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WENN DIE MASKEN FALLEN

Der Mann ist kreativ: Das erste Rendezvous auf einer Müllhalde. Sie ist angefressen und angeekelt. Die Stimmung zwischen dem Paar aus dem Arbeitermilieu der 1970er ist mies, kurzfristig Spaß bringt das Schießen auf Ratten. Dann fällt ihnen ein anderes Spiel ein: Abwechselnd lassen sie Masken und Hüllen fallen, bis zur ekstatischen Performance, in der sie ihr filterloses Ich, würde man heute sagen, feiern.

Das Wiener Rabenhof Theater ist an diesem Novemberabend einmal mehr ausverkauft. Trotz Pandemie, trotz Maskenpflicht, trotz strenger Eintrittsauflagen.

Lauten Applaus und Standing Ovations ernten die Retzerin Sophie Aujesky und ihr

Bühnenpartner Josef Ellers; in ihrer beider

Augen glänzen Tränen.

Peter Turrinis „Rozznjogd“ löst vor 50

Jahren einen Theaterskandal aus, der heute in Kleinriedenthal lebende Autor wird schlagartig berühmt; sein dramatisches

Debüt wird zum Welterfolg. Seit ihrer Schulzeit beschäftigt sich Sophie Aujesky mit seinem Werk, Turrini wird zu ihrem Mentor.

Standing Ovations im Rabenhof Theater: Die Retzerin Sophie Aujesky brilliert in Peter Turrinis „Rozznjogd“ und wird zudem kürzlich mit dem Kulturpreis des Landes ausgezeichnet. Ein Gespräch über das Herzensprojekt, das filterlose Ich und die Freundschaft zum großen Schriftsteller.

Text: Viktória Kery-Erdélyi Fotos: Philine Hofmann, Rita Newman, ORF/Prisma Film/Petro Domenigg

NIEDERÖSTERREICHERIN: „Rozznjogd“ ist erfolgreich und soll im Programm bleiben, du hast die Initialzündung geliefert. Wie kam es dazu?

Sophie Aujesky: Es ist eine Herzensproduktion, die aber aus einer Notsituation entstanden ist. Josef Ellers und ich hätten 2020 fünf gemeinsame Produktionen gehabt, darunter drei große Premieren. Dann hieß es plötzlich: Es findet nichts statt. Wir saßen alle zu Hause und ich hab‘ ich beschlossen, ich tue das, was ich schon immer wollte. Ich hab‘ mit Joe (Bühnenpartner Josef Ellers, Anm.) begonnen, „Rozznjogd“ über Zoom zu lesen.

Wieso „Rozznjogd“?

Ich habe darüber und über Peter Turrini meine Maturaarbeit geschrieben, er wohnt ja unweit von mir. Seither haben wir eine künstlerische Mentorenfreundschaft; wir stehen uns sehr nahe. Jetzt hatte ich große Lust auf diese Sprache, auf dieses „Sagen, wie es ist“, ohne ein Dazwischen, ohne Subtöne.

Joe und ich haben schnell gemerkt, dass wir einen Regisseur brauchen und kamen sofort auf Werner Sobotka. Er ist ein Meister des Wiener Dialekts – das Stück ist ja im Dialekt geschrieben – und hat genauso wie ich eine Liebe zu außergewöhnlichen Charakteren. Er stellt sie auf die Bühne, ohne sie auszustellen, ohne sie lächerlich zu machen.

Nicht alltäglich: Ihr seid dann zum Rabenhof Theater und habt gefragt, ob sie „Rozznjogd“ produzieren wollen.

Die haben sofort Ja gesagt, wir durften uns sogar die Bühnenbildnerin aussuchen, Agnes Hasun. Ich sage immer: Wir spielen zu dritt, weil ihr Bühnenbild so toll ist. Wir waren von Anfang an ein kleines feines Team, ohne Hierarchien, das gibt es selten. Wir mussten die Premiere vom Frühjahr verschieben und haben im Herbst die Saison damit eröffnet. Je länger wir das spielen, desto aktueller wird das Stück, weil wir es jetzt gewohnt sind, dass das Gegenüber der Feind ist und man sich hinter einer Maske versteckt. Wir machen das Gegenteil: Wir lassen alle Hüllen fallen. Körperlich und seelisch. Es ist wahnsinnig schön, wie stark gerade junge Leute reagieren, es kommen auch Schulklassen …

Wie reagieren sie?

Ich spüre nur Positives. Wir haben das Stück in den 1970ern gelassen. Aber so entsteht für junge Leute mehr Raum für Fantasie und sie deuten selbst, wie es beispielsweise wäre, wenn wir heute keine Filter nehmen würden oder überhaupt das Handy wegschmeißen. Alles löschen, bis nur noch die Persönlichkeit und der Körper überbleiben.

Welchen Wunsch verbindet ihr mit dieser Produktion?

Dass sich das Publikum am Schluss denkt: Eigentlich will ich aufstehen, mich nackert ausziehen und da mitmachen. Ein rrrichtiger (sic!) Befreiungsschlag, das ist die Mission des Stückes.

Wie ging es dir bei den Proben?

Ich hatte große Freude daran, mich mit der Figur zu beschäftigen. Sie ist näher an mir, als ich geglaubt habe, aber gleichzeitig so weit weg, weil sie einem ganz anderen Milieu entstammt. Mein Anspruch ist immer zu schauen, wo bin ich in der Figur, wo spiele ich nicht mehr. Werner Sobotka hat uns da sehr gut durchgeleitet und keine falschen Töne zugelassen. Es geht sich nicht aus, diese Figuren nicht ernstzunehmen. Je wahrhaftiger ich die Figur bin und sie nicht spiele, desto authentischer ist sie.

