Brecht mmh 10022018

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„Mein Brecht“

„Mein Brecht“

Vor 120 Jahren, am 10. Februar 1898, wurde in Augsburg einer der einflussreichsten deutschen Dramatiker, Librettisten und Lyriker des 20. Jahrhunderts geboren. Wir haben Künstler und Wissenschaftler, die sich mit ihm beschäftigen, danach gefragt, wie sie ihn für sich entdeckt haben – und was sie persönlich mit seinem Werk verbindet / Zusammengetragen von Stephanie Lubasch Thomas Thieme, Schauspieler Foto: SWR

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Oliver Reese, BE-Intendant Foto: Jonas Holthaus

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ein Brecht“ geht zurück auf meine Zeit als Jugendlicher im westfälischen, kunstfernen Elternhaus – im Radio hatte ich Probenmitschnitte seiner Arbeit am „Kaukasischen Kreidekreis“ auf Kassette aufgenommen, die Auseinandersetzungen der beiden extrem unterschiedlichen Stimmen – dem scharfen, ironischen Schauspielerton des Ernst Busch gegenüber dem weichen, liebevoll beschreibenden Regisseur Brecht – hat mich hoch fasziniert. Diese Aufnahmen waren wohl eine der ersten Berührungen, die ich als Schüler mit dem Theater überhaupt hatte. Sie haben mich unheimlich neugierig gemacht – und den Tonfall habe ich bis heute akkurat im Ohr. 40 Jahre später haben wir dann meine Intendanz am Berliner Ensemble, Brechts früherem Theater, tatsächlich unter anderem mit dem „Kaukasischen Kreidekreis“ eröffnet. Die Probenmitschnitte kann man in unserem Foyer anhören … Der Theaterregisseur, Dramaturg und Autor Oliver Reese ist seit dieser Spielzeit Intendant des Berliner Ensembles.

„Der Rauch“ Das kleine Haus unter Bäumen am See Vom Dach steigt Rauch Fehlte er wie trostlos dann wären Haus, Bäume und See.“

Tino Eisbrenner, Musiker Foto: promo

ertolt Brecht hat mein Schauspielerleben ganz wesentlich geprägt. Ich komme ja von der Staatlichen Schauspielschule in Ost-Berlin, der heutigen „Ernst Busch“. Dort lief alles im Geiste Brechts, und wir waren streng an seinem Verfremdungseffekt trainiert. Wenn man jedoch streng nach einer bestimmten Methode ausgebildet wurde, wirft man das anschließend erst einmal weg. Nach der Schule haben mich eher US-amerikanische Filme, Schauspieler wie Marlon Brando, geprägt. Das fand ich geiler, sinnlicher. Letztlich habe ich dann versucht, beide Methoden – also das Method Acting nach Lee Strasberg und Brecht – zusammen zu kriegen. Daraus ist meine eigene Methode entstanden: Mit der trockenen, intelligenten Art, die die Brecht’sche ist, lese ich den Text – um ihn dann nach der Art Strasbergs zu spielen. In diesem Jahr werde ich 70. Wenn es objektiv zuginge, würde Brecht ewig überleben. Aber wenn ich sehe, was mit unserer Sprache passiert, denke ich, dass Brecht in 50 Jahren weg ist. Da versteht ihn in seiner Dialektik keiner mehr. Sätze wie „Was ist der Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank“. In unseren alltäglichen Gesprächen findet so was nicht mehr statt. Von Klassik wird ja nur noch in der Schule geredet. Selbst Leute wie Heiner Müller, Einar Schleef – deren Bücher sind wie mit Stacheldraht umwickelt. Sie sind schon fast vergessen. Ein Schicksal, das Brecht auch droht. Aber es wäre ein großer Verlust. Thomas Thieme („Kundschafter des Friedens“, „Das Leben der Anderen“) tourt seit mehreren Jahren mit den BrechtProgrammen „Baal“ und „Das Leben des Galilei“ durch Deutschland.

