Provinziale

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MOZ Donnerstag, 12. Oktober 2017

Barnim Echo

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Sascha Leeske (links) und Julia Heilmann zählen die Stimmzettel für den Publikumspreis aus. Foto: David Nau

Die drei von der Technik sind hochkonzentriert: Dustin Traut (vorn) hat mit seinem großen Mischpult die gesamte Tontechnik unter Kontrolle. Chris Rosazinski und seine Tochter Janina sind für das Abspielen der Filme und die Grafik zuständig. Fotos (2): MOZ/Thomas Burckhardt

Mit speziellem Interesse: Zarah Mampell, Dirk Brenner und Aeilke Brenner (v.l.) kamen wegen der Dokumentationen zur Provinziale.

„Achtung, noch eine halbe Minute!“

Während sich die Zuschauer beim Eberswalder Filmfest zurücklehnen, sorgen hinter den Kulissen viele Helfer für einen reibungslosen Ablauf Von DaviD Nau Eberswalde (MOZ) Was passiert, während die Filme im Paul-Wunderlich-Haus über die Leinwand flimmern, eigentlich außerhalb des Saals? Ein Blick hinter die Kulissen. Der Andrang kommt spät, aber er kommt. Zehn Minuten vor Beginn des achten Wettbewerbsblocks bei der Provinziale füllt sich der vorübergehende Kinosaal doch noch. Die Schlange an der Kasse wird immer länger, die Besucher stehen bis ins Foyer des Paul-Wunderlich-Hauses am Eberswalder Marktplatz. Schaut man sich die Wartenden so an, dann fällt auf: Den typischen Festivalbesucher gibt es nicht. Dort stehen junge Studenten in Jeans und Sneakers direkt hinter Rentnern mit Fahrradtasche und passendem Helm. Auch Berufstätige im Anzug, die offenbar direkt von der Arbeit gekommen sind, stehen vor der Kartenausgabe. Sie alle gehen nacheinander durch die großen hölzernen Flügeltüren in den Saal. Genau 130 sind es gewesen, als sich die Türen schließen. Drinnen herrscht gespannte Stille, nur hier und da ist ein leises Murmeln zu vernehmen. Um Punkt 18.04 Uhr geht es los: Licht aus, Film ab. Ganz ohne

Werbung kommt aber auch das Filmfestival nicht aus und so heißt es wie im Kino: Warten auf den Hauptfilm. Es geht allerdings deutlich schneller, nach vier Spots ist die Werbung überstanden und es geht tatsächlich los. Im ersten Block an diesem Abend haben die Festivalmacher drei thematisch passende Filme gruppiert. „Es geht um die verschiedenen Formen des Bauens“, sagt Festivalleiter Kenneth Anders. Und tatsächlich: Der erste Film zeichnet das Bild einer typischen deutschen Autobahnausfahrt. Und das im Duktus eines klassischen Erklärfilms, so dass sich der Zuschauer unwillkürlich ins Klassenzimmer zurückversetzt fühlt. Nur die Leinwand ist deutlich größer als der klassische Medienwagen in der Schule. Was der Film sagen möchte? Der Regisseur Oliver Gilch ist extra aus Bayern nach Eberswalde gereist um es zu erklären: „Es ist eine Satire und soll auf die Veränderung der Landschaft hinweisen.“ Während unten im Saal der zweite Film davon erzählt, wie im Umland von Peking zahllose Dörfer für neue Stadtviertel abgerissen werden, herrscht ein Stockwerk weiter oben höchste Konzentration. In dem kleinen Raum über dem Kinosaal sitzen zwei Männer und eine Frau vor über zehn Bildschirmen

und unzähligen bunten Knöpfen, die den Raum in schwaches Rot, Gelb, Grün, Blau und Lila tauchen. Sie sorgen dafür, dass die Zuschauer unten im Saal auch etwas zu sehen, beziehungsweise zu hören bekommen. Dustin Traut achtet darauf, dass Ton und Licht richtig eingesetzt sind, Chris Rosazinski überwacht das Abspielen des Films und seine Tochter Janina ist für die Grafik zuständig.

