bei Bernau setzten stieg mit vielen anderen Männern am her so angeordnet. Voller Sorge war- gen. Zu uns sagte er: „Ich gehe für euch, wir uns von den Massen ab in Richtung Bahnhof in einen Zug Richtung Lands- teten wir nun auf den Entschluss der alleine würde ich hierbleiben.“ Damals Mecklenburg. berg, heute Gorzow, ein. Unser Jagdhund Nachbarn zum Fluchtbeginn. Mutter wusste ich nicht, warum er das sagte. Die Am 12. Februar 1945 hatten wir unlief diesem Zug heulend und jammernd hatte schon sieben Brote als Vorrat für Betten warfen wir noch auf unseren Wa- ser Ziel, das Forsthaus bei Ribnitz-Damhinterher und ist nie wieder zurückgekom- unterwegs gebacken. gen. Insgesamt waren wir zehn Personen. garten, erreicht. Weinend sagten sich VaDoch am 31. Januar ging in der Nacht Wir alle hatten zusammen mit dem Haus- ter und Nachbarstochter „Guten Tag“. Sie men. Ein von uns mit ein paar Habseligkeiten bepackter Pferdewagen stand für den die Tür auf und Vater stand blass und in rat nicht genug Platz. Wir Jungen muss- sagte zu ihm: „Nie hast du Zeit gehabt, Ernstfall beim Nachbarn in der Scheune. sich zusammengesunken da. Er war in der ten erst mal nebenher laufen. Mutter saß uns zu besuchen und nun kommt ihr alle Vorher hatten sich meine Eltern mit ih- Dunkelheit mit anderen Männern des Dor- auf dem Pferdewagen und hat geweint. als Flüchtlinge.“ nen abgesprochen, dass sich unser Treck fes vom Volkssturm geflohen und zu Fuß So ging es auf die verstopfte Straße hiIn Ribnitz-Damgarten haben uns die nach Ribnitz-Damgarten begeben wird, wo von Landsberg durch die Felder und Wäl- naus ins Ungewisse. Ein vorüberfahren- Russen alles geklaut, auch die feuerfeste eine Tochter unseres Nachbarn in einem der gekommen. Wir dachten, nun geht es der Dorfbewohner sagte zur Nachbarin: Kassette mit den Geburtsurkunden, den Forsthaus lebte. Unsere Verwandten lebten los, aber er sagte: „Wir gehen hier nicht „Na, glauben Sie nun noch an den Füh- Sparkassenbüchern, den Papieren zu unalle in unserem Dorf und einige in Berlin, weg, wir kommen auf der Straße um. Ich rer?“ Sie war darüber sehr böse. serem Bauernhof und dem KonfirmatiWeil die Landstraße zu gefährlich war, onsschmuck von meiner Schwester und wo es ja auch gefährlich werden konnte. habe so viel Elend gesehen. Die Menschen Nachdem Vater nun beim Volkssturm liegen sterbend in den verschneiten Grä- ging es über Feldwege Richtung Küstrin. mir. Der Gutsverwalter konnte uns nicht war, waren wir drei Frauen – meine ben. Wir nehmen morgen früh alles wie- Bekannte riefen uns zu: „Bleibt hier, so davor schützen, auch wenn er Russisch


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sprach. Wir jungen Frauen wurden in einer Wildfütterung untergebracht, wo uns die Russen nicht fanden. Die Angst, von ihnen gefunden zu werden, verfolgte uns jede Nacht. Am 22. Mai 1945 hieß es dann, alle Flüchtlinge können nach Hause. Wir bekamen einen Passierschein und zogen zurück nach Küstrin Richtung Heimat. Das war aber viel zu früh. Je näher wir zur Oder kamen, umso schlimmer sah alles aus. Im Wald haben wir übernachtet, immer mit der Angst, dass uns die Russen finden. Die Nächte waren noch sehr kalt. So ging es weiter Richtung Oder. In Küstrin wollten wir wieder über die Brücke. Unsere eigenen Pferde hatten wir da schon nicht mehr, die hatte uns ein Pole abgenommen und uns dafür lahme Gäule gegeben. Wir fanden aber doch noch eine Notunterkunft. Am zweiten Tag, nachdem wir in Golzow gelandet sind, ging Vater bis zur Oderbrücke nach Küstrin-Kietz. Denn er wollte gerne wieder zurück in sein Dorf. Die Polen ließen aber keinen Deutschen mehr Richtung Osten die Brücke passieren, auch nicht mit Passierschein.

Viele Flüchtlinge sind vor Erschöpfung zu Tode gekommen Ab August kamen die Flüchtlinge an, die nun die polnischen Gebiete verlassen mussten. Die meisten von ihnen wollten weiter Richtung Westen und nicht gleich hinter der Oder stoppen. Viele von ihnen sind vor Erschöpfung zu Tode gekommen. Ich hatte, wie die meisten der Frauen, die auf der Flucht waren, wegen der Strapazen, des Hungers, des Elends und der Kälte für ein Jahr keine Regelblutung mehr. Bis August wurden dann auch die restlichen Deutschen aus den östlichen Gebieten herausgetrieben. Vater ging in dieser Zeit jeden Tag zur Reichsstraße 1 und wartete auf seine Schwägerin, also meine Tante, die nicht mit uns geflüchtet war, weil sie nicht wollte. Und tatsächlich hat er sie abfangen können. So kam auch sie zu uns nach Golzow ins Oderbruch, wo wir dann gemeinsam begannen, uns zwischen all den Ruinen ein Dach über dem Kopf zu schaffen. Vater meinte, der Boden sei ertragreich, und wir sollen hier noch einmal von vorn beginnen. In Golzow sind viele ehemalige Bewohner aus dem Heimatdorf bei Küstrin geblieben. Alle hatten auf der anderen Seite der Oder früher eine Landwirtschaft und bekamen über die Bodenreform auch Land zugeteilt, das nun ihre neue Lebensgrundlage wurde. Noch im Herbst 1945 erkrankte unser Vater mit 50 Jahren, geschwächt von der Flucht, an Typhus. Am 8. Oktober 1945 ist er gestorben. Ich habe die Krankheit überlebt. Nun standen wir drei Frauen alleine da und gingen arbeiten. Mit meiner Schwester schippte ich Bunkerlöcher und Unterstände zu. Wir bearbeiteten das Bodenreformland, das Mutter und Tante nun gehörte. Diesen Fluchtbericht fand ich nach dem Tode meiner Mutter in ihren Unterlagen. Sie hat ihn aufgeschrieben für ihre Urenkel, damit niemals in Vergessenheit gerät, welches Leid und Elend ein Krieg hervorbringt. Karin Schudlik, Eisenhüttenstadt

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Tabak als Fahrgeld In Sachsen erlebte Hermann Kroenke, wie die Besatzungsmächte wechselten Meine Eltern hatten in Frankfurt (Oder) eine Drogerie. Die Stadt wurde Ende Januar 1945 zur Festung erklärt. Die Bevölkerung wurde evakuiert. Es durften nur bestimmte Personen, Beamte der Verwaltung, Post, Bahn usw. in der Stadt bleiben. Meine Schwestern Inge (15), Marianne (14) und ich, 10 Jahre alt, sowie unsere Cousine Anneliese sind Anfang Februar 1945 nach Torgau zu Verwandten geflüchtet. Die Personenzüge, die aus dem Osten nach Frankfurt kamen, waren total überfüllt. Auf dem Nebengleis stand ein Zug mit einem Eisenbahngeschütz. Unsere Cousine hat mit den Soldaten gesprochen, und wir durften bis Falkenberg mitfahren. Von dort fuhren wir weiter nach Torgau. Unsere Mutter und Großmutter kamen später nach. Nur mein Opa Bartel ist in der Stadt geblieben. Er musste täglich sein Lebensmittelgeschäft öffnen. Im Laufe des April 1945 verließ die Wehrmacht die Stadt und die letzten Einwohner mussten mit. Mein Opa kam

Die Rotarmisten kamen in die Klasse und sagten: „Hitler kaputt!“ in den Kessel von Halbe bei Königs Wusterhausen und dort als Zivilist in russische Kriegsgefangenschaft. Wegen der schlechten Verpflegung haben sie öfter Ratten gefangen, gebraten und gegessen, hat er berichtet. Torgau wurde ebenfalls zur Kollabierende Reichsbahn: Wie sich die Flüchtenden auf den Bahnhöfen vor den Zügen Festung erklärt und die gezusammendrängten, sah Hermann Kroenke in Frankfurt (Oder). Repro: MOZ/Uwe Stiehler samte Bevölkerung evakuiert. Wir mussten zu Fuß die Stadt verlassen Meine Mutter, Oma Bartel, und ich Er starb am 15. Juni 1945 früh um 8 Uhr. und wurden in Langenreichenbach in wollten nach Frankfurt zurück, um zu Meine Oma, meine Mutter und ich kaeiner Schule untergebracht. Wir schlie- sehen, wie die Situation dort ist. Wir ka- men am selben Tag um 15 Uhr in Frankfen auf Stroh. men mit dem Zug bis Lübben. Dort stand furt an. Meinen Opa haben wir nicht Irgendwann im März/April kamen ein Zug mit deutschen Kriegsgefange- mehr lebend angetroffen. amerikanische Soldaten in einem Jeep nen und es kam zu Gesprächen mit ihUnser Haus war durch Bomben stark und gaben bekannt, dass das Dorf be- nen. Dem russischen Kommandanten beschädigt. Unser Leben musste nun neu setzt sei und fuhren weiter. Drei Tage da- gefiel das nicht. Der Zug durfte nicht organisiert werden. Mit meiner Mutter nach kamen die Amerikaner. Der erste weiterfahren und musste geräumt wer- ging ich hamstern mit mehr oder weniger Befehl war, dass die Einwohner sämtli- den. Wir mussten nach Frankfurt laufen. Erfolg. Meine Schwestern gingen arbeiche Radios abgeben mussten. Die wur- Bis Beeskow übernachteten wir zweimal ten, die Älteste als Pflegerin und Reineden dann im Dorfteich entsorgt. in Scheunen. In Beeskow nahm uns ein machefrau im Lazarett für die entlassenen Nach ein paar Wochen zogen die Ame- russischer Lkw, der einige deutsche Sol- Kriegsgefangenen in der Schule am Kairikaner ab, und am nächsten Tag kamen daten transportierte, mit nach Frankfurt. serberg (heute Rosa-Luxemburg-Str.). Die die Russen. Aus Angst vor ihnen leg- Mutter bezahlte die Russen mit Tabak. Sterberate war sehr hoch. Die Toten wurten sich meine Schwestern auf den FußMeinem Opa in Halbe stellten die Rus- den nackt mit Pferdewagen zum Friedboden, und unsere Mutter deckte sie mit sen einen provisorischen Ausweis mit hof gefahren. Meine Mutter wurde beim Stroh und Decken zu. Die Russen kamen Bild aus, mit dem er berechtigt war, nach Bau der Oderbrücke und später als Köin die Klasse, guckten und sagten „Hit- Frankfurt zurückzukehren. Da es keine chin beim russischen Baustab eingesetzt. ler kaputt!“ und gingen. öffentlichen Verkehrsmittel gab, musste Im Juni 1946 bekamen wir über das Auf einem Gehöft haben die Russen er die Strecke zu Fuß zurücklegen. Da- Rote Kreuz/Halbmond das erste Mal ein ein Lager mit Rohtabak entdeckt. Die bei hat er sich einen Fuß wund gelaufen Lebenszeichen von meinem Vater. Er beEinwohner konnten sich Tabak holen. und sich wegen seiner Zuckerkrankheit fand sich in Kowno in Litauen in KriegsUnsere Mutter hat einen Kopfkissenbe- den Wundbrand zugezogen. Zurück in gefangenschaft. Ende 1946 kam er aus zug voll Tabak bekommen. Der hat uns Frankfurt, wurde ihm im Krankenhaus der Gefangenschaft nach Hause. in der Zukunft sehr geholfen. ein Bein amputiert. Aber es war zu spät. Hermann Kroenke, Frankfurt (Oder)


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Ein Dorf wird geräumt: Als es nach dem Ende des Krieges hieß, die Deutschen müssten die Orte jenseits der Oder für immer verlassen, konnten viele weder Pferd noch Wagen mitnehmen. Sie packten ihre Sachen in Hand- und Kinderwagen. Manche mussten nur mit einer Tasche losziehen. Repro: MOZ/Uwe Stiehler

Landsleute ohne Mitleid Noch Jahre nach dem Krieg musste sich Peter Huckauf Beschimpfungen anhören, weil er von jenseits der Oder stammte Für mich ist es unverständlich, dass sich Menschen, die vernunftbegabte Wesen sind, immer wieder gegenseitig umbringen. Die Kriegsereignisse des Zweiten Weltkrieges sind in meinem Erinnerungsvermögen unlöschbar eingebrannt. Wir lebten bis 1945 in dem kleinen Dorf Laubnitz mit der Kreisstadt Sorau, was heute im polnischen Teil der Niederlausitz liegt.Von dem Krieg war da wenig zu spüren. Außer, wenn Todesnachrichten im Dorf eintrafen, von denen wir Kinder nur etwas mitbekamen, wenn es die eigene Familie betraf. Im Februar 1945 kamen in unser Dorf Flüchtlinge aus dem Osten. Da es ein sehr kalter Winter war, waren zum Teil ihre Glieder erfroren. Sie wollten nicht bleiben und zogen weiter nach Westen. Das erste Mal erlebten wir, welche Folgen der Krieg haben konnte: Verlust des Zuhauses, körperliche Leiden, nicht zu wissen, wohin die Reise geht. Im Dorf wurden Plakate aufgehängt, diese zeigten einen Russen mit einem Messer zwischen den Zähnen und zwei abgetrennten Köpfen in den Händen. Es wurde erklärt, dass dies uns passiert, wenn die Russen kommen. Zuerst kamen deutsche Soldaten mit technischen Geräten. Die kämpfenden Truppen waren noch nicht da. Diese Spezialeinheiten erhielten bald Marschbefehl Richtung Westen. Uns wurde angeboten, mit ihnen zu kommen. Meine Mutter erklärte, dass wir das Dorf nicht verlassen. Eines Nachts heulten Granaten über unser Dorf, es gab aber hier nur einen Einschlag in den Dorfbackofen. In den Folgetagen erfuhren wir, dass es um Laubnitz herum mächtige Kämpfe gegeben hat und die umliegenden Dörfer zerstört seien. Es wurde erzählt, dass die Front sieben Mal gewechselt habe. In unserem Dorf blieb es ruhig. Nach zwei oder drei Tagen war ein Getöse zu hören. Wir Kinder rannten auf die Dorfstraße und sahen Panzer, die wir für deut-

sche hielten. Ich grüßte mit „Heil Hit- nem Panzerspähwagen kamen sie auf den ler!“. Als die Panzerfahrer sich Befehle Hof mehr schlecht als gut gefahren. Es zuriefen, begriff ich meinen Fehler und stellte sich heraus, dass sie Befehl hatten, rannte schnell nach Hause, es wurde alles das Fahrzeug zu reparieren und dann ihverrammelt. Als nichts geschah, trauten rer Einheit zu folgen. Als erstes brachten sie Licht ins Haus. wir uns, die Türen zu öffnen. Die sowjetischen Panzer verschwanden und es Es wurde versucht, miteinander zu sprefolgten Panjewagen. Kein Soldat war zu chen. Sie wollten deutsche Begriffe geuns Kindern böse. nannt haben und meine Mutter rusMeine Mutter hatte ihr Rosenthaler Por- sische. Es stellte sich heraus, dass sie zellan unter unseren Kohlen versteckt. 19 Jahre alt waren. Ob ihre Familien noch Frauen aus dem Dorf quartierten sich bei lebten, wussten sie nicht, aber sie hofften uns mit ihren Kindern ein. In der Kü- es, trotz der Grausamkeiten, die sie geseche schliefen die Kinder, das Wohnzim- hen hatten. Als Kind war ich bei den Solmer war Esszimmer und im Schlafzimmer daten als Hellhaariger beliebt und bekam schliefen die Frauen. Es gab Süßigkeiten. Grund war, sie immer ein Wehgeschrei, waren aus dem Kaukasus In den Ruinen saß und ihre Kinder waren auch wenn jemand zur Toilette musste, die war außerhalb, ein alter Mann, der hellhaarig. für jeden einsehbar. Meine Mutter ging in die sein Dorf nur tot Ein russischer Soldat Wäscherei arbeiten und so tauchte auf. Er kontrolbekamen wir auch Brot. Eiverlassen wollte lierte die Wohnung und nes Tages hatten „unsere dann winkte er einer Frau Gäste“ ihr Fahrzeug fahrzu, sie solle mit ihm nach draußen kom- bereit und verabschiedeten sich. men. Eine andere Frau hatte sich rausEin Offizier war dann ein Einquartierter. geschlichen und war zur Kommandan- Von diesem lernte ich, wie Wodka, Brot, tur gerannt. Der Offizier kam tatsächlich Zwiebeln und Speck zusammen verzehrt mit der Frau zurück. Der Eindringling be- werden. Ich habe aber nur zugesehen. Eikam die Reitgerte zu spüren, wurde von nes Nachmittags stand ein Soldat in der zwei Offiziersbegleitern festgehalten und Küchentür und schwenkte eine Kanne. Er auf einen Lkw geschmissen. Hinter ver- hieß Alexander. Es entwickelte sich ein steckter Hand erzählten die Dörfler, dass freundschaftliches Verhältnis zwischen er nach Sibirien komme. Alles was nach ihm und uns und endete erst, als wir verkämpfender Truppe aussah, verschwand trieben wurden, das heißt, der Zufall ließ aus unserem Dorf. nochmal einen Kontakt an den Kasernen In den Folgetagen kam der Offizier zu in Sorau zu, wo er uns noch eine tüchtige uns und erklärte, dass bei uns eine Ein- Marschverpflegung besorgte. quartierung erfolge. Er erkundigte sich, Zu erwähnen wären außerdem die ob wir zu essen haben. Da dies verneint Plündereien, die wir erdulden mussten, wurde, erklärte er, dass die Frauen in den wir wurden rausgeschmissen und musskommenden Tagen zur Arbeit befohlen ten das Dorf verlassen und sollten in die werden und dann auch Brot ausgegeben Nachbarorte. Aber diese gab es nicht werde. Er verließ uns, kam aber nach mehr. Wir kamen in ein halb zerstörtes kurzer Zeit wieder und übergab meiner Haus, trafen einen alten Mann an, der sein Mutter Brot. Des Weiteren erklärte er, Dorf nur tot verlassen würde. In den Nedass Soldaten, die einquartiert werden bengebäuden saßen im Keller noch Offifür ihr Essen selbst aufkommen. Mit ei- ziere und spielten Karten, aber sie lebten

