DenkanstรถSSe Magazin 02
Gรถtter
Wer rettet die Schรถpfung
vor den Menschen?
ร ber Religion und Umweltschutz 1
Lucas Cranach der Ältere, Das Paradies, 1530, Gemäldegalerie Alte Meister, Dresden
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Ralf Schmerberg, Plastic Desert, Kairo, 2010
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Verw端stung durch den Taifun Morakot im August 2009 im S端dwesten von Taiwan. Foto: Reuters/Stringer
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Inhalt 12 Vorwort Wer hat eigentlich angefangen? 14
Christentum
Gotthard Dobmeier über Nachhaltigkeit und Schöpfung
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Judentum
Rabbiner Yitzhak Ehrenberg über Pflicht und Tradition
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Islam
Amir Mohammed Herzog über Ausbeutung und Genügsamkeit
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Hinduismus
Avnish Kumar Lugani über Mensch, Natur und das All-Eine
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Buddhismus
Gelongma Lama Palmo über Achtsamkeit und Fortschritt
113 Mit dem kopf durch die wolken Christina von Braun über Utopie und Verantwortung 125 Gottes neue Nachhaltigkeit Jens Schlieter: Wie Religionen Ethik und Moral entdeckten 135 Impressum
Cover: Pieter Bruegel der Ältere, Fall der Engel, 1562, Musées royaux des Beaux-Arts de Belgique, Brüssel
Der von Roman Ondak f端r die Slowakische Republik gestaltete Pavillon Loop, 53. Biennale, Venedig. Foto: Sofia Uguccioni
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„Unsere derzeitige Naturwissenschaft und Technik sind so sehr von einer orthodox-christlichen Arroganz gegenüber der Natur durchsetzt, dass von ihnen allein keine Lösung unserer ökologischen Krise erwartet werden kann. Da die Ursachen unserer Probleme größtenteils religiöser Art sind, muss auch das Gegenmittel im Wesentlichen ein religiöses sein.“ – Lynn Townsend White (1907-1987), US-amerikanischer Historiker
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Rauchschwaden nach dem Untergang der テ僕plattform Deepwater Horizon im Golf von Mexiko, 2010. Foto: Reuters/Lee Celano
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Wer hat eigentlich angefangen? Stammt die Idee, die Erde auszubeuten, aus den Rel Sind es die Schöpfungsmythen der großen Glaubens den letzten Tropfen auszupressen? Hat unsere Gier mit der Vorstellung zu tun, dass Gott untertan machen? Oder zerstören wir, weil wir Menschen sind? Zu kurzsichtig für die Folgen unseres Handelns, die s auswirken? Brauchen wir einfach noch etwas mehr Zeit, bis wir w Falls dem so ist: Kann es sein, dass die Weltreligione Beschränktheit bieten? Schließlich sprechen alle über die Ursprünge, das Un Sind Religionen nachhaltig? Oder machen sie uns üb Diese Fragen haben wir namhaften christlichen, jüdisc Theologen gestellt. Das Christentum zählt annähern Hinduismus und Buddhismus annähernd 1,3 Milliarde auf der Erde. Demnach repräsentieren diese fünf Rel Die Antworten der Weltreligionen sind eindeutig. Jede von ihnen spricht über die Heiligkeit der Schöpfu problematische Position des Menschen. Die Schuldf Und damit ist auch klar, wer die Verantwortung für di
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nendliche, Große und über die Schöpfung. berheblich? chen, islamischen, hinduistischen und buddhistischen nd 2,2 Milliarden, der Islam fast 1,4 Milliarden, en Zugehörige. 6,9 Milliarden Menschen leben derzeit ligionen mehr als 70 Prozent der Weltbevölkerung.
ung, die Einheit allen Seins und die außerordentliche, frage ist für alle geklärt. ie Schöpfung übernehmen sollte.
Marienprozession in Almonte, Spanien, 2010. Foto: Reuters/Javier Barbancho
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Christentum
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Adrian Kenyon, Miner Earthquake, 2009, Fotocollage
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Gotthard Dobmeier, Zentraler Ansprechpartner für Umweltfragen der Deutschen Bischofskonferenz, über die Frage, ob die Kirche zum Umweltschutz verpflichtet ist
Herr Dobmeier, als Gott die Welt schuf, sagte er: „Es war sehr gut.“ Wie würden Sie den gegenwärtigen Zustand der Erde beschreiben? Die Erde ist ein begrenztes System, dem derzeit immer mehr Ressourcen entnommen werden, vor allem Energieressourcen. Dies geschieht in immer kürzeren Zeitabständen, so dass die Regenerationsfähigkeit der Erde geschwächt wird. Ich denke hier an ein Wort des Apostels Paulus: „Die gesamte Schöpfung seufzt bis zum heutigen Tag und liegt in Geburtswehen.“ (Röm 8, 22) Das beschreibt auch den heutigen Zustand der Erde sehr gut. Das würde bedeuten, die Schöpfung ist noch nicht abgeschlossen. Was folgt daraus für die religiöse Praxis der Christen? Daraus ergeben sich mehrere Folgerungen. Zunächst sagen wir Christen bereits in unserem Glaubensbekenntnis: „Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde.“ Das macht deutlich, dass die Welt ein göttliches Geschenk ist. Und das fordert die Gläubigen auf, daraus Konsequenzen für ihren Lebensalltag zu ziehen. Aus diesem Schöpfungsglauben ergibt sich also die ganz besondere Verantwortung, darauf zu achten, wie es um unsere Welt steht und wie wir diese Welt so gestalten, dass sie lebenswert wird und lebenswert bleibt. Aber die Bibel verlangt auch, der Mensch solle die Erde beherrschen, sie sich untertan machen. Ist das nicht ein Widerspruch? Der Schöpfungsauftrag aus der Genesis ist im Kontext einer königlichen 17
Hofsprache zu verstehen. So wie ein König sich um seine Untertanen und das, was zu seinem Königreich gehört, kümmert und sorgt, so soll der Mensch für diese Welt sorgen. Daher schließt der Schöpfungsauftrag Willkür oder Zerstörung oder Verantwortungslosigkeit aus. Der Mensch soll die Welt in Besitz nehmen und urbar machen, aber er darf sie nicht zerstören. Der Mensch ist Mandatar Gottes in dieser Welt, nicht ihr willkürlicher Herrscher. Dennoch entsteht der Eindruck, dass religiöse Konzepte wie das Christentum den Raubbau an der Natur befördern. Zunächst einmal ist das Christentum kein religiöses Konzept, sondern der Glaube an die Offenbarung Gottes. Wenn wir als Christen davon ausgehen, dass der Mensch Beauftragter Gottes ist und aufgrund der Beziehung zu Gott verantwortlich handeln muss, so kann man dem Schöpfungsauftrag nicht anlasten, für Umweltbelastungen und -zerstörungen verantwortlich zu sein. Eine solche lineare Konsequenz sehe ich nicht, weil sie nicht dem biblischen Befund entspricht. Unbestritten ist freilich, dass sich Christen im Laufe der Jahrhunderte an der Schöpfung vergangen haben und die Kirche an vielen Punkten zu wenig eindeutig dazu Stellung genommen hat. Das sind natürlich schuldhafte Situationen. Nur ist dieses Versagen nicht zurückzuführen auf den Schöpfungsauftrag. Vielmehr liegt es in der freien Entscheidung dessen, der sich schuldhaft verhält. Steht unser Egoismus nicht im direkten Gegensatz zu einem der zen tralen Begriffe neutestamentlicher Ethik, nämlich der Nächstenliebe? Liebe ist zunächst fundamentaler Glaubensauftrag jedes Christen und muss wesentlicher Bestandteil seiner Glaubenspraxis sein. Caritas, also die Liebe, ist sicherlich nicht vereinbar mit Egoismus, denn Liebe ist etwas, das man empfängt, geschenkt bekommt. Wir sind beauftragt, 18
Diego Velรกzquez, Papst Innozenz X., 1650, Galleria Doria Pamphilij, Rom
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die Liebe weiterzugeben, sie anderen zu schenken in der Nächstenliebe. Natürlich gehört die Selbstliebe zum Menschen. Sie wird allerdings nur dann richtig entfaltet, wenn sie in Beziehung zur Nächstenliebe steht. Es braucht hier eine Balance. Sofern ich die Selbstliebe herauslöse aus dieser Balance, besteht die Gefahr, dass sie zu Egoismus wird. Nächstenliebe meint aber auch die Liebe zu unseren Mitgeschöpfen. Auch ihnen gegenüber sollen wir liebevoll sein. Ich denke hier an ein Wort aus dem Buch der Weisheit im Alten Testament: „Du schonst alles, weil es dein Eigentum ist, Herr, du Freund des Lebens.“ (Weish 11, 25) Daher sollen wir lebensfreundliche Menschen sein – und zwar des ganzen Lebens, eines Lebens in Fülle. „Die Kirche hat eine Verantwortung für die Schöpfung und muss diese Verantwortung auch öffentlich geltend machen“, sagt Papst Benedikt XVI. Wie soll das gehen? Wie kann die Kirche den nachhaltigen Umgang mit der Natur befördern? Ich sehe drei Bereiche: Zunächst sollte innerhalb der Kirche bewusstseinsbildend gearbeitet werden. Damit meine ich die gesamte Bildungsarbeit der Kirche, den Religionsunterricht, die Verkündigung und die Gottesdienste. Der zweite Bereich muss sich aus dem ersten ergeben, nämlich das schöpfungsgemäße Handeln der Kirche in allen Strukturen. In diesem Bereich ist in den vergangenen Jahren innerhalb der Kirche viel geschehen, was den Umgang mit Energie, die Nutzung regenerativer Energien, die nachhaltige Mobilität oder die Ernährung betrifft. Viele kirchliche Einrichtungen prüfen im Rahmen von Energiechecks ihr Energieverhalten und eruieren Energieeinsparungspotenziale. Größere Einrichtungen haben Umweltmanagementsysteme installiert, um deutlich zu machen: Wir wollen alles tun, um unsere Lebensund Wirtschaftsweise nachhaltig zu gestalten. Der dritte Bereich ist die 20
Francis Bacon, Studie nach Velázquez‘ Porträt von Papst Innozenz X., 1953. Courtesy: Francis Bacon/VG Bild-Kunst
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Positionierung der Kirche in öffentlichen Diskursen. Ich denke etwa an eine sehr deutliche Erklärung zum Klimaschutz, die der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Erzbischof Dr. Robert Zollitsch, 2009 im Vorfeld der Klimakonferenz in Kopenhagen abgegeben hat. Aus der Bewusstmachung muss jedenfalls ein entsprechendes Handeln folgen. Reden ohne Tun wäre keine Hilfe. Kann Franz von Assisi ein Vorbild für unser Handeln sein? Der heilige Franziskus hat in ganz hervorragender Weise die ethischen Konsequenzen daraus gezogen, dass Gott ein Freund des Lebens ist. Der vertiefte Glaube an den Schöpfer brachte ihm auch seine Mitgeschöpfe in außerordentlicher Weise nahe. Obschon der heilige Franziskus vor über 800 Jahren gelebt hat, ist er noch heute ein Vorbild für den richtigen und nachhaltigen Umgang mit der Schöpfung und dafür, was Askese heute bedeuten kann, wobei Askese heute sehr negativ konnotiert ist – zu unrecht! Askese kommt vom altgriechischen „askein“ und heißt üben. Für mich ist also Askese die Einübung von etwas Neuem. 22
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Nathan Coley, There Will Be No Miracles Here, 2006, Mount Stuart, Schottland. Courtesy: Nathan Coley and doggerfisher
