Abschied von Julia

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Liebe Julia,

ich weiß nicht, ob du diesen Brief lesen wirst oder ob du es in deinem jetzigen Zustand überhaupt noch kannst, aber mein Therapeut sagte mir, dass ich ihn dir schreiben soll, um mit dem Geschehenen abschließen zu können. Er hat keine Ahnung, was wirklich passiert ist, aber ich befolge seinen Rat, denn vielleicht hilft es ja tatsächlich. Vielleicht sogar uns beiden. Ich werde diesen Brief in der Nähe der Hundehütte platzieren. Dort, wo ich dich jedes Jahr an Heilig Abend stehen sehe. Ja, genau. Ich weiß davon Du weißt, dass Barney im Winter im Haus bleibt und du deswegen keine Angst zu haben brauchst, er könnte dich anbellen. Ich frage mich, ob er dich wiedererkennen würde. Riskieren möchte ich es aber nicht, aus Angst davor, was du ihm antun könntest. Ich hoffe, dass du immer noch meine kleine Schwester bist und nichts anderes. Jetzt wirst du dich bestimmt ärgern, weil ich dich kleine Schwester genannt habe. Uns trennen nur fünf Minuten Altersunterschied voneinander. Und doch hast du immer die Ältere von uns beiden sein wollen. Na, wenigstens hattest du als erste von uns beiden einen Freund. Er hieß Bernd, falls du dich nicht erinnerst. Ich weiß ja nicht, was in deinem Kopf vorgeht, aber wenn du jedes Jahr hierher zurückfindest, müssen da noch Fragmente von Erinnerungen in deinem Kopf sein. Aber für den Fall, dass du Dinge vergessen haben solltest, möchte ich alles so genau wie möglich wiedergeben. –2–


Bernd lud uns vor vier Jahren in die Waldhütte seiner Eltern ein, um Weihnachten zu feiern. Wir hatten keinen Bock auf diesen Spießerkram mit Geschenken unter dem Tannenbaum, Familie, Musik und all dieses Zeug. Wir wollten rauchen, kiffen, saufen und ficken. Du hast mir jedenfalls gesagt, dass du mit Bernd einen Schritt weitergehen wolltest. Das sollte dein Weihnachtsgeschenk für ihn sein. Fast wären wir nicht einmal bis zur Hütte gekommen, weil wir dafür 300 Kilometer fahren mussten und es kurz vor Ende der Strecke plötzlich Blizzard artig anfing zu schneien. Ich war dafür Unterschlupf zu suchen, aber ihr beide und Bernds Freund Christian spielten die Furchtlosen. Ich war schon immer gut darin Menschen zu durchschauen. Ihr wolltet mir nicht zeigen, dass ihr genauso viel Angst hattet wie ich. Und irgendwann wurde mir klar, dass es besser war in der Hütte eingeschneit zu werden, als im Auto oder so. Als wir schließlich ankamen drückte Bernd dir die Schlüssel in die Hand. Er und Christian würden die Taschen rein tragen. In der Hütte roch es nach Mottenkugeln und alter Luft, aber das war uns egal, denn wir waren erst einmal in Sicherheit, hatten einen Kamin und glücklicherweise gab es keine Weihnachtsdekoration in der Hütte. Nachdem wir uns aufgewärmt hatten, war alles in Ordnung. Wir lachten, tranken, hörten Rockmusik. Christian und ich waren kein Paar, aber wir verstanden uns gut und so war es kein Problem für uns, als du und Bernd nach dem Blizzard noch einmal rausgegangen seid. Ihr wolltet etwas unter euch sein. –3–


Ich hatte nie Gelegenheit dazu, dir zu sagen, dass Christian und ich uns nur unterhalten haben.

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Er hatte keine Erwartungen an mich, dass ich mich ihm an den Hals werfe oder etwas in der Art. Allerdings weiß ich auch nicht mehr, worüber wir eigentlich geredet haben. Ich war schon etwas angetrunken und ziemlich müde. Ich glaube, er erzählte mir nur wenig von sich selber und war mehr an mir interessiert. Aber ohne irgendwelche Hintergedanken. Ein echter Gentleman. Ich hätte ihn gerne wiedergesehen, um über die Geschehnisse in der Hütte zu reden, aber er zog um und Bernd sagte mir, dass er selber nicht darüber sprechen möchte. Mein Therapeut meinte, es wäre gut, die Sache mit ihnen zu verarbeiten. Daraus wird wohl nichts. Also schreibe ich dir diesen Brief, in der Hoffnung, dass es mir dann besser geht. Ich weiß nicht, wie lange ihr im Wald gewesen seid. Ich hatte keine Gelegenheit irgendwann mal auf die Uhr zu schauen. Aber als ihr zurückkamt, stand die Zeit für mich ohnehin still. Ich wusste nicht, was ich sah, als ihr zur Tür hereinkamt. Bernd schrie wie am Spieß, während du von ihm gestützt wurdest und er dich zur Couch führte. Wir machten Platz für dich, dass du dich hinlegen konntest. Ihr ward offensichtlich in den Schnee gefallen, aber das war nicht der Grund für euren erschöpften und panischen Zustand. Ich fragte immer wieder, was passiert sei und erst, als Bernd noch einmal rauslief, um den Verbandskasten aus dem Wagen zu holen sah ich, dass du geblutet hast. Heute frage ich mich, wie ich es übersehen konnte. Der Anblick ließ mich damals aufschreien und wäre Christian nicht gewesen, hätte ich wahrscheinlich den Verstand verloren, dich so zu sehen. Da war so viel Blut, dass ich nicht sagen konnte, wo es überhaupt her kam. –5–