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r war mir das erste Mal in der Schule begegnet. Es ging um die Interpretation eines selbst ausgewählten Gedichtes. Im Bücherschrank meiner Mutter fand ich ein InselBändchen mit Balladen und Gedichten von Bertolt Brecht. Eines zog mich sofort in den Bann:

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Gern auch mit Zigarre: Bertolt Brecht (1898–1956). Zu den 48 Dramen, die er verfasste, gehören die „Dreigroschenoper“, „Die Mutter“, „Leben des Galilei“, „Der gute Mensch von Sezuan“ und „Mutter Courage und ihre Kinder“. Daneben verfasste er Prosa, Hörspiele und Gedichte wie die „Buckower Elegien“ und setzte das von ihm begründete „epische Theater“ um. Foto: dpa/SWR/Bertolt Brecht-Archiv

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ie Kunst als Spiel, die Sprache als Spiel, das Leben als Spiel und als Gesellschaftsspiel das Ich. Wenn Wirklichkeit und Fiktion nicht mehr unterschieden werden oder die Fiktion mit Macht Geltung beansprucht, dann betritt der Unmensch die Bühne – unter den Masken des Ideologen, des Frömmlers, des Dogmatikers, des Priesters, des Trommlers, des Führers als des Verführers. Sie alle haben keine Gesichter mehr. Wie alle Fanatiker kennen sie nur eine Realität, die ihre. Sie verkaufen sie ihren willigen Vollstreckern teuer unterm Label der Echtheit, getarnt im Sonderangebot, als die allgemein gültige Ware, und bitten sie dann an die Urne, frei zu wählen. Urnen sind auch Grabbehälter. Sie kennen keinen Spaß. Ihre einmal erworbene Überzeugung gilt ihnen als Treueschwur. Die Hartnäckigkeit ihrer Versicherung beansprucht Herrschaft, bis kein Gras mehr wächst und das Chaos sich aufgebraucht hat. Es wäre die beste Zeit gewesen.

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Alles ändert sich, folglich gilt: alles braucht Änderung. Das Sichere ist nicht sicher, und noch nicht einmal das ist sicher. So in etwa verstehe ich Brecht und hoffe, missverstanden zu werden. Er wird uns nicht loslassen. Brecht auf! Jan Knopf ist Literaturwissenschaftler und Leiter der Arbeitsstelle Bertolt Brecht am Karlsruher Institut für Technologie. Er hat mehrere Bücher zu Brecht herausgegeben. 2012 erschien bei Hanser seine Biografie „Bertolt Brecht. Lebenskunst in finsteren Zeiten“.

Jan Knopf, Literaturwissenschaftler Foto: dpa

ie vielen Brecht-Texte, ist das riesig fade. Am Abend die ich bis jetzt spre- sagt man: mit mir geht’s nach chen und lesen durfte, oben / und vor es Nacht wird, zeichnen sich stets durch einen liegt man wieder droben. Der besonderen Geist, Witz und Mensch lebt durch den Kopf Pointenreichtum aus. / der Kopf reicht ihm nicht Anmut sparet nicht noch aus / versuch es nur, von deiMühe, Leidenschaft nicht noch Verstand, dass ein gutes Deutschland blühe / wie ein andres gutes Land. Gottseidank geht alles schnell vorüber, auch die Liebe und der Kummer sogar. Wo sind die Tränen von gestern Abend? Wo ist der Schnee vom vergangenen Jahr? Wer hätte nicht gern einmal Recht bekommen / doch die Verhältnisse, sie sind nicht so. Die Welt ist arm, der Mensch ist schlecht da hab’ ich eben leider recht! Thomas Harms, Schauspieler Und das ist eben schade / das Foto: Marlies Kross