Askese braucht nicht das Büßergewand, sondern meint die Offenheit für Veränderungen und Wandel, bezeichnet eine innere Grundhaltung, die Bereitschaft, sein Leben neu zu orientieren, neu auszurichten. Genau diese Bereitschaft, die man Askese nennen könnte, ist heute wichtiger denn je. Müssen wir denn überhaupt die Religionen anrufen, um Verantwortung für die Umwelt zu übernehmen? Kann es nicht auch Ethik und Moral ohne religiöse Vorüberlegungen geben? Um zu einer intensiven Verantwortung für die Schöpfung kommen zu können, braucht die Umweltethik die Anbindung an Religion. Ansonsten bliebe das Ganze ohne den letzten Rückhalt. Hinsichtlich meines Handelns muss ich mich ja immer wieder fragen, wie ich der Umwelt gerecht werden kann. Zweifelsohne gibt es auf diese Frage viele Antworten. Um aber dieses Wie wirklich leben zu können, muss ich auch wissen, warum ich etwas tue. Und das Warum ist im Grunde die Rückbindung an die ethisch-religiöse Komponente, die für mich unverzichtbar ist. Sich im Rahmen des Natur- und Umweltschutzes nur der Wie-Frage zu stellen, wird langfristig nicht reichen. Wir müssen uns auch der Warum-Frage stellen. Ist die Frage nach dem Warum nicht längst beantwortet? Das Christentum scheint zu unbeweglich, um neue Antworten zu geben. Das Christentum ist eine ganz lebendige Religion, die immer darum weiß, dass sich Menschen aus freiem Willen falsch entscheiden können. Es weiß um die Begrenztheit, die Schuld des Menschen, die die Lebensgeschichte jedes Menschen durchzieht. Aber das Christentum verharrt eben nicht bei diesem Wissen, sondern ist immer darauf ausgerichtet, dass Wandel geschieht, dass sich Neues entwickelt. „Wandelt euch und erneuert euer Denken“ (Röm 12, 2) ist ein biblisches Wort. Und da ist 24
„Nachhaltigkeit ist für die katholische Kirche ein gesellschaftliches und ethisches Leitbild. Solidarität für jetzige und für zukünftige Generationen; Gerechtigkeit, die die Welt als Ganzes umfasst, insbesondere mit Blick auf die Menschen in den Entwicklungsländern; Verantwortung für die Schöpfung in einem umfassenden Sinne, Verantwortung für ein Leben in Fülle.“ – Gotthard Dobmeier
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Giuseppe Arcimboldo, Kaiser Rudolf II. als rรถmischer Gott Vertumnus, 1590/91, Skoklosters slott, Schweden
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theologisch die Umkehr von größter Bedeutung. Nur weil wir einen bestimmten Weg beschritten haben in der Vergangenheit, dürfen wir den nicht unbesehen weitergehen, einfach darauf beharren. Vielmehr müssen wir immer bereit sein, neue Wege zu gehen, umzukehren. Das ist im Grunde die zentrale Botschaft des Neuen Testaments: die Umkehr. Sünde und Schuld sind ganz eindeutig Kennzeichen der Geschichte der Menschheit. Aber wir können umkehren. Auch die Kirche muss die eigene Geschichte, das eigene Wirken immer wieder kritisch hinterfragen. „Ecclesia semper reformanda“, die Kirche muss sich immerfort reformieren, sich neu in Form bringen. Nur so kann sie ihrem Auftrag gerecht werden. Andernfalls verlöre die Kirche ihre Glaubwürdigkeit in der Gesellschaft und ihre Lebendigkeit. In wessen Verantwortung liegt der Umweltschutz? Nur gelebte Nachhaltigkeit kann politische Maßnahmen wirksam werden lassen. Hier ist jeder einzelne und sind wir als Christen gefordert. Für die katholische Kirche ist die Nachhaltigkeit nicht allein ein gesellschaftliches, sondern ein ethisches Leitbild, in dem drei Aspekte eine zentrale Rolle spielen: Solidarität, die sich auf jetzige und zukünftige Generationen bezieht; Gerechtigkeit, die die Welt als Ganzes umfasst, insbesondere im Hinblick auf die Menschen in den Entwicklungsländern; Verantwortung für die Schöpfung in einem umfassenden Sinne, Verantwortung für ein Leben in Fülle. Was ist Energie? Und was ist Ihre wichtigste Energiequelle? Für mich ist – aus meiner ganzen Lebenserfahrung heraus – Gott diese Quelle. Energie ist für mich aber auch Ruhe, Besinnung, Meditation, Kontemplation und ganz besonders die Musik, die mir sehr viel Kraft gibt. Ich bin von der benediktinischen Tradition „ora et labora“ geprägt, bete und arbeite. Da klingt das an, was man als „vita activa“ und 27
„vita contemplativa“ bezeichnet hat. Und vergessen wir nicht, dass das „ora“ in den Benediktinerklöstern ja keinesfalls bedeutet, dass nur gebetet wird. Nein, es geht darum, die Arbeit zu unterbrechen, zur Ruhe zu kommen, die Natur zu betrachten. Ist es vielleicht das, was uns fehlt, um Verantwortung zu übernehmen: die kontemplative Anschauung der Natur? So ist es. Nur dadurch kann die Natur in ihrem unerschöpflichen Eigenwert wieder in den Blick kommen. Ich schätze die Natur ja erst, wenn ich sie tatsächlich genießen kann, wenn ich ihre Schönheit zu Bewusstsein kommen lasse. „Nur was ich liebe, werde ich schützen“, heißt ein bekanntes Wort. Deshalb braucht der Naturschutz beides, das Wie, aber auch das Warum. Andernfalls wäre er bloß pragmatisch und aktionistisch. Und das Warum sollte eben die Liebe zur Natur als Schöpfung Gottes sein.
Gotthard Dobmeier (geb. 1944) studierte Theologie und Philosophie und war Vorsitzender der katholischen Landvolkshochschulen in Bayern und Deutschland. Er war von 1986 bis 2007 Beauftragter für Fragen der Kirche und Umwelt der Erzdiözese München und Freising und Sprecher der Umweltbeauftragten der bayerischen Diözesen. Von 1992 bis 2007 war er auch Sprecher der Arbeitsgemeinschaft der Umweltbeauftragten der deutschen Diözesen und ist seit 2001 zentralerAnsprechpartner der Deutschen Bischofskonferenz für Umweltfragen. Seit 2007 ist Gotthard Dobmeier als Umweltbeauftragter der Erzdiözese München und Freising im Ruhestand. 28
Omar Sartor, aus: Warten auf die Apokalypse, 2008
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„Für diese Art der Loslösung von der Gemeinschaft mit Gott, zu der der Mensch nach dem biblischen Schöpfungsbericht bestimmt ist, gibt es in der Bibel das Wort Sünde. Die Sünde besteht in dieser Loslösung von Gott, sie besteht darin, dass der Mensch sein will wie Gott und sich so anstelle Gottes selbst zum Herrn der Schöpfung aufwirft.“ – Wolfhart Pannenberg (*1928), evangelischer Theologe
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Hieronymus Bosch, Der Garten Eden, Teil des Triptychons Der Garten der L端ste, 1480-1505, Museo Nacional del Prado, Madrid
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Gewitterzelle 端ber Nebraska, 2004. Foto: Mike Hollingshead. Courtesy: www.extremeinstability.com
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Gebet vor der Klagemauer, August 2005. Foto: Reuters/Damir Sagolj
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Judentum
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Yitzhak Ehrenberg, rabbiner der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, über die Liebe der Juden zu den Bäumen und der Schöpfung Gottes
Herr Ehrenberg, als Gott die Erde schuf, war er zufrieden, seine Schöpfung war in Harmonie. Die Gewässer waren klar, die Luft rein. Was folgt daraus für den gläubigen Menschen? Nun, die Thora lehrt, dass Gott, nachdem er die Erde geschaffen hat, Adam schuf. Gott nahm Adam an die Hand und führte ihn durchs Paradies. Und Gott sagte Adam: „Mensch, sieh diese wunderbare, schöne Welt, die ich geschaffen habe. Gibt acht, dass du sie nicht zerstörst.“ Die jüdische Religion verbietet es, die Natur, die Bäume zu vernichten oder ihnen zu schaden. Die Thora sagt „lo taschchit“, du sollst die Bäume nicht vernichten. Und dann macht die Thora einen interessanten Vergleich: Ein Baum ist wie ein Mensch. Für uns ist die Natur Schöpfung Gottes. Und diese Schöpfung müssen wir achten. Warum soll der Mensch keine Bäume vernichten? Lo taschchit bedeutet, dass wir für die Bäume Gefühle haben sollen wie für Menschen. Die Thora will, dass wir überhaupt Respekt haben vor Gottes Schöpfung, vor allem, was Gott geschaffen hat. Ich kann mich erinnern, dass es in dem Dorf in Israel, in dem ich aufgewachsen bin, ein großes Feld mit Orangenbäumen gab. Auf diesem Feld wollte man ein Haus bauen, was aber über viele Jahre nicht möglich war, weil man die Orangenbäume nicht fällen durfte. Erst als die Bäume von selbst eingegangen waren, ist nach vielen Jahren das Haus entstanden. Was aber für die Bäume gilt, bezieht sich auch auf das Ganze: Wir dürfen die Umwelt nicht zerstören. Diese Zerstörung ist ein Verstoß gegen göttliches Gebot. 36
Haupttreppe des J端dischen Museums Berlin (Architekt: Daniel Libeskind)
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Ebstorfer Weltkarte, Jerusalem im Zentrum, um 1350, 357 cm Durchmesser
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Aber gleichzeitig soll der Mensch sich die Erde untertan machen. Das ist in der Tat innerhalb der jüdischen Religion und Theologie ein selbstverständlicher Grundsatz: Der Mensch kam zuletzt auf die Welt. Wir erklären das damit, dass Gott alles für den Menschen geschaffen hat. Das heißt: Der Mensch steht im Zentrum der Schöpfung. Er ist von Gott geschaffen, um Gott zu dienen. Und die übrige Schöpfung dient dem Menschen eben dabei, Gott zu dienen. Und der Mensch dient Gott zum Beispiel dadurch, dass er die Schöpfung schützt und erhält? Ja, das ist ein wichtiger Bestandteil der Achtung vor Gott: dass der Mensch großen Respekt hat vor der Natur, den Tieren, den Bäumen. Noch einmal: Die Natur ist zur Befriedigung unserer Bedürfnisse da. Was wir brauchen, das dürfen wir uns nehmen. Aber wenn wir nehmen, was wir nicht brauchen, so ist das nichts anderes als Sünde. Alles von Gott Geschaffene dient einem Zweck. Wir Juden essen zum Beispiel Fleisch, weil wir glauben, dass Gott die ganze Welt für uns, für die Menschen geschaffen hat. Aber die Thora gebietet uns zugleich, dass wir den Tieren, die wir essen, keinen Schmerz zufügen. Bevor wir Juden zu Tisch gehen, müssen wir zunächst unsere Tiere füttern. Mit anderen Worten: Wenn ein Jude Tiere hält, muss er zunächst seine Tiere füttern, bevor er selbst zu Tisch geht. 39