Erst als Bernd dir die Jacke auszog, konnte ich die Bisse und Kratzer auf deinem Körper sehen. Ich wollte wissen, was passiert war. Er sagte irgendetwas von Tieren, die euch angegriffen hatten. Ich wollte dich ins Krankenhaus bringen und mir ging nicht in den Kopf, dass das unmöglich war. Denn wir waren ja eingeschneit. Etwas, um das wir uns zuerst gar keine Gedanken gemacht hatten, denn wir wollten die Feiertage ohnehin in der Hütte verbringen und wir hatten genügend Vorräte, um noch ein paar Tage mehr zu überstehen.

Wir waren s� dumm, oder? Wir hielten es für ein Abenteuer. Ich möchte mich bei dir entschuldigen. Dafür, dass ich nicht versucht habe, dir die Idee mit der Hütte auszureden. Ich konnte dir schon immer gut zu reden. Warum habe ich es bei dieser Sache nicht versucht? Wahrscheinlich, weil ich mit euch mit kommen wollte. Hätte ich geahnt, was uns erwartet … Du lagst auf der Couch und hast versucht etwas zu sagen, aber du warst unter Schock. Deswegen konntest du mich auch nicht davon abhalten zur Tür zu rennen, da ich den wahnwitzigen Plan hatte den Wagen freizuschaufeln, damit wir fahren

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konnten. Ich realisierte nicht, dass wir festsaßen. Das wollte mir nicht in den Kopf. Aber ich schaffte ohnehin keine zwei Schritte aus der Tür heraus. Ihr Fell war so schwarz, dass ich sie trotz der Dunkelheit dort draußen sehen konnte. Sie kamen nicht näher, hielten Abstand und blieben zwischen den Bäumen stehen. Als wollten sie uns nur beobachten, aber auch sicher gehen, dass wir nicht versuchten abzuhauen. Sie hatten Hörner, das konnte ich ganz deutlich erkennen. Und ihr Atem bildete Nebel vor ihren Schnauzen. Daran sah ich, wie viele es waren. Zurück in der Hütte schloss ich die Tür und sagte den anderen, was ich gesehen hatte. Bernd blieb bei dir, aber Christian ging an eines der Fenster, blickte nach draußen und fragte, was das für Dinger wären. Was waren sie, Julia? Ich habe eine Vermutung, aber dafür ist es zu früh. Lass mich noch darauf zu sprechen kommen, dass auch Bernd gebissen worden war, aber nur ein einziges Mal. Dich hatten sie fast auseinandergerissen. Ich wusste, dass du auf dieser Couch sterben würdest. Das war mir vollkommen klar. Ich wollte es nicht akzeptieren, aber da war so viel Blut und keine Möglichkeit schnell genug Hilfe zu holen. Weil ein paar Jugendliche sich in einer Hütte im Wald einschneien ließen. Ich hätte euch energischer drängen sollen, dass wir nicht dorthin fahren. Aber ich wollte euch nicht den Spaß verderben und in diesem Alter glaubt man noch, unsterblich zu sein. Dass nur anderen Menschen schlimme Dinge passieren können. –7–


