Der nahe Osten von Kanada

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Donnerstag 23. April 2009

Freie Presse Reisemagazin

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Der nahe Osten von Kanada Wild, charmant und anregend: Nova Scotia und New Brunswick verblüffen mit Natur- und Gourmetfreunden – Begegnungen mit deutschen Auswanderern jenseits des Atlantiks

Herausragende Lage: Das Restaurant am Cape d’Or im umgebauten Leuchtturmwärter-Haus.

Wenn die Flut so mächtig wie nirgendwo anders in der Welt in die Bay of Fundy drängt, gehen auch die fantasievoll geformten Felsen der Hopewell Rocks baden.

Von Hubert Kemper (Text und Fotos)

D

as Paradies in der Wildnis ist leicht zu verfehlen. Nur ein winziges Schild an der einsamen Hauptstraße weist auf die Abbiegung zur Schotterpiste hin. Die windet sich vier Kilometer durch den dichten Wald und endet an einer Feriensiedlung mit sieben schmucken Holzhäusern. Ihr zentraler Punkt ist eine rustikale Lodge mit bestem Blick auf die Stelle, wo der Mersey River in einen See mündet. Andrea Wegerer hat das Haus zusammen mit ihrem Lebensgefährten Tim Atkins gebaut. Den Stolz auf die Anlage zeigt sie unverblümt. „Kann man sich einen schöneren Platz in der Welt vorstellen?“, fragt die Schwäbin beim Frühstück. Wenig später liefert sie den Beweis. Andrea gibt uns im Bootshaus Paddel und Schwimmwesten. Am nahe gelegenen Steg suchen wir ei-

Farbenprächtige Holzhäuser sind der Blickfang von Lunenburg. Die von Deutschen gegründete Stadt hat ihren kolonialen Charme behauptet und steht unter dem Schutz des Weltkulturerbes der Unesco.

und lächelt versonnen. „Wo finde ich daheim diese Ruhe und diese Freundlichkeit?“ Wenn der Shubenacadie River rückwärts fließt Die Größe des Landes, die Einsamkeit und die majestätische Natur mit der steten Nähe des Meeres prägen den Menschen. So wie Heather. Sie ist das Herz von Urbania, einer winzigen Siedlung eine Autostunde nördlich von Halifax, Provinzhauptstadt und Ausgangspunkt unserer Reise. Urbania verdankt seine Existenz der erhabenen Lage oberhalb des Shubenacadie Rivers und des Phänomens Gezeitenstrom. Der drängt bei einsetzender Flut mit solcher Macht in das Mündungsgebiet des Flusses, dass dieser plötzlich seine Fließrichtung ändert und eine Fahrt mit dem Schlauchboot zu einem unvergleichlichen Erlebnis wird. „Keine Angst, bis jetzt ist noch niemand ertrunken“, verspricht Heather, bevor wir uns morgens in die

Nirgendwo auf der Erde ist der Gezeiten-Unterschied so groß wie an der Bay of Fundy: Bis zu 16 Meter. nes der leichten Kanus aus. Die Sonne lässt im glasklaren, von Seerosen geschmückten Wasser die einsetzende leuchtend rote Herbstfärbung der Laubbäume widerspiegeln. Indian Summer in Nova Scotia. Zur vollendeten Komposition des friedlichen Bildes passt die Stille. Wir lassen uns treiben, schließen die Augen. Kein Zivilisationsgeräusch stört die Stimmung, die Seele baumelt. 1,5 Millionen Quadratmeter zählt das Grundstück, das Andrea Wegerer seit 1996 mit einigen Partnern in eine komfortable Urlaubsoase in der Einsamkeit des Kejimkujik-Nationalparks verwandelt hat. Tim Atkins, der an den Rollstuhl gefesselt ist, setzte die Vorgaben für eine behindertengerechte Ausstattung. „Nach Deutschland wieder zurück?“, greift Andrea Wegerer die Frage auf

