Himmelsblicke

Page 1

Dieter B. Herrmann

Himmelsblicke Ein Wegweiser durch das Sternenjahr f端r Einsteiger



Dieter B. Herrmann

Himmelsblicke

Ein Wegweiser durch das Sternenjahr f端r Einsteiger

1


Der Autor Dieter B. Herrmann ist habilitierter Astrophysiker und Wissenschaftshistoriker. Er war langjähriger Direktor der Archenhold-Sternwarte Berlin und Moderator der populärwissenschaftlichen Fernsehsendung AHA des DDR-Fernsehens. Seit 2010 trägt ein Kleinplanet den Namen des Autors zahlreicher Publikationen über Himmelskunde und Astrophysik. Das vorliegende Buch basiert auf der Serie »Herrmanns Himmelsblicke« in der Märkischen Oderzeitung (MOZ).

ISBN 978-3-941092-79-2 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. CULTURCON medien Bernd Oeljeschläger Choriner Straße 1 10119 Berlin Telefon 030/34398440, Telefax 030/34398442 Ottostraße 5 27793 Wildeshausen Telefon 04431/9559878, Telefax 04431/9559879 www.culturcon.de Lektorat: Heide Reinhäckel, Berlin Gestaltung: Anne-Kathrin Walter, Berlin Druck: Elbe Druckerei Wittenberg GmbH Berlin/Wildeshausen 2012 Alle Rechte vorbehalten.

2


Inhalt Vorwort

5

Wie die Sternbilder an den Himmel kamen Orientierung am Himmelsdom 9 Sternbilder sind Menschenwerk 11 Konturenbilder komplexer Geschichten Biblische Figuren am Himmel 30 Neue Bilder im Süden 36

Im Kreislauf des Jahres – Mythen, Fakten und Objekte

9

12

44

Winter-Sternbilder 45 Frühlings-Sternbilder 46 Sommer-Sternbilder 49 Herbst-Sternbilder 50 Die zwölf Monate 53 Januar 1 Sternbild des Monats: Fuhrmann 53 Februar 1 Sternbild des Monats: Orion 54 März 1 Sternbild des Monats: Wasserschlange 57 April 1 Sternbild des Monats: Haar der Berenike 58 Mai 1 Sternbild des Monats: Große Bärin 61 Juni 1 Sternbild des Monats: Bärenhüter 63 Juli 1 Sternbild des Monats: Herkules 65 August 1 Sternbild des Monats: Leier 69 September 1 Sternbild des Monats: Schwan 70 Oktober 1 Sternbild des Monats: Andromeda 72 November 1 Sternbild des Monats: Perseus 73 Dezember 1 Sternbild des Monats: Großer Hund 76

3


Der Tierkreis

78

Geschichte und Bedeutung 78 Die Astrologen und der Tierkreis Die Tierkreis-Sternbilder 94

82

Januar 1 Zwillinge (Gemini) 94 Februar 1 Krebs (Cancer) 97 März 1 Löwe (Leo) 99 April 1 Jungfrau (Virgo) 101 Mai 1 Waage (Libra) 103 Juni 1 Skorpion (Scorpius) 107 Juli 1 Schütze (Sagittarius) 109 August 1 Steinbock (Capricornus) 111 September 1 Wassermann (Aquarius) 114 Oktober 1 Fische (Pisces) 117 November 1 Widder (Aries) 120 Dezember 1 Stier (Taurus) 121

Und was kann man sonst noch sehen? Der Mond 124 Die Sonne 127 Die Planeten unseres Sonnensystems

130

Sichtbarkeitsbedingungen der inneren Planeten 132 Sichtbarkeitsbedingungen der äußeren Planeten 134

Seltene Besucher: Kometen 137 Regelmäßige Gäste: Sternschnuppen 140 Die Milchstraße 144 Sonnen- und Mondfinsternisse 145 Halos, Regenbögen, Nachtwolken, Polarlichter und UFOs 161 Halos 161 Regenbögen 162 Nachtwolken 162 Polarlichter 163 UFOs 164