nicht mehr. In den Bäumen hingen Fallschirme, die Frauen schnitten sich Stoff heraus. Als wir nach Hause kamen, sah es wüst in der Wohnung aus. Alle Farben meines Vaters waren auf dem Fußboden zertreten. Er war Musterzeichner. Auch sein Werkzeug gab es nicht mehr. Nachdem die Russen abgezogen waren, stand ein polnischer Soldat an unserer Wohnungstür. Er hatte sein Gewehr im Anschlag und machte uns klar, dass wir in fünf Minuten die Wohnung zu verlassen haben. Als er den Ehering meiner Mutter sah, verlangte er diesen und betonte dies mit dem Gewehr. Meine Mutter rannte zum Kommandanten, es war jetzt ein polnischer, dieser erklärte, dass dies nicht zu ändern sei und alle Dorfbewohner zu gehen haben. Als sie zurückkam, nahm die Mutter den kleinen Handwagen und legte ein paar gepackte Sachen rein, oben lag ein Beutel mit meinen Anziehsachen. Der polnische Soldat kam wieder, packte den Beutel mit den Kindersachen und schmiss diesen in den Hausflur. Auf dem Feldweg hinter unserem Haus versammelten sich die Dörfler. Manche hatten nur eine Tasche bei sich, jeder hoffte, dass nur eine Plünderung geschah und wir wieder in unsere Wohnungen zurückkehren könnten. Unser Treck zog auf der Landstraße Richtung Forst. Wir schliefen im Wald, polnische Kavallerie tyrannisierte uns, die mitlaufenden Tiere wurden erschossen. Lkw mit Fremdarbeitern fuhren in Richtung Osten an uns vorbei, sie bewarfen uns mit Steinen. Als wir die Oder überquert hatten, bekamen wir von den Deutschen kein Stückchen Brot und keinen Tropfen Milch. Beschimpfungen, wie „Pollaken schert euch heim“ verfolgten mich bis 1950. Der Treck fand sein erstes Ende in Egsdorf bei Luckau, wo noch der NS-Bürgermeister das Sagen hatte und uns wie Fremdarbeiter behandelte. Peter Huckauf, Ziethen


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Übers Meer nach Dänemark entkommen Am 22. Januar 1945 begann unsere Flucht mit meiner Mutter und meinem Bruder aus meiner Heimatstadt Rößel, Ostpreußen. Die Front hörten wir schon tagelang nahen. An diesem 22. Januar mittags kam der OstfrontRückzug der Wehrmacht durch unsere Stadt und hielt. Ein Soldat stieg aus, es war ein großes Glück, es war mein Vater. Es ging alles sehr schnell. Die Soldaten haben uns in einem Fahrzeug verstaut und die Odysee bei minus 25 Grad Kälte begann. Es ging zunächst langsam durch Ostpreußen Richtung Westen. Um Königsberg waren schwere Kämpfe, der Wehrmachtstrupp mit meinem Vater wurde zum Sperriegel-Einsatz Richtung Königsberg eingezogen. Am 13. Februar 1945 ist mein Vater gefallen. Die Fronten standen nun überall in Ostpreußen. Die Zivilbevölkerung wurde vom Volkssturm weitergeleitet bis zum Frischen Haff, es war der allerletzte Fluchtweg über das Eis bis Pillau. Auf dieser eisigen, kalten Strecke verloren viele Menschen, die mit ihren Pferdewagen vor den Kämpfen flohen, durch Tieffliegerangriffe ihr Leben. Das Eis war kilometerweit rot gefärbt.

Das Eis des Haffs war kilometerweit rot gefärbt vom Blut Wir landeten glücklich im Hafen Pillau. Mit Vorposten-Booten der Wehrmacht ging es über die Danziger Bucht nach Gotenhafen (Gdynia). Nach einer Woche sollten wir auf das Schiff. Wie man weiß, hatten wir wieder einmal Glück, denn wir sind nicht auf die „Wilhelm Gustloff“ gekommen, die auf der Überfahrt von einem sowjetischen U-Boot torpediert wurde. Dabei verloren Tausende Menschen ihr Leben. Eine Woche später sind wir dann mit der „Potsdam“ in Kopenhagen glücklich gelandet. Dreieinhalb Jahre haben wir im großen Flüchtlingslager Oxböl bei guter und freundlicher Aufnahme und Versorgung im neuen Domizil gelebt. Heute gilt immer noch unser herzlicher Dank der dänischen Regierung und dem ganzen dänischen Volk für die große Hilfe in unserer schweren Zeit. Anfang 1949 wurden wir nach Deutschland ausgewiesen und kamen ins Durchgangslager Friedland (gibt es heute noch). Uns hat es auf die Insel Rügen verschlagen. 1950 lernte ich in Stralsund Krankenschwester. 1952 habe ich geheiratet. Mein Mann ist auch ein Vertriebener und stammt aus Pommern. 1952 wurde unser Sohn geboren. Seit 1952 wohnen wir in Bernau, bis 1993 habe ich in der Klinik Bernau gearbeitet Die geschilderte Zeit werde ich nie vergessen. Möge die Menschheit dafür sorgen, dass so etwas nicht wieder geschieht, dass unsere Nachkommen ein friedvolles Miteinander erleben dürfen. Helga Haupt, Bernau

Lebensgefährlicher Fluchtweg: Viele versuchten, sich über die Elbe zu den Amerikanern zu retten. Wegen der zerstörten Brücken war das mitunter extrem waghalsig. Repro: MOZ/Uwe Stiehler

Endstation Elbe Annemarie Berkenkamp irrte mit einer Freundin quer durch Brandenburg Meine Eltern, mein Bruder und ich verließen wegen der Bombenangriffe Berlin und zogen nach Rehfelde bei Strausberg. Dort hatten wir eine Wochenendlaube und glaubten, etwas sicherer leben zu können. Es fielen dort aber auch Bomben und zwar auf die Eisenbahnlinie Berlin–Stettin. Wir konnten aus der Ferne die Flugzeuge beobachten. Eines Tages sahen wir am Horizont ein gewaltiges Feuer. Mein Vater sagte: „Das sind die Russen, jetzt kommen sie immer näher, aber wir bleiben und fliehen nicht.“ Ich hatte in der Nachbarschaft Werder (drei Kilometer entfernt) eine Freundin, bei der ich mich sehr oft aufhielt. Es war ein kleiner Bauernhof, und es gab immer etwas zu essen. Inzwischen schossen die Russen schon in dieses Dorf und eine Abteilung der Wehrmacht kam, es waren die letzten Soldaten, die vor dem Feind flohen. Sie veranlassten die Dorfbewohner – es waren alles Bauern – zu fliehen. Die Mutter meiner Freundin schloss sich mit ihrem Säugling und ihrem achtjährigem Jungen dem Treck an. Meine Freundin und ich blieben. Es wurde uns aber von den Soldaten zu viel Angst gemacht, sodass wir das Angebot, mit einer Kompanie zu fliehen, annahmen. Der Leutnant, der diese Soldaten befehligte, wollte seine Soldaten retten und beabsichtigte, sich mit seiner Einheit nach Westen abzusetzen. Er wollte über die Elbe zu den Amis gehen. Er selbst stammte aus Schneverdingen, das am Rande der Lüneburger Heide liegt. Unterwegs wurden wir oft von Tieffliegern beschossen, ein Soldat blieb auf dem

Feld getroffen liegen. Unser Bus fuhr immer schnell weiter. In einer kleinen Stadt machten wir Rast, alle Bewohner waren schon geflohen. Einige Soldaten wollten Essen kochen. Sie schälten gerade Kartoffeln – Tiefflieger kamen und schossen auf diesen Platz – die Soldaten waren tot, wir flohen schnell weiter. Wenn Tiefflieger kamen, stiegen wir schnell aus, warfen uns auf die Erde, stiegen wieder ein und weiter ging es.

Die Soldaten wurden beim Kartoffelschälen erschossen Unterwegs bekam der Leutnant den Befehl, zum Olympischen Dorf nach Elstal vorzurücken. Wir Zivilisten waren nun auf uns allein gestellt. Eine Landkarte wies uns den Weg zur Elbe. Unterwegs trafen wir auf Häftlings-Kolonnen, die von bewaffneten Soldaten bewacht wurden. Sie liefen direkt an uns vorbei. Ich bekam Angst. Wir wählten einen kleinen Waldweg und kamen zum Schluss in ein Dorf, das ganz in der Nähe der Elbe lag. Den Namen des Dorfes weiß ich nicht mehr. Hier nahmen uns Bauern auf und sagten: „Ihr braucht nicht mehr weiterzulaufen, der Ami ist hier.“ Eine Flagge konnte man sehen. Aber in der Nacht wurden wir von lautem Gedröhn geweckt. Das waren russische Panzer. Was nun? Jetzt begann die wirkliche Angst. Auf diesem Bauernhof war eine Flücht-

lingsfamilie aus Liebenwalde. Mit diesem Treck begannen wir den Rückweg. Unterwegs wurden uns von den Russen die Pferde weggenommen. Jetzt mussten wir den Leuten zur Seite stehen. Mit Hilfe unserer Landkarte fanden wir den Weg, führten die kleinen Pferde, die wir aufgetrieben hatten, und bekamen von den Liebenwalder Bauern auch etwas zum Essen. Unterwegs trafen wir auf Russen, die immer bis spät in die Nacht feierten.Wir suchten aber rechtzeitig eine Scheune, und weil die Russen lange schliefen, waren wir schon wieder unterwegs, bevor sie aufwachten. Einmal kletterten meine Freundin und ich auf einen Druschkasten, der in so einer Scheune stand. Wir bewarfen uns mit Stroh und waren gut versteckt, aber unter uns hörten wir Schreie. In Liebenwalde verabschiedeten wir uns von unseren Begleitern. Jetzt waren meine Freundin und ich ganz allein, aber wir fanden immer einen Schlafplatz in Scheunen. Ich denke, mit Selbsterhaltungstrieb, Umsicht, Abenteuerlust und ein bisschen Glück kommt man irgendwie durch. Und so fanden wir auch nach Rehfelde zurück. Ich war damals 22 Jahre alt. Eine kleine Episode noch zum Schluss. Ich sah, wie ein russischer Arzt ein deutsches Baby rettete, er besorgte Milch und Medikamente. Er kam aus Kiew. Ein Kommandant besuchte uns öfter in Rehfelde und schützte uns vor Überfällen. Er sagte: „Rote Armee, nix gut.“ Er kam aus Kiew, konnte gut Deutsch und Englisch sprechen. Annemarie Berkenkamp, Eberswalde


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Bücher und Klavier verfeuert Käthe Linge berichtet, wie sich zwei Frauen mit neun Kindern bis nach Lauenburg durchschlugen

1938 war ich fünf haben alles abgeladen Jahre alt und habe und vergraben. In der mit meinen Eltern Hoffnung, auf dem den Holocaust erRückweg die Sachen lebt. Wir standen in wieder mitzunehmen. Wir sind dort aber nie Finowfurt am Fenster, als man die jüwieder hingekommen. dische Familie BurEs ging nun mit unmann uns gegenüber serem Treck weiter. Ich kann mich noch gewaltsam aus ihrem Zuhause vertrieben gut erinnern, dass ein hat. Es war für mich fürchterliches Durchetwas so Schlimmes, einander entstand. dass ich es mein LeEinschätzen kann ich ben lang nicht verden Grund dafür heute gessen habe. Diese nicht mehr. Aber ich netten Leute, die nehme an, dass die eine Drogerie hatFlüchtenden Panik ten und mich imbekamen. Der geordmer mit Leckereien nete Treck geriet auverwöhnten, es war ßer Kontrolle. Die Strefür mich immer uncke zwischen Herzberg fassbar. Es war gut und Lauenburg war für mich, dass ich der reine Horror. Wir nicht wusste, was wurden durch Tieffliemit ihnen geschah. ger angegriffen. Rechts Es wurde nicht und links schlugen darüber gesprochen. Bomben ein. Wir KinNach dem Krieg der im Wehrmachtshabe ich erfahren, auto mussten mit ansedass sie nicht überhen, wie unsere Mütter lebt haben. und Geschwister an Als der Krieg anuns vorbeifuhren. Sie fing, haben wir Kinhaben uns in der Hekder anfangs nicht tik nicht gesehen. Wir viel davon gemerkt. haben geschrien und 1939 wurde ich eingeweint, aber vergebens. Ich glaube, geschult. War glücklich, ein Pimpf zu wir waren danach in sein. Ich bin gerne einem Schockzustand. zur Schule gegangen. Es müssen ein paar Vielleicht auch, weil Tage vergangen sein. ich so eine nette und Ich kann mich noch wie im Nebel daran liebe Lehrerin hatte. Fräulein Strumpf. erinnern, dass wir im Mein Vater, der eine Wald übernachtet haFleischerei besaß, Die Flüchtlingstrecks zogen weit durch Norddeutschland: Dieser wurde bei einer Rast auf dem Marktplatz von Ratzeben. Danach wurden burg fotografiert. hat mir das Schwimdie Soldaten, die uns Repro: MOZ/Uwe Stiehler men im Kanal beiim Wehrmachtsauto gebracht. Mit aufgeblasenen Schweine- Bomber und die Erschütterungen der uns erzählt, dass sei nur vorübergehend. mitgenommen hatten, gefangen genomblasen, die mit einem Band verbunden Bombenabwürfe habe ich heute noch in Unser Führer Adolf Hitler würde uns be- men. Es kann jedenfalls nicht mehr weit schützen. Ich war damals elf Jahre und gewesen sein bis Geesthacht. Dort wurde waren, konnte man nicht untergehen. den Ohren. In der Zeit zwischen Fliegeralarm und sehr enttäuscht, dass ich immer noch kein ein großes Gefangenen- und FlüchtlingsDrei Jahre später bekamen auch wir Kinder mit, dass Krieg war. Mein Vater Angst gab es auch schöne Zeiten. Ich Jungmädel geworden bin. Einige Monate lager errichtet. Ich weiß nicht genau, wie wir im Lawurde zur Wehrmacht eingezogen. In durfte in den Ferien nach Schlesien zu später war der Traum ganz geplatzt. Als der Schule wurden Seidenraupen gezüch- meiner Oma Pauline. Ich wurde mit einem Kind dachte man ja nicht daran, dass der ger ankamen. Ich weiß aber genau, dass tet. Für die Raupen pflanzte man Maul- Schild um den Hals in den Zug gesetzt. Krieg so endet. wir uns im Lager wiedergefunden haIm April 1945 waren bei uns Soldaten ben. In den ersten Tagen im Mai war es beersträucher. Wir waren voll begeistert, Auf dem Schild standen mein Name und dass unsere Schule Seide für Fallschirme der Ort, wohin ich wollte. Meine Groß- einquartiert. Es wurde nun ernst. Meine sehr heiß, wir waren durstig und hungherstellen durfte. Eine einprägsame Er- eltern hatten einen kleinen Bauernhof Mutter bekam es wohl auch mit der Angst rig. Meinem kleinen Bruder Hubert, das innerung ist geblieben: 1942 wurde ein mit Gastwirtschaft. Es war für uns Kin- zu tun. Ich kann es jedenfalls heute nicht weiß ich noch ganz genau, hat ein dunkanadischer Pilot, der sich aus seinem der das Paradies auf Erden. mehr einschätzen wie die Flucht organi- kelhäutiger Amerikaner das Leben geretDie Besuche bei meiner Oma wurden siert wurde. Ob die Soldaten einen Befehl tet. Der Kleine war so erschöpft, er lag Kampfjet gerettet hatte, durch unsere Straße geführt. Es war eine Sensation! durch die Kriegsereignisse unterbrochen. bekamen oder selbst Angst hatten, weiß wie leblos in den Armen meiner Mutter. Keiner von uns hatte schon einmal einen Weil mein Vater noch im Krieg war, wurde ich nicht mehr. Die Ströme von Flüchtlin- Ich glaube, er hat damals an Austrock„Feind“ gesehen. Er war in meinen Au- die Fleischerei 1944 geschlossen. Jetzt gen rissen jedenfalls nicht ab. Mitte April nung gelitten. Der Amerikaner hat ihm gen ein Riese. Wir wurden von unseren habe ich es auch gespürt, dass es ernst wurde gepackt. Wir hatten einen Pkw mit ganz vorsichtig ein bisschen Coca Cola Gruppenleitern ermutigt, diesen Mann zu wird. Die Lebensmittel wurden zugeteilt. Viehhänger. Die Freundin meiner Mut- tröpfchenweise eingegeben. Wir wurden verhöhnen und zu demütigen. Was ich Marken für Lebensmittel gab es pro Per- ter hatte einen Führerschein, sie konnte dann nach Lauenburg gebracht. In eidabei gedacht habe, weiß ich nicht. Ich son immer für einen Monat. Als unser La- das Auto fahren. Neun Kinder mussten ner großen Schule an der Elbchaussee war erst acht Jahre. den noch offen war, musste ich abends verteilt werden. Die Kleinsten kamen im bekamen wir einen Klassenraum. Wir 1943 nahmen die Fliegerangriffe zu. helfen, die Marken auf große Bögen zu Pkw unter. Wir Großen im Alter zwischen waren zwölf Personen. Alle KlassenZwei- bis dreimal in der Woche. Wenn kleben. Die Fliegeralarme nahmen zu. acht und elf fuhren mit den Soldaten auf räume waren voller Flüchtlinge. Wenn die Sirenen gingen, mussten wir in den Zur Schule sind wir kaum noch gegan- einem Mannschaftslaster ins Ungewisse. ich heute Katastrophen oder Kriege im Keller. Meine Aufgabe war es, mir mei- gen. Es war zu gefährlich. Es ging Richtung Mecklenburg. Wir fuh- Fernsehen sehe, kann ich verstehen, dass Im Januar, Februar 45 zogen die ers- ren im Konvoi. Herzberg war die erste Menschen dem unbedingt entkommen nen kleinen Bruder zu schnappen. Ich hatte jedenfalls große Angst. Die Flug- ten Flüchtlinge aus Ostpreußen und Po- Station zum Übernachten. Bis dahin ging wollen. zeugverbände zogen immer in Richtung sen durch unsere Straßen Richtung Wes- es ganz gut. Es stellte sich aber heraus, Wir Kinder, Monate vorher noch gut Berlin–Leipzig–Dresden. Das Grollen der ten. In den paar Stunden Schule wurde dass unser Anhänger überladen war. Wir behütet und erzogen, zogen los, um die