Das Stück ist 50 Jahre alt, welche Bedeutung hat das für dich?

Es ist für mich fast ein feministisches Stück, weil alles, was an dem Abend Schönes passiert, von der weiblichen Figur ausgeht. Sie versteht es innerhalb kürzester Zeit, wie sie mit dem Typen zu

Alles Schöne geht von der weiblichen Figur aus, eine sehr mutige Frauendarstellung für 1971.

Sophie Aujesky, Schauspielerin

reden hat, der durchgehend gemein zu ihr ist. Das ist eine wahnsinnig mutige Frauendarstellung für 1971.

Wie weit wirkt Peter Turrini mit?

Wir halten uns sehr an seine Regieanweisungen und er hat bei einer der Hauptproben gutes, kritisches Feedback gegeben, aber so, dass man es gut nehmen und umsetzen konnte. Bis heute ist es so, dass wir zwei nach jeder Vorstellung telefonieren. Auf diese Weise am Theater zu arbeiten, dass man von einem lebenden Schriftsteller ein Stück spielt und am nächsten Tag mit ihm darüber sprechen darf, ist ein großes Geschenk.

Ein Aha-Effekt für dich?

Peter Turrini ist nicht ohne Grund damit berühmt geworden, es ist ein Meisterwerk, wie genau er die Figuren

ÜBERZEUGEND. Sophie Aujeskys Credo: „Die Figur hat immer recht.“ Von oben: in „Rozznjogd“, als „Julius Caesar“ (Theater Bronski & Grünberg), in „Tatort: Die Amme“ mit Adele Neuhauser und hinter den Kulissen im Rabenhof Theater mit Regisseur Werner Sobotka, Josef Ellers und Peter Turrini zeichnet und manchmal weiß man nicht: Ist es eine Komödie oder eine Tragödie? Die Leute lachen und sind gleichzeitig betroffen.

Der Kulturpreis des Landes: Was bedeutet er dir?

Sehr viel! Das ist ein Anerkennungspreis, das bedeutet, dass das, was ich bisher gemacht habe, anerkannt wird. Man darf nicht unterschätzen, wie sehr wir Schauspielerinnen und Schauspieler es brauchen, gesehen zu werden. Gerade in einer Zeit, in der es nicht so viele Möglichkeiten gab, sich zu zeigen.

Du lebst in Wien, bist du gerne auch in Retz?

Ja, sehr, im Weinviertel ist meine Familie zu Hause, aber wenn ich heimkomme, bin ich auch gerne für mich. Die unberührte Landschaft erdet mich, ich kann runterkommen.

Du hast im Sommer gedreht. Wofür?

Wir haben mit der preisgekrönten Filmemacherin Julia von Heinz (zuletzt: „Und morgen die ganze Welt“, Anm.) in Budapest gedreht: Ich spiele in der Miniserie „Eldorado KaDeWe – Jetzt ist unsere Zeit“ im Berlin der 1920er-Jahre.

Wie hast du Budapest erlebt?

Sehr schön und sehr traurig, dass wir eine lesbische Liebesgeschichte von vor 100 Jahren spielen, während in Ungarn das Thema Homosexualität von Orbán (Premier, Anm.) aus der Öffentlichkeit verbannt wird. Das hat uns enorm frustriert.

Du hast kürzlich ein Geburtstagsvideo vom „Malcolm mittendrin“-Star Frankie Muñiz geteilt. Wie kam es dazu?

Ich hab‘ das von einem mir sehr nahe stehenden Menschen als Geschenk gekriegt, der das nicht weiter aufgeklärt hat (lacht). Aber ich hab‘ mich sehr gefreut. Frankie Muñiz redet dir dabei ins Gewissen, dass du nicht an dir zweifeln sollst. Tust du das?

Naja, als freischaffende Künstlerin während einer weltweiten Pandemie?! Ich kann spielen und drehen, aber man weiß nie, wie es weitergeht. An einem Tag kriegst du Standing Ovations, am nächsten Tag kann alles anders sein. Dieses Leben bietet viele Freiheiten, gleichzeitig muss ich immer dafür sorgen, dass ich mir meine eigenen Sicherheiten schaffe. Diese Branche ist noch dazu von so viel Glück abhängig.

Was ist eine gute Schauspielerin?

Wenn du nicht die Schauspielerin siehst. Du erkennst es in den kleinen Dingen, in Blicken. Es geht nicht darum zu zeigen, wie gut ich spiele, die Figur steht im Mittelpunkt. Man muss sich trauen, die Figur zu sein.

KURZBIO

Sophie Aujesky wurde 1985 geboren, wuchs in Retz auf. Parallel zur Schauspielausbildung erhält sie ein Engagement am Stadttheater Klagenfurt. Sie spielt u. a. am Staatstheater am Gärtnerplatz München, am Wiener Theater der Jugend und an der Volksoper; in Niederösterreich erlebt man sie bei Wachau in Echtzeit, am Landestheater oder den Sommerspielen Perchtoldsdorf. Sie gibt oft starke Figuren wie „Antigone“ oder „Johanna“ und tritt in der Öffentlichkeit gegen Diskriminierung jeglicher Art und soziale Ungerechtigkeit auf. Zuletzt überzeugt sie in „Tatort: Die Amme“, aktuell spielt sie am Wiener Rabenhof Theater Peter Turrinis „Rozznjogd“. Am 27. Dezember ist sie in der Miniserie „Eldorado KaDeWe – Jetzt ist unsere Zeit“ auf ARD zu sehen. www.sophieaujesky.com

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