Welchen Stellenwert hat Umweltschutz in der jüdischen Tradition? Das oben erwähnte lo taschchit bildet den Kern der jüdischen Umweltethik. Es geht dabei natürlich auch um die Gesellschaft, um uns Menschen, die nicht leiden sollen. Aber nicht nur um uns. Auch um die Umwelt. Wenn Juden nach Israel kommen, gebietet es die Thora, Bäume zu pflanzen. Das heißt: Ein Jude, der ins Heilige Land kommt, muss zunächst einen Baum pflanzen. Es ist doch interessant, dass Adam im Paradies zunächst Bäumen begegnet. Die Zerstörung der Natur ist nach jüdischem Verständnis ein Akt der Gewalt gegen Gott. Was kann Religion ausrichten, wenn es darum geht, unsere Lebensgrundlagen zu erhalten? Religionen haben keine Anklage bänke, keine Gerichte. Wissen Sie, ich kann nicht in allen Einzelheiten beurteilen, was zu tun sei. Aber lassen Sie mich von meinem Umfeld sprechen: In der Synagoge oder im Unterricht spreche ich immer von der Pflicht der Achtung vor der Natur, vor den Pflanzen, den Tieren. Religiöse Menschen und religiöse Lehrer haben eine besondere Pflicht, in dieser Sache aktiv zu sein. In der jüdischen Tradition gibt es einen Neujahrstag der Bäume. Worum geht es dabei? Nun, „Tu be Schewat“ bedeutet der 15. Tag des Monats Schewat. Und dieser Tag fällt in die Zeit, da wir vom Winter allmählich in den Frühling kommen: Die Bäume in Israel beginnen zu blühen. Seit mehr als hundert Jahren wird dieses Fest vor allem in Israel als Fest der Bäume begangen. Die Mischna spricht jeweils vom neuen Jahr. Tu be Schewat ist eben der Tag, an dem das neue Jahr der Bäume beginnt. So wie etwa das neue Jahr der Menschen in jüdischer Tradition im September beginnt. Im Judentum gibt es vier verschiedene Jahre und Neujahrstage: für die Menschen, für die Tiere, für die Bäume und 40
Maurycy Gottlieb, Juden in der Synagoge am Jom Kippur, 1878, Tel Aviv Museum of Art
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Banksy, Take That!, 2010, Toronto. Courtesy: Banksy/Creative Commons Licence
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„Jeder ist verantwortlich. Politik hat M verpflichtet, die Schöpfung maximal au für Schwüre, also ein Neujahrstag für Versprechen und Schwüre. Und wenn für die Bäume ein eigenes Jahr beginnt, dann verweist das auf die Schöpfung, die Natur und die Verbindung des Menschen mit ihr. Gibt es Moral und Ethik ohne Religion? Dem Menschen ohne Religion fehlt die Basis. Was verpflichtet den Menschen ohne Religion? Gott bringt uns auf die Welt, um unsere Eigenschaften, unsere Sittlichkeit zu bearbeiten. Unsere Aufgabe ist es, uns, unsere Seele fein zu machen für Gott. Wenn aber der Mensch ohne Gott, ohne Religion ist, wenn er, wie Charles Darwin sagt, vom Affen abstammt, so wäre er ein Tier unter anderen, nichts zeichnete ihn vor anderen Tieren aus. So könnte er dann auch leben wie andere Tiere. So möge er dann leben wie im Dschungel. Wer spräche da von Moral? In einer Welt ohne Religion wäre die Gesellschaft der einzige Bezugspunkt, wenn es um Fragen der Moral oder Ethik geht. Ob es eine gute oder eine schlechte Gesellschaft ist, machte dabei keinen Unterschied. Der jüdisch-christlichen Tradition werden immer wieder Anthropozentrismus und Egoismus vorgeworfen, als Ursprünge für das Ausbeutertum des Menschen. Ich bin ja der Auffassung, dass die ganze Religion gegen Egoismus ist. Wenn Gott in Adam sein Ebenbild erschuf, was bedeutet dann diese Ebenbildlichkeit in dieser Sache? Sie bedeutet vor allem eines: Der Mensch soll anderen geben. Gott sorgt für uns, er gibt uns alles, aber er braucht nichts, gar nichts von uns, er ist reines Geben. 44
Macht. Aber jeder Einzelne ist vor Gott ufrecht zu erhalten.“ – Yitzhak Ehrenberg Der vollkommen egoistische Mensch entfernt sich insofern am meisten von Gott. Im Grunde ist alles auf dieser Welt dafür da: damit der Mensch das verwirklichen kann, damit er anderen und damit auch Gott dienen kann. Und glauben Sie mir, wenn der Mensch das tut, ist auch sein eigener Genuss am größten. Gibt es konkrete Umweltprojekte der Jüdischen Gemeinde zu Berlin? Bezieht die Synagoge zum Beispiel Ökostrom? Ich muss sagen, ich glaube nicht, dass es so ist. Aber ich kann auch sagen, dass ich dafür wäre. Ich jedenfalls möchte in diese Richtung gehen. Wissen Sie, natürlich bin auch ich auf der Suche in diesen Dingen. Nur sind wir Menschen zugleich stets sehr beschäftigt. Manchmal vergessen wir darüber die Suche. Was ist Energie? Was ist Ihre Energiequelle? Meine Energiequelle ist Gott. Ich glaube, dass die ganze Welt, die ganze Umwelt Gottes Schöpfung ist. Dann gibt es natürlich positive und negative Energie. Wenn zum Beispiel Sie und ich hier sitzen und miteinander sprechen, so kann ich vielleicht eine positive Energie ausstrahlen. Und diese Energie ist dann für mich tatsächlich da. Unsere Aufgabe als Menschen ist es, anderen zu helfen, ihnen Freude zu bereiten. Auch das ist Energie. Religion ist Energie. Religion hat ihre Grundlage in der freien Wahl. Du kannst etwas gut oder schlecht machen. Und Gott sagt dir: Mach es gut. Das ist die Basis aller Religion. Wer unter Zwang handelt, der kann im Grunde nicht bestraft und nicht belohnt werden, 45
denn er musste ja in dieser oder jener Weise handeln. Unsere Aufgabe als Menschen ist die Verfeinerung. Einfaches Material, was immer es sei, zu erheben, indem wir positive Energie hineinlegen. Wer trägt die Verantwortung für den Umweltschutz? Sind es die Kirchen? Die Politik? Oder jeder Einzelne? Nein, nein, jeder ist verantwortlich. Gewiss hat die Politik sehr viel Kraft und Macht. Aber jeder Einzelne ist vor Gott dazu verpflichtet, die Schöpfung maximal aufrecht zu erhalten. Und eben damit stützen und unterstützen und dienen wir Gott, seinem Wort und dem, was er von uns erwartet. Unser Gespräch hat angefangen mit der Genesis: Gott nahm Adam, ging mit ihm im Paradies spazieren und sagte: „Schau, welch schöne Welt ich dir geschaffen habe. Gib acht, dass du sie nicht zerstörst!“ Das muss unser Motto sein.
Yitzhak Ehrenberg, der 1950 in Jerusalem geboren wurde, ist seit 1997 Gemeinderabbiner der Jüdischen Gemeinde zu Berlin. Er betreut die Synagoge in der Joachimstaler Straße. Zu seinen Aufgaben als Gemeinderabbiner zählen Judentumsklärungen, Judentumsbestätigungen, Vorträge und Unterricht zum Judentum in der Synagoge für Kinder und Erwachsene. Von 1983 bis 1989 war er Rabbiner der Mizrachi Gemeinde in Wien, von 1989 bis 1997 Gemeinderabbiner der Jüdischen Gemeinde in München. Yitzhak Ehrenberg ist Mitglied beim Ständigen Ausschuss der Europäischen Rabbinerkonferenz. http://www.jg-berlin.org/ 46
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J체dische Siedler zwei Tage vor der Zwangsr채umung, August 2005. Foto: Reuters/Goran Tomasevic
Gustave Doré, Noah lässt eine Taube ausfliegen, 1866
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„So, als der Herr von Geschlecht zu Geschlecht einen Blick auf den der Liebe des Menschen anvertrauten Garten der Erde warf, fand er nichts als Unordnung und Sünde. Und der Zorn wallte auf und ergoss sich in der Wasserflut.“ – Genesis Rabba
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„Längs des Eden grünen Millionen und Abermillionen Bäume, deren geringster köstlicher ist als die gewürzigsten Pflanzen […]. Und in der Mitte erhebt sich der Baum des Lebens, welcher mit den weiten Zweigen sich ausdehnt und in seinen Früchten tausenderlei von verschiedenem Geschmack und Wohlgerüche vereinigt. Und über ihm wogen sieben Wolken reinsten Äthers und ein leises Lüftchen bewegt ihn sanft und trägt seine Düfte weit hin.“ – Jalkut Schim’oni
Waldbrand in Südkorea, April 2005. Foto: Reuters/Kim Kyung-Hoon
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Eingang einer Moschee im Gazastreifen, 2002. Foto: Reuters/Damir Sagolj
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Islam 53
Mohammed Herzog, Gründer und Vorsitzender der Islamischen Gemeinschaft deutschsprachiger Muslime e.V.,
über Achtung, Ausbeutung und Genügsamkeit
Herr Herzog, zu den 99 Namen, die der Islam für Allah kennt, gehören: der Schöpfer (Al-Kāliq), der Erschaffer, der alles aus dem Nichts erschuf (Al-Bāri‘), der Former, der jedem Ding seine Form und Gestalt gibt (Al-Musawwir). Was bedeutet das für die Schöpfung? Ist sie für den Menschen oder ist er für sie geschaffen? Beides ist richtig. Die Schöpfung ist für den Menschen und der Mensch ist für die Schöpfung da. Die 99 Namen bezeichnen Attribute Gottes, wie man sie im Koran findet. Es gibt zudem einen hundertsten Namen, den wir allerdings erst erfahren werden, wenn wir bei Gott sind. So lehrt es der Koran. In Judentum und Christentum steht der Mensch im Mittelpunkt der Schöpfung. Teilt der Islam diese Vorstellung? Ja, der Islam kennt diese Vorstellung. Die Natur ist von Gott in der Tat für den Menschen geschaffen worden. Darin unterscheiden sich Judentum und Islam kaum. Der Mensch ist berechtigt, die Schöpfung zu nutzen. Zunächst gab es die Schöpfung, dann erschuf Gott den Menschen. Und die Schöpfung kann und soll dem Menschen nützlich sein. Der Prophet lehrt: „Die Welt ist grün und schön und Allah hat uns zu ihrem Wächter ernannt.“ Wie unterscheidet sich dieser Wächter vom christlichen Herrscher, der sich die Erde untertan macht? So steht es im Koran. Wir Menschen sind zu Verwaltern der Erde eingesetzt. Und dieser Verwalter muss sehr vorsichtig und umsichtig sein. Wir dürfen nämlich nicht vergessen: So, wie wir die Welt von Gott empfangen haben, müssen wir sie ihm am jüngsten Tag zurückgeben. 54
Siyer-i Nebi, Kaaba vor dem Islam, um 1595, Buchmalerei, Topkapi Palace Museum, Istanbul
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Falke, 17. Jahrhundert, Victoria and Albert Museum, London
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Gibt es eine spezifische Umweltethik Ihrer Religion? In der islamischen Schöpfungslehre taucht zum Beispiel die Umschreibung „Tauhīd“ immer wieder auf. Wofür steht der Begriff? Das Prinzip Tauhīd erinnert daran, dass die gesamte Schöpfung eine Einheit bildet, dass alles zusammenhängt. Wenn wir Menschen von der Schöpfung nehmen, dürfen wir das nicht im Überfluss tun, weil sonst die Balance, das „Mizan“, gestört wird. Nehmen Sie zum Beispiel die Pilgerfahrt nach Mekka. Muslime beten fünfmal täglich. Vor den Gebeten sind Waschungen Pflicht. Wenn man sich nun etwa die Pilger aus Afrika anschaut, die mit großem Mangel fertig werden müssen, so ist es vorbildlich, wie sparsam diese Pilger mit dem Wasser umgehen, wenn sie die Waschungen vornehmen. Wenn ich andererseits die Waschräume unserer Moscheen in Deutschland und anderen Ländern ansehe, so sind sie stets halb überflutet! Und über solche Verschwendung sollte man tatsächlich sprechen. Gerade innerhalb der Gemeinden. Was das Mitgefühl mit den Mitgeschöpfen angeht, bewundere ich die Buddhisten. Sie schauen auf den Boden, nicht in den Himmel, damit sie keinem Mitgeschöpf Leid antun, keinen Käfer berühren. Ich finde das vorbildlich. Was sagt der Koran? Wie sollen wir Menschen mit Schöpfung, Natur und Umwelt umgehen? Wir sollen sie vor allem achten. Wir dürfen schächten, sofern das Fleisch unser Leben erhält. Aber wir sollen sorgfältig mit allem umgehen, damit alle die Möglichkeit haben, satt zu werden. Und deshalb finde ich es schrecklich, dass gerade auch in der islamischen Welt so viele Muslime leben, die sich daran nicht halten. Vielleicht gar nicht immer die Gläubigen selbst, sondern die Regierungen. Sie dulden die große Armut und die schlechten hygienischen Zustände. Gerechtigkeit 57