Freitag, 8. Mai 2015

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Schule zu entkernen. Ich möchte nicht nur Stoppeln auf dem Kopf und eitrige wissen, wie groß der Schaden war, den Beulen, die voller Läuse waren. Wir Kinwir verursacht haben. Hauptsächlich der der haben uns beigemacht, diese KrabbelDachboden war Opfer unserer Raubzüge. tiere abzusammeln. So etwas kann man Regale, Bücher, Stühle, Tische, sogar ein nicht vergessen. Klavier mussten daran glauben. Alles Der Herbst war für uns noch einmal wurde zerlegt und verfeuert. Die Erwach- eine Zeit, die wir noch überleben musssenen haben eine Feuerstelle neben der ten. Wir Kinder sind auf die Felder der anderen gebaut, aus Ziegelsteinen und Bauern ausgeschwärmt. Wir hatten geEisenteilen. Der Schulhof war voll da- stohlen, was das Zeug hielt. Kohl, Kartofvon. Ich konnte jahrelang keinen Qualm feln und Obst. Die Bauern waren nicht gut vertragen, musste immer das Feuer mit auf uns zu sprechen. Oft haben sie uns mit anpusten. Es musste aber auch etwas in Stöcken und Beschimpfungen vertrieben. die Töpfe. Aber wir hatten nichts mehr, was man Anfangs hatten wir etwas Glück, meine gegen Nahrung tauschen konnte. Selbst Mutter und Tante Hanna hatten noch Le- meine Lieblingspuppe mit den blonden bensmittelmarken und Geld. Die Marken Zöpfen musste ich für einen Sack Karwaren noch gültig. Ab und zu gab es auch toffeln hergeben. Das war eines meiner eine Spende vom Roten Kreuz. Es war schlimmsten Erlebnisse. Im November 45 kam mein Vater aus nicht einfach für die Mütter, die Schnäbel zu stopfen. Ich kann mich auch gut dem Krieg. Er hat uns in der Schule gedaran erinnern, dass mein Bruder unter- funden, ein Glück für uns Kinder und unernährt war. Sein Bauch war angeschwol- sere Mutter. Sie war auch am Ende ihrer len, er bekam Durchfall. Kraft. Die monatelangen Der war so schlimm, dass Die Kinder waren Strapazen, wenig Essen sein Darm ein paar Zenund die schwere Krankheit unterernährt, alle im Sommer hatten Spuren timeter aus dem Po hing. Die Freundin meiner Mut- hatten Läuse, dann hinterlassen. Wir zogen ter, Tante Ella, hat den Kleiaus der Schule in die brach Typhus aus nun nen über ein Waschbecken Elbstraße, in eine kleine gehalten und mit einem kalAltstadtwohnung. Uns geten Wasserstrahl den Po abgespült und genüber war eine Kohlehandlung. Wir dabei den Darm wieder reingedrückt. Es haben nur noch ab und zu Kohlen gewar schon schlimm. klaut. Unser Vater bekam Arbeit in eiWir litten unter Läusen, und es gab ner Fleischerei. Nun war erst einmal die kein Mittel dagegen. Dann brach Typhus große Not vorbei. Dann kam aus dem aus. Mutter und Tante waren morgens Nichts mein Onkel Erwin, Vaters ältester nicht mehr da. Wir Kinder haben uns auf- Bruder. Den kannte ich noch aus Schlegemacht, die beiden zu suchen. Wir ha- sien. Die ganze Verwandtschaft von dort ben dann erfahren, dass sie in Geesthacht wurde ja dann nach Westdeutschland im Krankenhaus sind. Ich weiß noch, wie umgesiedelt. Der brachte uns zwei- oder wir immer direkt an der Elbe lang gelau- dreimal die Woche Milch. Er hatte Arbeit fen sind. Wir mussten Zäune und Sträu- bei einem Bauern in der Nähe. Am 22. cher überwinden. Es ist mir ein Rätsel, wie November 1945 wurde ich zwölf Jahre, die Kleinen das geschafft haben. Es sind mir fehlten die Schule und meine Heietwa 20 Kilometer, es war heiß, und es mat Finowfurt. So langsam kam so etliefen ja zu der Zeit viele zwielichtige Ge- was wie Ruhe in unser Leben. Ich glaube sellen umher, vor denen wir auch Angst aber, unsere Eltern wussten nicht wie es hatten. Diese Wanderung läuft immer in weitergehen sollte. Etappen vor meinen Augen ab. Nach dieDie Fleischersleute wollten gerne, dass ser Tour landeten wir in einer Apotheke, mein Vater bei ihnen in Lauenburg blieb. wir schafften es bis in eine Drehtür. Dann Sie waren schon älter und hatten keinen sind wir zusammengebrochen und einge- Erben. Meine Eltern wollten zurück. Sie schlafen. Ich hatte einen Filmriss. dachten, sie können unsere Fleischerei Mein Gedächtnis kam erst wieder, als wieder eröffnen. Es ging aber nicht. Mein wir unsere Mütter auf einer Bank auf dem Vater war Mitglied der NSDAP, ein kleiKrankenhausgelände wiederfanden. Die- ner Mitläufer, würde man heute sagen. ser Anblick ist auch bis heute in mir noch 1952 hat er dann in Oderberg eine HOhellwach. Es war einfach schrecklich. Sie Fleischerei eröffnet. Käthe Linge, Schwedt waren abgemagert, ohne Haare, hatten

Notdürftig zusammengezimmert: Eine Holzbaracke des Flüchtlingslagers Geesthacht, das Käthe Linge und ihre Familie mit letzter Kraft erreichten. Repro: MOZ/Uwe Stiehler

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Fahrt im offenen Viehwaggon: Zusammengepfercht und der Eiseskälte schutzlos ausgesetzt, so transportierten die Nazis Gefangene, die schnell sterben sollten. Repro: MOZ/Uwe Stiehler

Die schrecklichen Bilder immer noch vor Augen Wie Häftlinge während eines Bahntransports misshandelt wurden In den Jahren von 1944 bis 1947 absolvierte ich in Plauen eine Berufsausbildung als Reichsbahn-Betriebsjunghelfer. Im Verlauf dieser Ausbildung war ich im gesamten Februar 1945 in der Güterzugabfertigung beschäftigt und hatte in der ersten Woche des Monats Frühdienst von 6 bis 13 Uhr. Dabei wurde ich an einem Tag dieser Woche Augenzeuge, wie ein aus 60 offenen Güterwagen bestehender Zug mit KZ-Häftlingen während des Aufenthaltes auf dem Güterzuggleis 10 behandelt wurde. Wie ich später erfahren habe, waren diese Menschen, die unter unsäglichen Qualen bei extrem niedrigen winterlichen Temperaturen über eine weite Strecke transportiert wurden, jüdische Insassen des Vernichtungslagers Auschwitz. Wie historisch belegt ist, wurde dieses Lager in der zweiten Hälfte des Monats Januar 1945 vor der anrückenden Roten Armee von der NS-Führung fluchtartig geräumt. Während des Aufenthaltes in Plauen wurde der Zug in zwei Hälften zu je 30 Wagen geteilt, wovon eine Hälfte über Radiumbad Brambach/Eger nach Tschechien und die andere Hälfte über Hof weiter nach Bayern befördert wurde. Unmittelbar nach Dienstantritt habe ich in der Zeit bis 7 Uhr zunächst noch aus dem Fenster des Dienstgebäudes aus etwa 50 Meter Entfernung sehen können, wie unter Aufsicht von SS-Männern von Mithäftlingen in gestreifter Kleidung die Türen verschiedener Wagen geöffnet wurden und die leblosen Körper von Menschen, ebenfalls nur in der dünnen gestreiften Häftlingskleidung, aus den Wagen herausfielen. Danach gab immer ein SS-Mann auf den betreffenden Menschen einen gezielten Schuss aus der Pistole ab. Noch während dieses Geschehens hatten wir (der diensthabende Zugabfertiger, Herr

Ladeschaffner Hering, und zwei weitere wie ich in Ausbildung befindliche Jugendliche, Karl-Heinz Emmerich und Rudolf Laab) einen auf dem Nachbargleis 9 eingefahrenen Güterzug durch Kontrolle der Unversehrtheit von Wagen und Ladung und Vergleich mit den Begleitpapieren abzufertigen. Als wir an vier übereinanderliegenden Leichen vorbeiliefen, sahen wir, wie der obenliegende Mensch aus der Einschusswunde am Kopf blutete. Abschließend sahen wir noch, wie nach Beendigung der grausigen Aktion wieder ebenfalls von Mithäftlingen unter Aufsicht der SSWachmannschaft die Leichen eingesammelt und in einen nunmehr geräumten Wagen des Zuges gebracht wurden. Dieser Wagen wurde einem der beiden neu gebildeten Züge beigestellt. Im Laufe des Vormittags verließen die beiden Züge mit ihrer traurigen Fracht Plauen. Bis auf den heutigen Tag habe ich die schrecklichen Bilder immer noch vor Augen und frage mich gleichzeitig immer wieder, ob es wohl Überlebende dieses grausamen Martyriums gibt. Bei allem Furchtbarem, das wir Plauener in den nächsten Wochen insbesondere in den noch folgenden zwölf Bombardements und an Not und Elend in den ersten Nachkriegsjahren noch erleben mussten, war dies nur ein geringer Teil dessen, was jene Menschen bereits gelitten hatten und bis zu ihrem Ende noch erleiden mussten. Es ergibt sich die Frage: Warum müssen Menschen im Auftrag ihres Staates anderen wehrlosen Menschen Schlimmes antun, sie quälen und ihnen Leid zufügen? Tyrannensysteme und Kriege sind nichts Schicksalhaftes. Nein, sie werden von Menschen vorbereitet, provoziert und ausgeführt, so wie wir Plauener es selbst erlebt haben. Wolfgang Herbert, Strausberg


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Freitag, 8. Mai 2015

Von einem Rotarmisten gerettet Mit Flucht, Vertreibung und Vergewaltigung kann ich nicht dienen, aber ich habe meine eigene kleine Geschichte, die mich bis heute beschäftigt, und mich nie losgelassen hat. Ich habe diese Geschichte in Erinnerung, als wäre es gerade erst geschehen. Die Schlacht an der Oder war gerade vorbei, da kamen die Russen auch in unsere Kleinstadt in Brandenburg. Es kann der 20. April gewesen sein, plus minus ein paar Tage. In wenigen Wochen wurde ich fünf Jahre alt. Mein Vater war im Krieg, meine Mutter mit vier Kindern alleine. Auf dem Hof stand der Handwagen gepackt für die Flucht. Wo es hingehen sollte, wusste bestimmt keiner. Aber da hieß es auch schon, die Russen kommen, alle in den Keller zum Nachbarn. Das hieß für mich, durch den Flur über die Straße zum Nachbarn in den Keller. Aus unserer Tür kam ich nicht heraus. Da standen drei Wehrmachtssoldaten und schossen auf einen Panzer, der höchstens 100 Meter entfernt zwischen einer Scheune und der Straße stand, das Geschützrohr

An der Tür standen deutsche Soldaten und schossen auf einen Panzer auf unseren Hauseingang gerichtet. Die Soldaten schossen mit Gewehren. Ich trampelte zwischen ihren Beinen hin und her und schrie aus Leibeskräften. Da kam plötzlich ein Lkw an dem Panzer vorbei, an unserer Tür sprangen die Soldaten auf. Da kam auch schon meine Mutter und holte mich. Es ging dann durch den Bretterzaun zum Nachbarn. Im Keller saß dann meine Oma am Kellerfenster mit einem weißen Laken. Es dauerte auch nicht lange, da hatten uns die Russen entdeckt, und holten uns raus. Noch auf der Treppe war unser Nachbar seine Uhr los. Im Flur des Nachbarn nahm mich dann ein russischer Soldat auf den Arm und fragte nach meinem Namen. Bis heute werde ich den Gedanken nicht los, er hat mich schon mal gesehen. Er könnte doch in dem Panzer gesessen haben, der unseren Hauseingang beobachtet hat. Meine Mutter hat mal von einem Frontsoldaten berichtet, der ihr gesagt hat, wenn das die Russen mit uns machen, was wir mit ihnen gemacht haben, dann wird es mal ganz, ganz schlimm. Im Ort wurde ansonsten nicht gekämpft. Es gab zwar eine Panzersperre in einer Nebenstraße, vollkommen sinnlos. Sinnlos war auch der Versuch eines bei uns einquartierten Wehrmachtssoldaten, mit einem Taschenmesser die Bretterwand zum Nachbarn zu durchbrechen. Der Mann hatte die Nerven verloren. Für so viel Leid und Elend, das die Deutschen über Russland gebracht haben, habe ich jedenfalls eine sehr gute Erfahrung mit den Soldaten der Roten Armee gemacht. Klaus Wegner, Eisenhüttenstadt (Name auf Wunsch geändert)

Tatsachen geschaffen: Polnische Soldaten markieren den neuen Verlauf der polnisch-deutschen Grenze. Durch sie haben viele Deutsche ihre Heimat verloren. Manche wollten lieber sterben als gehen. Repo: MOZ/Uwe Stiehler

Irrfahrt jenseits der Oder Als er vertrieben wurde, wollte ein Großvater seine Enkel aufhängen Ich war gerade neun, mein Bruder Günther sieben, Vater Paul war im Krieg. Wir hatten in Altblessin auf der anderen Seite der Oder ein Haus mit Garten. Der erste Fliegeralarm war im Dezember 1944. Beim Fahnenappell wurde uns immer eingeschärft: Hitler kommt, der Sieg ist nahe! Gleichzeitig wurde mir verboten, bei meiner Schulfreundin Jutta Bauer in Güstebiese, deren Vater ein Schuhgeschäft betrieb, bei Fliegeralarm Unterschlupf zu suchen, denn sie waren Juden. Mein Vater kam vom 15. bis 30. Januar 1945 zum Heimatbesuch von der Front und redete wirres Zeug. Meine Mutter solle sich mit Asche einschmieren und wir sollten nach Berlin flüchten, sonst würden uns die Russen alle erschießen. Am 1. Februar 1945 tobten mein Bruder und ich im Schlafanzug noch herum, als plötzlich Russen am Hauseingang standen. Sie wollten essen und in Opas Bett schlafen. Meine Oma musste kochen, einen Schweineschinken hatten die Russen mitgebracht. Dann tanzten sie mit uns und tranken Wodka. Am nächsten Tag kamen Russen, die alles nach unserem Vater durchsuchten. Sie drohten uns zu erschießen, wenn wir ihn versteckten. Schließlich wurde in Omas Hausseite die Kommandantur eingerichtet. Am Tag schliefen die meisten Russen und nachts wurden irgendwelche Leute verhört. Der Kommandant saß oft bei uns, zeigte Bilder von seinen Kindern und weinte dabei. Am 14. Februar 1945 verabschiedete er sich von uns. Er musste nach Zellin. Wir sollten im Keller bleiben, sonst würden wir verschleppt. Einen Tag später riefen die Russen: „Alles raus, kaputt schießen euch die eigenen Soldaten.“ Deutsche Soldaten kamen über die Oder und wollten die Russen noch aufhalten. Wir wur-