„Am meisten müssen wir uns bei den Übergängen konzentrieren“, erklärt Chris. „Achtung, noch eine halbe Minute“, sagt er und richtet sich in seinem Sitz auf. Als auf der Leinwand die Logos der Filmförderer langsam von unten nach oben wandern, legt er seinen Finger

an einen Knopf auf dem großen Steuerpult. Nach wenigen Sekunden ist der Abspann zu Ende und Chris lässt den Bildschirm schwarz werden. Unten brandet Applaus auf. Oben wird die nächste Vorführung vorbereitet. Chris lässt das Logo der Provinziale auf der Leinwand erscheinen, seine Tochter hat derweil schon den nächsten Film in den Blue-Ray-Player gelegt. Mit der Fernbedienung drückt Chris auf Play, zeitgleich legt er das Bild mit einem Knopfdruck auf die Leinwand. Der nächste Film beginnt und Chris lehnt sich entspannt zurück. „16 Minuten. Ich nutz‘ mal die Gelegenheit“, sagt er und verschwindet in Richtung Toilette. Inzwischen haben die Zuschauer des ersten Blocks die drei Filme mit Punkten von eins bis sechs bewertet und ihre Stimmzettel im Foyer in die gläserne Urne geworfen. Während im Saal nun der zweite Block des Abends anläuft und ein Animationsfilm versucht das Thema Krieg zu erklären, beginnt draußen im Foyer das große Zählen. „Vier, Sechs, Sechs, Vier, Vier, Fünf“. Julia Heilmann vom Organisationsteam liest die Wertungen des ersten Films Zettel für Zettel vor, ihr Kollege Sascha Leeske überträgt die einzelnen Zahlen in eine lange Ex-

cel-Tabelle. Die berechnet dann automatisch den Mittelwert und spuckt die Endbewertung der Filme direkt aus. „Früher mussten wir noch deutlich mehr von Hand rechnen“, sagt der Organisationsleiter. Plötzlich liest Julia „Eins“ vor und Sascha stockt. „Vielleicht hat wieder jemand das System nicht verstanden“, sagt er. Denn, anders als in der Schule, gilt beim Filmfest: Sechs ist die höchste Bewertung, eins die niedrigste. Jetzt muss Sascha aber schnell los. „Im Festivalclub ist die Suppe ausgegangen“, sagt er und spurtet los, um Nachschub zu suchen. Nach dem zweiten Block stehen Aeilke Brenner, Zarah Mampell und Dirk Brenner noch im Foyer zusammen und diskutieren über „Grenzgänger“, einen Dokumentarfilm, der eine Bürgerpatrouille begleitet. „Für mich ist es nicht verständlich, dass die Patrouille den Bürgern ein Gefühl von Sicherheit gibt“, sagt Dirk Brenner. Aeilke Brenner ist eher von der Haltung der Filmemacher überrascht: „Ich hatte das Gefühl, die bewerten das positiv.“ „Ich finde, dass sich die Protagonisten selbst bloßstellen“, widerspricht Mampell. Sie wurde vor allem von den Dokumentarfilmen angelockt: „Ich habe selten so viele und emotional ansprechende gesehen.“

Überleben an einem lebensfeindlichen Ort von

Udo MUszynski

B

ei der diesjährigen Provinziale läuft der Dokumentarfilm „Homo Sapiens“ als Installation im Eingangsbereich des Paul-Wunderlich-Hauses. Wir sehen die Zeugnisse der menschlichen Zivilisation in einer Art Retrospektive. Alles ist verlassen: Kultur- und Sportpaläste, Läden, Krankenhäuser, Kirchen, Büros, Gefängnisse, Schulen… Menschen sind nicht mehr zu sehen.

Ähnliche Bilder zeigt „Roadside Radiation“. Die Filmemacher gehen in die evakuierte Zone um Tschernobyl. Auch hier holt sich der Wald seinen angestammten Platz zurück und verschlingt die verwaisten Siedlungen. Fast schon ausgestorbene Tierarten finden zwischen überwucherten Hochhäusern und rostenden Antennenmasten ihren neuen Lebensraum. Aber die Men-

schen haben die Zone nie ganz verlassen. Viele können und wollen bis heute nicht loslassen. Zu schwer wiegen der Verlust und die Sehnsucht nach der alten Heimat. Andere wiederum haben einen pragmatischen Umgang gefunden, der diesen lebensfeindlichen Ort zu einem geradezu absurden Element ihres Alltags macht. Für manche ist die Zone schlicht eine Arbeitsstelle, für andere ein mythisches Erkundungsgebiet. Es kommen „illegale Touristen“ um dort zu leben, Forscher in Sachen eigener Vergangenheit, wir besuchen eine Einsiedlerin, der „die Strahlung nichts anhaben kann“. Die Zone als geschützter Ort? Roadside Radiation (2016, Deutschland) heute um 18 Uhr, Originalsprache: Russisch, UT: Englisch, Simultanübersetzung ins Deutsche