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ie ich Brecht für mich entdeckt habe? Das war so: Lange, bevor ich überhaupt den Wunsch hatte, Schauspielerin werden zu wollen, bin ich in der 7. Klasse „auffällig“ geworden. Meine Deutschlehrerin meinte, ich könne sehr gut Gedichte sprechen und empfahl unserer Direktorin, mich künftig in der Aula bei allen großen Anlässen rezitieren zu lassen. Das tat meine Direktorin auch. Ein dem Anlass entsprechendes Gedicht sollte ich mir selbst aussuchen. Den schlau durchdachten Auftrag zu realisieren, erforderte viel Zeit. Ich las Gedichte über Gedichte von Fürnberg, Kuba, Preißler … Endlich sprang ein Funke über – im Bücherregal meines Vater stieß ich auf Brecht-Gedichte. Die knappe Sprache, klar und konkret auf den Punkt gebrachte Gedanken, der listige Humor, der durchschimmerte, die dialektischen Wendungen – das gefiel mir auf Anhieb. Von Stund an rezitierte ich zu jedem Anlass nur noch Brecht-Gedichte. Anlässlich

nem Kopf lebt höchstens eine Laus. Man merkt’s, hier ist zu lang kein Krieg gewesen. Die Menschheit schießt ins Kraut. Ich kann mir keine Texte merken. Neulich hab ich mir doch eine Zeile gemerkt: „We have no Bananas“. Ich bin also optimistisch mit meinem Gedächtnis. So was hätt’ einmal fast die Welt regiert! Die Völker wurden seiner Herr, jedoch dass keiner uns zu früh da triumphiert – der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch! Thomas Harms spielte am Staatstheater Cottbus u.a. den Advokaten in „Herr Puntila und sein Knecht Matti“ und ist aktuell in „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“ als Manuele Giri zu sehen.

dem sie sich nützten, und hatten ihn Also verstanden.“ Ich hatte den Eindruck, diese Gedichtwahl stieß damals nicht bei allen auf Gegenliebe. Meine Liebe zum Dichter Brecht war erwacht. Wenige Zeit später durfte ich am Berliner Ensemble über viele Jahre einige seiner schönsten Frauenrollen spielen. Nach der Maueröffnung veränderte sich die Zusammensetzung des Publikums. Die Zuschauer reagierten an anderen Franziska Troegner, Schauspie- Stellen, als wir es gewohnt walerin Foto: promo ren. Es war nicht zu überhören, wie aktuell der Dichter unter der Einweihung des kolossa- den veränderten gesellschaftlen Lenin-Denkmals am Berli- lichen Verhältnissen geworner Leninplatz (heute Platz der den war. Vereinten Nationen) wählte ich „Die Teppichweber von Kujan- Die Berliner Schauspielerin Bulak ehren Lenin“. Franziska Troegner („Charlie Im Gedicht geht es darum, und die Schokoladenfabrik“) dass in einer kleinen Ortschaft gehörte ab 1976 insgesamt 18 ein vorgesehenes Lenin-Denk- Jahre lang dem Berliner Ensemmal nicht errichtet wird, son- ble an, wo sie Hauptrollen in dern das dafür vorgesehene Brecht-Stücken wie „Mutter CouGeld zur Stechmückenbekämp- rage und ihre Kinder“ (Stumme fung verwendet wird. Das Ge- Kattrin), „Dreigroschenoper“ dicht endet mit dem Satz: „ ...So (Polly Peachum) und „Der kaunützten sie sich, indem sie Le- kasische Kreidekreis“ (Grusche nin ehrten und Ehrten ihn, in- Vachnadze) spielte.

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ft werde ich mit leicht genervten Stimmen konfrontiert, die BB in die Vitrine eines Museums für vergangene, abgelaufene Autoren stellen wollen. Sicher gibt es hie und da den einen oder anderen Staubpartikel, und doch bleibt er heutig, gültig und wahrhaftig. In unterschiedlichsten privaten und gesellschaftlichen Zusammenhängen bleibt festzustellen: Brecht hat Recht. Der Schauspieler Tilo Nest ist seit dieser Saison festes Mitglied des Berliner Ensembles. Als „Azdak“ ist er ebendort unter der Regie von Michael Thalheimer in Brechts „Kaukasischem Kreidekreis“ zu sehen. Zuvor spielte er u. a. in

Tilo Nest, Schauspieler Foto: privat Brechts „Dreigroschenoper“, „Mutter Courage“ und „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“.