den am 15. Februar 1945 rausgetrieben. Wir mussten viele Kilometer laufen. Wer nicht konnte, blieb im Graben liegen. Viele Männer wurden aus dem Flüchtlingstrupp sortiert. Meine Mutter brachten sie nach Schwambeck zum Flugplatz zur Arbeit. Überall lagen Tote, es standen Kinderwagen mit toten Babys herum. Wir kamen nach Dürringshof zu einer Bauernwirtschaft und krochen auf den Heuboden, wo Opa die Klappe verschloss. Oben erwischten uns die Läuse und die Russen fanden uns, sie jagten uns zum nächsten Ort. Als es hieß, dass es nach Landsberg gehen sollte zum Weitertransport nach Sibirien, versteckten wir uns im Wald und flohen wieder in die andere Richtung. Aus einem zerstörten Haus kamen Frauen und baten meinen Großvater, dass er beim Schlachten eines Pferdes helfen solle. So bekamen wir Fleisch. Wir lagen in Schweinebuchten. Dann fanden uns die Russen dort und vergewaltigten die Frauen. Die Frauen schrien fürchterlich. Uns leuchteten die Russen nur an, wir hatten Mutter mit Asche bemalt. Tagsüber bettelte ich um Brot, Zucker und Butter. Ein Russe gab mir ein ganzes, warmes Brot. Meine Mutter musste Fußwickel waschen und wir durften dafür aus der Gulaschkanone essen. Mein Opa konnte etwas russisch und fragte oft, ob Berlin gefallen sei und ob wir nach Altblessin zurückkommen. Am 10. Mai 1945 ging es dann zurück. Unterwegs sahen wir viele Tote. Dann kamen die Polen. Sie nahmen uns unsere Habe weg und schlugen den Opa, er wollte uns schützen. Er wollte sich dann mit den Hosenträgern aufhängen, im Pferdestall sperrten sie ihn ein. Zu Hause war alles ausgeplündert. Doch im Wald hatten sich die Russen

feste Behausungen mit Möbeln gebaut. Wir fuhren täglich dorthin und besorgten Essen und kleine Möbel. Opa bestellte unser Land mit Gemüse. Es war schön, wieder zu Hause zu sein. Im Juni/Juli war unser Land auf einmal voller Polen. Sie riefen, dass dies nun ihr Land sei und wir sollten verschwinden. Es hieß, dass sich einige Leute daraufhin vergiftet oder aufgehängt haben. Am 26. Juli 1945 sollten um 8 Uhr alle raus sein und nach Güstebiese an die Oder zu den Kähnen gebracht werden. Am Vorabend sollten Oma, Mutter, mein Bruder und ich zum großen Apfelbaum bei uns in den Garten kommen. Wir mussten mit unseren Kinderaugen anschauen, dass unser Opa eine Hinrichtung mit Wäscheleinen vorbereitet hatte. Meinem Bruder und mir warf er Stricke um den Hals. Ich rannte und schrie. So kamen Tante Frieda und die Nachbarn und schlugen auf Opa ein. Er wollte uns dann auf der Überfahrt über die Oder ertränken. Opa wurde von Polen niedergeschlagen, und wir kamen am Oderdamm in Güstebieser-Loose an. Wer nicht auf der Straße lief, trat auf Feldwegen in Minen, das war furchtbar. Wir kamen dann in Neulewin und Altwriezen unter und mussten oft bei den Bauern Essen klauen. Dann bekamen wir Durchfall, Typhus brach aus. Wir blieben bei Bauer Mahlitz, gleich neben uns war ein kleiner Friedhof. Es stank fürchterlich, weil nachts die Toten umgebettet wurden. Mein Opa starb an Typhus am 21. Juli 1945, meine Oma am 15. Dezember 1945. Mein Vater kam aus der Gefangenschaft 1949 zurück und starb bald mit 57 Jahren, mein Bruder mit 49 Jahren. Meine Mutter wurde 75 und nun bin ich nach 70 Jahren allein. Vera Guntowsky, Wriezen


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Freitag, 8. Mai 2015

Als Schwedt zerstört wurde Fünf Familien retteten sich gemeinsam aus der Stadt Richtung Mecklenburg und kehrten am 8. Mai zurück In Schwedt, wo heute der Julian-Marchlewski-Ring ist, befanden sich 1945 die „Gartenhäuser“. Hier lebten acht Familien in Bauernhäusern mit Scheune, Nutztieren, Garten. Die großen Grundstücke grenzten an den Landgraben. Es waren die Familien: Jahn, Rogge, Beyer, Krahnke, Filter, Gielow, Schwabe und Grünberg. Am 20. April 1945 wurde die Stadt durch russische Geschütze sehr zerstört. Eine Granate schlug vor das Haus Nummer 12 der Familie Friedrich und Hedwig Beyer ein. Hedwig Beyer befand sich im Keller und wurde von einem Granatensplitter an Kopf und Hand schwer verletzt. Am nächsten Tag wurde beschlossen, die Stadt zu verlassen. Fünf Familien (darunter auch Familie Beyer) verließen am 21. April 1945 mit fünf Pferdewagen (mit Plane) die Stadt in Richtung Mecklenburg. Einige Familien der „Gartenhäuser“ wollten ihre Häuser nicht verlassen. Auf dem Wagen von Friedrich Beyer lag seine schwerverletzte Frau und es wurde noch eine Enkelin (16 Jahre) mitgenommen, deren Mutter war zurzeit in Thüringen. Lieselotte begleitete den Pferdewagen mit dem Fahrrad. Der Hund „Lumpi“ saß vorn in einem Korb. Auf dem Bauernhof der Familie Beyer verblieben: Zwei Kühe, zwei Schafe, Hühner, zwei Katzen und ein Hofhund, der von der Kette gelöst wurde. Der Vater hatte den Planwagen mit Hecksel und Kraftfutter beladen sowie Kartoffeln und Brot (der Kochtopf wurde vergessen). Trotzdem war der Hunger auf dem Treck groß. Lieselotte fand am Wegesrand zwei Emailleschüsseln, darin wurden die Kartoffeln gekocht. Nachts blieben die Wagen stehen, denn die Pferde brauchten eine Pause. Am Tage wurde der Treck von Tieffliegern beschossen, denn es war viel Militär unterwegs. Trotzdem kamen alle fünf Wagen nach drei Tagen in Mecklenburg an. Auf einem Gut konnten die Schwedter in der Scheune übernachten, und sie erhielten auch ein Mittagessen von den Dienstboten des Gutsbesitzers. Anfang Mai 1945

Im Krieg zerstört: das Schloss (im Hintergrund) und das Pfarrhaus von Schwedt konnten die Familien wieder die Heimfahrt antreten. Alle Wagen kamen bis Joachimsthal, dann löste sich der Treck auf. Familie Beyer kam am 7. Mai 1945 abends kurz vor Schwedt an, sie woll-

ten erst bei Tageslicht in die Stadt fahren. Am 8. Mai 1945 waren sie wieder zu Hause. Russische Soldaten hatten in ihrem Bauernhaus gelebt, der Küchentisch war zerstört, und es fehlten nur Haushaltsartikel. Die Nutztiere waren nicht

Repro: Evangelische Kirche Schwedt

mehr da. Lieselotte bekam Typhus, alle Haare fielen ihr aus. 1946 konnten die jungen Leute der Stadt wieder zum Tanz gehen, dies war in der Sporthalle der Knabenschule möglich. Lieselotte Galster, geb. Beyer, Schwedt

In die Festung geschlichen

Lebendige Schutzschilde

Gefährliche Suche nach Lebensmitteln

Wie ein Eisenbahner aus Vogelsang zwischen die Fronten geriet

Ich habe zwar nicht die ganzen letzten Tage des Krieges in Frankfurt (Oder) erlebt, aber wir waren zwei Mal in der Stadt, als sie schon Festung war. Am 5. Februar 1945 mussten wir, meine Mutter und fünf Geschwister, Frankfurt verlassen. Mein Vater war eingezogen. Wir wurden mit der Bahn zu einem Bauern nach Rüthnick (heute Kreis OstprignitzRuppin) gebracht. Es waren dort noch mehrere Frankfurter untergebracht. Wir mussten die Stadt nicht nur wegen der Kämpfe verlassen, wir hätten in Frankfurt auch keine Lebensmittelkarten bekommen. Da wir ja nicht so viele Sachen mitnehmen konnten, fuhr ich mit meiner Mutter (ich war damals 15 Jahre alt) und Nachbarsleuten in die eingekesselte Stadt. Die Züge hielten damals auf der Simonsmühle. Wir schlichen uns bei völliger Dunkelheit nach Hause in unsere Wohnung. Überall waren Schützen-

löcher und Bunker. Von fern hörten wir den Geschützdonner. In unserem Haus hatten sich Soldaten einquartiert. Es gab keinen Strom, zum Essen gab es auch nichts. Zum Glück war im Keller noch eingewecktes Obst und Gemüse, das wurde dann gegessen. Wir packten ein paar Sachen zusammen und am nächsten Morgen bei völliger Dunkelheit ging es wieder zur Bahn. Die Züge fuhren nicht mehr vom Bahnhof ab, sondern vom Güterbahnhof. Wir hatten Glück, dass gerade ein Zug zur Abfahrt bereit stand. Es fuhren sehr viele Flüchtlinge und Soldaten mit. Auf Umwegen kamen wir wieder in Rüthnick an. Die Fahrten nach Frankfurt waren gefährlich, denn es war Zivilpersonen streng verboten, in die Festungsstadt zu kommen. Aber wir hatten beide Male Glück, dass uns niemand aufgehalten hat. Hildegard Brüllke, geb. Deichsler

Am 3. Februar 1945 mussten wir, mein Großvater, mein Bruder Bernhard (zwölf Jahre), meine Mutti und ich (sieben Jahre) mit dem Handwagen – ein paar Habseligkeiten drauf – Vogelsang wegen der sich nähernden Front verlassen. Die Sowjetarmee stand schon an der Oder und beschoss das Dorf. Beim Nachbarn schlug bereits eine Granate ein und wir hatten große Angst. Über Ziltendorf gingen wir nach Pohlitz, wo inzwischen noch mehr Flüchtlinge aus Vogelsang waren. Mein Vati, Max Sarke, war Fahrdienstleiter auf dem Bahnhof Ziltendorf und kam an diesem Tag später. Wir hatten damals eine kleine Landwirtschaft mit Ackerland und Vieh. Daher beschlossen mein Vati und mein Großonkel, am 5. Februar noch einmal nach Vogelsang zu gehen, um ihre Tiere zu füttern und dann freizulassen. Sie gingen zu unserem Haus am Friedhofsweg.

Inzwischen gelang es einer Spitzengruppe der Roten Armee die deutsche Front zu durchbrechen und in den oberen Teil des Dorfes einzudringen. Mein Vati trug die Eisenbahneruniform. Die Männer wurden von den Sowjets gefangen genommen. Die Rotarmisten benutzten sie als Schutzschilde, indem sie die beiden auf der Straße, dem heutigen Buchwaldweg, in Richtung Dorfstraße vor sich her trieben. Ohne Rücksicht auf die beiden Zivilpersonen eröffnete nun die deutsche Seite das Feuer. Mein Vati und die Sowjetsoldaten wurden tödlich getroffen, mein Onkel schwer verletzt. Er wurde in ein Lazarett gebracht und wieder geheilt. Meinen Vati begruben die Soldaten im Vorgarten der Familie von Gertraud Budach. Anfang Mai kamen wir zurück von der Flucht. Meine Mutti und mein Opa haben Vater dann auf unserem Friedhof bestattet. Gunda Raschke,Vogelsang


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Freitag, 8. Mai 2015

Brot wertvoller als Gold Die Russen, die Siegfried Nölting traf, waren impulsiv, hilfsbereit, auf Uhren aus und fair im Gedenken an die gefallenen Gegner

Der Begriff Russen nach Hause, um war zu Kriegszeisich vom Fortten für Erwachgang der Arbeit zu sene und Kinder überzeugen. Bei der Inbegriff des einem dieser BeBösen. Ich betete suche entdeckte allabendlich, dass er die zahlreichen der liebe Gott meiFotos der Angenem Vater, er war hörigen meiner Soldat an der OstOma. Unter ihfront, beschützt nen waren einige und ihm die Kraft Verwandte in Unigibt, die Russen form. Die schaute zu besiegen. Just sich der Russe inzu jener Zeit hatte tensiver an und fragte auf recht ich dann selbst gutem Deutsch, eine Begegnung mit einem Russen. ob sie noch leben In der Nähe der würden. Einige Hohensaatener nicht, von andeSiedlung pflügte er ren wüsste man es ein Feld. Mit klopnicht, antwortete fendem Herzen nätränenden Auges meine Großherte ich mich dem Unbekannten und mutter. Der Kombald darauf stapfte mandant schaute ich mit ihm geernst drein und meinsam über erwiderte: „Krieg den Acker. Ob er schlecht.“ Für mich beobachtete? ihre Arbeit bekam Plötzlich hielt er meine Mama aninne, hockte sich statt Geld Nahhin und berührte rungsmittel. Die meine Wange. wog man damals Wortlos stand er mit Gold auf. schnell auf und Allerdings ackerte weiter. kippte in jenen Das soll nun so Tagen die Stimein schrecklicher mung, als der Befehl erging, Russe sein? Zweifel packten mich Uhren, Musikund ich vertraute instrumente, Fahrdas Geschehen räder, kurzum meiner Mama an. Wertgegenstände Die erschrak und als Reparationsimpfte mir ein, leistungen abzuliefern. Schomit keinem darückierend auch, ber zu sprechen. Und wieder ein als eine Frau und neun Männer aus „Warum?“. Monate später dem Kreis aktinäherte sich die ver Nazis verhafSowjetarmee der tet wurden. Angst Oder. In unserem Siegfried Nölting machte die Erfahrung, dass die Russen nicht nur genommen haben. Sie gaben auch, Brot zum Beispiel, ging um. Wer nach dem die Menschen Schlange standen. Umfeld brach Pawird der Nächste Foto: dpa nik aus. Herr und sein? Sieben von Frau Grewe erhängten zuerst ihre Gretel mit Maschinenpistolen. So unvermittelt Oader!“ Der Iwan verstand: „Odra ka- ihnen kamen in den unterschiedlichsten und dann ihren Heini. Das waren unsere sie gekommen waren, verschwanden racho! Dawai!“ Ob er in uns Polen ver- Lagern, unter anderem in Jamlitz, um. Spielgefährten. Meine Mama ließ verlau- sie auch. Ich feixte mir eins, denn den mutete? Unbehelligt fuhren wir weiter, In meinem Leben hatte ich noch sehr ten, wenn die Russen über die Zehdener Bauern konnte ich partout heimwärts ins menschen- oft Begegnungen und Gespräche mit MenBerge schauen, hängen auch wir uns auf. nicht leiden. Der Kommandant leere, an vielen Stellen zer- schen aus der Sowjetunion. Als ein ganz besonderes Beisammensein stufe ich ein Ich heulte laut los. Stunden später fuhNun zur dritten Begegstörte Lunow. sah auf das Foto ren wir ins Nachbardorf Lunow, unse- nung am 27. April 1945. Die vierte Begegnung. Treffen mit Generälen der Sowjetarmee rer eigentlichen Heimat, wo auch meine Wir waren auf der Flucht, Nach einigen Tagen wurde im Jahr 1985 ein. Es waren Veteranen, und sagte: Oma lebte. als uns bei Herzsprung eine von der Besatzungskom- die Truppen beim Sturm auf die Seelower „Krieg schlecht“ mandatur befohlen, dass Höhen befehligt hatten. Bewegende MoIn Groß-Ziethen hatte ich die zweite Be- Gruppe Rotarmisten entgegnung mit Russen. Ganz allein stand gegen kam. Die Stimmung sich alle Frauen und Män- mente gab es am Seelower Ehrenmal. ich auf dem Hof von Bauer Stühmke, als schwankte zwischen Leben und Tod, zwi- ner an einem bestimmten Ort zu versam- Beim Gespräch mit einem Generalleuturplötzlich sechs oder acht Russen hoch schen Angst und Hoffnung. Unser kleiner meln haben. Oh Gott, so barmte nicht nur nant stellte dieser mir plötzlich die Frage: zu Ross durch das Tor galoppierten. Ich Treck, vier oder fünf Gespanne, stoppte. meine Mama, sie werden uns doch nicht „Und warum wird an dieser Stelle nicht rührte mich vor Schreck nicht von der Auf einem saßen Nachbarn, Ahne Emi- abtransportieren oder erschießen? Mit- auch der gefallenen Deutschen gedacht?“ Stelle. Von oben herab brüllte einer: „Au- lie, schon über 80 und meine Oma, 75. nichten. Alle wurden eingeteilt, um im Nach 40 Jahren dürfte man das doch. Ein tomobil?“. Es muss wohl zuvor einer ver- In schwarze Tücher gehüllt sahen sie aus Dorf aufzuräumen. Meine Mama aber, solches Bekenntnis machte mich perplex, raten haben, dass der Bauer eins hat. wie Madonnen. Die fremden Soldaten da sie Schneiderin war, wurde beauf- stimmte mich nachdenklich. Die Antwort Vor Angst zitternd wies ich zur Scheune. schienen guter Dinge zu sein. Ganz offen- tragt, die Uniformen der Soldaten zu fli- unterblieb. Hätte ich eine gegeben, wäre Was unsere Befreier dort sahen, machte sichtlich freuten sie sich, der Hölle Krieg cken, für anwesende russische Frauen sie nur eine Plattitüde gewesen. Es musste sie wütend. Der Opel stand räderlos auf entronnen zu sein. Einer rief: „Wohin?“. Kleider zu nähen und für den Komman- erst zur politischen Wende kommen, um Holzblöcken. Dann hörte ich „Sabotage“. Ahne Emilie rief in heimischer Mund- danten, einen Oberleutnant, eine Uniform über den Schatten springen zu können. Siegfried Nölting, Frankfurt (Oder) Kurz darauf durchsiebten sie das Auto art zurück: „Na de Oader, Jongs! Na de zu schneidern. Mehrmals kam er zu uns


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Bombenangriff in Oranienburger Schule überlebt