Glossar 166 Literatur 182 Bildnachweis 183 Namens- und Sachregister

4

184

124


Vorwort

Immer mehr Menschen leben heute in Städten. Wenn es abends dunkel wird, beginnen die Stadtlichter zu strahlen und wer den Blick einmal zum gestirnten Himmel lenkt, hat schlechte Karten. Erst wenn der Stadtmensch in den Urlaub fährt, sich im Gebirge oder am Meer entspannt, fallen ihm nachts wieder die Sterne auf. Dann bemerkt er meist betroffen, dass er sie seit langem nicht mehr bewusst wahrgenommen hat und sucht mit Eifer nach dem einzigen Sternbild, das ihm vielleicht in Erinnerung geblieben ist, dem Großen Wagen. Was da oben sonst noch alles flimmert, wer weiß es schon? Eigentlich schade. Viele von uns waren in der ganzen Welt unterwegs, haben sich mit fernen Ländern, ihren Menschen und ihrer Kultur vertraut gemacht, doch das Weltganze, zu dem wir gehören, unsere Heimat im Kosmos, davon sehen und wissen sie wenig. Dieses Buch will Ihnen als anregender Begleiter durch alle Jahreszeiten dienen, sich am Himmel zurecht zu finden. Im ersten Teil erfahren Sie, wie die Sternbilder entstanden sind, wie verschiedene Völker zu ganz unterschiedlichen Zeiten den Himmel mit einem phantasievollen Szenarium verschiedener Figuren überzogen und warum sie dies getan haben. Danach wird der von Monat zu Monat wechselnde Anblick des Himmels nicht nur beschrieben, sondern auch in Sternkarten dokumentiert. Für jeden Monat erhalten Sie eine spezielle Empfehlung, eines der Sternbilder aufzusuchen und besonders in Augenschein zu nehmen. In den meisten Sternbildern gibt es auch interessante Objekte, die nicht immer mit dem bloßen Auge sichtbar sind. Auch sie werden in dem jeweiligen Monatsbeitrag besprochen. Im zweiten Teil des Buches beschäftigen wir uns näher mit den Sternbildern des Tierkreises, die für die Astronomen vergangener Zeiten eine ganz besondere Bedeutung besessen haben. Auch heute noch zählen zumindest die Namen der

5


Tierkreis-Sternbilder zu den bekanntesten überhaupt. Doch das hängt wohl eher damit zusammen, dass die Astrologie ihnen eine Bedeutung für unseren Charakter und unser Schicksal zuschreibt. Auch darüber werden Sie in diesem Buch etwas nachlesen können. Die Stellungen der hellen Planeten, d. h. der mit dem bloßen Auge sichtbaren Wandelsterne Merkur, Venus, Mars, Jupiter und Saturn, fehlen allerdings in unseren Monatsbeschreibungen. Das hat einen ganz einfachen Grund: Sie alle bewegen sich in ganz unterschiedlichen Zeiten einmal um die Sonne und sind daher keineswegs in jedem Jahr zur gleichen Zeit wieder an derselben Stelle des Himmels zu finden. Deshalb widmen wir ihrer Sichtbarkeit im dritten Teil des Buches ein besonderes Kapitel. Auch andere kosmische Phänomene, wie Kometen oder Sternschnuppen, Sonnen- und Mondfinsternisse, sind dort abgehandelt. Wir beklagen heute oft die Lichtverschmutzung unserer Umwelt, die gleißende Helligkeit der großen Städte, die uns daran hindert, den gestirnten Himmel außerhalb eines Planetariums überhaupt noch zu Augen zu bekommen. Doch um einen eindrucksvollen Sternenhimmel zu erleben, reicht es oft schon aus, ein paar Kilometer aus der Stadt hinauszufahren. Ein bekanntes Beispiel aus Brandenburg ist der kleine Ort Herzberg. Hier versammeln sich seit Jahren auf Initiative von Ralf Hofner alljährlich Astroamateure aus ganz Deutschland und dem Ausland zu Teleskop-Treffen. Es ist keineswegs das einzige seiner Art. Die Teilnehmer bringen größere und kleinere Fernrohre mit und fachsimpeln Tage und Nächte lang über deren Verwendung. Bei gutem Wetter wird natürlich auch fotografiert. Dabei entstand so manches Astrofoto, das die Bilder von Profis vor einigen Jahrzehnten durchaus in den Schatten stellt, obwohl diese viel größere Instrumente besaßen. Die moderne Digitalfotografie und die heutigen Möglichkeiten der Bildbearbeitung ermöglichen solche Erfolge. Etliche Bilder in diesem Buch stammen von solchen erfolgreichen Amateuren. Doch warum gerade Herzberg im Land der Schwarzen Elster ? Weil hier besonders gute Beobachtungsbedingungen herrschen und ein prachtvoller Sternhimmel zum Beobachten