enn ich an Brecht denke, fällt mir so viel ein. Schließlich war er es, der mich zu meinem Beruf gebracht hat. Schon in meiner Schulzeit bin ich gern ins Theater gegangen, ins Deutsche Theater und ins Berliner Ensemble, wo ich seine Stücke gesehen habe. Als ich selbst Schauspieler werden wollte, bewarb ich mich an der Leipziger Hochschule mit Szenen aus seinem „Leben des Galilei“ – und wurde genommen. Dummerweise kam ich später vom Weg ab, weil ich Mitglied der Band Jessica wurde. Die nächste Station mit Brecht war für mich dann die Wendezeit: Mit dem kritischen, sehr unangepassten Brecht konnte man in der DDR viel sagen – da konnte sich ja keiner drüber beschweren. In der Nachwendezeit hat er mir dann geholfen, den Kapitalismus zu begreifen. Und als ich ins Alter gekommen bin, wo man sich Gedanken darüber macht, was man an die nächste Generation weitergeben möchte, habe ich festgestellt, dass Brecht in unserem Bildungssystem keine große Rolle mehr spielt. Also wollte ich, obwohl ich ja immer schon Brecht-Programme gemacht habe, ihn sogar in New York präsentieren durfte, mit ihm noch mal in die Offensive gehen, ihn auch wieder in die Schulen bringen. Das Wunderbare an ihm ist ja, dass man immer das Gefühl hat, als habe er die Sachen gerade erst geschrieben. Eines meiner Lieblingszitate von ihm: „Wer A sagt, muss nicht B sagen. Er kann auch sagen, dass A falsch war.“ Der in Rüdersdorf (MärkischOderland) geborene Musiker Tino Eisbrenner hat sich als Brecht/Weill/Eisler-Interpret über die Landesgrenzen hinaus einen Namen gemacht.

Eberhard Görner, Autor und Filmemacher Foto: T. Berger

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u Brecht hatte ich schon immer ein sehr intensives Verhältnis. Schon als Student habe ich seine wunderbaren Stücke am Berliner Ensemble bewundert. Als ich 1991 als Gastprofessor an der University of California Long Beach in Los Angeles weilte, besuchte ich auch die Villa Aurora von Lion Feuchtwanger. Seine Sekretärin zeigte mir die Bank, auf welcher Feuchtwanger und Brecht in ihrem USAExil saßen und darüber nachdachten, ob sie nach dem Sieg über Hitler-Deutschland in ihre Heimat zurückkehren sollen. Wenn man selbst dort sitzt, bekommt man ein Gefühl dafür, was das heißt: Fremder in der Nacht. Als ich am BE zu DDR-Zeiten die „Dreigroschenoper“ von Brecht mit dem grandiosen Wolf Kaiser sah, war das ein Bild einer kapitalistischen Gesellschaft, die für mich historisch weit weg war. Jetzt ist sie wieder Gegenwart. Da kommt man schon ins Grübeln über die Vernunft von Geschichte. Deshalb hält mich die Warnung von Brecht wach: „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch!“ Der Eberswalder Filmemacher Eberhard Görner lässt sich bis heute von Brecht inspirieren.

Ich hatte mich mit Lyrik noch nicht so richtig angefreundet. Überhaupt spielte Literatur in meiner gerade überschäumenden Pubertät keine große Rolle. Mein Wortschatz war aufs Wesentliche reduziert. Vielleicht war das der Auslöser, als ich das Gedicht las. Die Reduktion, die Schärfe der Worte und der Rhythmus gefielen mir. Keine Schnörkel und kein Zuckerguss, sondern klare Zeilen, zwischen denen ich lesen konnte. Später besuchte ich seine Stücke, fuhr in das „kleine Haus am See“, zeichnete meine ersten Entwürfe zu den Balladen, die mich nicht mehr losließen und versuchte, Brecht zu verstehen. Bis heute hat sich das nicht geändert. Ich glaube, es liegt an der Bildergewalt seiner Gedichte. Der in Falkenberg (Märkisch-Oderland) lebende Zeichner Matthias Friedrich Muecke bekam für sein Buch zu Bertolt Brechts „Surabaya-Johnny“ 2013 den BrandenburgiMatthias F. Muecke, schen Kunstpreis in der Kategorie Grafik Zeichner Foto: Matthias Lubisch zugesprochen.