Die Geschehnisse haben sich in unser Gedächtnis eingebrannt. Die Grausamkeiten bleiben für uns bis an das Lebensende in Erinnerung. Ich gehöre wohl der letzten Generation an, die das Chaos noch bildlich vor Augen hat. Ein Drei-Mädel-Haus! Mit Mutter waren wir vier Frauen. Vater kämpfte an der Front. Wir sind in diesen Krieg direkt hineingewachsen. Die Geburtsjahre von uns Schwestern waren 1930, 1934 und 1936. Ich war das zweite Kind. Meine große Schwester war verlässlich, fleißig, geduldig. Sie half unserer Mutter und versuchte den fehlenden Vater zu ersetzen. Unsere kleine Schwester machte uns große Sorgen. Sie war viel und ernsthaft krank und unterernährt. Eine Grundschulausbildung bekamen wir alle drei. Es war ein verhältnismäßig langer Fußweg bis zur HansSchemm-Schule. Sie lag in der Altstadt von Oranienburg. Es war eine ganz neue, sehr schöne Schule. Ein Hauptgebäude, rechts und links jeweils ein Vor der Zerstörung: Eine Postkarte, die an das Lunow erinnert, wie es vor dem Krieg aussah. Nachdem die Rote Armee 600 Granaten auf den Ort abgefeuert hatte, lag das Dorf in Trümmern. Repro: MOZ/Uwe Stiehler

Lunow unter Dauerfeuer

Wo das Seitengebäude war, gab es nur einen Bombentrichter

Fünf Stunden hat die Artillerie das Dorf beschossen, obwohl es strategisch völlig unbedeutend war Was man ausgangs 1944 nicht begreifen wollte, trat zu Beginn des Jahres 1945 ein. Die Sowjetarmee hatte bei meinem Heimatort Lunow Anfang Februar die Oder erreicht. Praktisch in letzter Minute konnten sich Hunderte Flüchtlinge, vor allem aus Bellinchen (heute Bielinek) über den Strom hinweg in Sicherheit bringen. Lunow nahm 600 bis 700 Personen auf. So war das Dorf auf rund 2000 Einwohner gewachsen. Allen eine Bleibe zu verschaffen und zu versorgen, war eine große Herausforderung. Die Einheimischen meisterten sie. Ob sie ahnten, in weniger als zwei Monaten das gleiche Schicksal zu erleiden? Im Ort waren in der nächsten Zeit viele Soldaten der unterschiedlichsten Waffengattungen einquartiert. Sie hatten den Oderdeich zur vordersten Verteidigungslinie ausgebaut. Fast täglich wurden wir auch auf andere Art daran erinnert, was Krieg bedeutet. Mal mehr, mal weniger schlugen im Ort Granaten ein. Wurde der Beschuss stärker, suchten wir im Nachbarkeller Schutz. Manche beteten, andere saßen stumm auf den Bänken, gesprochen wurde wenig. Inzwischen waren 54 Tage vergangen. Der 26. März präsentierte sich als ein Frühlingstag mit Bilderbuchcharakter. Wenn nur nicht der unüberhörbare Kampflärm an der Oder – etwa 1200 Meter vom Dorf entfernt – gewesen wäre. Ernsthaft mahnten uns Soldaten, das Dorf zu verlassen. Der Russe sei über die Oder gekommen. Doch bald verstummten Geschütz- und Gewehrfeuer. Unsere hielten Stand! Man atmete auf und war doch sorgenvoll. Meine Mutter und ich gingen am späten Nachmittag zur Familie Wilke, um uns dort Rat zu holen. Gegen

18 Uhr kreisten Flugzeuge über Lunow. Russen? Während wir noch den Himmel beschauten, brach plötzlich ein Unheil über uns herein. Wohl die gesamte Artillerie, die in den Bellinchener Bergen Stellung bezogen hatte, schickte ihre todbringenden Granaten zu uns herüber. So schnell wir konnten, gingen wir in Wilkes Keller. Wenn die Einschläge ganz in der Nähe lagen, hob furchtbares Heulen und Klagen an. Etwa fünf Stunden ging das so. Irgendeiner hatte gewagt, mal nach oben zu gehen. Seine Auskunft bei der Rückkehr war niederschmetternd: Das ganze Dorf ein Feuermeer. Als etwa

235 Männer des Ortes waren in den Krieg gezogen, 86 kehrten zurück vor Mitternacht die Schießerei aufhörte, verließen wir den Keller und sahen das Grauen und hatten die bange Frage: Lebt die Oma noch, die zu Hause geblieben war? Was wir sahen, war schlimm. Überall zerschossene Bäume. Beim Nachbarn klaffte ein riesiges Einschussloch in der Hausfront. Am Dorfplatz brannte lichterloh ein Gebäude. Zerfetzte Stromleitungen auf dem Weg zur Oma. Und überall brüllte Vieh. Soldaten hasteten die Dorfstraße entlang. „Haut bloß ab“, riefen sie uns zu. Nachbar Fritz Polack hatte schon sein Pferd angespannt und den Wagen mit einigen Habseligkeiten, auch von uns, beladen. Dann verließen wir flugs unser Zuhause und mit uns zahlreiche andere Bewohner. Ein langer Treck durchquerte

die Eichheide. Über Brodowin hinweg gelangten wir müde, hungrig und voller Ungewissheit nach Groß Ziethen. Die uns zugewiesene Bleibe beim zweitgrößten Bauern des Orts war erbärmlich und auch sonst behandelten uns die Volksgenossen und Parteimitglieder wie den letzten Dreck. Hier blieben wir exakt vier Wochen. Dann waren, wie vom Winde verweht, die hier stationierten Wehrmachtsangehörigen verschwunden und das Dorf von einem Dutzend Kosaken erobert. Aber auch deren Aufenthalt war nur kurz. Am 27. April fuhren wir, während die Masse der Lunower weiter in Richtung Westen zog, nach Hause. Lunow war menschenleer und bot einen traurigen Anblick. Das strategisch völlig unbedeutende Dorf war – die Gründe blieben unbekannt – am 26. März mit rund 600 Granaten beschossen worden. Der Beschuss hat sechs Einwohnern das Leben gekostet, elf kamen auf der Flucht um, drei starben nach Kriegsende durch Minen, viele wurden verwundet. Eine große Zahl starb an Entkräftung sowie an Typhus und Ruhr. Von 235 in den Krieg gezogenen Männern kehrten 86 nicht zurück, darunter auch mein Vater. Damit nicht genug. Der sowjetische Geheimdienst verschleppte zehn Frauen und Männer, von denen sieben im Lager Jamlitz umkamen. Riesig die materiellen Schäden. 24 Wohnhäuser waren total zerstört, andere erheblich beschädigt. Fast achtzig Wirtschaftsgebäude der Bauern waren abgebrannt. Schwer beschädigt die Wasserschutzdeiche an Oder und Kanal. Zerstört die Kanalbrücke. Hunderte Hektar Land waren vermint. Und im Ort gab es so gut wie kein Vieh mehr. Siegfried Nölting, Frankfurt (Oder)

Seitengebäude. Unter dem rechten Flügel befand sich ein größerer Keller. Der Luftschutzbunker. Alle Kinder und Lehrer saßen bei Alarm in diesem Keller. Angstvoll erlebten wir dort am 10. März 1945 einen tösenden Großangriff. Die Entwarnung erlöste uns. Wir kletterten ins Freie. Was war geschehen? Die Schule hatte nur noch ein Seitengebäude. Der linke Flügel war ausgelöscht. Ein großer Bombentrichter hatte alles verschluckt. Ich glaube, wir hatten das in diesem Alter gar nicht richtig begriffen. Es war ein ganz großes Glück – wir waren am Leben. Alle drängten vorwärts – nach Hause. Irgendwo war meine große Schwester an meiner Seite. Sie nahm mich an die Hand und wir liefen so schnell wir konnten heim. Mutter saß mit der kleinen Schwester im Nachbarhaus im Keller. Das letzte Stück – wir schauten um die Ecke. Zwei nebeneinander gebaute Mietshäuser standen noch. Aber der ganze Innenhof des ersten Hauses war versperrt von einem Bombentrichter. Ein paar kräftige Nachbarn waren dabei, die noch eingesperrten Menschen aus dem Keller zu befreien. Das war Maß-Arbeit! Dieser Anblick war der zweite Schock an diesem Tage. Wie haben wir das verarbeitet? Ich kann mir diese Frage heute nicht mehr beantworten. Wie Kellerratten krabbelten alle ins Freie. Auch Mutter mit unserer Kleinen. Wir waren kraftlos, ängstlich und hungrig, aber glücklich noch am Leben zu sein. Wir waren wieder alle zusammen. Auch unser Vater kam später zurück. Marianne Pretel, Berlin


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Freitag, 8. Mai 2015

Kind in panischer Russenangst Horst Stiller glaubte der Propaganda der Nazis und rechnete damit, dass die Soldaten der Roten Armee ihm die Ohren abschneiden

Es ist Anfang Januar 1945, Pistole ein und zog ab. Ich Weihnachten und Neujahr als Zehnjähriger stand unmittelbar daneben. haben wir in unserer alten Heimat auf dem Bauernhof Ich muss noch berichnoch einmal sehr harmoten, dass mein Vater an nisch und nach schlesischer der Oder bei einer KampfTradition gefeiert. Doch nun handlung von seiner Einkamen schon alle Tage Pferheit getrennt wurde und sodeplanwagen mit Flüchtlinfort nach Hause marschiert gen aus Richtung Osten bei ist. Drei Tage, nachdem die uns an, darauf Kinder und ErRussen unser Dorf besetzt wachsene mit Erfrierungen, hatten, tauchte er mit voller denn es war ja bitter kalt Bewaffnung auf dem Hof 22 bis 25 Grad unter Null. auf. Er hatte doch keine Im Januar hörten wir tägAhnung vom Frontverlauf. lich das Kanonendonnern. Die sogenannten KettenUnser Ort Briesnitz lag östhunde, die deutschen Milich der Neiße und westlich litärpolizisten, hätten ihn der Oder. Ein französischer in Zivilkleidung sofort erKriegsgefangener, der bei uns schossen oder zur Abschreauf dem Hof wie zur Famickung aufgehängt. Ich habe lie gehörend lebte, machte mit eigenen Augen gesesich nun große Sorgen um hen, wie zwei Männer am uns. Er sagte zu meiner Baum hingen mit dem ZetMutter, wir müssen schnell tel „So behandeln wir jeden zwei Schweine schlachten. Fahnenflüchtigen“. Zwei Erst kommen die Deutschen Franzosen und ein russiSoldaten und wollen essen scher Zwangsarbeiter haund was dann noch übrig ben meinem Vater schnell bleibt, nimmt uns die russiZivilsachen angezogen sche Front. Das Schlachten und Uniform und Bewaffhat dann der Franzose unnung unterm Dunghaufen ter größter Gefahr unternomvergraben. Vater musste men, wäre dies den Nazis zu dann auf Anweisung des Ohren gekommen, hätten sie russischen Kommandanihn erschossen. ten die toten Russen und Am 12. Februar kam der gefallenen deutschen SolBefehl des Bürgermeisters, daten von dem Schlachtden Planwagen abmarschfeld einsammeln. Sie wurbereit zu stellen und am den in zwei Massengräbern 13. Februar um 7 Uhr am in mehreren Schichten verOrtsausgangschild bereit zu scharrt. stehen. Doch dazu kam es An Hand der Erkennicht mehr, denn die rusDer Feind eine Bestie: Mit Propaganda wie dieser haben die Nazis ihn als Kind verrückt gemacht, sagt nungsmarken wurden die Horst Stiller. sischen Panzer rollten um Toten von einem Offizier Foto: Deutsches Historisches Museum schriftlich registriert. Ich 6 Uhr durch das Dorf. Die deutsche Front hatte sich in einem Geräusche. Durch das Fenster konnten Die Frauen hatten sehr zu leiden. Am vier- musste dazu immer die Pferde festhalWaldgebiet Richtung Bober (Nebenfluss wir sehen, dass der Hof voller Panjewa- ten Tag nachdem die Schlacht im Wald ten, denn sie waren immer aufgeregt weder Oder) bereitgestellt. Die Schlacht tobte gen stand und die Russen die Pferde aus- vorbei war, kamen vier russische Offi- gen der toten aufgedunsenen Pferde, die dann drei Tage vor unserem Dorf, und wir spannten und in der Scheune unterstell- ziere in unser Haus und ließen sich mit vor den Kanonen lagen und überhaupt konnten über unserem Hof die deutschen ten. Sie entdeckten unseren vollgepackten Schnaps und Essen von den Frauen bedie- wegen des Todesgeruchs. Fliegerangriffe beobachten. Wegen mei- Planwagen. Nun kamen sie mit den Schin- nen. Meine Mutter, Vater und den FranDa hat mir Vater ein bisschen zu viel ner Neugier wäre ich fast um mein junges ken und Räucherwürsten in unsere große zosen jagten sie unter Schusswaffen-An- zugemutet, doch ich habe ihm wohl auch Leben gekommen. Wie ich über unseren Wohnküche. Wir mussten aber erst von drohung aus dem Haus. Ich hatte mich einmal das Leben gerettet, als ihn ein beHof rannte, schoss ein deutscher Jagdflie- allem kosten. Sie wollten sicher sein, dass mit meiner jüngsten Schwester unter der trunkener Russe an den Baum stellte. VaZudecke in einem Bett ver- ter hatte einen toten russischen Soldaten ger nach mir. Ein russischer Soldat, der nichts vergiftet war. Es müsan der Stallmauer in Deckung stand, hat sen so etwa 30 Soldaten und Nach der Schlacht krochen. Ich hörte wie die auf den Wagen legen wollen, da muss der mich noch aus der Schusslinie gerissen. zwei stabile Offiziersfrauen Frauen nun schrien und andere Russe in seinem Suff etwas misszeichnet ein Russe jammerten und ich wartete verstanden haben. Als er schießen wollte, Die deutschen Jagdflieger schossen auf al- gewesen sein. Von den Solles, was sich am Boden bewegte. Abends daten konnte einer einige die Mutter gleich jetzt auf unsere Hinrich- habe ich mich laut schreiend vor meinen im Dunkeln konnte man sehen, wie die deutsche Worte, und wir tung. Plötzlich kehrte Ruhe Vater gestellt und der Soldat zog ab. zweimal Wir hatten nun das Glück, dass auf unglühenden Geschosse am Himmel hin und waren für sie auch die ersein, und meine Schwester her flogen. Zwei deutsche Jagdflugzeuge ten Deutschen, die sie anzerrte mich durch das Fens- serem Hof eine Schlächterei eingerichtet habe ich beim Absturz beobachtet, wir wa- getroffen haben. Für sie muss es die erste ter, nur mit Schlafhemd bekleidet, in den wurde und unsere Familie jeden Tag zwei ren mitten im Kampfgebiet. Es war doch Mahlzeit seit langem gewesen sein, von kalten Schnee. Wir rannten Richtung Wald Kühe zu Wurst verarbeiten musste. Wir etwas grausam für ein Kind. den zwei Schweinen war jedenfalls am in den Erdbunker, den wir schon im De- standen deshalb unter russischer BewaDie größte Angst steckte ja in mir, bis nächsten Tag nichts mehr da. Als sie sich zember auf Anweisung der Nazis gebaut chung. So hörten auch die Vergewaltigunwir mit den ersten Russen Kontakt hat- satt gegessen hatten, holten sie aus der hatten. Hier trafen wir auf unsere Eltern gen auf, und die Frauen hatten bis zu unten, denn die Nazipropaganda hatte die Scheune Strohballen, legten sie im Haus und den Franzosen. In der Nacht haben serer Vertreibung am 24. Juni Ruhe. Unter dem Schutz des russischen KomRussen als totale Bestien hingestellt. Ich aus und schliefen sehr schnell ein. Einer wir uns heimlich auf unseren Heuboden wartete nun auf dieses Ohren und Finger der Russen zeichnete meine Mutter mit geschlichen. mandanten war unsere Wirtschaft schon Das Zweite, sehr Aufregende war, wie wieder voll funktionsfähig. Das Getreide, Abschneiden und dass ich mit der Zunge ihrem traurigem Gesicht und ein zweites am Tisch angenagelt werde, so haben die Mal mit freundlichem Lachen. Das war ein Russe meine Mutter in die Scheune Klee, Luzerne und Hackfrüchte standen Nazis sogar uns Kinder verrückt gemacht. unsere erste Begegnung mit russischen zerren wollte und mein Vater den Russen in voller Pracht und Vater sagte, der liebe zurück hielt. Der Russe zückte die Pistole Gott deckt alles wieder zu. Doch die VerBis etwa 20 Uhr des 13. Februar hörten Frontsoldaten. wir auf der 300 Meter entfernten DurchDie ersten drei Tage während der Schlacht und setzte sie Vater auf die Brust. Vater riss treibung innerhalb von fünf Minuten hat gangsstraße nur Panzer rollen, und ein hat kein Russe eine Frau belästigt. Doch sich Hemd und Jacke auf und schrie mit mein Vater nie richtig verarbeitet. Er ist Russe hat unser Haus noch nicht betre- die Soldaten der Nachfront benahmen kahler Brust: „Schieß doch du Schwein!“ dann schon mit 65 Jahren gestorben. Horst Stiller, Wandlitz ten. Gegen 20 Uhr hörten wir auf dem Hof sich anschließend wie richtige Schweine. Der Russe verdrehte die Augen, steckte die


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„Die Nazis waren uns zu doof“ Ein Berliner und eine junge Ostpreußin wurden in den Ural deportiert, verliebten sich bei Lüneburg und zogen zusammen an die Oder