Ich hasse mich jeden �ag dafür. –8–


Ich wusste, dass eure Idee idiotisch war und hatte mir schon als kleines Kind geschworen, auf meine fünf Minuten jüngere Zwillingsschwester aufzupassen. Darin habe ich versagt und das tut mir leid. Dein Todeskampf dauerte nicht lange, obwohl Bernd alles tat was er konnte, um dich zu retten. Viel war das natürlich nicht. Ich dachte, du hättest das Bewusstsein verloren und hab versucht, dich wachzurütteln. Irgendjemand muss mich von dir weg gezogen haben, denn sonst hätte ich dich nicht losgelassen. Sogar jetzt sehne ich mich noch danach, dich festhalten zu können. Dich dort liegen zu sehen und mich von dir zu entfernen bedeutete, dich aufzugeben. Ich erinnere mich kaum an die Stunden danach. Ich glaube aber, viel geschrien zu haben. Nein, eigentlich weiß ich, dass ich das getan habe. Ich warf mit Sachen um mich, beschimpfte Bernd und Christian. Ihnen gab ich die Schuld für das, was dir passiert war. Irgendwann ließen sie zu, dass ich neben dir kniete. Sie konnten mich nicht ewig von dir fernhalten und mich aus de, Weg zu wissen, gab ihnen Zeit Pläne zur Flucht zu schmieden. Aber da waren ja nicht nur diese Wesen, sondern auch all der Schnee. Wir würden es nicht schaffen. Unsere Handys funktionierten nicht, was entweder an der Abgeschiedenheit oder dem Wetter lag. Wir waren gefangen. Ich wollte da rausgehen und diese Tiere umbringen. Davon hast du ja nichts mehr mitbekommen, oder? Ich frage dich wegen dem, was in dieser Nacht passiert ist. Erinnerst du dich daran? Mein Gedächtnis lässt mich zwar im Stich, wenn ich an die ersten Momente nach deinem Tod denke, aber ich habe nichts von dem vergessen, was nachts passiert ist –9–


Es tut mir leid, aber ich bin irgendwann eingeschlafen. Trotz der draußen lauernden Tiere und deines Todes. Der Schock machte mich einfach müde. So reagiert der menschliche Körper eben, sagt mein Therapeut. Das macht es mir etwas einfacher, denn eigentlich wollte ich nicht mehr von deiner Seite weichen. Ich fühlte mich noch immer verantwortlich für dich. Trotzdem wachte ich irgendwann in einem der beiden Schlafzimmer auf. Ich dachte nicht eine Sekunde daran, dass könnte nur ein Traum gewesen sein es. Ich wusste, dass es echt war. Und ich trauerte immer noch um dich. Es war still in der Hütte. Und so kalt, dass ich fast meinen eigenen Atem im Form von kleinen Nebelwolken sehen konnte. Ich wollte nach einem der Jungs rufen, aber die Stille beunruhigte mich und ich stand auf, um nach ihnen zu sehen. Christian hatte sich im anderen Schlafzimmer hingelegt und Bernd war bei seiner Wache am Wohnzimmerfenster im Sitzen eingeschlafen. Im Kamin brannte ein schwaches Feuer, das den Raum in ein Halbdunkel tauchte. Du warst bei ihm. Obwohl es kaum Licht gab und du dich bereits verändert hattest, habe ich dich gleich erkannt. Deine hellen, blauen Augen strahlten geradezu in der Dunkelheit, als du mich angesehen hattest. Erinnerst du dich noch daran? Was hast du in diesem Moment in mir gesehen? Ich habe dich angesprochen, aber du reagiertest nicht. Du warst etwas größer als zuvor. Da Bernd dich fast nackt ausziehen musste, um an deine Wunden zu gelangen, konnte ich all das Fell an deinem Körper sehen. Damals wuchs es noch – 10 –


unregelmäßig. Dazwischen waren lauter kahle Stellen. Auf deinem Stirnansatz zeichneten sich bereits Hörner ab. Inzwischen trägst du ein Geweih.

Ich hoffe, dass deine Verwandlung schmerzlos war. Schließlich warst du schon tot, bevor es passierte. Wir sahen einander an und ich wollte deinen Namen sagen, als du dich bewegt hast. Aus irgendeinem Grund jagte es mir schreckliche Angst ein. Ich wusste, du würdest mir nichts tun, aber in diesem Moment wollte ich mich umdrehen und davon rennen. Doch du kamst nicht auf mich zu, sondern bist zur Tür gegangen und hast sie geöffnet. Die Tiere standen auf der Veranda, machten dir Platz, als hätten sie dich erwartet. Ich dachte, sie würden zu und hereinkommen und uns alle umbringen. Endlich gelang es mir, nach dir zu rufen. Es weckte Bernd auf, der verwirrt in meine Richtung sah. Ich erinnere mich daran in diesem Moment daran gedacht zu haben, dass er sich nicht verwandelt hatte. Obwohl er in die Hand gebissen worden war, bei dem Versuch dich zu retten. An ihm zeigten sie kein Interesse und hätte er nicht versucht dir zu helfen, wäre er heile davon gekommen. – 11 –