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ch kenne kaum einen Autor, der sich so sehr um die Veränderbarkeit des Menschen und die Notwendigkeit dazu verdient gemacht hätte wie Bertolt Brecht. Wenn wir ihm Glauben schenken dürfen, ist die Welt noch zu retten. Dieses Vermächtnis ist natürlich nicht jahreszeitbezogen und wird hoffentlich auch die Zeiten überdauern. Dass er fragmentarisch gelesen werden kann und außerdem weitergedacht werden soll und muss, stammt von ihm selbst. Ein weiterer Aufruf an die, die seine Texte gebrauchen, der mir Respekt abverlangt. Und nebenbei, er ist mir, gerade was den Gebrauch auf der Bühne angeht, näher als Heiner Müller, da er immerhin Theater erzwingt. Ich wünsche Brecht zum Geburtstag, dass er sich aus den Zwängen der ideologischen Instrumentalisierung befreien kann, um ihn auch weit nach dem Zusammenbruch des Ostblocks wieder neu lesen zu können. Hier in Cottbus habe ich 1994 sein Stück „Baal“ mit Tänzern auf die Bühne gebracht. Es war eine sehr inspirierte Arbeit, die zur Disposition stellte, was der Brechttext bei mir und den Darstellern bewirkte, wie er unsere schöpferische Kraft befreite. Diese Arbeit zeigte, wie wir den Text für unsere Entwicklung nutzen konnten und nicht, wie gut wir ihn gelernt hatten. Aber was könnten wir heute noch von Brecht lernen? Vielleicht: wie man dialektisch denkt und wie man dieses Denken kritisch gegen sich selbst auszurichten vermag. Der Platz für all seine schwierigen Seiten ist an dieser Stelle zu sehr begrenzt. Der Regisseur, Bühnenbildner, Lichtdesigner und Autor Jo Fabian ist seit Beginn der Spielzeit 2017/2018 Schauspieldirektor am Staatstheater Cottbus.

Jo Fabian, Regisseur und Schauspieldirektor Foto: Marlies Kross

Bildgewaltige Gedichte: Seite aus „Surabaya-Johnny“ (2013), originalgrafisches Buch von Matthias Friedrich Muecke nach einem Text von Bertolt Brecht

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ür mich, die ich in der DDR aufgewachsen bin, war Brecht immer präsent. Lange vor meiner Deutschlehrerin an der Oberschule wurde er uns in der Grundschule beigebracht. Bis heute liebe ich das kleine Kinder-Gedicht „Die Vögel warten im Winter vor dem Fenster“ mit der wunderschönen Zeile: „Sperling komm nach vorn, Sperling, hier ist dein Korn. Und besten Dank für die Arbeit.“ Unsere Schulchöre hatten das „Einheitsfrontlied“, das „Solidaritätslied“, die „Bitten der Kinder“, das „Aufbaulied der FDJ“ und die „Kinderhymne“ im Repertoire. Natürlich war das in diesen Zeiten ein recht einseitiger Brecht, mit erhobener Faust als von den Funktionären am meisten geliebt. Der junge, der Antibürger, der sinnliche, oder gar erotische fehlte natürlich. Reduzierung fand freilich auch im