In dem kleinen Ort Vinstedt in der Lüneburger Heide lernen sich Hannelore und Günter Volkland nach Kriegsende kennen. Die Wirren des Krieges haben beide zusammengeführt. Heute leben die zwei in Frankfurt (Oder) und sind seit über 60 Jahren glücklich verheiratet. Hannelore Volkland ist 15 Jahre alt, als sie von ihrem Heimatort Gumbinnen in Ostpreußen in den Ural verschleppt wird. An einem eisigen Wintertag im Januar 1945 werden die Frauen der besetzten Stadt unter einem Vorwand zusammengerufen. Sie sollen Schnee fegen, heißt es. Tatsächlich werden sie in ein Internierungslager nach Russland verschleppt. Im Ort bleiben dürfen nur die Alten, die nicht mehr arbeitsfähig sind und die Mädchen und Jungen unter 16 Jahren. Dass Hannelore Volkland erst 15 Jahre alt ist, interessiert nicht. In der Kleinstadt, die heute zu Russland gehört, herrscht Chaos. Säuglinge und Kleinkinder werden jungen Müttern weggenommen und an die Alten übergeben. „Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie die Frauen schrien und weinten“, erinnert sich die milde Frau, deren Protest gegen ihre Verschleppung in dem Tumult untergeht. Alles geht plötzlich sehr schnell, mitnehmen dürfen die Frauen nichts. Auf der Reise werden sie fast alle krank, bekommen die Ruhr, und auch die Ankunft im Ural verspricht keine Erholung. Es erwarten die Frauen der harte, russische Winter und schwere Arbeit. „Wir mussten Holz hacken und sägen, meterlange Stücke.“ Das Mädchen bekommt Fieber und muss ins Lazarett, aber die Krankheit erweist sich als Glück im Unglück. Im Juli 1945 geht ein Transport mit kranken Frauen nach Westen. Die Gesunden müssen bleiben. Hannelore Volkland darf das Lager verlassen und fährt zu ihrer Tante nach Berlin-Moabit. Von ihr erfährt sie, dass ihre Eltern und Geschwister mittlerweile auf einem Bauernhof in der Lüneburger Heide arbeiten. So macht auch sie sich auf den Weg dorthin. Die Arbeit beim Bauern ist anstrengend und auch Freizeit gibt es kaum, aber ab und zu geht sie zum Tanz und lernt dabei Günter kennen, ihren späteren Mann. „Er konnte nicht tanzen, also habe ich geführt. Er war schon damals ein Unikum und unmöglich angezogen: Skihosen mit Ringelsöckchen“, erinnert sich die 85-Jährige liebevoll und lächelt. Die Ringelsocken durfte Günter Volkland zwar nicht behalten, seine Energie aber hat der 86-Jährige sich bis heute bewahrt. Die Atmosphäre der 1930er-Jahre in Berlin-Mitte wird lebendig, wenn er von seiner Jugend im Scheunenviertel am Rosenthaler Platz erzählt: „Es lebten Zuhälter neben Zigeunern, Juden, Polen, Vorbestraften und gewöhnlichen armen Leuten. Man wusste, wenn sich einer erhängen will und hat versucht, es zu verhindern. Solidarität, das war nicht nur eine Worthülse, die wurde gelebt“, erzählt Volkland wild gestikulierend. In dem Viertel, in dem die Kommunisten das Sagen hatten, haben es die Nazis schwer. Ihre menschenverachtende Propaganda dringt in dem multikulturellen Viertel nicht durch. „An fast jedem Haus standen polnische Namen, das hat uns gar nicht interessiert, ob nebenan ein Pole oder ein Russe war. Uns konnte man kein X für ein

Seit über 60 Jahren verheiratet: Hannelore und Günter Volkland U vormachen, die Nazis waren uns zu rabel ausgerüstet, sollen Günter Volkdoof“, erinnert sich der gebürtige Berliner. land und 14 andere Männer der Truppe „Alles kannst du werden, nur kein Nazi“, „eine Straße freihalten“, im Klartext: sie hatte ihm auch sein Vater immer gesagt. sollen kämpfen. Der 16-jährige Volkland Dennoch meldet sich Volkland für den erkennt, dass der Auftrag einem TodesReichsarbeitsdienst (RAD), als er wegen urteil gleichkommt. Gemeinsam mit eider kritischen Haltung seines Vaters ge- nem Freund entschließt er sich zur Flucht genüber dem Nazi-Regime Schwierigkei- auf dem Fahrrad: „Die Russen hatten ten befürchtet. Bei einer „Informationsver- 71 Schuss in ihrem Magazin, wir hatten anstaltung“ über den RAD werden Günter sechs. Während wir laden mussten, konnVolkland und die anderen Jugendlichen ten die schießen. Da hab ich zu meinem von SS-Offizieren aufgefordert, den Dienst Freund gesagt, komm, wir hauen ab.“ In freiwillig aufzunehmen. Da die Resonanz voller Montur kommen die beiden bei einem Bauern unter, der sie mäßig ausfällt, fragen die SS-Männer jeden Einzelnen Um eine Straße zu mit ziviler Kleidung ausnach den Gründen seiner stattet. So getarnt, hoffen halten, bekamen sie, ihre Flucht fortsetzen Verweigerung. „Mein Vater hat gesagt, ich bin kleiner, sie Waffen aus dem zu können. als das Gewehr lang ist“, Dabei hatten sie eines Ersten Weltkrieg sagt da einer. „Wie heißt nicht bedacht: „Oben wadu, wo wohnst du?“, entren wir in Zivil, unten gegnet der SS-Mann. Günter Volkland hat nicht. Wir dachten, so können wir uns Angst, durch ein Nein seinen Vater in die durchschmuggeln. Hat natürlich nicht Bredouille zu bringen und verweigert den geklappt. Die erste russische Streife hat uns sofort erkannt“, erinnert sich Günter Einsatz daraufhin nicht. Am 14. Januar 1945 wird er eingezogen Volkland. Nur knapp eine Woche nach seiund mit dem Zug über Posen nach Zich- ner Einberufung, gerät er am 22. Januar lin gebracht. Bei einem Zwischenstopp 1945 in russische Kriegsgefangenschaft in Posen wähnen sich die jungen Männer und kommt nach einem 28 Tage langen noch in einem Abenteuer. Die Stimmung Transport im Ural an. Von den 2000 Geist gut, die Jugendlichen machen Witze, fangenen überleben ihn 1300 nicht. Auch es wird viel gelacht. „Kommt ihr erstmal Günter Volklands Fluchtkamerad stirbt dorthin, wo wir herkommen. Euch wird auf dem Weg, er selbst hat Glück. Im Ural das Lachen noch vergehen“, ruft ihnen ein wacht er nach einem zweitägigen Schlaf verletzter deutscher Soldat aus dem ge- mit schweren Erfrierungen auf, kurz begenüberstehenden Zug herüber, der Ver- vor auch er zu den Toten rausgestellt werwundete von der Ostfront transportiert. den sollte. „Die Ärzte und Schwestern im Tatsächlich ändert sich die Stimmung Lager waren sehr gut. Die waren zum Teil mit der Ankunft in Zichlin rasant. Die auch nicht freiwillig da, und wenn die Einheit wird mit französischen Waffen sich nicht so aufgeopfert hätten, wären ausgerüstet, die zum Teil noch aus dem noch viel mehr Menschen gestorben“, erersten Weltkrieg stammen. Derart mise- zählt er nachdenklich und fügt hinzu: „Es

Foto: Ann-Kathrin Jeske

kommt immer auf den einzelnen Menschen an. Egal in welchem System, ob freiheitlich-demokratisch, diktatorisch, islamistisch, es hängt immer vom Einzelnen ab.“ Im Oktober 1945 darf Günter Volkland zurück nach Deutschland. In Ost-Berlin angekommen, stellt er fest, dass sein Vater mittlerweile im amerikanischen Sektor wohnt, doch in diesem darf er als ehemals russischer Kriegsgefangener nicht leben. Nach einigen Wochen, in denen er sich durch Koffertragen und Zigarettenschmuggel über Wasser hält, sieht er für sich in Berlin nur noch zwei Möglichkeiten: verhungern oder kriminell werden. „Ich wollte beides nicht. Deshalb bin ich aufs Land in die Lüneburger Heide gefahren“. Am Ende seiner Kräfte und ohne einen Pfennig findet ihn dort ein Passant: „Ich kauf dir mal eine Bockwurst und dann zeig ich dir das Arbeitsamt“, sagt er. „Als sie mich dort gefragt haben, was ich kann, da schwante mir schon: Jetzt musst du was vorspielen. Und als sie gesagt haben, der Bauer Schulz braucht einen Gespannführer, da hab ich gesagt: da bin ich der richtige Mann“, erinnert sich der wache 86-Jährige verschmitzt. Zum Vergnügen ging auch er in seiner neuen Heimat bald zum Tanz, und so trafen sich in dem kleinen Ort Vinstedt zwei Menschen, die ohne den Krieg nie dorthin gezogen wären. Allzu lang hielt es sie in dem Dorf dennoch nicht. In Vinstedt gab es für Günter Volklands Geschmack zu viele Alt-Nazis, mit denen er dauernd auf Konfrontationskurs stand. 1956 zogen die beiden deshalb nach Frankfurt (Oder), wo sie bis heute leben. aufgeschrieben von Ann-Kathrin Jeske


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Endstation Pyritz Die Familie von Dietrich Wolf hatte ihre Flucht penibel vorbereitet. Gerade deshalb wurde sie nach 25 Kilometern wieder zurückgeschickt

Unser größter Leiterwagen war fahrbereit, war mit Stroh ausgepolstert, mit Weidenruten als Runddach bespannt, mit Teppichen abgedichtet, mit frisch geräuchertem Speck und Schinken sowie Wurst vollgepackt, mit Heu und Teppichen ausgekleidet. So ging es im Januar 1945 ab in Richtung Schwedt an der Oder bei 10 bis 15 Grad Kälte, vereisten Straßen, Schneefall und Schneeverwehungen mit zunächst zwei der stärksten Pferde. Ein drittes Pferd musste nachgeholt werden, weil die zwei Pferde an einer Anhöhe auf der vereisten Straße immer wieder ausrutschten. Mit dem dritten Pferd ging es dann endlich weiter, nachdem auch wir Kinder aus dem hinten an das Fuhrwerk angeketteten Auto (meines Erachtens ein DKW) ausgestiegen waren. Die Strecke ging über Kloxin, Prillwitz, Kossin, Britzig, Megow nach Pyritz, also etwa 25 Kilometer, 60 wollten wir an dem Tag schaffen. Daraus wurde aber nichts. In Pyritz, dem heutigen Pyrzyce in der Woiwodschaft Westpommern, angekommen, mussten wir rechts vor dem Stettiner Tor anhalten. Mit unserem Gespann mit dem angehängten Auto hintendran, den gut genährten, kräftigen drei Pferden und dem bestens ausgerüsteten Leiterwagen fielen wir natürlich sofort auf. Außerdem hatte uns ein VW-Kübelwagen mit zwei deutschen Soldaten (Offizier Das alte Pyritz: Die Stadt heißt heute Pyrzyce und gehört zur polnischen Woiwodschaft Westpommern. Foto: privat und Fahrer) überholt und uns argwöhnisch musternd Blicke zugewor- derfall, da wir ja in Berlin ansässig seien. den guten Rat, doch wieder umzukeh- ren, es sähe trostlos aus und was wir denn fen. Sie mussten uns bereits in Pyritz ge- Darauf erwiderte der Offizier, es sei doch ren, denn es läge wirklich keine Gefahr überhaupt in Berlin wollen, der Russe hanebüchen, dass uns auf einmal Berlin für den Kreis Pyritz vor. Dagegen seien wäre eher in Berlin als wir mit unserem meldet haben. Ein Schupo fragte uns, woher wir kä- als lohnendes Ziel erscheine, wo wir doch die Gefahren auf der Landstraße und in Treck. Der Russe wolle über Küstrin in die men, welchem Treck wir angehörten, die ganze Zeit ruhig in Rosenfelde geses- der Kälte dermaßen groß. Täglich gäbe Hauptstadt, um den Kreis Pyritz würde er wieso wir ein Auto mit uns führten. Als sen hätten und wie Tante Inge überhaupt es Tote und im Amt selbst säßen die Kin- sich bestimmt nicht kümmern. Also häter hörte, dass wir auf eigene Faust aus dazu käme, das Gespann und das Auto der mit erfrorenen Gliedern, mitsamt ih- ten wir von den Panzerspitzen nichts zu dem Kreis Pyritz unterwegs seien, hagelte der Volkswirtschaft zu entziehen. Das ren jammernden Müttern. befürchten, und die breite Masse der InSollten wir jedoch an eine Weiterfahrt fanterie stehe noch bei Posen und Litzerstmal ein Donnerwetter auf uns herab, Auto müsse er sofort beschlagnahmen. und er meinte gnädig gehandelt zu ha- Es sei ein Funkspruch durchgegeben wor- denken, so müsse er den Kraftwagen so- mannstadt. Außerdem sei Berlin gesperrt. fort beschlagnahmen und Kein Fuhrwerk käme mehr hinein. Wenn ben, wenn er uns sofort wieder zurück den, sämtliche motorischickte. Meine Mutter und Tante Inge sierten Fahrzeuge der es könne uns passieren, man dann noch bedenken würde, dass unNach der Rückkehr ließen sich das nicht gefallen und mach- Flüchtlinge zu requiriedass wir unterwegs unsere sere Feinde wüssten, wo der Menschenwar das Haus mit ten sich auf den Weg zum Rathaus. Dort ren. Darauf hatte Tante andere Fuhre los würden strom zusammengeballt wäre und ihre legten sie die Bescheinigungen vor, dass Inge erwidert, dass sie oder spätestens an der Luftangriffe entsprechend starten, säßen Flüchtlingen sie in Berlin ansässig waren und in un- lediglich uns fünf KinOderbrücke bei Schwedt wir in Rosenfelde wie im Paradies. überfüllt Lange Rede, kurzer Sinn: Mit glühensere Wohnungen zurück wollten. Meine der und ihre alte Mutnicht rüber gelassen würMutter erzählte uns später, dass der Be- ter nach Berlin schaffen den, da diese freibleiben den Gesichtern kehrten Mutter und Tante amte gleich los tobte und fragte, ob Mut- und dann sofort auf ihren Hof zurück- müsse für Flüchtlinge mit Berechtigung. Inge zu unserem Treck zurück und abends ter und Tante Panik machen wollten, es kehren wolle, da dieser sie doch braucht. Außerdem sollen sich bereits Dramen ab- um 9 Uhr waren wir wieder in Rosenläge kein Räumungsbefehl für den Kreis Zum Schluss kam es darauf hinaus, dass gespielt haben, denn naturgemäß staut felde. Tante Inge und meine Mutter hatPyritz vor, folglich dürfe niemand he- man uns die Weiterfahrt verbot und uns sich dort alles. Er könne ja nicht ver- ten nun erwartet, dass wir Kinder und raus. Es könne uns passieren, dass uns unter Bewachung dazu zwingen wollte, hindern, wenn wir uns einem Treck zu- die alte Mutter in Jammern ausbrechen das ganze Gespann mit samt der Fuhre umzukehren. Tante Inge sagte, dass es schmuggeln würden und somit durch- würden, aber das Gegenteil war der Fall. beschlagnahmt werde. Flüchten dürfe nur für sie ja auch noch einen Landrat gäbe, schlüpften. Allerdings stach unsere Fuhre Innerlich war jeder durch die Fahrt dadem werde sie unseren Fall unterbreiten. durch die wohlgenährten, kräftigen Pferde von überzeugt worden, dass wir Schreckder, der den Befehl dazu bekäme. Meine Mutter schilderte später im Mutter und Tante also hinüber zum dermaßen von den übrigen ab, dass man liches erlebt hätten. Zuhause nun erwarHerbst 1945, als wir wieder mit meinem Landrat. Dort herrschte eine ganz andere uns schon daran erkennen würde. tete uns eine furchtbare Überraschung. Wir wussten nun ziemlich sicher, dass Alle Zimmer waren mit Flüchtlingen beVater glücklich vereint waren, das Palaver Luft und man kam ihnen erstmal höfmit den Pyritzer Behörden wie folgt: Tante lich entgegen. Das beruhte zum Teil da- es zurückgehen müsste. Ganz waren wir legt. In vier Zimmern konnten wir überInge wurde nun ihrerseits deutlich und rauf, dass Inges erster Mann als Bürger- aber erst davon überzeugt, als wir einen haupt nicht treten vor Menschen. Nur das stellte die Fälle vor, wo entweder der Räu- meister von Rosenfelde bekannt war. Der Herrn sprachen, der auch beim Landrat Zimmer auf dem Boden war verschont, mungsbefehl überhaupt nicht kam oder Landrat selbst war nicht anwesend, aber beschäftigt war und so etwas wie eine weil von dessen Existenz niemand geerst zwei Stunden vorher, bevor die Rus- sein Stellvertreter war ein vertrauenerwe- Fahrbereitschaft gewesen sein muss. Er wusst hat. Alles war verdreckt und der sen kamen. Außerdem seien wir ein Son- ckender Mann und gab uns von sich aus meinte, um Gottes Willen nicht weiterfah- Mief unbeschreiblich.