Wie ich später von ihm erfuhr, hatten die Tiere sehr schnell wieder von dir abgelassen. Als wollten sie dich gar nicht töten, sondern nur verletzen. Sie hatten es von Anfang an nur auf dich abgesehen und dennoch hat Bernd sein Leben für dich riskiert. Er ist ein guter Kerl, mit dem Herz am rechten Fleck. Deswegen wundert es mich, dass er Gefallen an dir fand. Versteh mich nicht falsch, du bist meine Schwester. Ich liebe dich. Aber du warst immer die Schwierige von uns beiden. Weißt du noch, wie du mit Papas Bankkarte zum Geldautomaten bist, weil du dachtest, ohne weiteres Geld für dich abheben zu können? Oder wie du zum ersten Mal betrunken nach Hause kamst? Unsere Eltern hatten stundenlang versucht dich zu finden, nachdem du von der Geburtstagsfeier einer Freundin spurlos verschwunden warst. Und du mochtest Drogen. Davon wissen unsere Eltern bis heute nichts, aber sie mussten dich zweimal wegen Ladendiebstahl aus dem Supermarkt abholen, einmal brachte die Polizei dich nach Hause, als du mit Freunden eine Scheune fast in Brand gesteckt hast. Du warst kein gutes Mädchen, aber meine Schwester. Und deswegen hielt ich immer zu dir. Ich kam mit zur Hütte, um dich vor dir selber zu schützen. Ich wollte nicht, dass du noch etwas tust, das du später bereust. In deinem Gepäck fand ich später Tabletten, die ich verschwinden ließ, bevor sie jemand anderes zu Gesicht bekommen konnte. Lange Zeit habe ich mich gefragt, was in dieser Nacht mit dir geschehen ist. Und jetzt wirst du vielleicht lachen, wenn du noch dazu in der Lage bist, aber ich habe das Internet nach einer Antwort auf diese Frage durchsucht. – 12 –


Dabei stieß ich auf die Legende vom Krampus.

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Während der Weihnachtsmann die artigen Kinder beschenkt, werden die unartigen vom Krampus bestraft. Zwar glaube ich auch weiterhin nicht an den Weihnachtsmann, aber die Krampusse habe ich mit eigenen Augen sehen können. Sie haben dich gebissen und angegriffen, aber keinen der anderen. Und Bernd hat sich deswegen nicht verwandelt, weil er im Gegensatz zu dir nie jemandem Probleme gemacht hat. Ich weiß, du liest das hier nicht gerne, aber so sehr ich dich als kleine Schwester geliebt habe, so sehr habe ich dich manchmal gehasst. Ich weiß, dass du mir hin und wieder etwas gestohlen hast. Dass du mit deinen Freundinnen hinter mein Rücken über mich hergezogen hast. Als ich mir von meinem ersparten Geld ein Kleid kaufte, hast du es zerschnitten. Nur weil du eifersüchtig warst. Du konntest eben nicht mit Geld umgehen und dir nie etwas kaufen, das dich wirklich glücklich machte. Und deswegen musstest du mir immer wieder schaden. Ich hielt trotzdem zu meiner kleinen Schwester. Egal, was du getan hast. Ich wollte dir niemals etwas Böses Aber als du in der Tür gestanden hast, bereits zur Hälfte verwandelt, da war ich froh, dass du gegangen bist. Nicht einmal Bernd hat versucht, dich aufzuhalten. Doch er hatte sicher nur zu viel Angst vor dir und deinen neuen Artgenossen. Als du an ihnen vorbei warst, schloss sich die Lücke zwischen ihnen und sie folgten dir in den Wald. Wenig später wart ihr fort. Ich habe um dich geweint, weil ich den Gedanken an deinen Tod nicht ertragen konnte. Aber zu wissen, dass du irgendwo dort draußen bist und die Bisse der Krampusse dich – 14 –


in etwas verwandelt haben, um dich für all deine Taten zu bestrafen, verschafft mir Genugtuung. Ja, ich denke gerne daran. Das sollst du wissen, bevor du gehst. Ich liebe dich als meine Schwester und ich vermisse dich. Aber nicht den Menschen, der du warst. Offiziell gilst du als tot. Ich habe unseren Eltern gesagt, dass du von Tieren angefallen wurdest. Dass wir blutige, zerrissene Kleidungsstücke, von dir im Schnee gefunden haben. Aber nicht deinen Körper. Es gab viele Verhöre. Man hing uns den Mord an dir an, konnte es jedoch nie beweisen. Inzwischen ist wieder Ruhe in mein Leben eingekehrt und das soll auch so bleiben. Deswegen bitte ich dich, nie mehr wieder zu kommen. Gönn uns beiden unseren Frieden, ja?

In Liebe, deine Schwester Folgen sie Thomas Williams auf Facebook: facebook.com/thomaswilliamsautor oder besuchen sie seinen Blog: thomas-williams-writes.blogspot.de – 15 –


Š Thomas Williams 2015


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