ist wichtig.Wir Muslime sind zum Teilen verpflichtet. Insofern ist die große Armut in islamischen Ländern etwas, das der Islam eigentlich nicht hinnehmen dürfte. Auf der Grundlage des Korans ist es zum Beispiel ganz und gar unzulässig, die Arbeit anderer Menschen auszubeuten. Der Koran duldet Sklaverei und Ausbeutung nicht. Was man in vielen, zumal islamischen Ländern heute sieht, ist aber eine neue Form von Sklaverei. Ein solches Verhalten ist Sünde. Wie ist der Prophet mit der Natur umgegangen? Es gibt eine wunderbare Hadithe, die von einem Nachbarn des Propheten erzählt. Dieser Nachbar hat dauernd seinen Müll über den Zaun des Propheten geworfen. Der Prophet seinerseits hat diesen Müll Tag für Tag beseitigt, worauf Anhänger des Propheten entgeistert meinten: „Warum machst du das? Warum räumst du den Müll weg, den dein Nachbar verursacht?“ Der Prophet aber blieb dabei. Eines Tages betrat der Prophet seinen Garten und fand wider Erwarten keinen Müll mehr vor. Das zeigt, dass man dem anderen zeigen kann und soll: Was du machst, ist nicht richtig. Aber ändern kann nur er sich. Der Prophet lehrte auch, dass der Mensch sparsam und mäßig sein soll. Mit der Nahrung etwa. Wir sollen nicht verschwenden. Das sind direkte Verhaltensanweisungen. Das Christentum konzentriert sich mehr auf Sünde, Sitten und Moral. Vorschriften sind im Islam deutlich konkreter formuliert, oder? Im Islam geht es um alles, das gesamte Verhalten des Menschen, sein ganzes Leben. Nicht nur ein Teil, sondern alles. Und sehr stark geht es im Islam um die Umwelt, die Beziehung zur Umwelt und auch zur Natur. Im weitesten Sinne: soziales Verhalten, Verhältnis zur Natur usw. Vielleicht drehen sich sogar 90 Prozent darum. Braucht eine Ethik des Umweltschutzes überhaupt Religion? 58
Ghassan Ghayeb, Schreibmaschine mit einem Gedicht von Mohmoud Darwish, 2007
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Der Gläubige ja, aber der Nichtgläubige offenkundig nicht. Und er kann dennoch genauso gewissenhaft mit der Schöpfung umgehen wie ein gläubiger Mensch. Ich würde sogar sagen, dass viele Nichtgläubige besser mit der Umwelt umgehen als viele Gläubige. Er ist zum Beispiel der Wissenschaft gegenüber oft aufgeschlossener, was das Bewusstsein schärft. Das Problem liegt oft auch im Verhältnis des Moslems zur eigenen Religion. Viele Muslime wissen viel zu wenig von der eigenen Religion. Es bräuchte mehr Unterricht, mehr Aufklärung. In allen Bereichen: Lebensführung, Umwelt, Sexualverhalten. Wie kann der Islam Impulse für den Umweltschutz geben? Er kann nicht nur, er muss sogar. Ob viele Geistliche das tatsächlich tun, ist leider eine andere Sache. Ich wäre aber sehr dafür, dass sie es tun. Denn wenn die Menschen nicht wissen, kann man ihnen ihre Fehler auch nicht vorwerfen. Man muss sich mit dem Koran befassen, um ihn ernst nehmen und bewusst leben zu können. Religion ist tot, wenn die lebendige Auseinandersetzung fehlt. Wir müssen von der Tradition wegkommen. In allen Religionen, glaube ich. Im Judentum, im Christentum, im Islam. Und wir müssen dabei zurückgehen an den Ursprung. Zum Koran, zum Evangelium bei den Christen, kurzum: zu den Heiligen Schriften. Der Koran ist meine Quelle, meine „Betriebsanleitung“. Und die Theologen müssen die Heilige Weisung heute so auslegen, dass den Gläubigen die Bedeutung klar wird. Oft sind scheinbare Vorschriften nur Tradition, aber nicht koranisches Gebot. Heißt das, Sie wollen die Vorschriften des Korans stärker mit unserem Handeln verknüpfen? Ja, sie müssen sogar verknüpft werden, weil der Koran es gebietet. Jeder Einzelne soll sich um das bemühen, was er für richtig hält. Jeder 60
„Der Islam kann nicht nur, er muss sogar Impulse für den Umweltschutz geben. In der Umweltethik gibt es ohnehin keine Differenzen zwischen Judentum, Christentum und Islam. Die abrahamitischen Religionen würden viel enger zusammenkommen, wenn sie diesen gemeinsamen Weg gingen.“ – Mohammed Herzog
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Behzad, Ein Geistlicher ertrinkt am Gewicht des eigenen Bartes, 1487/88, Miniaturmalerei, Metropolitan Museum of Art, New York
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Moslem soll eigentlich für alles da sein: für die Umwelt, die Familie, die Gesellschaft usw. Ich bin auch der Meinung, dass man zu wenig über diese Zusammenhänge spricht in den islamischen Ländern. Viele Geistliche lenken von den wichtigen Themen wie zum Beispiel dem Umweltschutz ab, indem sie Unsinn über Kopftücher verbreiten. Da wäre es wahrhaftig wichtiger, Moslems über den richtigen Umgang mit der Natur aufzuklären. Wie gehe ich gut mit der Umwelt um? Wie gehe ich mit anderen Menschen um? Darüber hören wir leider viel zu wenig. In den Moscheen wird am Freitag im Schlummergebet viel darüber erzählt, wie es zur Zeit des Propheten vor 1400 Jahren war. Aber ich lebe nicht im Jahre 600 nach Christus, sondern heute. Und ich will von den Geistlichen wissen, wie ich jetzt, im Hier und Heute, zu leben habe. Steht hinter der gegenwärtigen Umweltkrise auch eine spirituelle Krise der Menschheit? Ich würde sagen, ja. Gott ist der Mittelpunkt. Und vom Mittelpunkt aus kann ich alles andere denken und machen. Wie gesagt: Die Heilige Weisung ist als Grundlage gegeben. Und wir müssen zurück zu unserer Quelle. Und da wir von dieser Quelle weit weg sind, herrscht weltweit bei uns Moslems ein so großes Durcheinander. Bei uns im Islam sind es vor allem die Mystiker, die Anhänger des Sufismus, die ihre Pflichten der Schöpfung gegenüber sehr genau nehmen. In Umweltfragen sind die Sufisten uns nicht zwei, sondern eher fünf Schritte voraus. Sie laufen weniger über die Erde, als dass sie schweben. Weil sie der Schöpfung mit großem Bewusstsein, mit großer Aufmerksamkeit begegnen. Wenn ich eine starke Verbindung zu Gott habe, wird alles andere auch klappen. Wenn ich sie nicht habe und mir der innere Frieden fehlt, werden auch andere Dinge nicht klappen. Es braucht den Mittelpunkt. 63
Welche Differenzen sehen Sie zwischen den Religionen, wenn es um Umweltethik geht? Die Religionen haben in ihren Heiligen Schriften so viel Überein stimmendes. Und in Fragen der Umweltethik gibt es, denke ich, gar keine Differenzen zwischen Judentum, Christentum und Islam. Und ich glaube, die abrahamitischen Religionen würden viel enger zusammenkommen, wenn sie diesen gemeinsamen Weg gingen. In Fragen der Dogmatik wäre das schwieriger. Aber in Fragen der Umwelt gibt es keine Unterschiede, würde ich sagen. Was ist Energie? Was ist Ihre Energiequelle? Ich komme immer wieder darauf zurück: nur der Koran. Wenn ich etwas suche, so finde ich es im Koran. Und wenn mir etwas dort nicht ganz klar wird, so befrage ich die Sunna. Der Koran gibt Ihnen alle Antworten, die Sie brauchen für eine gute Lebensführung? Ja. Er gibt mir alle Antworten. Zu Fragen der Umwelt, der Arbeit, der Gesundheit, der Familie, Antworten zu allen Fragen. Deshalb sage ich immer: Der Koran ist meine Quelle.
Amir Dr. Mohammed Herzog, der 1945 in Berlin geboren wurde, ist Gründer und Vorsitzender der Islamischen Gemeinschaft deutschsprachiger Muslime und Freunde des Islam Berlin e. V., dem es darum geht, „den Islam in unserer Umgebung bekannt zu machen, um Vorurteile und Missverständnisse abzubauen.“ Herzog war zunächst Gemeindediakon der Evangelischen Kirche, bevor er den Koran für sich entdeckte und schließlich 1979 zum Islam konvertierte. Mohammed Herzog ist Friedensbotschafter der Universal Peace Federation. http://www.igdmb.de/ http://www.upf.org/ 64
Kuppel des Felsendoms von innen. Der 채lteste islamische Sakralbau steht auf dem Tempelberg in Jerusalem
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„Die Sonne und der Mond laufen ihre vorgeschriebene Bahn, die Sterne und die Bäume verneigen sich vor dem Herrn, und die Himmel hat er emporgehoben und in Balance gebracht. Stört das Gleichgewicht nicht und haltet das rechte Maß und verliert es nicht.“ – Koran, Sure 55
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Bauarbeiter in Dubai, 2005. Foto: Reuters/Anwar Mirza
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Yoshi Shimamura, Expressway route 13, Japan, 2010. Courtesy: Knulp
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Gl채ubige Hindus am indischen Fr체hlingsfest Holi, 2008. Foto: Reuters/Amit Dave 70
Hinduismus
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Avnish Kumar Lugani, Mitglied des Sri Ganesha Hindu Tempel Berlin e.V., erklärt, wieso jeder Mensch bei sich selbst anfangen sollte, um die Welt zu verändern
Herr Lugani, Albert Schweitzer meinte einst, der Hinduismus habe nur eine geringe Verbindung zur Ethik. Stimmt das? Nein, das stimmt nicht. Wissen Sie, „little knowledge is a dangerous thing.“ Worin besteht die Ethik des Hinduismus? Es geht um uns persönlich, um die Gesellschaft und um Gott. Das sind die drei Bereiche, auf die sich unsere Interaktion bezieht. Der Hinduismus fordert eine ganzheitliche Entwicklung des Menschen. Religion ist diese Ganzheit. Der Mensch ist als Mensch nicht vollkommen, wenn er nicht vor sich, vor der Gesellschaft und vor Gott seinen Dienst tut. Er muss achtgeben, sich gesund zu erhalten, sich zu kultivieren, sich intellektuell zu bilden, sein Bewusstsein auszubilden. Das kommt dann allen gleichwertigen Bereichen zugute. Kennt der Hinduismus einen personalen Gott? Im Grunde stellen wir uns Gott als ein anfängliches Bewusstsein vor, aus dem sich die Welt im Sinne eines evolutionären Prozesses entwickelte. Dieses Bewusstsein erscheint als die Wahrheit, die Erfassung des Ganzen. Der Mensch kann göttliches Bewusstsein erreichen. Unsere Weisen haben von sich gesagt: „Ich bin Gott.“ Sie haben ihr Bewusstsein verfeinert, ihre Potenziale genutzt und sind mit Gott eins geworden. Gibt es eine Schöpfung? Es gibt bei uns keine Genesis im Sinne des christlichen Sechstagewerks. Es gibt aber verschiedene mythologische Erzählungen. Der Hinduismus lässt viel Raum für die Phantasie der Menschen. Alles beginnt mit einem 72
Gott Vishnu auf einer Gebetskarte. Courtesy: Indra Sharma
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Huma Mulji, High Rise/Lake City Drive, 2009, Taxidermie eines Rindes, Stahl, Fiberglass, 350 x 210 x 68 cm