Freitag, 8. Mai 2015

Wochen später mussten wir Rosenfelde und unsere westpommersche Heimat trotzdem und für immer verlassen. Nachdem wir uns einigermaßen mit den Russen, das heißt, den beiden Offizieren, die in unserem Gut Quartier genommen hatten, angefreundet hatten (der davor durchziehende Soldatenpöbel war das Übelste, was ich in diesem Krieg erlebt hatte), mussten die Russen bekanntlich Platz machen für die nachfolgenden Polen. Das war im Juli, August 1945. Die russische Einheit unter der Leitung der beiden Offiziere machte sich bereit, und auf unserem Hof wurde wieder ein Treck zusammengestellt, diesmal mit russischen Lkw und Jeeps. Die Lkw wurden mit lebenden Schweinen und Stroh beladen und auf die Lkw-Wände ein Gerüst gebaut zum Beladen mit anderem Gut und Sitzen für die russischen Soldaten. Ich weiß nun nicht mehr, ob wir gefragt wurden, ob wir mitkommen wollen oder ob sie uns als ihre Gefangene einfach mitgenommen haben. Jedenfalls waren wir mit von der Partie mit reichlich Gepäck und Proviant. Der Schinken, den wir schon auf der ersten Flucht mitgenommen hatten, war auch dabei und reichlich Waschpulver und wieder Teppiche zur Abdeckung der unter uns fahrenden lebenden Schweinen. Also ging es ab nach Ribbecks Horst, einem Vorwerk von Ribbeck bei Berlin. Dort sollte unsere russische Einheit blei-

Das aufgeweichte Waschpulver tropfte unterwegs auf die Schweine ben. Was müssen die russischen Soldaten gedacht haben? Der Krieg war schon Monate zu Ende und statt nach Osten ging es für sie nach Westen. Es regnete in Strömen und es war recht kühl. Wir saßen nun über den Schweinen mit Planen bedeckt, so dass der Regen alles aufweichte und das mitgeführte Seifenpulver durch die aufgeweichten Teppiche auf die darunter befindlichen Schweine sickerte und mit dem Kot der Schweine eine stinkende, schäumende Brühe ergab. Außerdem kann ich mich noch an eine Karambolage erinnern. Ein anderes russisches Militärfahrzeug stieß mit unserer Kolonne zusammen, aber an unserem Lkw war kaum Schaden, aber an dem anderen, es gab ein Riesenpalaver und es war wohl auch bei den anderen russischen Soldaten Alkohol im Spiel. Jedenfalls war ein höherer Dienstgrad bei der gegnerischen Partei dabei, denn er ließ uns Deutsche einer gründlichen Kontrolle unterziehen und verstand überhaupt nicht, was wir Kinder und Frauen auf den russischen Militär-Lkw zu suchen hatten. Jedenfalls konnten wir nach einiger Zeit unseren Treck fortsetzen und kamen irgendwann durchnässt und frierend in Ribbecks Horst an. Tante Inge und meine Mutter mussten von da an in der Großküche arbeiten. Ich musste zusammen mit einem anderen Jungen eine große Schafsherde hüten. Mein Vater war in diesem Sommer aus russischer Gefangenschaft gekommen und machte sich sogleich auf die Suche nach uns. Mitte September holte er uns alle zu sich nach Frohnau. So war ein Dreivierteljahr in russischer Gefangenschaft für uns vorbei und unsere Familie wieder glücklich vereint. Dietrich Wolf, Borgsdorf

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Mehrmals fast erschossen Joachim Schneider glaubt, er habe mehrere Schutzengel gehabt Im Januar 1945 waren wir Frankfurter Jungen, damals gerade um die 16 Jahre alt, von Parteifunktionären zum Stellungsbau am Frankfurter Kleistturm beordert worden. Am 28. Januar sagte uns der beaufsichtigende Feldwebel, wir brauchen am nächsten Tag nicht mehr zu kommen. Die Arbeiten würde die Wehrmacht fortsetzen. Also gingen wir nach Hause. Andere Jugendliche wurden von den Parteibeauftragten zu einer Panzersperre an der Straße nach Schwetig geschickt, nach wenigen Tagen von den Soldaten aber entlassen. Zu Hause wurden sie – wieder von der Partei – zur Infanteriekaserne beordert, um sich dort einkleiden und bewaffnen zu lassen. Der dortige Wachhabende meinte: „Wir haben für euch keine Kleidung und auch keine Waffen. Geht nach Hause und kümmert euch um eure Mütter!“ Eine Woche später traf ich den Schulkameraden Heinz M., der mir einen Karabiner zeigte und freudig sagte: „Jetzt geht’s los…!“ Ich vergaß zu fragen, wie er auf diese Idee kam. Es war unsere letzte Begegnung, ich sah ihn nie wieder. Fakt ist, dass hier in Frankfurt das 3. Volkssturmaufgebot, das Aufgebot der HJ, nicht aufgestellt wurde. War es also seine eigene Idee? Mein Aufenthalt in der elterlichen Wohnung endete am Morgen des 7. Februar, als mich mein Vater wegen der allgemeinen Lageentwicklung aus der Dammvor-

stadt zum Stadtzentrum holte. Genau zwei Stunden später war die Wohnung durch ein Artilleriegeschoss zerstört. Am 15. Februar begab ich mich zur Mutter nach Brandenburg (Havel). Dort war ich eine willkommene Verstärkung für das Fernmeldepersonal. Doch mein Meister schickte mich nach meinem 16. Geburtstag zur Volkssturmausbildung. Nur einmal nahm ich an der Schießausbildung teil. Da man die Personalien nicht festhielt, stellte ich mich

Die Jungs wurden zu ihren Müttern nach Hause geschickt dumm und ging auch nicht zur nächsten Ausbildung. Ich wundere mich noch heute, dass mein Meister nicht nachhakte. Meine neuen Freunde gleichen Alters in Brandenburg waren offensichtlich etwas anders eingestellt. Sie wollten sich am 22. April in einem Stützpunkt unbedingt mit einer Waffe ausstatten lassen. Ich konnte sie davon nicht abhalten, begleitete sie aber. Und wieder sagte ein Unteroffizier in väterlichem Ton: „Bei Schmerzke wird die Front aufgebaut, dort könnt ihr euch melden. – Ich rate euch aber, nach Hause

zu gehen und euch um eure Mutter zu sorgen.“ Unter den vielen Erlebnisberichten meines Archivs befindet sich auch ein ganz interessanter aus dem mitteldeutschen Raum, also aus der Zeit kurz vor dem Toresschluss dieses wahnsinnigen Krieges. Der Jüngling wollte unbedingt kämpfen und folgte irgendeiner Aufforderung. Sein Vater holte ihn zurück und verbot ihm, weiterhin solchen Aufforderungen zu folgen. Er schlug die Warnung in den Wind. Ob er seinen Vater damals einen Verräter nannte, gab er mir bei einem Kontakt im Jahre 2005 nicht preis. Trotz aller Umsicht und vieler gut gemeinter Ratschläge erlebte ich die Furie des Krieges „hautnah“. Immer war es in geraumer Entfernung der unmittelbaren Front. Dreimal war es rein zufällig eine Granate aus weiter Entfernung, die gewissermaßen aus heiterem Himmel kam. Zwei Tieffliegerangriffe überlebte ich, wobei ich bei einem mehrere Tote und Verwundete an meiner Seite sah. Und schließlich erlebte ich einen furchtbaren Bombenteppich in unmittelbarer Nähe, der dem Flugplatz Briest bei Brandenburg galt. Ich hatte eben mehrere Schutzengel. Natürlich gab es in der sogenannten Aktion Heldenklau zahllose Fälle, die dramatischer verliefen. So hatten zum Beispiel die als Flakhelfer eingesetzten Jungen aus der noch nicht wehrfähigen Altersgruppe ein schweres Los gezogen. . Joachim Schneider, Frankfurt (Oder)

Schlachtfeld Frankfurt (Oder): Joachim Schneider war dabei, als die Kämpfe um die Stadt begannen. Das große Gebäude rechts, zu dem die sowjetischen Soldaten schauen, ist die Hauptpost. So gestellt, wie dieses Foto wirkt, ist es wahrscheinlich erst nach der Einnahme der Stadt inszeniert worden. Foto: Gedenkstätte Seelower Höhen


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Die hübsche Regulierovka Wolfgang Lange, der fast als jugendlicher Panzerjäger verheizt worden wäre, entwickelte ein gewisses Interesse für eine russische Soldatin

Auch in Luckau, meines Vaters aus diesem kleinen dem SchützengraStädtchen in der ben geholt. Meyer Niederlausitz, hatte ihm diewar der Krieg sen gefährlichen spätestens 1944 Wunsch erfüllt, angekommen. weil mein Vater ihn möglicherKolonnen kriegsweise mehrfach gefangener Rotbewahrt hatte. armisten, die in ihrem geschunMeyer war Frontsoldat und hatte denen Zustand buchstäblich zur genug vom Kriege, Schau durch die was er in seiner Stadt geführt wurhäufigen Trunkenden, gab es schon heit abends lautlange nicht mehr. hals auf der Straße Die in großer aus sich herausHöhe nach Berlin schrie. Mein Vater fliegenden ameschnappte ihn sich rikanischen und dann und schaffte britischen Bomihn so schnell wie ber-Pulks kündemöglich in unser ten vom bevorHaus. Das war gestehenden Ende fährlich, weil undes durch Hitlerserm Hause direkt deutschland vom gegenüber BaraZaune gebrochecken der SS standen. nen Krieges. Den Geruch der verEines Tages im brannten Leiber April stand ich der Besatzung eimit zwei Schwägerinnen vor unnes abgeschossenen amerikaserm Hause. Wir nischen Bombers sahen zu, wie die werde ich niemals SS hastig ihre Bavergessen. Nicht racken räumte. anders ergeht es Die eine sagte zur mir seit dem Ananderen: „Siehste, blick der am SteuDie „Regulierovka“: So habe man, sagt Wolfgang Lange, damals jene sowjetischen Soldatinnen genannt, die den Verkehr jetzt hauen diese regelten. Die junge Frau auf dem Foto übernimmt diese Aufgabe an einer Kreuzung in Küstrin. Mit Schwerin oben auf dem erknüppel kauernSoldaten auch Schild ist ein kleiner Ort in Pommern gemeint, nicht die Stadt in Mecklenburg. Foto: Gedenkstätte Seelower Höhen den Überreste des ab.“ Ein SS-OffiPiloten eines abzier hörte es und geschossenen deutschen Jagdfliegers. losen Gesichtern wie die Flüchtlinge. vernichten und mussten dazu aber die schrie sie an: „Halten Sie die Schnauze Ab dem zweiten Halbjahr 1944 gab es Die Feldgendarmerie, vom Volksmund Panzer bis auf 50 Meter herankommen oder Sie werden erschossen!“ Ja, das ständig größere Flüchtlingstrecks, die in wegen ihres an einer Kette getragenen lassen. In solcher Lage hatten wir Kin- konnte sehr schnell gehen. der Flucht vor der nahenden Front nach Brustschildes heimlich „Kettenhunde“ der buchstäblich die Hosen voll, denn Der Kartoffelbunker, also das VerpfleWesten zogen. Ebenso trafen mit zahllo- genannt, machte Jagd auf Soldaten, die, ein Panzer besaß auch ein MG, mit dem gungslager, wurde, kaum dass ich ihn sen Eisenbahnzügen Flüchtlinge ein, die des Krieges satt, sich auf den Heimweg so nahe Ziele „gesiebt“ werden konnten verlassen hatte, zur Plünderung durch versuchten, in der Stadt oder in der Um- machen wollten. Sie wurden wegen Fah- und auf dem Panzer saßen Infanteris- die Bevölkerung freigegeben. Die Angebung zu bleiben, zumindest für eine nenflucht erschossen oder erhängt. Eines ten mit Maschinenpistolen, die, wenn wohner versuchten, sich rasch mit ZuWeile. Tages war eine Menschentraube, darun- sie gut schossen, bereits auf 200 Me- cker, Nährmitteln und Konserven ein„Es zittern die morschen Knochen der ter auch ich, den Kettenhunden gefolgt ter treffen konnten. Plötzlich erschien zudecken. Sogar Schokolade lagerte Welt vor dem großen Krieg, wir haben in der stillen Hoffnung, dass diese einen hinter mir Feldwebel Meyer: „Du un- dort. Doch schon nach kurzer Zeit war den Frieden gebrochen, für uns war’s ein jungen Soldaten im Alter von nicht mehr terstehst meinem Befehl. Mitkommen, ein Sonderkommando da, vertrieb alle großer Sieg“. Diesen menschenfeindlichen als 18 Jahren verschonen würden. Im Ge- Waffe mitnehmen!“ Leute rücksichtslos und setzte das Lager Irrsinn sangen wir als Pimpfe und das genteil, sie sahen ihr Handeln wohl als Feldwebel Meyer gehörte zur Wehr- in Brand. Nachts hörte man nun nicht selbst noch im April 1945 als wir durch eine Belehrung aller an. Noch heute, nach machtsmannschaft, die das im Kartoffel- nur den nahenden Gefechtslärm, besondie Lange Straße Luckaus zur sogenann- 70 Jahren, habe ich die bunker an der Bahnstrecke ders ab und an das Heulen der sowjetiten Schanze marschierten, um dort Schüt- Hinrichtung vor Augen, Einem Feuerwerk nach Uckro untergebrachte schen Werferbatterien, „Stalinorgel“ gezengräben auszuheben. Meine Mutter, die die peitschenden Schüsse Verpflegungslager be- nannt. Einem Silvester-Feuerwerk gleich mich auf ihrem Weg zum Einkauf sah, und dann diesen jungen, gleich explodierten wachte. Meyer war bei uns explodierten massenhaft Konservenbüchempfing mich zu Hause mit einer schal- hingestreckten, starren einquartiert. Mit umgehäng- sen. Und es roch nach verbranntem massenhaft Maschinenpistole lief er Zucker. lenden Ohrfeige und einer verzweifelten Körper. Bald aber war Konservenbüchsen ter voraus, ich marschierte geStrafpredigt: Ob ich denn überhaupt kei- selbst von den KettenhunMeyers Einschätzung bestätigte sich. horsam und neugierig mit Am 22.April früh sahen wir vom Fenster nen Verstand im Kopfe hätte. Sie, die ein- den nichts mehr zu sehen. fache Frau aus der Posener Gegend, er- „Bloß nicht in die Hände der Russen fal- meiner Panzerfaust hinterher. Durch ei- aus einen langsam fahrenden sehr zivil klärte mir den Inhalt dieses Liedes, und len“, hieß es. Sie wussten, warum. Der nen Seiteneingang betraten wir den Kar- aussehenden Kleintransporter. Auf der ich schämte mich. Ich kannte die Auffas- Durchzug von Soldaten, besonders in der toffelbunker. Meyer sagte nur: „Stell deine Ladefläche lagen Rotarmisten mit MPi sungen meiner Eltern gut, die aus leid- Berliner Straße, wo wir wohnten, wurde Panzerfaust dorthin und dann mach, dass im Anschlag. Es gab keine Verteidigung du nach Hause kommst. Zieh’ sofort deine der Stadt. Die vom Volkssturm errichtevollen Erfahrungen des Ersten Weltkrie- immer chaotischer. Am 21. April 1945 lag ich an der Seite Uniform aus, deine Mutter soll sie ins ten Straßensperren waren rasch geöffnet. ges und der Sorge um fünf Soldatensöhne anderer Pimpfe, wie wir Mitglieder des Scheißhaus schmeißen. Bleib zu Hause. Bald folgte den Vorauseinheiten ein nicht an der Front genährt wurden. Je näher die Front rückte, desto mehr Nazi-„Jungvolkes“ genannt wurden, Morgen ist der Russe hier.“ Wir hörten enden wollender Heerzug an Infanterie, Soldaten und Wehrmachtseinheiten be- mit einer Panzerfaust im Schützengra- nie wieder etwas von ihm… Panzern, Selbstfahrlafetten und Lkw. Alwegten sich durch die Stadt in Richtung ben vor der Schanze. In Richtung ZöllDem Feldwebel Meyer und der Hal- les zog in Richtung Berlin. Auf dem Wege Berlin oder in Richtung Westen. Die Män- mersdorf standen, aufgereiht wie Sol- tung meiner Eltern verdanke ich sicher- lag Halbe, wo es infolge des Durchhaltener, oft am Ende ihrer Kräfte, liefen oder daten zum Exerzieren, sechs sowjetische lich mein Überleben. Wie ich später er- willens fanatischer Offiziere eine mächfuhren zumeist mit ebenso ausdrucks- Panzer T34. Wir sollten „die Angreifer“ fuhr, hatte mich Meyer auf eine Bitte tige Kesselschlacht gab.