Mit Honecker im Kleiderschrank

Steffen Schortie Scheumann wirkt bei „Vorwärts immer“ mit / Movie Magic lädt zur Premierenfeier Eberswalde (sk) In der Komödie „Vorwärts immer“, die ab heute bundesweit im Kino läuft, mischt auch der Schauspieler Steffen Scheumann mit. Der Eberswalder, den nicht nur die Kulturszene der Barnimer Kreisstadt meist nur Schortie nennt, freut sich über „die schön präsente Rolle“, noch mehr aber darüber, sich bei den Dreharbeiten unter anderem in Bayreuth, Bayern, und in alten Kasernen an der Nalepastraße in Berlin wie auf einem Klassentreffen gefühlt zu haben. „Es war ein Fest, wieder einmal mit Jörg Schüttauf arbeiten zu dürfen“, blickt Steffen Scheumann zurück. Beide würden sich aus zahlreichen gemeinsamen Produktionen kennen und seien gute Freunde geblieben, auch wenn ihre Arbeit sie mitunter für Jahre trenne. Jörg Schüttauf („Berlin ist in Germany“, „Der Stadt gegen Fritz Bauer“) hat in „Vorwärts immer“ die Hauptrolle. Er spielt einen Schauspieler, der ein begnadeter Honecker-Imitator ist und dazu getrieben wird, verkleidet als ranghöchster Politiker der Deutschen Demokratischen Republik, das Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands aufzusuchen. Mit dem Ziel, in letzter Minute zu verhindern, dass bei der nächsten Montags-

demo in Leipzig Panzer gegen die Protestierenden eingesetzt werden. Denn in Leipzig marschiert auch Anne, die Tochter des Honecker-Imitators mit, die sich einen gefälschten Westpass besorgen will. Die junge Frau wird von Josefine Preuß („Türkisch für Anfänger“, „Das Adlon“) verkörpert. Die im Wendejahr 1989 spielende Komödie ist auch ansonsten fabelhaft besetzt: Unter anderem wirken noch Devid

Striesow, bekannt als TatortKommissar, Alexander Schubert und Hedi Kriegeskotte mit. In „Vorwärts immer“ ist Steffen Schortie Scheumann als Schauspielkollege von Otto Wolf, so heißt Jörg Schüttauf im Film, arg bemüht, dem immer tiefer in den Schlamassel geratenden Honecker-Imitator nach besten Kräften zu helfen. Dass der falsche Erich und Boris Kelm, so wird Schortie im Film genannt,

An Margots Pelzmantel gekuschelt: Steffen Scheumann alias Boris Kelm (l.) und Jörg Schüttauf alias Otto Wolf alias Erich Honecker verschlägt es in den Kleiderschrank. Foto: DCM Filmdistribution

gemeinsam im Kleiderschrank landen, ist dabei nur eine weitere lustige Episode. Wie unglaublich gelungen Jörg Schüttauf den Generalsekretär des Zentralkomitees verkörpern kann, hat auch seinen Kumpel aus Eberswalde verblüfft. „Wir haben uns am Set oft schlapp gelacht, auch wenn es im Film einige ernste Zwischentöne gibt“, verrät Steffen Scheumann, der dieses Jahr bereits in der Folge „Bum Bum“ der Krimiserie „Die Spezialisten – Im Namen der Opfer“ zu sehen war, 2014 im Welterfolg „Grand Budapest Hotel“ eine stumme Mini-Rolle hatte und nie auf die Idee käme, nur von Kino oder Fernsehen leben zu wollen. „Ich habe diesen Sommer zum Beispiel wieder in Heidelberg verbracht, wo ich im Stadttheater in ,Kiss me Kate‘ mitgespielt habe“, berichtet der Eberswalder, der sich, wenn er länger als ein paar Tage zu Hause ist, mit Freunden um die von ihm mitbegründete Kulturinitiative „Neuer Blumenplatz“ kümmert. Im Frühjahr 2018 wird er bei der Uraufführung von „King Arthur“ in der Deutschen Staatsoper in Berlin zu sehen sein. Movie Magic heute ab 17.45 Uhr und ab 20.15 Uhr, nach der ersten Vorführung Gespräch mit Schortie

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