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eine erste künstlerische Begegnung mit einem Text von Brecht war tatsächlich erst „Der kaukasische Kreidekreis“, mit dem wir am Berliner Ensemble im Herbst 2017 Premiere hatten. Davor hatte ich natürlich Stücke von ihm gelesen, aber ich kam nie in den Genuss, sie auch zu spielen. Speziell beim Kreidekreis hat mich diese unglaubliche Geschichte über den Mut und die Stärke dieser Grusche überrascht und berührt. Das ist so modern wie diese Frau geschrieben ist, wie willensstark und selbstlos sie durch die Welt geht und ihr eigenes Wohl hintenan stellt. Brecht schafft es, „die kleinen Menschen“ in „ganz große Geschichten“ zu setzten, sie damit dem Unmöglichen auszusetzen, und dadurch können sie wachsen, scheitern, hinfallen und wieder aufstehen. Als Gegenpol beschreibt Brecht dann den Richter Azdak, in dem wir heute natürlich auch ein Bild für Korruption, Machtmissbrauch, Rechtswillkür sehen können, und das ist in unserer Gegenwart genauso aktuell und wichtig zu erzählen wie damals. Das Kind, das Grusche durch den Abend trägt, steht für mich heute für Demokra-

Westen statt, dort gern mit dem anderen Vorzeichen des Antibürgerlichen, das er bekannterweise grandios besetzt hatte in der „Hauspostille“ und anderen frühen Sammlungen. Ja, und heute haben Fundamental-Feministinnen und pseudofeministische Männer eben den Frauenhasser Brecht entdeckt. Größter Blödsinn vielleicht von allen Einseitigkeiten, mit denen gegen einen der größten deutschen Dichter vorgegangen wurde und wird. Aber den kleinzukriegen, da muss man halt sehr früh aufstehen. Brecht ist für mich der Dichter geblieben und hat meine gesamte Bühnenarbeit geprägt, seit meinem ersten BrechtAbend 1982. Plätze, Brecht zu zeigen, gibt es immer noch, jedenfalls, wenn man nicht reich werden will. Er ist ja aktueller denn je und von der Zeit eingeholt worden, sicher zu seinem und gewiss meinem Leid-

tie, für Europa, für die Hoffnung auf ein friedliches Miteinander, und genau deshalb muss man diesen Text auch heute spielen und für Zuschauer sinnlich erfahrbar machen. Es ist ein großes Geschenk, sich diesem Autor und seinen Geschichten auszuliefern. Michael Thalheimer, der Regisseur des Abends, hat uns Spielern als Leitmotiv durch den Abend den wunderbaren Satz gesagt: „Die Frage ist nicht mehr nur: Wem gehört das Kind? Die Frage ist: Wem gehört die Welt?“ Die österreichische Film- und Theaterschauspielerin Stefanie Reinsperger ist derzeit am Berliner Ensemble engagiert, wo sie in Brechts „Der kaukasische Kreidekreis“ als Magd Grusche Vachnadze zu sehen ist.

Gina Pietsch, Musikerin Foto: Karl-Heinz Arendsee wesen. Daraus erwachsen sind die Bedürfnisse nach künstlerischer Bestätigung von Unzufriedenheit mit Lebensverhältnissen, sprich, der größer werdenden Schere zwischen Arm und Reich. Die damit verbundene Zunahme von Neofaschismus ist deutlich spürbar. Gerade Brecht wird da wieder gebraucht, denn seine Faschismusreflexionen gehören

sicher zu den prägnantesten, die die deutsche Literatur hervorgebracht hat. Und um nicht stehen zu bleiben bei der Historie, ist für uns und unser Publikum alles interessant, was sich mit heutiger Sprache und Gedankenwelt anschließt an die Fragen der Zeit. Und es gibt keine Frage der Zeit, die der Klassiker Brecht nicht in überragender, oft prophetischer Weise behandelt hat. Das hat Ursachen: Schon in frühester Zeit gezielt für die Emanzipation der Unteren schreibend, den Krieg hassend schon als Gymnasiast und später mit einer Jüdin verheiratet, trieben ihn die Nazis durch sieben Länder. Was jeder ins Exil Getriebene heute empfindet, in Brechts Texten steht es zu lesen. 13 Jahre war er Ausländer und fühlte sich auch so. Ausgewiesen aus diesem Land, wo er ungern war, Amerika, will

