Netflix-Dilemma

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handelszeitung | Nr. 22 | 28. Mai 2014

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Innovation Das Netflix-Dilemma

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s ist die grösste und hartnäckigste ­He­rausforderung für jedes erfolgreiche Unternehmen: Wie soll es auf eine neue Generation von Technologien rea­gieren, deren Ziel es ist, das bestehende Geschäftsmodell zu revolutionieren – oder gleich ganz zu zerstören? Mit einer solchen Herausforderung sehen sich Swisscom und Cablecom konfrontiert, denn Netflix kommt bald in die Schweiz. Um das Feld kurz abzustecken: Netflix ist eine kostengünstige Alternative zu Kabel-TV. Statt mehrere hundert Dollar für Sender zu bezahlen, die kaum aussprechbar sind, stehen dem Nutzer für 8 Dollar im Monat die neuesten Studiofilme und TV-Programme werbefrei und unbegrenzt zur ­Verfügung. Der Service ist auf mehreren Geräten ­abspielbar. Und wie die meisten Web-2.0-Akteure verwendet Netflix Kunden-Feedbacks, um Filme für den individuellen Geschmack zu empfehlen.

Wie David bereits die zweite Revolution gegen Goliath anzettelt

Manuel P. Nappo Leiter Fachstelle Social Media Management, HWZ Zürich

«Ignorieren etablierte Unternehmen eine neue Technologie, riskieren sie, dass sie später zu ihrem Untergang führen wird.»

Mit diesem Produkt verzeichnete das Unternehmen 2013 weltweit 41,5 Millionen zahlende Nutzer und hat damit den direkten Konkurrenten HBO definitiv überholt. Bedenkt man, wie dominant HBO im Bereich der werbefreien Box-Office-Hit-Filme und Originalserien war, handelt es sich hier um ­einen Meilenstein. Und dies, obwohl es sich noch immer um eine David-gegen-Goliath-Situation handelt. Gegen die rund 1,7 Milliarden Dollar ­Jahresgewinn, die HBO der Muttergesellschaft Time Warner einspielt, wirken die 100 Millionen von Netflix geradezu armselig. Dennoch: Netflix hat das erreicht, wovon viele Firmen träumen. Die Firma aus dem kalifornischen Los Gatos ist daran, die Unterhaltungsbranche zu

«disrupten», was so viel heisst wie zu revolutionieren oder zu sprengen. Und dies nicht zum ersten Mal. Die erste Revolution erfolgte 2005. Damaliges Opfer war der Videoverleiher Blockbuster. Als die meisten Webseiten ein verwirrendes Durcheinander waren, brillierte Netflix durch saubere Organisation und intuitive Klarheit. Firmengründer Reed Hastings realisierte, dass neue Technologien den Filmverleih auf den Kopf stellen würden. Er ent­ wickelte eine Strategie mit Internet-Streaming, bequemem Kundendienst und einer virtuellen ­ ­Organisation. Gleichzeitig verbesserte er das ver­ altete Preismodell. Statt per Film plus Extrakosten für verspätete Rückgaben zu zahlen, führte Netflix eine Flatrate ein. Nun ist Netflix auf dem besten Weg, eine weitere heilige Kuh der Unterhaltungsbranche zu schlachten. Indem es auf seine Kunden hört und genau das liefert, was sie wollen. Alle Episoden der erfolgreichen Serie «House of Cards» wurden zeitgleich zur Verfügung gestellt. Eine Häresie, welche die gesamte Branche dazu zwingt, das ganze System, das sie seit seiner Gründung definiert hat, zu überdenken. Was ist Disruption? Harvard-Business-SchoolProfessor Clayton Christensen definiert Disruption als die Einführung eines Produkts oder einer Dienstleistung, die entweder der bestehende Markt noch nicht kannte (Market Disruption) – oder sie bietet eine einfachere, billigere und bequemere ­Alternative (Low-End Disruption). Disruptive Produkte bieten meistens schlechtere Leistung oder Qualität als jene der bestehenden Anbieter, doch sie kommen zu einem Zeitpunkt, in dem der Markt bereit ist für etwas Kleineres, Günstigeres, Einfacheres oder Bequemeres. Sie beginnen fast immer auf der untersten Ebene des Marktes und bieten etwas, das die etablierten Firmen, selbst wenn sie es wollten,

nicht replizieren können. Denn um es zu repli­ zieren, wäre eine radikale Umgestaltung des Geschäftsmodells erforderlich mit dem Risiko, es grundlegend zu untergraben.