gelben Schutzanzüge zwängen. Tatsächlich haben wir es überlebt, die grollend anrauschende Flut, die über uns wegschwappenden Wassermassen, den wilden Ritt auf den bis zu vier Meter hohen Wellen und den Schlamm, der uns nach bestandenem Abenteuer überzog. Die Bay of Fundy trennt Nova Scotia und New Brunswick. An keiner Stelle der Welt ist der Unterschied zwischen Ebbe und Flut so gewaltig wie an den Küstenstreifen der beiden Provinzen im Nordosten Kanadas. An manchen Stellen beträgt er bis zu 16 Meter. Zieht sich das Wasser zurück, produziert es bizarre Bilder wie Fischkutter, die im Hafengrund festliegen, und Festmahle für Zugvögel, die sich im Schlick an Schrimps satt fressen. An den Hopewell Rocks, fantasievoll ge-

formten Sandsteinformationen, sollte man den Strand rasch verlassen, wenn der Atlantik 100 Millionen Tonnen Wasser in die Meerenge drückt und den Pegel um bis zu 16 Meter ansteigen lässt. Leuchttürme umgeben die Küstenregionen. Sie sind Wahrzeichen des atlantischen Kanada, und gelegentlich senden sie ihre Signale auch an Gourmetfreunde aus. So wie in Cape d’Or, wo Darcy Snell das kleine Leuchtturmwärter-Haus in ein exzellentes Restaurant umgebaut hat. Wer die tolle Küche – Spezialität: Jakobsmuscheln – und die herausragende Lage oberhalb der Klippen mit herrlichem Blick über die Bay of Fundy genießen will, muss die Unterbringung in einer einfachen Herberge und das durchdringende Tuten des Nebelhorns in Kauf nehmen. Zweimal pro Minute ertönt es dreimal in Folge. In dieser Nacht reißt der Nebel glücklicherweise gegen 3 Uhr auf, und das Geräusch erstirbt. Am nächsten Tag treffen wir einen Elch. Mitten auf der Straße steht er und scheint ebenso erstaunt wie wir. Nach zwei Schrecksekunden trottet er in den Wald zurück. Auf diese Begegnung sind wir nicht gefasst, wohl aber auf ein Schalentier, das nirgendwo so stark den Speiseplan bestimmt wie hier: den Hummer. Shediac in New Brunswick gilt als die Lobster-Hauptstadt der Welt. Und Alain Champoux als der am schnellsten zweisprachig die Geheimnisse des Hummerfangs erklärende Fachmann. Sagenhaft, in welchem Stakkatotempo der Franko-Kanadier in Englisch und Französisch den Bootsausflug mit Witz und Wissen bereichert. Natürlich dürfen wir den frischen Fang kosten. Ob er geschmeckt hat? – Na ja. Vielleicht hat doch die richtige Soße gefehlt. Der Prophet Eric Welsh und die Riesensäuger der Ozeane Wild und anmutig ist die Küstenlandschaft, die wir auf dem Weg zwischen Moncton und Saint John, den beiden großen Städten New Brunswicks, durchfahren. Der Fundy National Park ist ein Dorado für Wanderer, die einsamen Strände laden zu langen Spaziergängen ein. Wohl fühlen sich auch die Finnwale im

kalten, an Fischfutter reichen Bay of Fundy. Eric Welsh hat eine Nase dafür, wo die bis zu 27 Meter langen und bis zu 80 Tonnen schwere Säugetiere am liebsten auftauchen. Mit seinem 200 PS starken Schlauchboot „Tide Runners“ startet er von St. Andrews aus. „Zwischen 95 und 100 Prozent“ beziffert der die Chance, Wale zu erleben. Bei uns stimmt jedenfalls die Prophezeiung. Die Schönheit der Natur lockt viele Deutsche an. Axel und Margret Bergner beispielsweise sind 1990 aus dem Ruhrgebiet ausgewandert. In Saint John, der größten Stadt von New Brunswick, führen sie das Opernbistro und freuen sich, wenn ein Ozeanriese wie die Queen Mary seine Touristenheere auf Landgang schickt. „Mehr Arbeit, weniger Kulturangebot, aber mehr Freiheit“, lautet die Zwischenbilanz des Gastronomenpaares. Über den „unvergleichlichen Gegenwert des Geldes“ freuen sich Chris und Graziella Aerni aus Luzern. Sie unterhalten das Rossmont Inn bei St. Andrews. „Ein solch