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Gedanken Gottes. Aus der Meditation des göttlichen Bewusstseins entsteht die Welt, die wie eine Blume aus dem Bauchnabel Gottes wächst, wie es in einem mythologischen Gleichnis ausgedrückt ist. Darüber hinaus gibt es keine Dogmen. Es reicht nicht, die Veden auswendig zu lernen. Der Gläubige muss sich beständig Gedanken machen. Der Hinduismus ist kein „Bücherwissen“. Wie ist das Verhältnis zwischen Mensch und Natur? Ich erkläre es Ihnen mit einer vedischen Hymne: „O Mutter Erde, du trägst und ernährst die Menschen, die verschiedene Sprachen sprechen, verschiedene Farbe haben und auch zu unterschiedlichen Glaubensrichtungen gehören, wie eine zahme Kuh. Bitte beschere uns allen Wohlstand und Freude in unserem Leben.“ Also: Wir denken, dass die Erde unsere Mutter ist. Wir erhalten alles von der Erde. Und die Veden bezeichnen diese Mutter als eine zahme Kuh. Und Sie wissen, dass bei uns die Kuh ein heiliges Tier ist. Wir müssen dankbar sein für die Kühe. Ohne sie wären wir noch heute Jäger, Nomaden. Die Kuh hat uns an Ort und Stelle alles geschenkt, was wir brauchen. Die Veden sagen: „Gott ist überall. Er hat unsere Welt geschaffen, die Früchte und Wohlstand beherbergt. Alle sollen nach dem ihnen nötigen Bedarf nehmen und niemals nach dem Teil der anderen trachten.“ Ist der globale Trend zur Umweltzerstörung umkehrbar? Natürlich ist er umkehrbar. „Change yourself and you change the world.“ Wir müssen doch im Grunde nur unsere Religion, unsere Ethik tatsächlich leben. Wir müssen lernen, Wissen sammeln, die Samskaras erfüllen. Und das Wissen muss in unsere Moral aufgenommen werden. Der Dienst an den Menschen ist wichtig. Führt Meditation nicht zur Abkehr von Welt und Gesellschaft? Wie können wir die anderen kennen und ihnen helfen, wenn wir uns 75
selbst nicht kennen?! Wir müssen doch zunächst einmal erkennen, dass wir selbst Teil der Natur sind. Deshalb ist die Auseinandersetzung mit sich selbst bereits Auseinandersetzung mit der Natur. Meditation entfremdet nicht von der Natur und der Gegenwart. Menschen, die viel meditieren, werden wachsam. Und der wachsame Mensch hilft der Natur und der Gesellschaft viel mehr als der Umtriebige. Unsere Yogis sind erleuchtete Menschen. Und alle erleuchteten Menschen haben versucht, die Welt in die richtige Richtung zu bringen. Meditation schärft das Bewusstsein, was wiederum der Gesellschaft zugutekommt. Der Hindu soll tätig sein und materiell alles haben. Aber er muss zugleich durch Meditation dahin kommen, auf alles verzichten zu können. Er soll alles haben. Aber er soll an dem Punkt, an dem er alles hat, erkennen, dass er das alles nicht braucht, um vollständig zu sein. Er soll genießen, sich erfreuen, aber nicht anhaften. Der Weg zur Entsagung führt über die tätige Auseinandersetzung mit der Welt. Das Dharma wird oft als sittliches Regelwerk bezeichnet, als Welt gesetz. Beinhaltet Dharma auch umweltethische Aspekte? Dharma bedeutet im Grunde, dass es der Gesamtheit der Menschen besser gehen soll, dass die Gesamtheit sich entwickeln soll. Es bezeichnet einen ganzheitlichen Zusammenhang. In den Veden heißt es „zu meiner Erlösung und der Welt zum Nutzen.“ Darum geht es. Meine Erlösung ist nur dann möglich, wenn ich der Welt nützlich bin, wenn ich durch Arbeit die Welt zum Besseren verändere. Das bezieht sich auf die Natur, die Gesellschaft, die Mitmenschen und alles andere. Im Hinduismus gibt es die Vorstellung einer All-Einheit: Brahman. Wie wirkt sich diese Idee auf Ihr Naturverhältnis aus? Gott ist unteilbar, untrennbar, omnipräsent, ewig. Die große Seele, also Gott, ist allwissend. Und wir Menschen sind Teil Gottes. Dieses göttliche 76
Hema Upadhyay, Mute Migrations, 2008, Autoteile, Aluminium auf Papier, Mumbai. Foto: Iris Dream
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Kushal Ruia, Heiliger Shiva, 2008
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Bewusstsein, das ich als Mensch entwickeln kann durch Übungen, bezeichnen wir als Brahman. Wir kennen ein schönes Bild aus den Veden: Der Gott schläft in den Steinen, wacht auf in den Pflanzen, steht auf in den Tieren und läuft in den Menschen. Gott ist in allem. Und die Einheit der Natur, zu der wir Menschen gehören, verpflichtet zur Ehrfurcht vor allem Leben. Im Tier wirkt das göttliche Prinzip, das auch in uns Menschen wirkt. Das Tier aber hat im Geistigen nur bestimmte Entfaltungsmöglichkeiten. Wir Menschen haben andere, mehr Möglichkeiten, weshalb wir aufmerksamer sein müssen als die Tiere. Wir müssen mehr Achtung haben und Verantwortung übernehmen. Gibt es eine Ethik ohne Religion? Ich glaube nicht, dass wir Menschen ohne Religion auskommen können. Seit Urzeiten braucht der Mensch Religion. Die Veden wurden uns vor Urzeiten von Gott eingehaucht. Dieses Wissen war sozusagen 79
Jitish Kallat, Autosaurus Tripous, 2007, Kunstharz, Stahl, Kupfer, Messing, 259 x 135 x 168 cm, Sweatopia
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immer schon da und allgemein. Wir haben nichts Neues erfunden, sondern nur etwas Vorhandenes entdeckt. Und die Menschen haben dieses Wissen in Fächer, also Religionen geteilt. Aber eigentlich sollte es eine Weltreligion geben. Nun gut, mögen die Menschen ihre verschiedenen Religionen behalten. Aber zunächst sollte doch jeder erst einmal Mensch werden. Ein vollständiger Mensch. Ohne diese Entfaltung nützt Religion gar nichts. Das uralte Wissen, das die Religionen uns bereitstellen, nützt nur, wenn wir dadurch bessere Menschen werden. Die Religion ist dazu da, dem Menschen bei seiner Menschwerdung zu helfen, ihn anzuleiten. Religion, die in Büchern lebt, ist tot. Religion muss gelebt werden. Wir haben das Wissen in Büchern verbarrikadiert. Was die Umweltethik angeht: Wir müssen uns nur auf unsere Quellen, auf das göttliche Wort besinnen. Schlagen wir eine Sammlung vedischer Hymnen auf: „Nature’s beauty is an art of God. / Let us feel the touch of God’s invisible / hands, in everything beautiful […]. / The dawn is the dream of God’s / creative fancy.“ Zufällig ausgewählt. Die Veden sind voll von solchen Texten. Leben wir das doch einfach! Was ist Energie? Was ist Ihre Energiequelle? Yoga ist meine Energiequelle. Yoga ermöglicht die Einheit von Körper und Geist. Und die Opfergaben geben mir Energie. Sie schärfen mein Bewusstsein. Und Bewusstsein ist Energie. Das Wort ist Energie. In den Veden haben die Worte Energie. Dadurch, was sie sagen, und dadurch, wie sie es sagen. Worte haben einen besonderen Klang, besondere Schwingungen. Und diese Schwingungen reinigen uns Menschen. Sprechen Sie die mantrische Silbe, den Urklang Om, das einzige Wort, das in die Unendlichkeit geht. Wenn Sie Om oder Aum sagen, ist Ihre Zunge beim Sprechen nicht im Weg. A ist das Weltall, U ist die 81
Erhaltung, M ist die Auflösung. Der Schall dieses Wortes reinigt. Wir wenden den Schall in der Schall- und Musiktherapie an. Im Sanskrit geht es auch um den Klang der Sprache, die den Menschen verbessert, ihn reinigt. Das göttliche Wort ist also über seine Inhalte hinaus als Schwingungsenergie wirksam.
Dr. Avnish Kumar Lugani wurde als dritter Sohn des Sanskritgelehrten Shri Anant Ram Shastri 1933 im damaligen Punjab, heute Pakistan, geboren. Er war Zeuge des religiösen Fanatismus in seinem Heimatland und flüchtete 1947 mit seiner Familie aus Pakistan nach Indien. 1965 erfolgte der Umzug nach Berlin. Avnish Kumar Lugani promovierte 1972 an der FU Berlin. Er hat sich zeitlebens intensiv mit vedischem Wissen und hinduistischer Spiritualität auseinandergesetzt. Avnish Kumar Lugani ist Mitglied des Sri Ganesha Hindu Tempel Berlin e.V., der sich für einen Tempelbau im Berliner Stadtteil Neukölln einsetzt. http://www.hindutempelberlin.de/ 82
Der Schรถpfergott Vishnu sitzt mit der Gรถttin Lakshmi auf seinem Reittier Garuda
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„Gott schläft in den Steinen, wacht auf in den Pflanzen, steht auf in den Tieren und läuft in den Menschen. Gott ist in allem. Die Einheit der Natur, zu der wir Menschen gehören, verpflichtet uns zur Ehrfurcht vor allem Leben. Wir müssen mehr Achtung haben und Verantwortung übernehmen.“ – avnish Kumar lugani
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Hindus bei der Anbetung des Sonnengottes Surya am Ufer des Ganges, November 2008. Foto: Reuters/Stringer India
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Mumbai, 2006. Foto: Stephan Vens
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Kunsang Gongdu, Szenen aus dem Leben des GroĂ&#x;en Meisters, 15. Jahrhundert, Wandmalerei, Tibet. Foto: Thomas Laird 88
Buddhismus
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Gelongma Lama Palmo, Direktorin von Palpung Yeshe Chökhor Ling Europe in Wien, über Achtsamkeit, die wir im Umgang mit Technik und Fortschritt brauchen
Frau Gelongma Lama Palmo, wie würden Sie den gegenwärtigen Zustand der Erde beschreiben? Wir sagen, dass der Zustand, in dem wir uns befinden, das direkte Resultat unserer früheren, in diesem Fall kollektiven Handlungen und Anstrengungen ist. Was den gegenwärtigen Zustand der Umwelt betrifft, folgt daraus offenkundig, dass wir mit unseren bisherigen Handlungen und Anstrengungen sehr daneben lagen. Was lehrt der Buddhismus über den Umgang mit der Natur? Welche Rolle spielt dabei zum Beispiel die „rechte Achtsamkeit“? Im Westen herrscht in diesen Fragen ein ziemliches Durcheinander an Wahrnehmungen. Da werden die tollsten Dinge miteinander verquickt, die ursprünglich nichts miteinander zu tun haben. Die Achtsamkeit jedenfalls ist im Buddhismus ein Instrument des Hinayana. Hinayana bildet die absolute Basis und beschäftigt sich mit der persönlichen Ethik. Derjenige, der auf diesem Level praktiziert, kümmert sich darum, dass seine Ethik einwandfrei wird. Damit sie einwandfrei werden kann, bedient sich der Aspirant der Achtsamkeit als eines der Mittel. Sie ist dazu da, persönliche Ethik aktiv in die Tat umzusetzen. Und Ahimsa oder Gewaltlosigkeit ist ein Terminus aus dem Hinduismus. Gewaltlosigkeit ist natürlich eine der Grundlagen, aber im engeren Sinne kein Gebot oder Verbot im Buddhismus, sondern folgt von selbst aus dem, was mich der Buddhismus lehrt: Wenn ich weiß, dass Karma das Gesetz dessen ist, dass alles eine Ursache hat und 90
Gonkar Gyasto, Buddha heute, 2008, Aufkleber und Buntstift auf Papier, 155 x 122 cm. Courtesy: White Rabbit Collection und Rossi & Rossi
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Kalaschakra Mandala, gef채rbter Sand