6


einlädt, obwohl Herzberg nur rund 80 km südlich von der Lichtbombe Berlin entfernt liegt. Ähnliche Bedingungen finden wir an der Ostsee, im Erzgebirge, in Bayern oder am Bodensee – eigentlich überall im Land, mit Ausnahme der Städte. Es lohnt sich also, in klaren Nächten die Blicke wieder einmal zum Sternhimmel empor zu lenken und in einer Stunde der Besinnung über das Weltganze nachzudenken. Ich hoffe, dass Sie dann diese Himmelsblicke dabei haben und sich von den Empfehlungen in diesem Buch inspirieren lassen. Weil sich aber diese Publikation hauptsächlich der Frage widmet, was wir am Himmel sehen können, ist es natürlich kein AstronomieLehrbuch im eigentlichen Sinn. Auf die Natur der verschiedenen Objekte kann nur im Telegrammstil eingegangen werden. Einige wichtige Begriffe, die im Textteil vorkommen, aber dort nicht näher erläutert werden, finden Sie im Glossar (S. 166ff). Wenn Sie sich rasch über ein bestimmtes Objekt oder Sternbild informieren möchten, schauen Sie einfach in das Sachverzeichnis (S. 185ff), um die entsprechenden Ausführungen im Buch zu finden. Wem das alles nicht genügt, der sei auf die im Anhang angegebene Literatur verwiesen, mit deren Hilfe man in die Probleme der Astronomie noch tiefer einsteigen kann. Zum Schluss noch ein Wort über die Sternkärtchen in diesem Buch. Sie wurden eigens von Stefan Machno angefertigt und dienen dem Ziel, die Sternbilder schnell zu finden, aber sich auch eine Vorstellung vom jeweils gemeinten Bild im Sinne des Wortes zu machen. Dabei haben wir der Phantasie etwas freien Lauf gelassen. Die stilisierten Figuren kann man auf anderen Sternkarten auch in etwas anderer Weise zugeordnet finden. Eine große Rolle spielt das in den wenigsten Fällen, weil die meisten Bilder ohnehin wenig anschaulich sind. Die Schwarz-Weiß-Abbildungen stehen stets in der Nähe des zugehörigen Textes. Wenn im Text auf ein Farbbild hingewiesen wird (z. B. F 1), so findet man dieses im Farbbilderteil in der Mitte des Buches.

7


Die Überblickskarten für die verschiedenen Jahreszeiten sind so zu lesen, dass etwa zur Mitte der Jahreszeit um 22 Uhr der untere Bildrand die Bilder am Horizont in Südrichtung zeigt. Da wir den Himmel hier auf einer Ebene abbilden müssen, sind die Figuren am oberen Bildrand etwa im Scheitelpunkt zu finden. Die halbhohen Bilder stehen folglich etwa 45 Grad über dem Horizont. Das Lesen solcher Kärtchen verlangt eine gewisse Eingewöhnung. Doch anhand der gegebenen Beschreibung dürfte es dennoch leicht möglich sein, die Bilder zu finden. Dieter B. Herrmann, Berlin im November 2011