die den Sinn verstehen, das Handwerk beherrschen und sich den Autoren mit Demut nähern. Demut diesem gegenüber, hätte er selbst vielleicht gar nicht gern. Aber, nun 120 geworden und geblieben einer der größten Dichter, Lyriker und Theatermacher Deutschlands, weltberühmt, mit einer Hinterlassenschaft von 48 Dramen und 50 Dramenfragmenten, 2300 Gedichten, Romanen, Geschichten, sowie wesentlichen Werke zur Theorie des „epischen Theaters“, hätte er es verdient. Die Sängerin und Schauspielerin Gina Pietsch hat von ihren rund 70 Soloabenden knapp die Hälfte Brecht gewidmet. Über ihre Liebe zu dem Dramatiker schreibt sie auch in ihrer gerade im Verlag Neues Leben erschienenen Autobiografie, „Mein Dörfchen Welt“.

Ballade von den heutigen Mackies und der Welt Und die Mackies gibt’s noch immer haben mächtig sich vermehrt. Sind in allen hohen Ämtern dieser Welt und sehr begehrt. Ach die Dummheit ist so einfach faul und immer angenehm. Und die Wahrheit ist oft hässlich schwierig und meist unbequem. Und das Volk ist so wie immer wütend, doch ganz unbelehrt. Trottet unbeirrt zur Schlachtbank und ist wieder mal nichts wert. Heut steht keiner mehr im Dunkeln doch was nützt das ganze Licht. Vieles kann man heut’ erkennen aber ändern kann man nichts.

Stefanie Reinsperger, Schauspielerin Foto: K. Poblotzki

ihn auch in Europa niemand haben. Einziges Angebot für Arbeit und Leben macht ihm die sowjetische Besatzungszone und lässt ihn ab dem 22. Oktober 1948 miterleben und mitgestalten das Experiment DDR, von ihm genannt, seine „Mühen der Ebenen“. All dieser sehr modernen Erfahrungen wegen fiel es mir nie schwer, meine mittlerweile 33 Brecht-Abende und 375 Titel im Repertoire mit diesem „gesellschaftlichen Gebrauchswert“ auszustatten. Da ich über die vielen Jahre der Beschäftigung mit Brecht einiges über ihn weiß, traue ich mich mittlerweile auch, ihn auf der Bühne in meiner eigenen Weise zu sagen. Mein wichtigster Lehrer, Ekkehard Schall, hat mich damals dazu ermutigt, und heute sage ich meinen Schülern, es gibt für jeden Song so viele Interpretationsmöglichkeiten wie Menschen,

Foto: Soeren Stache

Maxi Pincus-Pamperin ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Brecht-WeigelHaus. Bereits seit ihrer Kind-

Margret Brademann, Leiterin des Brecht-Weigel-Hauses

Das Brecht-Weigel-Haus in Buckow: Bertolt Brecht und Helene Maxi Pincus-Pamperin, wis- Weigel hatten den Ort 1952 als Sommersitz ausgewählt. Heute ist er Gedenkstätte. Fotos: Thomas Berger, MOZ/Gerd Markert senschaftl. Mitarbeiterin heit schreibt sie Gedichte – hier hat sie Brechts „Moritat von Mackie Messer“ aus der „Dreigroschenoper“ neu gefasst.

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n den vielen Jahren der Beschäftigung mit Brechts Werk ist es mir gelungen, viele Künstler und Autoren in Workshops, Aufführungen und Gesprächen zu inspirieren, Brechts Werk aus

ihrer eigenen Perspektive zu reflektieren (Pleinairwochen KÖzwölf bei Brecht seit 2007, Chansonwerkstätten, Schreibwerkstätten für Studenten und Schüler, Studentenpraktika ....). Dabei sind für mich Begriffe wie KUNST, GENUSS, VERGNÜGEN, VERANTWORTUNG, LEBENSKUNST zu Leitbildern geworden. Das folgende Brecht-Zitat aus dem

„Leben des Galilei“ ist der Maßstab meines Lebens und meiner Arbeit: „Das Denken gehört zu den größten Vergnügungen der menschlichen Rasse.“ Die Diplom-Historikerin und Museologin Margret Brademann ist seit 1993 Leiterin des Brecht-Weigel-Hauses in Buckow (Märkisch-Oderland).


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