Warum Google Konkurrent Yahoo überflügelte Das lässt sich hervorragend am Beispiel von Google aufzeigen. Entgegen der allgemeinen Meinung war der Such-Algorithmus nicht disruptiv. Die Werbeleistung AdWords war es. Denn im Gegensatz zu Yahoo, der die Werbetreibenden verpflichtete, mindestens 5000 Dollar auszugeben, bot Google ein Self-Service-Werbeprodukt für weniger als 1 Dollar an. Die ersten Kunden waren KMU, die es sich nicht leisten konnten, auf Yahoo zu werben. Über die Zeit optimierte Google sein Geschäfts­modell und erweiterte es, bis es die klassischen Werbe­ träger ansprechen konnte. Aus einer Low-End-Disruption wurde Marktbeherrschung. Netflix zeigt die zentrale Rolle, die eine aufkommende Technologie in der Transformation einer ­Industrie spielt. Doch Technologien alleine sind nie disruptiv. Geschäftsmodelle sind es. In der Regel ist es das neue Geschäftsmodell, welches für den bestehenden Marktleader unwirtschaftlich ist und ihn daran hindert, den Disruptor anzugreifen. Dabei spielt die Geschwindigkeit eine grosse Rolle. In den Worten von Ted Sarandos, Chief Content Officer bei Netflix: «Das Ziel ist es, schneller als HBO zu sein und immer schneller zu werden.» Wenn man eine Branche revolutionieren will, muss man sie im eigenen Spiel schlagen. Disruption bringt das Dilemma des Innovators mit sich. Ignorieren etablierte Player das neue Produkt, riskieren sie, dass es später zu ihrem Untergang führen wird.

Informationsaustausch Weltweit – oder gar nicht

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as klassische Bankgeheimnis schweizerischer Prägung dürfte ein Auslauf­ modell sein, zumindest was seine ­Anwendung gegenüber ausländischen Kunden angeht: Das Zauberwort heisst Weissgeld. Ob das eine Strategie ist, die alle Probleme lösen wird, muss sich erst noch weisen, denn noch ist Vieles unklar. Zwar ist die Unterscheidung zwischen Steuerbetrug und Steuerhinterziehung für Ausländer mit der Akzeptanz des OECD-­ Standards gefallen, aber von einem automatischen, funktionierenden und weltweit anerkannten Informationsaustausch mit ausländischen Steuerbehörden sind wir noch weit entfernt. Es stellen sich zwei Fragen: Wem haben wir diese Entwicklung zu verdanken, und wie soll es weitergehen? Die erste Antwort zum Bankgeheimnis ist relativ schnell gefunden, denn die Spuren führen schnurgerade zu den beiden Grossbanken UBS und CS. Man muss leider klar feststellen: Die Geschäftsgebaren der beiden Grossen in den USA waren kriminell und sträflich falsch – im vollumfänglichen Sinn –, auch wenn sie nicht ­gegen schweizerische Gesetze verstossen hatten. Und sie waren von einer naiven Unwissenheit getränkt, gepaart mit einem dummen, kurzfristigen Gewinnstreben, indem die beiden Banken systematisch US-Bürger dazu anhielten, Vermögenswerte unversteuert in der Schweiz anzulegen und

führen. Sie deutet also eine Verwässerung der Definitionen und der Teilnehmer in vorauseilendem Gehorsam bereits als machbar an. Das ist eine unglaubliche Haltung, hat unser Land doch ein Vetorecht in der OECD. Haben wir vom Bundesrat, von der zuständigen Ministerin in der Öffentlichkeit je ein Wort der Kritik am Vorgehen der USA gehört, hat sie sich überhaupt gewehrt oder einfach versucht, die Angelegenheiten möglichst rasch vom Tisch zu haben?

«Der Bundesrat kuscht, anstatt den Finanzplatz zu verteidigen.» Robert U. Vogler Unabhängiger Historiker

dazu ganze Rudel von bonushungrigen Managern – Amerikaner wie Schweizer – zu Verletzungen amerikanischen Rechts benutzten. Wer davon was wusste, ist eigentlich irrelevant – «man macht so etwas nicht». Ausserdem hätte man wissen können, dass die amerikanische Steuerbehörde IRS seit 1913 eine Instanz ist, welche ihre Aufgabe mit weitreichenden Befugnissen äusserst konsequent durchzusetzen vermochte. Alfred Schaefer, der wohl erfolgreichste und weitblickendste Bankier der Nachkriegszeit, hatte während seiner Zeit als Chef und Verwaltungsrat der damaligen Schweizerischen Bankgesellschaft zu Recht immer wieder davor gewarnt, in den USA ins Bankgeschäft einzusteigen, genau wegen der Unberechenbarkeit der US-Justiz, deren erpresserisches Vorgehen wir nun erlebt haben. Die zweite Frage zum Wie-weiter ist wesentlich schwieriger zu beantworten, weil alles andere als