8


Wie die Sternbilder an den Himmel kamen

Orientierung am Himmelsdom Sternbilder faszinieren die Menschen immer wieder. Ihnen haftet etwas Geheimnisvolles an. Gestalten der griechischen Mythologie bevölkern den gestirnten Himmel und man fragt sich unwillkürlich: Wie sind sie dort hingelangt? Besitzen sie für die heutige Wissenschaft überhaupt noch eine Bedeutung? Oder handelt es sich lediglich um Relikte aus längst vergangenen Tagen, museale Zugeständnisse an romantische Denkweisen unserer Vorfahren? Wer sich genauer mit dieser Frage beschäftigt, wird bald erkennen, dass die Sternbilder in ihrer Gesamtheit so etwas wie ein Trümmerfeld verschollener Geschichten und Vorstellungen längst vergangener Epochen darstellen, wie es der deutsche Astronom Bernhard Sticker (1906 – 1977) einmal formulierte (vgl. Bernhard Sticker: Sternnamen und Welterfahrung. In: ders.: Erfahrung und Erkenntnis. Hildesheim 1976, S. 16). Sie enthalten damit auch Aussagen über die Lebens- und Denkweisen der Menschen in früheren Zeiten. Sternbilder sind ein Teil der menschlichen Kulturgeschichte. Würde die menschliche Erkenntnis nicht von den Erscheinungen der Dinge ihren Ausgang nehmen und erst in einem oft langwierigen Ringen zu ihrem eigentlichen Wesen vorstoßen, so gäbe es vermutlich keine Sternbilder an unserem Himmel. Die Menschen hätten den Himmel vermutlich von Anfang an mit einem wohlgeformten Spinnennetz von Linien überzogen und die nüchternen, aber viel präziseren Koordinaten benutzt, um die Lage der Sterne zu bezeichnen. Doch als die Menschen in grauer Vorzeit anfingen, sich mit dem gestirnten Himmel zu beschäftigen, wussten sie noch nichts über die Sterne. Alles war der Vermutung, der Phantasie und Spekulation überlassen. Nur eines schien klar:

Orientierung am Himmelsdom

9


Alle Sterne befinden sich an der Innenseite einer gewaltigen Kugelschale, in deren Mitte die Erdscheibe mit den Menschen ruht. Der noch heute gelegentlich verwendete Begriff Himmelsdom erinnert uns daran. Dass die Sterne in Wirklichkeit heiße Gaskugeln sind, die ganz unterschiedlich tief im Raum stehen, davon sah und wusste man nichts. Selbst der große Erneuerer der Astronomie Nicolaus Copernicus (1473 – 1543) sah die Sterne noch als Objekte an einer Kugelschale, die das ganze Universum nach außen abschloss. Was dahinter kommen könnte, fragte man nicht. Im Übrigen gewahrte man an den Sternen keinerlei Veränderungen. Sie waren gleichsam der Inbegriff des immer Gleichbleibenden. Auch Bewegungen führten sie offenbar nicht aus, abgesehen von ihrer gemeinsamen Bewegung um die Erde herum. Ihre Positionen zueinander blieben jedoch immer gleich. Deshalb wurden sie auch als Fixsterne (fix = feststehend) bezeichnet. Heute wissen wir, dass die Auf- und Untergänge der Sterne (wie auch der Sonne) auf der Rotation der Erde um ihre eigene Achse im Verlauf von 24 Stunden beruhen. Lediglich der Mond bildet eine Ausnahme. Er bewegt sich binnen rund 29 Tagen einmal um die Erde und zwar entgegen der scheinbaren täglichen Drehung des Sternhimmels von Ost nach West. Die durch die Erdrotation hervorgerufene Himmelsdrehung von Ost nach West überlagert sich dieser Bewegung, so dass der Mond jeweils nach einem Tag rund 40 Minuten später aufgeht, weil er inzwischen ein Stück seines Weges um die Erde zurückgelegt hat. Der wechselnde Anblick des Sternhimmels im Verlauf des Jahres zu gleicher nächtlicher Stunde hat eine andere Ursache: Er beruht auf der Bewegung der Erde um die Sonne in rund 365 Tagen. Das alles wussten die Menschen der Vorzeit natürlich noch nicht. Dennoch mussten sie hinter diesem Wechselspiel das unveränderliche Wesen individueller Sterne sowohl nach deren Helligkeit als auch nach ihrer Stellung erkennen und beschreiben. Andernfalls wären sie hilflos geblieben bei der Erforschung dieser für sie rätselhaften Erscheinungen.