Freitag, 8. Mai 2015

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Nach wenigen Tagen erschienen sow- und Ruinen der Westerplatte, jenes denkjetische Offiziere, die unser Haus und würdigen Ortes, der mit zum AusgangsGrundstück mit ihrer Einheit belegten. punkt des Zweiten Weltkrieges wurde. Wir durften im Keller bleiben. Unser Einer meiner Brüder hatte auf dem LiVieh, ein Hammel, eine Ziege, Kanin- nienschiff „Schleswig-Holstein“ gedient chen, Gänse und Hühner, alles wurde und diese Aggression miterlebt. Der ungeschlachtet und von den Soldaten im bändige Wunsch, dass es nie wieder Krieg Kupferkessel unserer Waschküche zu- gebe, beschwor sich von selbst. Mit Alekbereitet. Meine Eltern verfolgten es be- sander Cidziel verband uns eine lange drückt, nahmen es dennoch gelassen. Sie währende Freundschaft. kannten derlei aus dem Ersten Weltkrieg. Und dieser Wunsch, nie wieder eiIm Übrigen waren wir froh, mit dem Le- nen Krieg zu erleben, stellte sich bei ben davon gekommen zu sein. Außer- der Heimkehr von jedem meiner Brüder dem bekamen wir unseren Teil vom Es- ein. Ein Bruder war in amerikanische sen, auch als die von uns requirierten Gefangenschaft geraten, danach nach Vorräte längst verzehrt waren. Uns be- Ulm, dem Wohnort einer Freundin, entseelte nur ein Gedanke: Gott sei Dank ist lassen worden und im August 1945 nach alles vorbei. Nie wieder Krieg! Hause gekommen. Ein zweiter Bruder Zur Einquartierung gehörte auch eine kam im Herbst mit einer Verwundung „Regulirovka“, also eine Soldatin, die aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft auf der Kreuzung „Reuters Eck“ den Ver- heim. Der schon im Zusammenhang mit kehr regelte. Sie war vielleicht 18 oder der Westerplatte erwähnte Bruder war 19 Jahre, hatte in der Schule Deutsch ge- ebenfalls in sowjetische Gefangenschaft lernt und versuchte, mir von den Verbre- gekommen. Wir sahen ihn erst 1949 wiechen der Deutschen in ihrer Heimat zu der. Ein Bruder kam nicht mehr. Er war erzählen. Ich fand sie, obwohl sie ihre als Flieger in Ostpreußen umgekomMPi nicht aus den Händen men. Mein ältester Bruließ, sehr hübsch mit ihrem Sie versuchte, von der, Marineangehöriger, dunklen Haar, den dunklen war in eine merkwürdige den Verbrechen Augen, einem für unsere britische Kriegsgefangendamaligen Vorstellungen schaft geraten. In seider Deutschen recht kurzen und engen nen Entlassungspapieren zu erzählen Uniformrock und den Koheißt es: „…was discharged on 28. Aug. 1945 sakenstiefeln, in denen immer die Signalfähnchen steckten. Aber ...from the Kriegsmarine“, gegengezeichihre Worte schienen mir maßlos übertrie- net von der Wehrmachtskommandanben, und ich konnte und wollte sie nicht tur Hamburg-Harburg am 4. September verstehen. Erst später erfuhr ich, dass 1945. Die Wehrmachtskommandandie Realität viel grausamer gewesen war. tur war also noch nach der KapitulaNach einigen Wochen zog die Truppe tion hinaus im Dienst. Und es gibt noch aus. Es wurde nur noch ein Zimmer durch eine Bestätigung vom Entlassungslager einen alten Soldaten aus Belorussland Travemünde (Lübeck/Kücknitz) vom und einen jungen Polen belegt. Sie gehör- 21. August 1945 über einen noch bis daten zu einer Telegrafeneinheit. Der junge hin zu zahlenden Wehrsold. So erklärt Pole hatte irgendetwas angestellt, wofür sich auch, warum Soldaten, die nach er auf unserem Hof lautstark zur Rede Kriegsende versuchten, nach Hause zu gestellt wurde und schließlich auch Prü- kommen, wegen Fahnenflucht erschosgel bezog. Am Abend klopfte jemand an sen wurden. An der Seite dieses Bruders arbeitete unsere Kellertür. Herein traten zwei Offiziere der Polnischen Volksarmee. Sie ent- ich eine Zeit lang in der Metallwarenschuldigten sich für den Vorfall auf un- fabrik W. Hösel, die aus Berlin nach serem Hof, was uns verständlicherweise Waltersdorf bei Luckau verlagert wormehr als überraschte. Sie erzählten dann den war. Wir begannen mit der Produkmit meinem Vater, der Polnisch aus sei- tion von Pressen zur Herstellung von ner Jugendzeit beherrschte. Rübensaft. Die waren sehr begehrt. RüEin sehr außergewöhnlicher Zufall ben-Sirup war zu dieser Zeit ein wertvolwollte, dass ich rund 30 Jahre später ei- ler Brotaufstrich und eine willkommene nen der beiden wiedertraf. Major Alek- Ergänzung der Lebensmittelzuteilung auf sander Cidziel, elf Jahre älter als ich, Karten. So begann langsam für uns eine war inzwischen Reserveoffizier. Er zeigte neue Zeit, Friedenszeit. Wolfgang Lange, Rietz-Neuendorf mir und meiner Frau die Gedenkstätte

Hitlerjugend radelt an die Front: Wie seine Altersgenossen in der Dammvorstadt von Frankfurt (Oder) – dem heutigen Slubice – sollte Wolfgang Lange mit einer Panzerfaust sowjetischen Panzern auflauern. Foto: Gedenkstätte Seelower Höhen

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Gefürchtete Waffe: Auch von Schönow aus schossen die „Katjuschas“ der Roten Armee Richtung Berlin. Repro: MOZ/Uwe Stiehler

Machorka und Kaugummi Schönow wurde von Russen und von Amerikanern besetzt

Ab Januar 1945 setzte auch in Schönow mit MPi davor. Gegen Mittag nun doch ein fast endloser Flüchtlingsstrom aus der befürchtete Befehl an meine MutRichtung Bernau ein. Mit Handwagen, ter: „Frau komm!“ Sie musste mit etwa Koffern, bepackten Fahrrädern und Ruck- 20 Frauen auf eine Wiese, um eine vor säcken erreichten sie die Ortsmitte. An Schmerzen brüllende Kuhherde zu melder Schönwalder Chaussee ließen sie ken. Gegen Abend dieses Tages wurde dutzende Handwagen und hinderliches im Wald, gegenüber der Einmündung Gepäck stehen und baten um Wasser. zur Zepernicker Str./Schönwalder Ch. Die Handpumpe im Garten war ständig eine Lafette „Katjuscha“(Stalinorgel) in im Gange. Auch bei Kriegshandlungen. Stellung gebracht und mehrfach RichSehr schlimm waren deutsche Tiefflie- tung Berlin abgefeuert. Ich wurde auf ger. Stuka – 15 Meter über die Straße geführt, zur „Kuchnje“(Feldküche) dem Boden –schossen mit Sie boten dem und durfte aus einem Bord-MG auf alles, was Jungen Tabak an Jeep rohe, lose Erbsen in sich bewegte. Dazu deren Motorengeheul, plötzlich einem Eimer mitnehmen. und sagten: und wie aus dem Nichts boten mir Machorka „Dawai, für Papa“ Sie erscheinend! Schönow an „Dawai, für Papa“. Ich hatte 500 Flüchtlinge aufhabe als Jugendlicher von zunehmen und zu versorgen. Bei uns diesen ersten Russen nur freundliche, wurden acht Personen zwischen ein bis runde, kinderliebende Gesichter erlebt. drei Monaten wechselnd und ab 1946 bis Das Vorkommando verschwand schnell 1948 die Schwester meiner Mutter und Richtung Berlin. Familie aus Pommern aufgenommen. Am 22. April früh wurde ein großer Sie durften nicht hier bleiben, sondern Sack Kartoffeln in die Küche gestellt. mussten erst bis in den Harz. Befehl an Mutter: „Dawai, rabotta!“ für Ab dem 18. April 1945 begann der Offiziere und Bewacher, wurde bedeuDaueralarm, Aufenthalt nur noch im tet. Schnell wurde Hilfe durch eine BeKeller, Beheizung über Kanonenofen. kannte geholt. Beide entschlossen sich, Ringsum Schüsse und Kanonendonner, Puffer zu machen, die ständig in kleiweiße Tücher (bei manchen deutlich nen Pfannen auf Holzfeuer in der Küsichtbar das noch schnell abgetrennte che zubereitet wurden – unter ständiger Hakenkreuzsymbol) an einigen Häusern. Kontrolle durch Bewacher. Die nun unAm 20. April um Mitternacht dann eine ei- unterbrochen nachrückenden Truppen genartige, ungewöhnliche Ruhe. Beklem- suchten mit langen Stangen im Garten mend! Am 21. April bei Tagesanbruch nach Vergrabenem, im Haus nach Wodka ununterbrochenes Gemurmel und leises und Piwo, also Bier. Die hörbaren Kämpfe um Berlin tobGeklapper im Wald und auf der Schönwalder Chaussee. Vorsichtiger Blick: ten weiter – noch fast zehn Tage lang. alles voller brauner Uniformen. Gegen Um den 5. Mai 1945 trafen noch nie ge5 Uhr früh wird die Kellertür aufgesto- sehene schwarze Soldaten in Schönow ßen Der erste Russe mit Pistole, schnurr- ein, „Camel“ rauchend und „ Chewing bärtig, auf Deutsch: „ Alles raus, Arme Gum“ kauend. Sie quartierten sich in hoch. Keine Angst!“ Draußen berittene der Goethestraße bei meiner Tante bis Kosaken mit hohen Mützen, Panjewagen, etwa Ende Juni ein. Offenbar klappte Lkw, Soldaten zu Fuß. Hunderte, Tau- die Abstimmung über die Besatzungssende waren nur das Vorkommando. Von zonen noch nicht ganz. Einer meiner diesen nur Fragen, wie: „Du Nazi? Wo Onkel fungierte als Dolmetscher, da er Fahrräder? Wie weit Berlin? Uri-Uri her!“ gute Sprachkenntnisse hatte. Die Kinder Wir mussten sofort für die Offiziere bekamen seltene Süßigkeiten, Männer des Vorkommandos ein Zimmer be- was zu rauchen. Gerd Lubig, Bernau, OT Schönow reitstellen, misstrauische Wachposten


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Freitag, 8. Mai 2015

Unheimlicher Kriegsmüll Als 15-Jähriger hat Bernhard Lehmann in seinem Heimatort unzählige Minen entschärft. Er wäre dabei fast in die Luft gesprengt worden Der Krieg war beendet, aber die hinterlassenen Schäden und Gefahren im Ort zeigten sich für die Bewohner von Vogelsang erst mit der Rückkehr von der Flucht. Ich werde es wohl nie mehr vergessen, wie fürchterlich der Ort in den ersten Tagen nach Kriegsende aussah. Es waren nicht nur die vielen zerstörten Gebäude und die mit Schützengräben durchzogenen Flächen, die mich erschütterten. Vielmehr war es der unvorstellbare, grauenhafte Anblick der vielen, bis zur Unkenntlichkeit zugerichteten Toten und der Gestank der Kadaver. Der Verwesungsgeruch lag noch lange über dem Ort. Besonders gefährlich aber waren die vielen, noch im Boden liegenden Minen. Meine Mutter und ich – damals 15 Jahre alt – fanden nach der Rückkehr von der Flucht nur noch einen Trümmerhaufen vor. Haus und Nebengebäude waren zerstört und der Hof mit Schützengräben durchzogen. Erhalten war nur noch der Keller, in den ein Schützengraben führte. So mussten wir vorerst in Fürstenberg (Oder), einem Stadtteil des heutigen Eisenhüttenstadt, wohnen. Mein Vater blieb im Krieg vermisst. In Fürstenberg wurde die Bevölkerung laufend zu Arbeitseinsätzen aufgerufen. Meistens ging es dann zum Schippen an den Oderdamm. Eines Tages führte uns

etwas zurückgetreten, hätte sie mich erwischt. Vor Aufregung konnte ich sie nicht mehr entschärfen, mein Onkel machte das. Die Kästen stapelten wir am Giebel seines Stallgebäudes. Ihre Zünder aber lagerten wir abseits und getrennt von ihnen; denn eine versehentliche Auslösung eines dieser kleinen Sprengkörper – und der ganze Stapel wäre in die Luft geflogen. Ich überlegte, wie wir sie unschädlich machen könnten und schlug vor, sie zu sprengen. Hierzu bräuchten wir aber einen Zugdraht und fanden ein längeres Feld-Fernsprechkabel. Um einen Pfahl herum stellte ich vorsichtig alle Zünder. Darüber legte ich das Zugkabel mit einer Schlinge. Beim Zusammenziehen sollten sich die Zünder gegenseitig pressen und explodieren. Jetzt gingen wir im unmittelbar benachbarten Wohnhaus der Familie Kurtz in Deckung. In der Vorderfront war ein großes Loch zum Keller geschlagen, in das ein Schützengraben führte. Bis dorthin legte ich vorsichtig das Kabel. Ich zog mit einem kräftigen Ruck und warf mich zum Schutz hinter die Kellerwand. Die Explosion war ohrenbetäubend. Solche Detonationen waren öfter im Ort zu hören. Sie lösten bei den Bewohnern Schrecken aus. So kam auch eine Frau aufgeregt zu uns und rief, ob denn wieder einer auf eine Mine getreten sei.

Auf „Hitler nicht gut“ erwiderte der Russe „Stalin auch nicht gut“

Jungs spielten mit Granaten und warfen sie zum Fischen ins Wasser

ein Offizier der sowjetischen Stadtkommandantur Richtung Vogelsang. Dort sah ich viele querliegende Bäume. Es war eine noch nicht beseitigte deutsche Panzersperre. Das Hindernis konnte nicht beräumt werden, weil darunter Minen lagen. Wir bekamen den Auftrag sie zu entfernen. Sie waren deutscher Bauart, bestanden aus Stahlblech und hatten eine rechteckige Kastenform von etwa 50 Zentimetern Länge. Sie waren für schwere Fahrzeuge, wie Panzer und gepanzerte Fahrzeuge bestimmt und für uns weniger gefährlich. Wir beseitigten sie und lagerten sie abseits der Straße. Es musste aber geprüft werden, ob seitlich der Sperre noch weitere lagen, die ein Umfahren des Hindernisses verhindern sollten. So war es dann auch. Auf dem Hof des angrenzenden Grundstücks Schmädicke entdeckten wir sowjetische Schützenminen, mit denen ich später noch zu tun haben sollte. Wir entschärften sie und dachten, dass unser Einsatz nun beendet sei. Doch er ging weiter. Der sowjetische Offizier führte uns in Richtung Vogelsang, gleich hinter der ersten Kurve rechts zu einem großen Minenfeld, wo heute die Kiesgruben sind. Oft ging ich zu Fuß nach Vogelsang, um unser Grundstück zu enttrümmern. Eines Tages kam ein sowjetischer Soldat zu mir. Als er mich beim Abputzen von Ziegelsteinen sah, sagte er: „Wenn fertig – dann du tot!“ Diese Worte waren für mich nicht gerade anspornend. Aber unser Haus wurde mit diesen Steinen wieder aufgebaut und ich lebe noch! Ich sagte ihm, was alle Russen verstanden: „Hitler nicht gut!“ Er erwiderte in bemerkenswerter Weise: „Sta-

Wir beruhigten sie. Wie ich später erfuhr, hat mein Onkel in seinem großen Garten weitere Minen gefunden und sie selbst entschärft. Es sollen 146 Stück gewesen sein. Seinem Garten gegenüber befand sich noch ein weiteres langes Minenfeld in einem Roggenfeld, das über lange Zeit nicht gemäht werden konnte. Ich sah, wie es Monate später deutsche Kriegsgefangene beräumten. Sie waren es auch, die unsere entschärften Minen mitnahmen und später sprengten. Einer dieser Soldaten soll durch einen Sprengkörper so zerrissen worden sein, dass Körperteile bis auf einen Baum hinauf geschleudert wurden. Die Minenräumung war für uns sehr gefährlich und wir hätten sie auch nicht durchführen dürfen. Aber wer nahm schon darauf Rücksicht? Alle aus dem Dorf waren durch Minen, Blindgänger, Munition und Handgranaten gefährdet. Jungs spielten damit und gefährdeten dabei sich und andere. Einmal sah ich, wie sie mit Granaten in der Oder fischten. Sie warfen sie ins Wasser und sammelten die bei der Explosion getöteten Fische ein. Sie hatten das bei sowjetischen Soldaten gesehen. Wir haben uns in unserem abenteuerlichen Unternehmen in der Not selbst geholfen, aber auch dazu beigetragen, unseren Ort schnell von diesem Teufelszeug – den Minen – zu befreien. Eine solche Gefahr darf es nie wieder geben. Deshalb schließe ich mich der weltweiten Forderung nach Ratifizierung des Abkommens zum Verbot der Land- und Personenminen an, mit dem Vermächtnis: „Nie wieder Krieg !“ Bernhard Lehmann, Vogelsang

Die Gefahr bleibt: Heute werden Minensucher mit Metalldetektoren und Schutzanzügen ausgerüstet. Bernd Lehmann hatte von all dem nichts, als er vor 70 Jahren in Vogelsang nach Minen suchte. Foto dpa/Frank May lin auch nicht!“ Ich setzte meine Arbeiten auf dem Grundstück fort und entdeckte im Garten eine sowjetische Panzermine. Da ich diesen Typ kannte, entschärfte ich sie gleich. Von meinem Einsatz erfuhr mein Onkel, Otto Bock. Er sagte, ich solle ihm doch mal das Minenentschärfen zeigen. In seinem Garten lägen auch so viele und er wolle ihn doch umgraben. Unser jetzt zu räumendes Minenfeld erstreckte sich längs von Bocks Garten und wurde vermutlich von den Sowjets zum Schutz ihrer Flanke angelegt. Wie ich erfuhr, war das Grundstück zuvor von deutschen Soldaten besetzt. Nun begannen wir mit der Räumung des Feldes. Wir fanden zunächst sowjetische

Panzerminen, die ich schon kannte. Ich kratzte sie vom Sand frei und zeigte meinem Onkel, wie man sie entschärft. Bei unserer Arbeit entdeckten wir zu unserem Schreck auch noch sowjetische Schützenminen. Diese Art von Mine war sehr gefährlich. Sie ähnelte einer Zigarrenkiste und explodierte schon bei geringer Last. Deshalb war beim Freilegen und Entschärfen aufzupassen, dass ihr Zünder nicht belastet wurde. Als ich wieder einmal bei der Arbeit war, schrie mein Onkel: „Junge bleib stehen, hinter dir eine Schützenmine !“ Ich erschrak, drehte mich um und sah, dass sie nur kurz hinter meinem Fuß lag. Sie war im Boden kaum zu sehen. Wäre ich nur


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