Vollendete Komposition: Wenn sich die beeindruckende Färbung der Laubbäume im glasklaren Wasser spiegelt, darf die Seele des Urlaubers baumeln.

großzügiges Anwesen hätten wir uns in der Schweiz nicht leisten können“, sagen sie. Jetzt verzaubern sie mit ihren Kochkünsten Gäste an der golfplatzschönen Küste Ostkanadas. Die Princess of Arcadia kennt bessere Tage. 38 Jahre hat die Fähre, die täglich zwischen Saint John und Digby verkehrt, auf dem Buckel. Kapitän Oral Hamilton ist ein freundlicher Mensch, erklärt die Technik seines Schiffes, erzählt von einträglicheren Zeiten, als die Menschen weniger auf das Auto setzten und schwärmt von den Jakobsmuscheln, die in Digby die besten der Welt sein sollen. Erinnerungen an Finnlands und Schwedens Küsten Der Reisekreis schließt sich. Nova Scotia hat uns wieder. Wir lassen Lunenburg, diese von deutschen Einwanderern gegründete und im Kolonialstil erhaltene Stadt, auf uns wirken. Mit der Blue Nose II legen wir zu einer kurzen Schnupperfahrt ab und bewundern die prächtigen

Holzhäuser aus der See-Perspektive. Dann geht es weiter an einer bezaubernden Küstenlandschaft, die uns nach Finnland oder Schweden zu versetzen scheint. Chester, eine kleine Stadt nahe Lunenburg, strahlt an diesem sonnigen Tag mediterranen Charakter aus. Der letzte Höhepunkt vor Halifax ist ein Leuchtturm. Uns wundert das nicht mehr. Doch „Peggys Cove“ ist diesen Zwischenstopp wert. Herausragend ist die Lage des Turms auf einem riesigen Granitsteinblock. Und anmutig wie die schwedische Schärenlandschaft sind die kleinen Fischerorte, die unseren Weg an der Fjordküste begleiten. Kein Wunder, dass es auch hierhin viele heimatmüde Deutsche gezogen hat. Und vielleicht spielt auch mit, dass kein (Flug-)Weg von Nordamerika nach Europa so kurz ist wie von Halifax. Hier gehen fast alle Kreuzfahrtschiffe auf ihren Atlantik-Routen vor Anker und lassen ihre Passagiere nur ahnen, welche Schönheiten Nova Scotia zu bieten kann.

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Die kanadische Atlantikprovinz Nova Scotia (Neuschottland) ist mit rund 60.000 Quadratmetern etwas kleiner als Bayern, zählt aber nur 850.000 Einwohner. Nova Scotia ist eine Halbinsel, die nur durch eine Landzunge mit dem Festland verbunden ist. Die Küste hat eine Länge von 7500 Kilometer. New Brunswick (Neubraunschweig, 70.000 Quadratkilometer, rund 730.000 Einwohner) ist die einzige offizielle zweisprachige kanadische Provinz. 35 Prozent der Bevölkerung sprechen Französisch. Das milde Klima ist durch die Meeresnähe geprägt. Nova Scotia liegt auf dem gleichen Breitengrad wie Norditalien oder Südfrankreich. Ideale Reise-Monate sind September und Oktober. Anreise: Condor fliegt bis Oktober montags und mittwochs von Frankfurt am Main (mit Lufthansa-Anschlussflügen von Dresden und Leipzig) nach Halifax. Flugzeit: sieben Stunden Weitere Informationen: Fremdenverkehrsamt Nova Scotia, Telefon: 02104 797454, Internet: www.novascotia.com; New Brunswick Tourism & Parks, Internet: www.tourismnewbrunswick.ca, www.canada.travel


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