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Handlungen, die ich setze, ein bestimmtes Resultat hervorbringen. So versteht sich die Gewaltlosigkeit von selbst als eine Art Selbstschutz vor der Erfahrung unliebsamer Resultate in meiner eigenen Zukunft. Was ist Umwelt aus buddhistischer Sicht? Umwelt könnte man eigentlich als ein anderes Wort für Dualismus bezeichnen, also das Unterscheiden zwischen Ich und Andere. Unsere starren Emotionen verhindern, dass wir nicht in unserer wahren Natur verweilen können. Dadurch geraten wir in die Dualität von Ich und allem Übrigen und nehmen alles rund um uns durch den verzerrten Filter unserer eigenen Wahrnehmung wahr. In diesem Zusammenhang ist Umwelt alles, was nicht ich persönlich bin, alles, was um mich herum ist und passiert. Dieser Dualismus, der in der Mahayana-Philosophie auf verschiedene Weisen betrachtet wird, ist aber Ursache dafür, dass wir seit endlosen Zeiten in Samsara umherwandern, und das genaue Gegenteil unseres Ziels, der Erleuchtung. Können alle Lebewesen erleuchtet werden? Ja, alle fühlenden Wesen können Erleuchtung erfahren. Also natürlich auch die Tiere. Alle Wesen, die einen Geist haben, können Erleuchtung erfahren. Das grundlegende Entscheidungsmerkmal für die Einstufung als fühlendes Wesen ist dabei der freie Wille. Eine Pflanze zum Beispiel kann nicht entscheiden, wohin sie sich bewegt. Tiere im Gegensatz dazu können das. Das macht sie zu fühlenden Wesen. Aus dem folgt, dass unser Altruismus ein viel umfassenderer, vielschichtigerer ist, der auf dem Prinzip des Bodhisattva-Versprechens basiert. In der Genesis findet sich das berühmte Wort „Macht sie [die Erde] euch untertan“. Diese göttliche Weisung beschreibt ein bestimmtes Verhältnis des Menschen zur restlichen Schöpfung. Wie sieht der Buddhismus das Verhältnis des Menschen zur Natur? 93
Ich bin zwar in einem christlichen Umfeld aufgewachsen und habe auch eine Klosterschule besucht. Ich habe mich mit anderen Religionen beschäftigt, aber mir fehlt ihr tiefgründiges Studium. Im Buddhismus jedenfalls sprechen wir von Interdependenz, von der absoluten Abhängigkeit von allem und jedem zueinander. Ein anderer Begriff dafür ist Leerheit. Dieser Begriff wird oft sehr falsch verstanden im westlichen Kulturraum und dann missbraucht im Sinne einer Haltung, die sagt: „Dann brauche ich mich ja um gar nichts mehr zu kümmern.“ Im Gegenteil besagt die Leerheit aber, dass es nichts gibt, das nicht bedingt durch anderes entsteht. Der Buddhismus ist keine Lehre, die die Welt partikulär betrachtet, sondern vollständig holistisch und umfassend, auf das Ganze bezogen. Dazu muss ich mich natürlich wirklich auf die ganzheitliche Betrachtungsweise und die mir heute noch unvorstellbaren Möglichkeiten meditativer Entwicklung durch den Buddhismus einlassen. Wenn ich mir indessen nur herauspicke, was mir gerade am meisten Spaß macht an der buddhistischen Lehre, wird das sehr wahrscheinlich in die Irre führen. Dem Buddhismus und dem Hinduismus wird aus verschiedenen Richtungen vorgehalten, ihre Weltsichten seien zu introspektiv. Verhindern Versenkung und Meditation die aktive Auseinander setzung mit der Welt? Bevor wir zu meditieren beginnen, lernen wir mit Hilfe der buddhistischen Philosophie uns selbst, unsere Umwelt, den Pfad, den wir beschreiten, das Ziel, das wir erreichen wollen, kennen. Erst wenn wir dieses Ziel intellektuell kennen, können wir uns aufmachen, es zu praktizieren. Und Meditation ist ein Mittel dazu, holistisch agieren zu können. In der Meditation kreiere ich mir einen Schutzraum, innerhalb 94
Tibetische Buchmalerei
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dessen ich diesen Holismus generieren kann. Und mit diesem Holismus gehe ich dann in den Alltag hinaus, um ihn zu leben. Die Meditation ist ein Mittel, um die Dualität unseres Geistes aufzulösen in letztendliche Wahrheit oder Holismus, wenn Sie so wollen. Mit dieser wachsenden meditativen Einsicht können wir dann in zunehmend vollerem Bewusstsein des Zusammenhangs von Ursache und Wirkung draußen leben und zum Nutzen anderer funktionieren. Es ist ein völlig falscher Eindruck, wenn man meint, der Buddhist ziehe sich zurück, damit er mit dem Draußen nichts zu tun haben muss. Nein, ich ziehe mich zurück, um genug Stärke zu erlangen, genug Altruismus zu entwickeln, um in einer reineren, gesünderen, tieferen und vollständigeren Art und Weise mit der Umwelt in Verbindung treten zu können. Daraus folgen dann spezifische Verhaltensweisen im Umgang mit dem Draußen. Und weil wir sind, wie wir sind, weil wir uns immer wieder falsch verhalten, gibt es ethische Regeln, die uns daran erinnern, wie wir uns verhalten sollten. Wir kennen das doch alle: Wir sind voller 96
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Huang Yong Ping, Der weiĂ&#x;e Schatten, 2009, BĂźffelhaut auf einer Eisen-Harz-Konstruktion, 250 x 450 x 210 cm. Courtesy: Huang Yong Ping und Galerie Kamel Mennour, Paris. Foto: Marc Domage
hehrer Gedanken, gehen hinaus – und innerhalb von fünf Minuten sind alle unsere hehren Gedanken zugunsten unseres Egoismus wie weggeblasen. Die Erleuchtung wird aber nicht einfach auf mich herniederregnen als ein großes Erwachen, sondern ist Resultat meiner eigenen Anstrengungen. Ist der Buddhismus eine Mitleidsethik? Das hat wohl einen Funken Wahrheit. Aber Mitleid ist etwas anderes als das Tätigkeitswort mitleiden. Mitleid impliziert doch, dass ich mich auf ein Podest stelle und sage: „Ihr armen Dummen dort unten! Möget ihr bald dahin kommen, wo ich bin!“ Eine angemaßte Sonderstellung sozusagen. Tatsächlich ist es im Buddhismus so, dass Mitgefühl zentral ist. Ich will nicht nur Mitgefühl mit allen Wesen entwickeln, sondern ein tiefes Empfinden in meinem Herzen dafür entstehen lassen, dass alle Wesen, unabhängig von ihrer jeweiligen Manifestation, gleich sind. Insofern gebührt dem Schwerverbrecher in meinem Herzen genauso viel Mitgefühl wie jedem anderen Wesen, ja, wie dem Opfer. Darauf baut im Mahayana-Buddhismus die Bodhisattva-Lehre auf, in der die Aspiranten ihr Mitgefühl erweitern und vertiefen mit den Gelübden eines Bodhisattva und versprechen, alle Wesen aus dem Chaos herausführen zu wollen in die letztendliche Wahrheit, in die Erleuchtung, und dabei kein einziges Wesen auszulassen. Und ganz offensichtlich ist das auf dem Level, auf dem wir jetzt sind, wohl mehr eine Art geistiges Training, als dass wir tatsächlich dazu schon jetzt in der Lage wären. Aber mit unserer fortschreitenden, umfassender werdenden und tieferen Meditationspraxis werden wir genau dieses Versprechen eines Tages einlösen können. So das Ideal. Wie sieht die Wirklichkeit in buddhistisch geprägten Ländern aus? Geht man dort besser mit der Natur um? 98
Buddhistischer Mรถnch vor taiwanesischen Truppen, 2009. Foto: Reuters/Vivek Prakash
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„Öffne deine Faust und lass los! Dann gibt es unendlich viel Raum, offen, einladend, wohltuend.“ – Gendün Rinpoche (1917-1997), Lama der Karma-Kagyü-Linie
Ralf Schmerberg, Der Wind hat mir ein Lied erzählt, Kloster Khabeni, Mustang, Nepal, 1999
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„Ja, es braucht die verschiedenen Arten vo Bedürfnisse der verschiedenen Menschen. nicht von gewöhnlichen Menschen wie du u von großen Heiligen mit tiefer Einsicht in die Ich habe mich in Indien, Tibet und Nepal aufgehalten. Und in der Tat: Der Umgang der Menschen miteinander ist dort unzweifelhaft ein anderer als bei uns. Er ist weicher, offener, egalitär, ich würde sagen: herzlicher. Zumindest unter denen, die den Buddha Dharma von Herzen praktizieren. Die Menschen, die den Buddha Dharma nur als eine Art Geburtsrecht mitbekommen haben, ihn aber nicht praktizieren, unterscheiden sich wahrscheinlich eher wenig von anderen Leuten. Hinzu kommt, dass die ganze Umweltproblematik oder Umwelttechnik, wie wir im Westen sie verstehen, in Asien überhaupt keine Tradition hat. Was sich bei uns seit den Fünfzigerjahren entwickelt hat, im Guten wie im Schlechten, hält dort jetzt mit rasanter Geschwindigkeit Einzug. Man orientiert sich dabei immer mehr am Westen und entwickelt einen wahnsinnigen Konsumrausch. Der Snack, der früher vom Bananenblatt gegessen wurde, wird heute auf einem Plastikteller serviert. Der wird dann genauso behandelt wie früher das Bananenblatt: Er wird über die Böschung geworfen. Unsere Heiligkeiten wie der Dalai Lama oder Karmapa, der gerade 25 Jahre alt ist, stecken sehr viel Arbeit in die umweltethische Aufklärung der Nonnen und Mönche. Bisher bestand halt keine Notwendigkeit, sich um den Verbleib des Bananenblatts Gedanken zu machen. Heute ist das anders. Das ist ein Lernprozess, bei dem sich Gyalwa Karmapa am 102
on Religion für die verschiedenen Aus dem einfachen Grund, weil Religionen und ich geschaffen wurden, sondern e wahre Natur der Dinge.“ – Gelongma Lama Palmo Westen orientiert in der Hoffnung, dass man dort, wo diese Probleme entstanden sind, auch weiß, wie man damit umgeht. Er hat zum Beispiel Umweltkonferenzen abgehalten und den Gläubigen ganz genau erklärt, wie sie mit Wasser, mit Pflanzen und Bäumen, mit Abfall umzugehen haben. Gibt es Ethik und Moral ohne Religion? Das kommt darauf an, was ich unter Religion verstehe. Im Westen wird Religion oft mit Institutionen assoziiert und im landläufigen Verständnis damit gleichgesetzt. Es braucht nicht zwangsläufig Institutionen, aber es braucht definitiv Ethik als Grundlage der Religion. Und meine persönliche Meinung ist: Ja, es braucht die verschiedenen Arten von Religion für die verschiedenen Bedürfnisse der verschiedenen Menschen. Aus dem einfachen Grund, weil Religionen nicht von gewöhnlichen Menschen wie du und ich geschaffen wurden, sondern von großen Heiligen mit tiefer Einsicht in die wahre Natur der Dinge. Buddha ist nicht nur eine Person, der wir folgen, weil seine Belehrungen, „eigentlich ganz intelligent“ sind. Wir folgen den Lehren, weil wir denselben Zustand erreichen wollen wie die historische Person Prinz Siddharta: Erleuchtung, den Zustand eines Buddhas. Wenn ich Religion wortgeschichtlich betrachte, so kommt das Wort von dem lateinischen „religare“: sich zurückverbinden. Voilà – genau das lehrt der Buddhismus! 103
Kiran Lama, Buddha Amitabha im Paradies Sukhavati, 2007, 66 x 81 cm, Kathmandu. Courtesy: Galerie Schneelรถwe
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Das stimmt vollkommen mit der buddhistischen Lehre überein, sich mit sich selbst wieder zu verbinden und so den richtigen Zugang zu allem Übrigen zu finden. Die Basis des Ganzen ist eine bestimmte Ethik, keine Frage. Was sind Ihre Energiequellen? Wille, Entschlossenheit, Einsgerichtetheit, Hingabe, Vertrauen und Altruismus.
