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Patrick Ziltener
from LEADER April 2021
by MetroComm AG
Der St.Galler Soziologe Patrick Ziltener ist Spezialist für Asien, speziell für China. Er unterrichtet an der Universität Zürich und war beim Staatssekretariat für Wirtschaft tätig. Unter Bundesrätin Doris Leuthard hat er ausserdem an den Verhandlungen zum Freihandelsabkommen mit Japan mitgewirkt. Professor Ziltener ordnet die Beziehungen der Schweiz zu China ein und skizziert, was der zunehmende Einfluss Chinas gerade auch auf Ostschweizer Firmen bedeutet.
Patrick Ziltener, der Ton zwischen der Schweiz und China wird schärfer; der Bundesrat hat im Rahmen seiner neuen Chinastrategie, in deren Zentrum der Dialog um Menschenrechte stehen soll, Kritik an der Menschenrechtslage geübt, worauf China ihm «böswillige Labels» unterstellte. Warum reagiert China so empfindlich auf Kritik?
Ja, die Schweiz hat in ihrer China-Strategie einige sensible Themen offen und direkt angesprochen. Die Reaktion Chinasist Standard, andere Länder haben das gleiche erfahren.
Nicht nur Chinas Botschafter in der Schweiz, Wang Shihting, spielt die ewig gleiche Leier von der «Einmischung in die inneren Angelegenheiten Chinas» ab, wann immer China kritisiert wird. Warum diese Dünnhäutigkeit, dieses Nicht-Umgehenkönnen (oder -wollen) mit Kritik?
Laut UNO haben «alle Völker das Recht, frei und ohne Einmischung von aussen ihren politischen Status zu bestimmen und ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung zu verfolgen», darauf beruft sich China. China sieht das als Grundprinzip der Diplomatie und der Weltordnung, die sie ja auch mittragen. Aufgrund unserer Forschung können wir sagen, dass China sich selber, z. B. im Zusammenhang mit der neuen Seidenstrasse in Afrika, auch daran hält.
Glaubt China wirklich, dass seine Menschenrechtsverletzungen niemanden etwas angehen?
China sieht seine Politik sogar als vorbildlich. Es wird so argumentiert: «Schaut her, wir haben den religiösen und separatistisch motivierten Terror in Xinjiang besiegt, es herrscht Sicherheit und Stabilität, und es gibt Ausbildung und Jobs. Vergleicht das mit dem westlichen Krieg gegen den Terror in Afghanistan, Irak und Syrien!»
In Deutschland hat der Kauf chinesischer Investoren von erheblichen Anteilen an Firmen wie Daimler, Heidelberg oder Bosch für Irritationen gesorgt. Wie weit geht der
«Ausverkauf der Heimat» in der Schweiz?
Die erste grosse Welle ist abgeflaut, nicht zuletzt wegen den politischen Gegenreaktionen, doch China nutzt alle
Register, wenn es darum geht, in einem priorisierten Tech- oder Wirtschaftssektor an die Spitze aufzuschliessen. Chinesische Firmen waren und sind bereit, 20 bis 50 Prozent mehr für ein westliches Unternehmen zu bezahlen als ihre Mitbewerber. Das heisst, es ist nicht vorbei, sondern chinesischerseits ist nur etwas Tempo zurückgenommen worden. Mit Saurer etwa haben sie eine Ostschweizer Marke für Stickereimaschinen übernommen, die als globale «Coca Cola»-Marke auf ihrem Gebiet gilt. Gut ist, dass es hier in der Ostschweiz noch viele Familienunternehmen gibt, die nicht einfach übernommen werden können.
Gemeinhin wird den Chinesen unterstellt, mit ihren Investitionen seien sie nur am Know-how der jeweiligen Firma interessiert, das nach China transferiert werden soll. Unternehmen und Angestellte seien ihnen egal.
Sicher wird Know-how und geistiges Eigentum transferiert.
Interessanterweise zeigt die Forschung, dass chinesische Investoren bei Belegschaften und Arbeitnehmervertretungen nicht unbeliebt sind – weil sie die Dinge in den allermeisten Fällen so weiterlaufen lassen, wie sie laufen. Also keine grossen Umstrukturierungspläne, wie das vielleicht konkurrierende Unternehmen machen würden, und keine Firmenzerschlagungen und -verkäufe, wie das bestimmte kurzfristig orientierte westliche Investoren tun.
Wie müsste der Gesetzgeber auf die chinesische Bedrohung reagieren?
Es ist nicht angebracht, von Bedrohung zu sprechen. Mit China ist ein neuer Player in die Welt gekommen, dessen Gewicht und Handlungsgeschwindigkeit bedrohlich wirken. Für absehbare Zeit werden sich die Chinesen aber weitgehend an die Regeln dieser Weltordnung halten – die sie im Übrigen nicht mitgeschaffen haben und an die sich die andere Supermacht je nach Situation auch nicht hält, nicht erst seit Ex-Präsident Trump.
Wem bringt das Freihandelsabkommen mit China etwas?