10

Wie die Sternbilder an den Himmel kamen


Der sicherste Weg, dieses Ziel zu erreichen, war die Erfindung der Sternbilder. Insofern ist es auch nicht verwunderlich, dass wir Sternbilder in allen alten Kulturen vorfinden, seien sie auch geographisch noch so weit voneinander entfernt und untereinander ohne jede Verbindung gewesen. Der historisch verwurzelte und verständliche Begriff Fixstern hat sich inzwischen als ganz unzutreffend erwiesen. Beobachtet man die Positionen der Sterne über sehr lange Zeiten hinweg, so bemerkt man eine Eigenbewegung. Dadurch verändern sich auch die Positionen der Sterne zueinander. Dies geschieht allerdings so langsam, dass es für den Anblick des Himmels praktisch keine Rolle spielt – selbst in Jahrtausenden nicht. Würden wir allerdings nach hunderttausend Jahren unsere vertrauten Sternbilder suchen, wären sie kaum wieder zu finden.

Sternbilder sind Menschenwerk Da sich die Schaffung der Sternbilder in einer lange zurückliegenden Vergangenheit abgespielt hat, mutmaßen viele, dass man über den Ursprung der Sternbilder und ihrer Namen nichts wisse, zumindest aber die Urheber nicht benennen könnte. Diese Ansicht wurde schon vor über 2.000 Jahren vertreten. Damals schrieb der griechische Dichter Aratos von Soloi (etwa 310 – 245 v. Chr.) sein kunstvolles Lehrgedicht Sternbilder und Wetterzeichen. Über die Sternbilder heißt es dort: »Denn in der Zeit der Ahnen / Hat jemand sie erschaut und ihnen allzumal / So Namen wie Gestalt verliehn« (A. Schott u. R. Böker (Hg.): Aratos. Sternbilder und Wetterzeichen. München 1958, S. 37 ). Doch wer sollte dieser Jemand gewesen sein? Heute besteht kein Zweifel darüber, dass die Sternbilder von Menschen erfunden wurden, doch ein Einzelner als Schöpfer kommt nicht in Betracht. Die Bilder reichen vielmehr in eine vielschichtige Vergangenheit zurück und spiegeln die Denkweisen und Erfahrungen verschiedener Völker und Zeiten wider. Deshalb werden auch dieselben Sterne ganz unterschiedlich

Sternbilder sind Menschenwerk

11


benannt und interpretiert. Nehmen wir die beiden Sterne Kastor und Pollux, die hellsten Sterne des griechischen Sternbilds Zwillinge. Sie galten bei den Phöniziern als Helfer in Seenot. Kein Wunder, waren doch die Phönizier ein Volk von Seefahrern. Bei den Persern gelten dieselben beiden Sterne als zwei Schafe, als Materiallieferanten für ihre Teppichproduktion. Die nordbrasilianischen Indios hingegen sehen in Kastor und Pollux zwei Löcher in einer Flöte. Hier gilt wirklich: jedem das Seine. Die Interpretation einzelner Sterne als einzelne Objekte ist vor allem bei den indigenen Kulturen in Australien oder im Gebiet der Anden zu beobachten. So sehen z. B. die australischen Aboriginals in den vier Sternen des Kreuz des Südens zwei Brüder, die Fische fangen sowie zwei Feuerstellen, auf denen der Fisch zubereitet wird (F 1). Der Fisch selbst ist ebenfalls an ihrem Himmel zu finden – in Gestalt einer Dunkelwolke, die das Licht der entfernteren Sterne verschluckt und in der modernen Astronomie als Kohlensack bezeichnet wird. Jeder der vier Sterne ist also ein einzelnes Subjekt oder Objekt: zweimal ein Mensch und zweimal eine Feuerstelle. Dass eine Dunkelwolke in eine Sternengeschichte eingebunden wird, sucht in der abendländischen Astronomie ihresgleichen. Nicht so bei den Himmelsgeschichten der Inkas: Sie beachten nicht nur die Sterne, sondern auch die Dunkelgebiete der Milchstraße.