Gelongma Lama Palmo, 1970 als Sabine Arzt-Januschke in Wien geboren, ist die erste buddhistische Priesterin Österreichs. Nach dem Studium der Germanistik und Romanistik in Wien und anschließenden längeren Aufenthalten in Asien erhielt sie 1998 die erste klösterliche Weihe. Ihre volle monastische Ordination einer Gelongma (Skr. Bikshuni) empfing sie 2004 innerhalb der Tradition des Vietnamesischen Zen Buddhismus von Ven. Dharma Karuna. Der Dalai Lama ernannte sie 2007 zum Lehrer in Residenz. http://www.palpung.eu/ 105
J端rg Kreienb端hl, Les HLM, 1968. Courtesy: Stephan und Susanne Kreienb端hl
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„Thue deine A und gehe zu e und siehe den und besinne d – Jakob Böhme (1575-1624), deutscher Mystiker
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Augen auf einem Baum, nselben an, dich.“
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Pavel Pepperstein, The artifitial Clouds in the Year 2488, wie die vier folgenden Arbeiten aus: Landscapes of the Future, 2009, Aquarellfarbe und Tinte auf Papier, 17,2 x 25 cm. Courtesy: Pavel Pepperstein and Yelena Walker
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Pavel Pepperstein, The Monument „Old Christ“ erected in Alps in the Year 3000 for the celebration of three thousand years of Christianity, 2009, Aquarellfarben und Tinte auf Papier, 30 x 50 cm. Courtesy: Pavel Pepperstein and Yelena Walker 112
Mit dem Kopf durch die Wolken Als Gott sich aus der Schöpfung verabschiedete, hat er die Menschen zu Techniken und eigenen Entwürfen inspiriert. Ein Gespräch mit der Kulturhistorikerin Christina von Braun Frau von Braun, Säkularisierung ist eines der bekanntesten Paradigmen der westlichen Welt. Was besagt sie eigentlich genau? Einerseits lässt sich Säkularisierung so auffassen, dass Menschen religiöse Rituale nicht mehr vollziehen. Andererseits bedeutet Säkularisation einen Transfer von christlichen Heilsbotschaften in den weltlichen Raum hinein. Was zuvor in der Transzendenz gedacht worden ist, wird nunmehr auf weltliche Zusammenhänge übertragen und bestimmt in Bereichen, die scheinbar nichts mit Religion zu tun haben, über das Leben. Ist Säkularisierung als Abwendung vom Christentum zu verstehen oder als historisches Produkt des Christentums? Die Frage stellt sich tatsächlich: Ist Säkularisierung nicht logisches Produkt einer Religion, in der es einen Mensch gewordenen Gott gibt, wo die transzendente Botschaft, das Wort Gottes im menschlichen Körper, auf der Welt Fleisch geworden ist? Genau dies unterscheidet ja das Christentum von den anderen beiden monotheistischen Religionen. In welchen Bereichen hat sich die Verweltlichung vollzogen? Ich gebe Ihnen drei Beispiele: den Buchdruck, die Sehtechniken und die mechanische Uhr. Alle diese Innovationen entwickelten sich im christlichen Kulturraum und aufgrund von Bedürfnissen der Kirche und der Klöster in gewisser Hinsicht aus dem christlichen Diskurs. Der Buchdruck entstand, weil ein Großteil der Klöster gegen Ende des Mittelalters zu besseren Kopieranstalten geworden war. Die neuen 113
Visualisierungstechniken wiederum korrespondieren mit dem in Christus sichtbar gewordenen Gott und folgen der Auffassung „Sichtbarkeit gleich Wahrheit“. Die mechanische Uhr ermöglichte gleich bleibende Stunden, nach denen der Tagesablauf im Kloster verlangt. Aber sie ist rasant schnell hinausgewandert aus den Klöstern, um über das urbane Leben zu bestimmen, in die Städte und als Instrument der Arbeitsprozesse in die Industrialisierung. Was also im Kloster entstand, griff in die säkulare Gesellschaft über und schuf moderne Formen der Ökonomie, die in anderen, etwal islamischen Gesellschaften nie in dieser Weise Einfluss ausübten. Buchdruck und Uhr wurden dort lange nicht akzeptiert. War das ein geradliniger Prozess? Oder gab es Rückschläge und dialektische Bewegungen? Die Säkularisierung ist ein Prozess der Realisierung von Utopie: Ideale Entwürfe streben ihre Verwirklichung an. Jede realisierte Utopie verlangt jedoch danach, auch wieder dekonstruiert zu werden. So verschwanden im 19. Jahrhundert die großen Utopien, stattdessen kam die Kritik an den utopischen Entwürfen und ihren Umsetzungen auf. Marx sagte ja nicht „Ich will eine neue Utopie schaffen“, sondern kritisierte das, was an ökonomischen Verhältnissen bislang entstanden war. Mehr und mehr tauchten Antiutopien auf, die den Prozess der Realisierung von Utopien als Vernichtungsprozess beschreiben. Die Dialektik der Utopien besteht also in ihrer Dekonstruktion. Und dies gilt auch für den Säkularisierungsprozess. Heißt das, die Religion selbst geriet unter Rechtfertigungsdruck? Die Theologien mussten sich mit der entstandenen Religionswissenschaft abfinden, die die Religion zu einem wissenschaftlichen Thema machte und sie damit ihrer normativen Kraft beraubte. Man war gezwungen, aus den Religionen herauszutreten, um ihre Normen und 114
„Jede Gesellschaft wird Lücken und Leerräume lassen, in die neue Sehnsüchte hineinströmen.“
Pavel Pepperstein, The Red Cube, 2009, Aquarellfarben und Tinte auf Papier, 18 x 25 cm. Courtesy: Pavel Pepperstein and Yelena Walker 115
Pavel Pepperstein, The Arch of Buddha in Jerusalem in 2904, 2009, Aquarellfarben und Tinte auf Papier, 24,8 x 34,8 cm. Courtesy: Pavel Pepperstein and Yelena Walker
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ihre historische Wirkungsmacht zu begreifen. Man fing an, Jesus als eine historische Figur zu lesen. So wurde die christliche Religion, die in dem oben beschriebenen Sinn bestimmte Paradigmen und Techniken hervorgebracht hatte, ihrerseits hinterfragt durch den Prozess, den diese Techniken, etwa der Buchdruck, ausgelöst hatten. In der modernen Theologie, vor allem in der protestantischen, die selbst schon aus einem solchen Prozess der Hinterfragung von Normen entstanden ist, gibt es heute ein Nebeneinander von theologischer Norm und Religionswissenschaft und dieses Nebeneinander kann durchaus befruchtend sein. Neuerdings fällt häufiger der Begriff der „postsäkularen Welt“. Manche konstatieren eine Respiritualisierung der Gesellschaft. Stimmen Sie zu? Das weiß ich nicht. Man kann jedenfalls eine Sehnsucht nach Spiritualität beobachten, nach religiösem Gefühl. Auch eine Sehnsucht danach, in irgendeiner Weise einem religiösen, kollektiven Körper anzugehören. Die Marktwirtschaft und andere Faktoren der Moderne ermöglichen dieses Gemeinschaftsgefühl ja gerade nicht. Bei der Marktwirtschaft stehen Individuum und individueller Profit im Zentrum. Dagegen gibt es große Sehnsüchte nach Wiedervergemeinschaftung. Darauf versuchen einige, zum Beispiel die evangelikalen Kirchen, zu reagieren, indem sie einfache Antworten, opulente Shows, ein Gemeinschaftsgefühl bieten, die die Menschen vom Zweifel befreien sollen. Vielleicht spiegelt sich darin ein postsäkularer Zustand, mag sein. Aber ich weiß nicht, ob eine vollends säkulare Welt überhaupt möglich ist. Auch eine Gesellschaft, die stark im Jetzt verankert ist, die in ökonomischen Verhältnissen und in den von den realisierten Utopien vorgegebenen Rhythmen verwurzelt ist, wird immer noch Lücken und Leerräume lassen, in die dann viele von diesen Sehnsüchten hineinströmen. Und dann wird es immer die 118
„Der Konfuzianismus hat auf ganz anderem Wege die Gefühle domestiziert und friedliches Zusammenleben für eine riesige Gesellschaft geschaffen.“ Pavel Pepperstein, The Big Will of Reincarnation (3033), 2009, Aquarellfarben und Tinte auf Papier, 30 x 50 cm. Courtesy: Pavel Pepperstein and Yelena Walker 119
„Es gibt immer wieder Versuche, radikal u leben von Wochenendkursen in Meditatio geben, die sich dieser Gefühle annehmen, um sie – in welche Richtung auch immer – zu kanalisieren. Was wären die Kennzeichen eines postsäkularen Zustands? Im politischen oder religiösen Fundamentalismus zum Beispiel, der sich zwar auf Religion beruft, aber den Transzen denzgedanken beiseite schiebt. Dann gibt es natürlich auch Versuche, radikal unökonomisch zu denken, im Rahmen individueller spiritueller Rückzugsmöglichkeiten zum Beispiel. Viele Klöster leben mittlerweile davon, dass sie Wochen endkurse in Meditation oder Fasten anbieten. Jedenfalls wird die Forderung nach Säkularisierung sehr fragwürdig, wenn wir begreifen, dass das, was wir als säkulare Welt mit universalen Menschenrechten betrachten, ein Produkt des westlichen Denkens ist. Gewiss hat dieser Prozess ein gutes Ethos hervorgebracht. Mit dem man auch als Atheist gut leben kann. Aber gab es das in anderen Kulturen nicht auch? Natürlich. Der Konfuzianismus hat auf ganz anderem Wege eine Domestikation der Gefühle erreicht und damit friedliche Formen des Zusammenlebens für eine riesige Gesellschaft geschaffen. Und die jüdische Religion hält die Gemeinschaft in der Diaspora zusammen. Gesetze des Zusammenlebens hat nicht nur der aus der christlichen Gesellschaft hervorgegangene Säkularisierungsprozess geschaffen. Verlieren Religionen an Relevanz? Von einem Verschwinden der Relevanz der Religionen können wir, wenn wir die Augen aufmachen, gewiss nicht sprechen. Religionen 120
unökonomisch zu denken: Viele Klöster on oder Fasten.“ besitzen große Relevanz und somit große politische Bedeutung. Jede auf unterschiedliche Weise. Andererseits muss akzeptiert werden, dass man die Religionen wissenschaftlich betrachten kann. Unser Gespräch ist ja ein Beleg dafür. Wir selber sind Teil der christlichen Kultur und zutiefst von ihr beeinflusst. Zugleich aber betrachten wir sie wie ein Forschungsobjekt. Ich denke, dass das eine das andere nicht ausschließen darf. Welchen Zusammenhang sehen Sie zwischen Religion und Umweltethik? Ein riesiges Feld. Bedenken Sie, dass der Ritus des Opfers überhaupt nur in Gesellschaften entstand, die Landwirtschaft und Viehzucht betrieben. Vorher gab es diesen Ritus nicht. Erst als der Mensch in die Natur eingriff, gab es auch Opferreligionen gegenüber der Gottheit, um sich für diese Eingriffe in die Schöpfung zu entschuldigen, sich zu entschulden. Das Zehntel, das erstgeborene Lamm, das an den Tempel abgegeben wird, sind Entschuldungsstrategien. Alle drei monotheistischen Religionen haben diesen Gedanken aufgegriffen und sind dieser Opferstruktur noch verhaftet. Und sie gelten auch heute noch. Unsere Gesellschaft bietet eine Fülle von Strategien, mit Schuld um zugehen. Wir handeln mit CO2-Emissionen, was eine Art Ablasshandel ist. Das steht in der Tradition dieser Opfer- und Entschuldungs strategien, die ursprünglich religiös motiviert waren. Prof. Dr. Christina von Braun ist Kulturtheoretikerin und Filmemacherin. Sie lehrt an der Humboldt-Universität zu Berlin. 121
Adrian Kenyon, Paradise, 2007, Fotocollage
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Pal채stinenserin am Grenz체bergang in Bethlehem, 2008. Foto: Reuters/Yannis Behrakis
Gottes neue Nachhaltigkeit Früher propagierte manche Weltreligion auch einen weniger sorgsamen Umgang mit der Schöpfung. Aber Globalisierung, Gläubige und die Probleme, die sie schaffen, haben die Religionen verändert. Von Jens Schlieter Betrachtet man die Antworten der hier interviewten Vertreterinnen und Vertreter der großen Traditionen auf die Frage, ob Religion etwas zum Schutz der Umwelt beitragen kann, wundert es kaum, wenn sich alle darin einig sind, dass dem so sei. Schließlich rangierten in den letzten Jahrzehnten bei vielen Menschen die Sorgen um Klimawandel und Nachhaltigkeit kurz hinter den Sorgen um den eigenen Arbeitsplatz. Umweltbewusstsein und der Erhalt natürlicher Ressourcen sind im Westen aus einer Nische heraus zum Anliegen der Mehrheitsgesellschaft geworden. Es wäre erstaunlich, wenn Christen, Juden, Muslime, Hindus und Buddhisten, die in dieser Gesellschaft leben und sie mit konstituieren, zu dem Schluss kämen, ihre Traditionen hätten in solchen Fragen nichts zu bieten. Wer aus einer religiösen Tradition seinen Lebenssinn schöpft, erhält aus dieser auch Antworten auf den Sinn des Großen und Ganzen der Welt. Es spricht sogar einiges dafür, dass genau diese Diagnosen – die Umweltkrise im Zusammenhang mit rasant steigender Weltbevölkerung bei zugleich endlichen Ressourcen – die Frage nach dem Sinn des Ganzen wieder aktuell werden lassen. Gerade Religionen, deren Lehren sich auf einen zukünftigen Umschlag von Unheil in Heil konzentrieren, weisen „große Erzählungen“ vor, die vieles von dem, was zurzeit passiert, deutbar werden lassen. 125