Es sind Fälle bekannt geworden, in dene China gegen alle Konkurrenten – nicht nur schweizerische Unternehmen – neue regulatorische Hürden geschaffen hat. Eine solche Industriepolitik widerspricht der Idee vom Freihandel, aber dagegen nützt ein bilaterales FHA leider nichts. Wenn aber bald die letzten Zollabbau-Schritte seitens China gemacht werden, dann wird sich das Spar-Potenzial für Schweizer Unternehmen im Export nach China auf über eine halbe Milliarde jährlich belaufen. Mit dem erwartbaren Exportwachstum wird das noch weiter zunehmen. Hauptnutzniesser sind Chemie/Pharma, die MEM- und die Uhrenindustrie. Sicher wird dieses Potenzial nicht vollständig realisiert, schätzungsweise nur etwa zur Hälfte, aber das sind Wettbewerbsvorteile, die kein Unternehmen in der EU oder in den USA geniesst – und noch lange nicht geniessen wird.
Dann sind Sie dafür?
Absolut! Das FHA mit China ist ein Privileg, das der Schweiz viel mehr nützt als China. Es wäre töricht, das aufzugeben. Schweizer Unternehmen sind so schon massiv unter Druck, z. B. wegen der starken Währung.
Während sich Europa und die USA weltpolitisch für Frieden und die Bekämpfung des Klimawandels einsetzen, hat China nur die eigenen Interessen im Sinn. Täuscht dieser Eindruck?
Ja. Gerade in der Klimapolitik tritt China als kooperativer und verlässlicher Partner auf. Gleichzeitig verbraucht China die Hälfte der Kohle weltweit, und niemand baut mehr Kohlekraftwerke auf der Welt als China. Das ist widersprüchlich, richtig, aber ich denke, dass China sein Ziel, bis 2060 klimaneutral zu werden, ernst meint. Und nicht nur das: Das soll auch ein grosses Geschäft werden, bei dem China die führenden Technologien und Anlagen weltweit verkauft.
China definiert den Begriff «Entwicklungshilfe» auch ganz anders als der Westen: Während bei uns Milliarden à Fonds perdu nach Afrika fliessen, kauft sich China Häfen, baut Fabriken und sichert sich Bodenschätze. Verliert auch hier Europa Einfluss und Bedeutung?
Das ist definitiv der Fall, wie unsere neuste Forschung zeigt. China betreibt auch Entwicklungshilfe, aber diese steht nicht im Vordergrund. Auch da sind die Chinesen sehr selbstbewusst: Die westliche Strategie habe versagt, die Projekte im Rahmen der neuen Seidenstrasse seien Win-win-Projekte, von denen beide Seiten profitieren und die das jeweilige Land besser voranbringen, als es der Westen in den letzt 50 Jahre geschafft habe. Ich bin gegen Vorverurteilungen – schauen wir aber genau hin!
Welche Gefahren bringt die Ausbreitung des chinesischen Systems für den Westen mit sich?
Ich denke nicht, dass das System als solches sich ausbreitet und ausbreiten will. China hält sich für einzigartig, für nicht kopierbar. Die offizielle Position ist: «Wir exportieren unser Modell nicht, aber wenn ein Land von unserer Erfahrung und unserem Vorgehen lernen will, dann raten wir nicht ab.» Mit dem Auftreten Chinas gehen aber tektonische Verschiebungen einher, die die Welt verändern. Es gibt keinen anderen Weg, als sich an diese neue Welt zu gewöhnen und darauf intelligent zu regieren. Bis jetzt hat der Westen weit unter seinem Intelligenzniveau agiert. Vor allem im Bereich langfristig strategisches Denken ist uns China zur Zeit, vielleicht sogar grundsätzlich, weit überlegen.
Und wann wird China die USA als Weltmacht Nr. 1 ablösen?
Wirtschaftlich wird es noch lange eine Wettbewerbssituation geben, in der die USA bestimmte Sektoren dominieren und China andere. In der Welt der Entwicklungs- und Schwellenländer ist China bereits dominant, weil es fortgeschrittene Technologie zu günstigen Preisen anbieten kann – Preise, die weit unter denen westlicher Unternehmen liegen und zudem durch staatliche Kredite gestützt werden.
Auch politisch erleben wir diese Polarisierung.
Richtig – die westliche Allianz auf der einen, eine von China und anderen Schwellenländern angeführte, sich kurzfristige formierende und nicht längerfristig zusammenhaltende Gruppe auf der anderen. Letztere dürfte etwa doppelt so viele Länder umfassen wie die erstere. Es ist offensichtlich, was das für die UNO oder die Welthandelsorganisation bedeutet. Die gute Nachricht ist, dass China nicht als Mitbewerber um die Rolle als Weltpolizist auftritt. So teure, riskante und undankbare Rollen überlassen sie gerne den USA. Sie werden den USA aber Alleingänge ohne UNODeckung zunehmend schwer machen.
Welche Folgen wird dieser Wandel für die globale Wirtschaft und für jeden von uns haben?
Ich denke nicht, dass wir eine Neuauflage des Kalten Krieges erleben werden. Es gibt keine Demarkationslinien wie damals. China ist aber bereits überall, hier nehmen wir das nur wenig wahr. Als Schweiz sind wir noch gut aufgestellt und haben, wie die China-Strategie richtig sagt, auch kein Interesse an einer solchen Konstellation. «Auf Kurs bleiben» – das ist der Kern der China-Strategie. China sieht in der Schweiz keine Bedrohung, wir sind nicht Teil eines Machtblockes, China spricht mit uns in bestimmten Angelegenheiten – das ist ein Angebot, das nur wenig Länder haben.
Text: Stephan Ziegler Bild: zVg