Konturenbilder komplexer Geschichten Anders die Tradition der Babylonier, deren Bilder vielfach von den Griechen übernommen wurden und die zu einem erheblichen Teil heute noch international im Gebrauch sind. Bei ihnen zählt nicht der einzelne Stern, sondern auffällige Gruppen von Sternen, die in Gedanken miteinander verbunden und so zu Konturenbildern geformt werden. Dass von den heute verbindlich definierten 88 Sternbildern genau die Hälfte bereits in der Antike bekannt waren, belegt eindrucksvoll, dass die gesamte abendländische Sterntradition in Babylonien und Griechenland wurzelt.

12

Wie die Sternbilder an den Himmel kamen


Ein unumstrittener Klassiker der antiken Astronomie ist Klaudios Ptolemaios (nach 83 – nach 161). Seine Große Zusammenstellung (später arabisiert als Almagest bekannt geworden) stellt die Zusammenschau allen Wissens auf dem Gebiet der damals zeitgenössischen Astronomie dar. Sie enthält auch viel Originäres seines Verfassers. In seiner Liste der Sternbilder zählt Ptolemaios 48 Figuren auf, von denen lediglich vier heute nicht mehr verwendet werden. Allein die Bestandsaufnahme dieser 48 Bilder ist interessant, denn sie stellt gleichsam die Basis für jede Interpretation ihrer Entstehung und Bedeutung dar. Bis heute werden übrigens stets auch die lateinischen Namen der Bilder verwendet – ein weiterer Hinweis auf ihre Herkunft. Zehn Sternbilder tragen die Namen von gegenständlichen Dingen, wie z. B. Leier (Lyra), Pfeil (Sagitta), Schiff (Argo) u. a. Der größere Teil hingegen bezeichnet Lebendiges, d. h. Menschen oder menschenähnliche Wesen sowie Tiere. Letztere sind unter den 38 Lebewesen mit 24 Exemplaren besonders stark vertreten, wie z. B. Widder (Aries), Stier (Taurus), Skorpion (Scorpius), Walfisch (Cetus) u. a. Dieser Umstand verdient besondere Aufmerksamkeit. Unter den Sachbildern dominieren nicht nur bildliche Assoziationen. Solche finden sich z. B. bei der Nördlichen Krone (Corona Borealis), einer Sternenkette, aus der man bei ihrem Anblick gedanklich ohne Schwierigkeiten eine Krone bildet. Auch bei Dreieck (Triangulum), Pfeil (Sagitta) und Becher (Crater) ergeben sich zwanglos bildliche Vorstellungen. Anders die Waage (Libra). Von diesem traditionellen Messgerät zur Bestimmung von Massen ist in den Sternen nichts zu erkennen. Es dürfte jedoch kaum ein Zufall sein, dass man gerade diese Gruppe von Sternen ungeachtet ihrer geringen Anschaulichkeit als Waage bezeichnete, in der sich die Sonne vor 4.000 Jahren um den Zeitpunkt des astronomischen Herbstanfangs befand. Also genau dann, wenn sich die Dauer von Tag und Nacht die Waage hielten. Doch Historiker verweisen darauf, dass um jene Zeit auch die Steuern eingetrieben wurden, die in Form von Getreide zu entrichten waren und dessen Masse die Steuereintreiber

Konturenbilder komplexer Geschichten

13


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.