Klarheit besteht. Das Zauberwort heisst AIA ­(Automatischer Informationsaustausch). Er soll garantieren, dass die Steuerbehörden aller Länder sich gegenseitig Informationen über ihre jeweiligen Bürger zukommen lassen. Aber wer garantiert eigentlich, dass das universal funktionieren wird? Die Amerikaner (siehe Fatca) werden ohnehin ausscheren und spezielle Bedingungen ohne ­Reziprozität fordern und auch bekommen – dem imperialen Gehabe seis gedankt. Als Erstes spielen aber die Banken kein schönes Spiel. Kaum bläst ein etwas rauer Wind, strecken sie die Waffen und erfüllen mit nahezu willfährigem Obrigkeitsgehorsam die Anforderungen von EU und USA, noch bevor sie klar definiert sind. Und die Schweiz? Sie fordert zwar für alle gleich lange Spiesse, gibt aber bereits zu erkennen, dass man sich beim AIA zu Beginn auch nur auf die EU beschränken könnte, sollte ihn diese vorzeitig ein-

Die Schweiz hat in der OECD ein Vetorecht Anstatt sich für den Finanzplatz Schweiz zu e­ ngagieren, wie das alle Regierungen weltweit tun würden, hat man sich darauf eingestellt, zu kuschen und die Gegenseite «zu verstehen»: «Es kann nicht die Politik der Schweiz sein, als einziger Staat ein Veto einzulegen», meinte die Finanzministerin gegenüber der NZZ. Will man tatsächlich die Hühner so eilfertig schlachten, die jahrzehntelang goldene Eier legten? Der AIA muss von Beginn an entweder weltweit gelten oder gar nicht, sonst handelt man sich Nachteile ein. Das muss die Schweiz mit einigen Verbündeten durchsetzen. Am Ende des Tages muss es in Abwandlung eines viel gehörten Zitates heissen: «Scheitert die Universalität, so scheitert der AIA.»

Dialog

@ HZ Nr. 21 22. Mai 2014 «Krux mit den Prognosen», Kommentar K. Wellershoff Wechselkurse nur alleine durch ihre Kaufkraftparität zu erklären scheint mir zu kurz gegriffen. Klaus Wellershoff kennt sicherlich auch den Urspurng der ­Euro-Krise: Sie liegt in der Schuldenpolitik der Peripheriestaaten. Und wer Schulden hat, der fürchtet Deflation wie der Teufel das Weihwasser. Schulden sind nominell und werden durch Deflation vergrössert

und durch Inflation aufgefressen. Aus diesem Grund wählen Schuldnerstaaten oft den Ausweg der Infla­ tionierung ihrer Schulden. Und wenn – wie im Artikel von Herrn Wellershoff ­geschrieben – in Europa Deflation droht, dann ­gewichten die Marktteilnehmer vielleicht mehr die Schulden der Euro-Länder als die langfristige Kaufkraftparität. Aus diesem Grund wird Deflation zu ­einer negativen Kurs­ reaktion beim Euro führen (und dadurch den Druck auf die SNB erhöhen). Ralph Weidenmann, FelbenWellhausen TG

HZ Nr. 21 22. Mai 2014 «Milliardenstrafe für CS» Die CS für «kriminelle» ­Tätigkeiten bestrafen? ... Denkt man zurück an den Vietnam-Krieg: Wurde deswegen je ein US-Politiker oder US-General verurteilt? Möglich, dass Kriminelle und Verbrechen gleich verschieden wie Steuerbetrug und Steuerhinterziehung sind. Edi Wipf

Die USA sind einfach kein Rechtsstaat. Punkt. Das

Vorgehen wäre in der Schweiz unvorstellbar und würde jedem minimalen Anspruch auf ein faires Verfahren zuwiderlaufen. Das ist schlicht heuchlerische Machtpolitik Andreas Meier Dass die CS jetzt unter massivem Druck der USA endlich zugegeben hat, was wir alle schon längstens wissen, zeigt doch, wie masslos tief diese CS in ­ihrem Geschäftsgebaren gesunken ist. Dougan und Rohner haben scheinbar so gut verhandelt, dass sie bleiben dürfen. René Zwicky

HZ Nr. 21 22. Mai 2014 «Schweiz ist in Europa einsame Spitze» Unter der Personenfreizügigkeit hat sich die Schweizer Wirtschaft prächtig ­weiterentwickelt. Dass wir unseren Wohlstand jetzt einfach so leichtfertig aufs Spiel setzen, kann ich nicht verstehen. Michael Meier

Schreiben Sie uns HZ Nr. 21 22. Mai 2014 «Social Banking» «Kunden müssen Banken als mündig anschauen», sagt Rino Borini.

Wohl eher umgekehrt... @kultur_nachhalt HZ Nr. 21 22. Mai 2014 «Datendiebstahl» Ebay: Hacker klauen 145 Millionen Datensätze.

Darum bleibe ich bei ricardo.ch @MarcelSigner

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