Interessant daran ist allerdings ein Konflikt, der sich aus der Dominanz naturwissenschaftlicher Weltbeschreibungen ergibt. Wenn zum Beispiel ein Vertreter der abrahamitischen Traditionen behauptet, dass in seiner Tradition Antworten auf den sich vollziehenden Klimawandel und seine bedrohlichen Auswirkungen zu finden seien, muss er zuerst die Glaubwürdigkeit der wissenschaftlichen Hypothesen zum Klimawandel akzeptieren. Er muss also die Erderwärmung durch Zunahme der Treibhausgase für möglich halten, Polkappen-, Permafrost- und Gletscherschmelze, Veränderungen ozeanischer Ströme sowie Szenarien der „tipping points“, an denen das Klima abrupt umschlagen könnte, und zuletzt deren soziale Folgen, von Hungeropfern bis hin zu Klimakriegen. Mit anderen Worten: Wer die auf naturwissenschaftlicher Grundlage entworfenen Szenarien für plausibel erachtet, muss diese wissenschaftliche Weltbetrachtung akzeptieren, die von einem in sich geschlossenen Ganzen der Natur ausgeht, in der eben keine anderen Wirkfaktoren Bedeutung haben als jene, die sich de facto nachweisen lassen. Tatsächlich fällt auf, dass keiner der hier versammelten Vertreter der großen Religionen davon spricht, dass Gott oder ein Heilsbringer eingreifen und die Welt retten könne. Die Frage „Wo steht Gott?“ wird, und dies kann durchaus als Anzeichen des sich vollziehenden Religionswandels gesehen werden, offen gelassen und im Rückgang auf die Ansprüche Gottes an das ethische Handeln des Einzelnen beantwortet. Einerseits wird die Zukunft von Menschheit und Natur also nicht mehr in den Kategorien großer Heils- und Unheilskonzeptionen präsentiert. Andererseits aber wird an den religiösen Konzeptionen der Weltgeschichte festgehalten. Natur und Umwelt werden als „Schöpfung Gottes“ bezeichnet, beziehungsweise, durch die Vertreterin des tibetischen Buddhismus, als 126
„Durch Globalisierung, Migration und Mission wurden allgemein verständliche Ethiken entwickelt.“
Christina Varga, Mohammed, Jesus und Buddha, 2001, Triptychon, Öl auf Holz, je 200 x 80 cm, Woodstock
„Die technologische Modernisierung und ihre Probleme haben längst alle Weltregionen erreicht.“
Schulkinder vor einer Karte der Religionen Indiens mit der Botschaft „Alle Religionen sind gleich“, 2006. Foto: Reuters/Amit Dave
wechselseitige Abhängigkeit und Interdependenz. Diese grundlegende Konzeptualisierung einer religiösen Weltgeschichte der Vergangenheit und einer offenen, gefährdeten Zukunft, die mit nichtreligiösen, wissenschaftlich begründeten Szenarien beschrieben wird, kulminiert in der Diagnose einer prekären Gegenwart, die den Entscheidungsraum für alles Künftige darstellt. Die Frage ist nun: Wie werden die Menschen auf die Auforderungen, die in ihren religiösen Quellentexten zu finden sind, reagieren? Werden sie umkehren und die Schöpfung christlich, liebevoll und verantwortlich schützen? Werden sie ihren jüdischen Auftrag erfüllen, es gut zu machen und Gott in der Aufrechterhaltung der Schöpfung zu dienen? Werden sie im Sinne des Islam als umsichtige Verwalter der Schöpfung agieren? Als Hindus Dankbarkeit für die Mutter Erde entwickeln? Oder als Buddhisten die dualistischen Unterscheidungen aufheben, um sich so mit dem Ganzen wieder zu verbinden? Auch wenn es verlockend wäre, eine Antwort auf die Fragen zu geben, welche der religiösen Traditionen in besonderer Weise Erfolg versprechende Handlungsanweisungen zu einem nachhaltigeren Umweltverhältnis formuliert hat, muss aus methodischen Gründen hiervon Abstand genommen werden. Denn in praktisch jeder Tradition gibt es Quellentexte, die zur Begründung eines solchen umweltbewussten Handelns herangezogen werden können. Zugleich gibt es andere Texte, die ausgeblendet werden und einen heute nicht mehr vertretbaren Umgang mit der Natur und der nichtmenschlichen Mitwelt präsentieren. Zugleich müssen sich die institutionellen Religionsvertreterinnen und -vertreter die wohl unbequeme Frage stellen lassen, wie es überhaupt dazu kommen konnte, dass sich bis heute die große Mehrheit der Anhänger nicht so verhält, wie es ihre Quellentexte einfordern. 129
Ohnehin hat sich der Umgang aller Traditionen mit ihren Quellen verändert. Bereits Max Weber hat auf die „Ethisierung“ religiöser Traditionen aufmerksam gemacht, als er das Zunehmen ethischer Anforderungsprofile von Gottheiten beschrieb, die Abschaffung von Blutopfern oder die Verbindung von Wiedergeburtsvorstellungen mit der Idee des Karma. Heute lässt sich eine zweite Ethisierung religiöser Sinnsysteme beobachten. Da sich die großen Traditionen im Rahmen der kulturellen Globalisierung und weltweiter Migrations- und Missionsbewegungen oftmals von ihrem besonderen kulturellen und territorialen Hintergrund gelöst haben, mussten sie ihre Lehren auf solche Botschaften konzentrieren, die entkulturalisiert und deterritorialisiert funktionieren. Ethische Lehren bieten sich hierzu besonders an, vor allem dann, wenn sie mit Vorstellungen zum künftigen Heil kombiniert werden können. Der Aufruf, sein eigenes Leben zu ändern, auch der asketische Aufruf zur Einübung des Verzichts, zur Achtsamkeit, zum altruistischen Geben und zur Kultivierung des eigenen Selbst, den die hier versammelten Vertreter nahezu unterschiedslos äußern, wird vor diesem Hintergrund sehr plausibel. Da diese Handlungsanweisungen ihrer Natur nach aber von einzelnen Menschen, nach eigenen Interpretationen und Maßgaben umgesetzt werden, ist es schwierig, methodisch abgesichert die Frage zu beantworten, zu welchem Grad die Lehren der religiösen Traditionen zu einem Wandel im Umgang mit der natürlichen Mitwelt beitragen. Um dies am Beispiel des asketischen Verzichts zu veranschaulichen: Während eine Gläubige unter asketischem Verzicht den konsequenten Umstieg auf eine ökologische Lebensweise versteht, kann eine zweite dies als Aufruf zu einer aufopfernden wissenschaftlichen Tätigkeit fassen, deren Hoffnung sich auf technologische Innovationen zur Lösung von Umweltproblemen richtet. Ein dritter Gläubiger schließlich erachtet 130
Luciano Scherer, St. Red Elephant, 2008, Brasilien
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„Umweltkrise und steigende Weltbevölkerun Askese als die innere Einstellung des gottgefälligen Verzichts auf den Genuss innerweltlicher Güter, die er aber nichtsdestoweniger in großen Mengen ansammelt – alle drei werden in ihrer religiösen Tradition dazu motivierende Quellen anführen können. Angesichts der Vielfalt individueller Auslegungspraktiken und heterogener Traditionsstränge muss auch Christina von Brauns Deutung des Christentums als einer Religion, die dieses oder jenes kausal hervorgebracht habe, wie den Buchdruck oder die standardisierte Zeitmessung, kritisch evaluiert werden. Nicht nur werden hier Religionen als einheitliche und objektive Größe betrachtet, es werden auch schnell Aussagen aus dem historischen und kulturellen Kontext Europas verallgemeinert. So wurde etwa in Ostund Zentralasien das Blockdruckverfahren zur Herstellung hoher Buchauflagen schon vor fast tausend Jahren angewandt. Das mechanische Druckverfahren mit Typensatz wurde in China schon Jahrhunderte vor Gutenbergs Druckmaschine erfunden, ohne mit bestimmten Modernisierungsprozessen einherzugehen. Auch die spezifischen Besonderheiten der europäischen Ideengeschichte lassen sich nicht monolithisch der Religionsgeschichte zuschreiben. So wurde zum Beispiel die Geschichte der Menschenrechtsidee auch vom Stoizismus und dem römischen Bürgerrechtsgedanken beeinflusst. Unsere Ideen und Werte sind das Ergebnis einer komplexen Wechselwirkung von Philosophien, technischen Innovationen, gesellschaftlichen Ordnungen, Rechtskulturen – und religiösen Ideen. Dies berührt nun zuletzt auch die Krux des Begriffes der Säkularisierung. Den Transfer christlicher Heilsbotschaften in den weltlichen Raum als 132
ng lassen Sinnfragen wieder aktuell werden.“ Säkularisierung zu begreifen, ist nicht nur begrifflich problematisch. Denn dies würde ja zur Folge haben, dass eine weltliche Sphäre mit Heilsbotschaften aufgeladen wird. Sie würde also sakralisiert! Säkularisierung, im engeren Sinne als Trennung staatlicher und kirchlicher Institutionen mit einhergehendem Bedeutungsverlust der letzteren verstanden, ist hingegen eine gut belegte Theorie. Als „Prozess der Abnahme der gesellschaftlichen Bedeutung von Religion“ (Pollack) aber bleibt sie ein Theorem, das kaum einheitlich zu beantworten ist. Auch wenn vielfach, wie zum Beispiel bei Habermas, von einer „postsäkularen Gesellschaft“ die Rede ist, eine Wiederkehr der zwischenzeitlich „unsichtbaren Religion“ in den öffentlichen Raum festgestellt wird oder eine „Spiritualisierung“ und „Popularisierung“ von Religion: Das größte Manko dieser Theorien ist, dass sie vorrangig aus der europäischen Religionsgeschichte gewonnen wurden. Und das schränkt ihr Erklärungspotenzial doch deutlich ein. Die technologische Modernisierung und ihre Probleme hingegen haben längst alle Weltregionen erreicht. Und so kann die Frage, inwiefern religiöse Orientierungen auf einen nachhaltigen Umgang mit Umwelt und Natur einwirken können, nur im Rahmen einer globalen, polyzentrisch ausgerichteten Betrachtung der verschiedenen Religionskulturen beantwortet werden. Anders gesagt: Die Position Gottes ist die seiner Anhänger. Aber deren Verhalten ist stets lokal. Prof. Dr. Jens Schlieter lehrt am Institut für Religionswissenschaft sowie am Center for Global Studies an der Universität Bern. 133
Plakatierung in Berlin, 2010. Foto: Litekultur
denkanstöße - magazin für energie, gesellschaft und wandel www.denkanstoesse.de Künstler und Fotografen: Francis Bacon, Banksy, Javier Barbancho, Yannis Behrakis, Behzad, Lee Celano, Nathan Coley, Amit Dave, Marc Domage, Ghassan Ghayeb, Kunsang Gongdu, Maurycy Gottlieb, Gonkar Gyasto, Ilkka Halso, Mike Hollingshead, Jitish Kallat, Adrian Kenyon, Jürg Kreienbühl, Kim Kyung-Hoon, Thomas Laird, Kiran Lama, Anwar Mirza, Huma Mulji, Siyer-I Nebi, Roman Ondak, Pavel Pepperstein, Huang Yong Ping, Vivek Prakash, Kushal Ruia, Damir Sagolj, Omar Sartor, Luciano Scherer, Ralf Schmerberg, Indra Sharma, Yoshi Shimamura, Goran Tomasevic, Sofia Uguccioni, Hema Upadhyay, Christina Varga, Stephan Vens Herausgegeben von Mindpirates Kreativdirektion: Ralf Schmerberg Artdirektion: Petra Langhammer Redaktion: Göran-Adrian Bellin Bildredaktion: Sofia Uguccioni Recherche: Rosa Schinagl, Friederike Schinagl Programmierung: Jovika Aleksik Projektmanagement: Felix Vogler Autoren: Jens Schlieter Schlussredaktion: Isabelle Erler Redaktionelle Beratung: Ralf Grauel Redaktionsbüro: Schlesische Straße 38, Haus F, 3. HH, 10997 Berlin Telefon: +49 30 81708891, E-Mail: felix@mindpirates.org PR-Betreuung: Bureau N Cultural Communications, Berlin, info@bureau-n.de Ermöglicht von ENTEGA www.entega.de HEAG Südhessische Energie AG (HSE) Frankfurter Strasse 110, 64293 Darmstadt Telefon: 06151 701-1556, Telefax: 06151 701-1509, E-Mail: ann-katrin.schmiechen@hse.ag 135
Ilkka Halso, Kitka River, Fotomontage, 2004, Finnland
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